Angst ist nichts für Feiglinge - Susanne Kaloff - E-Book
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Angst ist nichts für Feiglinge E-Book

Susanne Kaloff

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Beschreibung

Neulich erzählte mir eine Freundin, sie kenne das auch mit der Panik. Erst kürzlich sei sie in einem Fahrstuhl steckengeblieben. Aber das ist nicht das, was ich mit Panikattacke meine, sagte ich. Stell Dir vor, dass alles, was Du dort empfunden hast – die Enge, die Angst, dieses blanke Entsetzen, das Herzrasen, das Zittern, das Schwitzen, die wackligen Beine – bei Menschen mit Panikattacken aus heiterem Himmel kommt. Sie stecken also immer in einem inneren Fahrstuhl fest, es braucht keinen äußeren Anlass. Das ist der Unterschied. Die beliebte Life-Style-Journalistin Susanne Kaloff beschreibt offen und ehrlich, wie es sich anfühlt, im Teufelskreis der Angst gefangen zu sein. Sie erzählt von ihren Angstmomenten, von ihrem Schweigen und Verstecken, von der Ratlosigkeit ihrer Freunde und Familie, von Umwegen, Rückschlägen, Therapien, von der Angst vor der Angst, dem Scheitern und dem Triumph über die Angst.

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Seitenzahl: 314

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Susanne Kaloff

Angst ist nichts für Feiglinge

Mein Exit aus der Panik

FISCHER E-Books

Inhalt

[Motto][Widmung]Vorwort1. HerzklopfenReise zu meinem inneren UngeheuerAngst ist eine einsame InselWo ist der Notausgang?Wenn es so weit ist, kannst du dich immer noch fürchtenKnick in der OptikDie Symptom-Checkliste abhakenAllein in der PsychoeckeDer eingebaute RauchmelderDer Kanarienvogel in der KohlenmineGeistige SchweißausbrücheAchtung, Panikzone!Was hat sie denn bloß?2. Hirn zermarternRestrisiko LebenAngst, dass ihr totgehtDas hat sieSiehste, ist schon wieder wegIch muss hier rausLove hurtsMein eigener FluchthelferDie fehlende innere SicherheitWeitere Zutaten für eine gelungene PanikattackeIn der SelbstgesprächstherapieStop it!HochansteckendAngst hat keine Blaskapelle auf dem RückenDie Kill-The-Pain-GesellschaftDu bist deine eigene Rettung3. Herz pürierenDu hast eine WahlNur eine kleine ErstverschlimmerungInstant-ErleuchtungMeine Aura will Spaß habenFamilienaufstellungStabile RückenlageEmotionale ErpressungDa ist der Wurm drinMindful oder Mindfuck?Das Leben ist ein Fest. Wenn du hingehstDas Mainstream-GefühlDas Gegenteil von Liebe heißt AngstVeränderungen verändern4. Herzlich willkommen, Leben!New York loves meVon Downtown nach UptownMeine Angst bringt mich nicht umLove Trumps FearDen Tisch wackeln lassenIch bin mein eigener GuruDie Dinge sterben lassenAll We Have Is NowLinks

»I’ll protect you from the hooded claw. Keep the vampires from your door. When the chips are down I’ll be around with my undying, death-defying love for you.«

Frankie Goes to Hollywood, The Power of Love.

FÜRIMMER

Vorwort

Ich bin keine Wissenschaftlerin, keine Psychologin, und ich habe keinen Doktortitel. Was ich allerdings habe: seit jeher die Hosen voll. Dieses Buch ist weder ein Ratgeber noch eine psychologisch fundierte Abhandlung. Es ersetzt keinen Arztbesuch, keine Therapie, es bietet nicht Antworten auf alle Fragen und ist kein Versprechen. Es ist eher mein Tagebuch, das ich anfing im Geist zu schreiben, seit ich mit zwölf Jahren neben meinem Vater im Theater saß und aus scheinbar heiterem Himmel panische Angst bekam, jetzt sofort auf der Stelle in dieser Sitzreihe zu sterben, wenn ich diesen Ort nicht schnellstmöglich verlassen darf. Bis zu diesem Abend kannte ich das Wort Panikattacke nicht, aber ich spürte, dass mein Herz zu schnell schlug, dass meine innere Unruhe zu alarmierend war, um gelassen dem Stück zu folgen, dass meine Aufmerksamkeit nicht mehr dort war, wo ich in diesem Moment saß. Vor allem war ich sicher, jeden Moment tot umzufallen. Angst isst nicht die Seele auf, wie es Rainer Werner Fassbinder mal meinte, sie ist wie ein Schatten, der immer da ist, wo du bist. Der dich begleitet, sich nicht abhängen lässt, er ist dir immer voraus, geht furchtlos voran. Und wenn du denkst, alles ist in Ordnung, tippt er dir aus dem Nichts mit einem knochigen Finger von hinten auf die Schulter.

Ob das der Grund ist, warum ich mir kurz vor einer Panikattacke immer an den Nacken gefasst habe? Was ich sicher weiß: Ich bin in guter Gesellschaft. Angsterkrankungen gehören, neben Alkoholmissbrauch, zu den häufigsten Erkrankungen in Deutschland. Sie sind weiter verbreitet als Herzkreislauferkrankungen und Krebs. Rund zehn Millionen Angstpatienten gibt es in Deutschland. Etwa fünfzehn Prozent der gesamten Bevölkerung erkranken in ihrem Leben an einer Panikstörung mit Panikattacken. Mir sagen diese Zahlen allerdings überhaupt nichts, Statistiken haben selten einen realen Bezug, sie bleiben anonyme Fälle, die ich in keinen Zusammenhang zu mir und meinem Umfeld bringen kann. Wenn es heißt, so und so viele Menschen leiden an etwas, an dem ich auch leide, tröstet das kaum, solange ich kein Gesicht dazu habe, keine Geschichte kenne, wenn ich nicht weiß, ob die Frau neben mir in der U-Bahn möglicherweise eine von den zehn Millionen ist. Oder ob der Typ vor mir in der Schlange der Supermarktkasse vielleicht gerade tausend Tode stirbt, obwohl er ausschaut, als würde er nur ein Sixpack Bier kaufen. Was jedoch selbst mir mit dieser Zahl klar wird: Angst ist die Volkskrankheit unserer Zeit. Angst ist mitnichten bloß die Plage der Jugend, der sogenannten Lost Generation, sie macht keinen Halt vor Generationen, Geschlechtern, sozialen Schichten oder Herkunft. Und es gibt mit Sicherheit eine Zahl von Betroffenen, die noch höher ist als die zehn Millionen registrierten Patienten. Ähnlich wie Alkohol gehört nämlich auch Angst zu den großen Tabuthemen. Vielleicht, weil uns von klein auf eingetrichtert wurde: Du brauchst keine Angst zu haben, du darfst keine Angst haben. Und wenn du sie hast, behalte sie um Himmels willen für dich.

Frauen haben laut Statistik häufiger Panikattacken. Aber stimmt das wirklich? Männer benutzen den Begriff Burn-out sehr selbstbewusst, weil Erschöpfung gerne als Statussymbol gehandelt wird. Wie würde es aber klingen, wenn ein ganzer Kerl Panikattacken hätte? Ich kenne Männer aus dem echten Leben, die regelmäßig Herzrasen haben, die weder Auto noch Bahn fahren, noch schlafen können vor Panik. Man sieht es ihnen nur nicht an. Und das ist ein weiterer Punkt, der die Angst zum Tabu macht: Sie ist unsichtbar. Sie lässt sich, zumindest eine Weile, exzellent mit gesellschaftlich akzeptierten Drogen betäuben, hinter einer großen Klappe, einer perfekten Fassade, hinter rastloser Beschäftigung und Stress verstecken. Angst findet gut beschützt im Inneren statt.

In diesem Buch beschreibe ich, wie mich meine Angst begleitete, mir folgte, mich das Fürchten lehrte, weil ich seit diesem Abend im Theater immer wieder völlig unvorhersehbar etwas hatte, das meine Eltern nur als »das« bezeichneten. Wie mir irgendwann klar wurde, was »das« eigentlich bedeutet. Wie ich mit der Angst gerungen und mich doch wieder im Kreis gedreht habe, wie ich nach langer Reise herausfand, dass ich sie weder bekämpfen noch vor ihr weglaufen muss oder kann, sondern sie eher fragen sollte, wo sie herkommt, was sie von mir möchte und ob ich ihr irgendwie helfen kann. Und wie ich eines Tages verstand: Sie will mir nichts Böses. Im Gegenteil.

Ich fiel übrigens wider Erwarten nicht tot um. Weder an dem Abend im Theater noch in den darauffolgenden 38 Jahren, in denen ich immer wieder fest davon überzeugt war, es nun doch zu tun. Von diesen Situationen, Lebensstationen, Umwegen, Reisen zum Ich, Rückschlägen, von Niederlagen, den Therapien, den Triumphen, von der Angst vor der Angst, den Siegen, dem Scheitern und den größeren Zusammenhängen zwischen all dem erzähle ich in diesem Buch. Ich erzähle es so, wie ich es einer Freundin erzählen würde. Es hätte reichlich Themen gegeben, über die ich hätte schreiben können, die einfacher, weniger schwer verdaulich gewesen wären. Solche, bei denen ich mich nicht erklären müsste, bei denen ich nicht Gefahr laufen würde, womöglich anzuecken, zu verstören oder Leserbriefe zu bekommen von Menschen, die alles ganz anders sehen als ich. Die sich eventuell angegriffen fühlen von meinem Blick auf das Leben, die Welt, den Kosmos, den Tod. Von meinem Blick auf dieses große, ernste, erschreckende Thema Angst. Ich hätte das tun können, aber nichts interessiert mich weniger als Oberfläche. An der Oberfläche sieht alles so hübsch glatt aus, während es darunter bebt. Kaum einer spricht über das Darunter, warum? Vermutlich aus Angst. Was wiederum zeigt: Sie ist überall, während wir so tun, als gebe es sie gar nicht. Wie Kinder, die sich die Hände vor die Augen halten, im Glauben, sie seien dadurch unsichtbar.

Von meinem letzten Buch habe ich gelernt, dass ich noch deutlicher machen muss, dass es sich um eine, meine subjektive Meinung handelt. Ausschließlich um meine persönliche Geschichte, die dennoch kein Einzelfall ist. Das Spektrum von Angst ist weit und groß. Reicht von kleinen Schreckmomenten beim Anblick einer Maus bis hin zu lähmenden Zuständen, die verhindern, dass man sein Zuhause verlassen kann. Ich weiß das. Und ich habe nicht die eine konkrete Lösung, keinen Masterplan, keine zehn Schritte, um sie abzuhängen, sie zu besiegen. Was ich habe, ist meine eigene Erfahrung. Und den absoluten Glauben, dass es mehr Menschen gibt, die ähnliches empfinden wie ich, denen es vielleicht hilft, zu lesen, was mir half. So wie man einer Freundin etwas von sich offenbart, damit sie sich nicht so allein fühlt, sie sich selbst besser versteht, damit das Schwere leichter wird, weil wir es teilen. Es wird nicht jeden erreichen, und das ist in Ordnung. Bei meinem letzten Buch ging es auch um ein Tabuthema: Alkohol. Ich bekam danach Zuschriften von Menschen, die sich von meinem leichtfüßigen Umgang mit dem schweren Thema nicht ernstgenommen oder gar bedroht fühlten. Für die einen trank ich zu wenig in der Vergangenheit, um ein solches Buch schreiben zu dürfen. Die anderen wollten, dass ich auch Alkoholikerin bin, dass wir gemeinsam in einem Boot sitzen. Wieder andere fürchteten, dass ich ihnen ein Alkoholproblem unterstelle. Mit Sicherheit habe ich mehr und gleichzeitig weniger Angst als andere. Es ist stets ein heikler Pfad, über sein Innenleben zu berichten, ich tue es dennoch. Es ist für mich der einzige Weg, um Licht ins Dunkel zu bringen. Und ich hätte es keinen Moment früher tun können: Speak from the scar, not from the wound. Die eigene Geschichte erst dann zu erzählen, wenn man nicht mehr knietief drinsteckt, wenn das Drama verheilt ist, wenn aus der Wunde eine Narbe wurde, kann für andere vielleicht hilfreich sein: Ich verstehe das, ich kenne das Gefühl, ich war da auch mal, ich bin da nicht mehr, weil ich einen Ausweg fand.

1. Herzklopfen

Reise zu meinem inneren Ungeheuer

Ich sitze auf einer Insel im Nirgendwo und frage mich, wie ich es überleben soll. Wie zwei Wochen von morgens bis abends mit mir aushalten, ohne Begleitung, ohne Zerstreuung, ohne eine Aufgabe? Dabei habe ich in Wahrheit eine große Aufgabe: ein Buch schreiben über die Angst. Ein Thema, das zwar meine eigene Idee war, mir jedoch in der Umsetzung absurderweise so viel Angst macht, dass ich erst mal ein paar Wochen gelähmt bin, dann panisch beschließe wegzurennen. Eine automatische Reaktion auf alles, was ich fürchte: Bloß fort von hier! Die erste Frage, die ich mir stelle: Wohin? Die zweite: Vor was genau fliehst du eigentlich? Sobald du verrätst, dass du Abstand brauchst, eine Situation hinter dir lassen, deine Heimat vorübergehend verlassen willst, teilt dir jeder Klugscheißer unaufgefordert mit: »Na ja, du weißt schon, man nimmt sich immer selbst mit.« Diese populäre Weisheit stimmt nur zum Teil. Ja, du nimmst dich immer mit, aber du bringst niemals den gleichen Menschen wieder mit zurück.

Es ist der erste Abend von vierzehn. Die vor mir liegende Zeit erscheint mir so lange, als seien es vierzehn Jahre. Vermutlich habe ich deshalb Literatur für einen entsprechenden Zeitraum eingepackt. Mehr Bücher in meinem Gepäck als Schuhe. Es ist schwere Kost, Ratgeber mit Titeln wie »Die Grundformen der Angst« und »Zart besaitet — Selbsthilfe für hochsensible Menschen«. Ich lasse sie erst mal im Rucksack. Draußen sind es noch immer dreißig Grad, ich sitze mit Tsatsiki am Tisch, allein unter Pärchen und Familien. Als ich überlegt hatte, wohin ich fliehen könnte, welcher Ort geeignet sei, um die Angst abzuhängen, obwohl ich mich ihr doch professionell nähern wollte, um überhaupt den Anfang des Buches zu schreiben, stolperte ich über Hydra. Eine zwanzig Kilometer lange und vier Kilometer breite Insel, die zu den Saronischen Inseln gehört und nur zwei Fährstunden von Athen entfernt liegt. Es klang wie das Paradies: keine Autos, nur Esel und Pferde, keine Plastikmöbel, keine Sandstrände, die Massentourismus anziehen, aber Kate Moss sei ab und an hier, las ich. Henry Miller war schon Anfang der Vierzigerjahre Fan der kargen Insel, später schrieb er in seiner griechischen Reisegeschichte »Der Koloss von Maroussi«: »Die Sonne ist der Mensch, der darum kämpft, zu einem andern Licht emporzusteigen, von Licht zu Licht«. Ich verstehe den Satz nicht, aber ich mag den Klang. In den Sechzigern kam Leonard Cohen hierher, verliebte sich in eine Norwegerin, kaufte mit gerade mal 26 Jahren ein Haus für 1500 Dollar. Solche Geschichten liebe ich, deshalb bin ich hergekommen. Vor allem aber, um meine eigene Geschichte aufzuschreiben, wie ich zu einem anderen Licht emporstieg: von der Angst zur Liebe. Denn das Gegenteil von Angst heißt nicht Mut, es heißt Liebe. Und das Gegenteil von Liebe heißt nicht Hass, es heißt Angst. Das habe ich bloß lange Zeit nicht gewusst. Stattdessen versuchte ich die angeborene Angst zu bekämpfen, sie zu köpfen, sie zu ersticken, sie ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen, seit ich denken kann.

Später, als ich längst meinen Flug und mein Apartment auf der Insel gebucht habe, finde ich heraus, was der Name Hydra eigentlich bedeutet. Die Hydra, griechisch Ydra, ist ein neunköpfiges schlangenähnliches Ungeheuer der griechischen Mythologie. Die Hydra war die Tochter von Echidna und Typhon. Sie wuchs in den Sümpfen von Lerna, im Süden Griechenlands auf, und kam aus dem Wasser heraus aufs Land gekrochen, um Vieh zu reißen und die Felder zu verwüsten. Laut der Sage versuchte Herakles, mit seiner Keule dem Ungeheuer die Köpfe zu zerschmettern, doch kaum hatte er einen Kopf der Hydra zerschlagen, wuchsen anstelle des einen Kopfes zwei neue nach. Die Hydra wird deshalb gerne als Gleichnis benutzt für Situationen, in denen jeder Versuch einer Unterdrückung nur zu weiterer Eskalation führt. Ich habe lange versucht, meine Angst zu unterdrücken, und ja, das führte zu etlichen Eskalationen. Die liegen hinter mir, denke ich, während ich nun hier an diesem Hafen sitze, als sei ich nach einer unendlichen Reise bei mir angekommen. Es ist bei weitem nicht so, dass ich furchtlos bin, aber ich habe gelernt, das Ruder in die Hand zu nehmen, statt hilflos in einer Nussschale zu treiben und mich vor jeder Welle zu fürchten. Am Nachbartisch der Taverne sitzt ein Mann in einem blütenweißen Poloshirt mit seiner Frau. Ich bin die einzige Person hier, die allein zu Abend isst. Das Paar sieht mich von der Seite an, sie sprechen Deutsch, aber keiner ahnt, dass ich jedes Wort verstehe, weil ich kein Wort sage. Zu wem auch? Sie fragt ihn: »Sag mal, hab’ ich da was im Auge?« Er schaut kurz von seinem Grillteller auf und brummt: »Nö, da ist nichts.« Sie reibt ihre Augen und rückt noch ein Stück näher an sein Gesicht: »Doch, guck’ doch noch mal, da ist doch was drin.« Er guckt wieder, kann nichts finden. Sie fragt ihren pubertierenden Sohn: »Guck du mal, aber ich bin doch verschmiert da, oder?« Keiner kann was feststellen, sie isst weiter ihre frittierten Zucchiniblüten und schaut still vorwurfsvoll, als müsse man mehr für sie tun. Als müsse man ihr wenigstens eine Wimper zärtlich aus den Augen pulen. Ihr Sohn äußert, dass er allein noch mal durchs Dorf ziehen möchte mit seinem Kumpel. Die Frau ringt erst um Fassung, dann mit den Tränen, ich sehe, wie sie in ihr aufsteigen, auch, wie sie ihre Beine unter dem Tischtuch ineinander verhakt. Und ich fühle mit ihr. Dieses Leid in ihr, dieser Kampf, alles festzuhalten, zusammenzuhalten, damit es nicht zerrinnt, die Angst vor der Veränderung, die Angst vor dem Loslassen, dem Unbekannten, und die bittere Frage, warum der Sohn denn nun nicht mehr bei seinen Eltern bleiben möchte, wie all die vierzehn Sommer zuvor, wo ist denn alles hin? Und ich erinnere mich an den letzten gemeinsamen Urlaub als Familie vor zehn Jahren, in dem ich spürte, dass etwas in der Luft lag, ich dem Geist aber keinen Namen geben konnte. Es war, als würde ich auf einer Klippe stehen, vor mir der Abgrund und hinter mir verbranntes Land. Hätte ich damals gewusst, dass in diesem Sommer eine lange Reise begann, die ich allein antreten würde, die hässlich und wahnsinnig schön werden, und die am Ende doch nur zu mir führen würde, ich weiß nicht, ob ich sie freiwillig gebucht hätte. Aber das Leben hat oft ganz andere Trips mit einem vor als jene, die man selbst all-inclusive geplant hat.

Die Frau am Nachbartisch hätte ich früher sein können, in all ihrer Unsicherheit, mit ihren 600 Befürchtungen in einer Minute, was alles passieren, nicht passieren, schiefgehen, nicht perfekt sein könnte, und dem verzweifelten Versuch, Aufmerksamkeit für ihre Neurosen zu bekommen. Eine Katze streicht um meine Beine, ich bin frei wie ein Vogel. Als ich durch die engen Gassen nach Hause laufe, in Eselscheiße trete, über Honeymooner stolpere, erinnere ich mich daran, wie meine eigene Angst mich eingesperrt hat. Wie sie mich und alle um mich herum dominiert hat, im Sommer 2010. Wir waren auf Symi, auch eine griechische Insel, zum letzten Mal zu dritt in den Ferien. Nur damals wusste ich das noch nicht. Wo und wann genau habe ich das unsterbliche Haupt des Ungeheuers eigentlich enthauptet?

Angst ist eine einsame Insel

Am nächsten Morgen werde ich selbst zum Ungeheuer, wache auf und habe kein WLAN in dem Apartment, das ich für die nächsten zwei Wochen angemietet habe. Schlechte Bedingungen zum Arbeiten, ich eile ins nächste Café am Hafen, heute ist eine Deadline, die ich einhalten muss. Die alten Männer am Nachbartisch rauchen stinkige Kippen und machen so laute Geräusche mit ihren Gebetsketten, deren Name mir nicht einfällt, außerdem wackelt der Tisch, und ein Kleinkind hämmert mit einem Löffel auf die Tischplatte. Stresslevel hoch. Ja bitte, einen Greek Coffee, einen doppelten. Es ist unwahrscheinlich heiß, so wie damals auf Symi, nur, dass ich dort gleich am ersten Tag eine Grippe bekam, röchelnd hoch oben auf der Terrasse lag und mir leidtat, während die anderen unten am Meer Spaß hatten. Als die Sommergrippe überstanden war, machte mir das Klima zu schaffen, diese Bruthitze, dieser Schwindel, diese Mückenstiche, dieses Dies, dieses Jenes, dieses ganze ewige Kreisen um meinen eigenen Bauchnabel. Ich erinnere mich nun hier an alles wieder so genau, an all das, was ich verdrängt hatte. An mich, wie ich damals war, wie sehr ich mir im Weg stand. Ich war das einzige Hindernis in meiner Welt. Die Angst, die klein begann, die schon als Kind da war, wuchs, sie wurde so groß, so beherrschend, dass sie über mich bestimmte, über meinen Körper und Geist, auch über den der anderen. Selbst diese Grippe kommt mir im Nachhinein vor wie eine Erpressung. Wenn es mir schlechtgeht, soll es dir auch schlechtgehen, wenn ich hier niederliege, sollst auch du niederliegen, wenn ich nicht schwimmen gehen kann, sollst auch du nicht schwimmen gehen. Wenn du mich nicht mehr liebst, dann mach dir wenigstens Sorgen um mich. Sorgen machen war in meinem Leben immer das Synonym für Liebe. Man ließ mich dennoch allein zurück, mich in meinem eigenen Selbstmitleid und Saft schmoren. Was unbarmherzig klingt, hat eine lange Vorgeschichte. Zum Beispiel diesen anderen Sommer noch ein paar Jahre weiter zurück, in dem meine Panik ihren vorübergehenden Höhepunkt erreicht hatte und ich nach einem Tag allein überstürzt aus dem Familienurlaub abreisen musste. Komischerweise war auch der in Griechenland, ich scheine eine enge Bindung zu diesem Land zu haben, als wolle es mir etwas beibringen. Vielleicht bin ich deshalb nun wieder hier gelandet.

Als ich die Sache mit dem WLAN und dem Text schließlich im Griff habe, bleibe ich weiter im Café sitzen und beobachte Menschen. Ich sitze nur so rum, lasse meine Finger los, strecke meine Beine aus, lasse meinen Kopf, mein Handy, lasse meine Pläne los, lasse alles los, was hinter, und alles, was vor mir liegt. Sagt man nicht, dass alles, was wir haben, das Jetzt ist? Es fühlt sich gar nicht mal so wenig an. Ich bin dort, wo ich mich befinde, nicht dort, wo ich mich befinden will oder mal befand. Weder räumlich noch zeitlich. Nichts davon macht mir Angst. Wenn es nur immer so gewesen wäre. Am Mittag laufe ich den Hang am Dorfausgang hoch, finde an den Felsen zwischen den Pinien eine Treppe mit steilen Stufen hinunter zum Meer, ein Platz, an dem nicht viele Touristen liegen. Die meisten ziehen den Beachclub vor, dort gibt es bunte Drinks und schlechte Musik. Ich möchte heute höchstens die Stimme von Leonard Cohen hören.

 

Suzanne takes you down to her place near the river

You can hear the boats go by

And you can spend the night beside her

And you know, that she’s half crazy

But that’s why you want to be there

And she feeds you tea and oranges

That come all the way from China …

 

In der schönen Bucht steigt gerade ein dunkelbraungebranntes Paar aus Skandinavien mit dem Schnorchel ins Wasser, ich gucke ihnen zu, sie wirken liebevoll miteinander. Sie sind vielleicht Ende fünfzig und vermutlich schon lange zusammen, überlege ich. Die Frau scheint unabhängig von dem, was ihr Mann macht, komplett vollständig, in sich selbst ruhend. Als habe sie keine Bedürfnisse, die er stillen müsse, als sei sie zufrieden mit sich und würde sich selbst gut um ihre Bedürfnisse kümmern. Als brauche sie nicht seine Aufmerksamkeit, seinen Beifall oder seine besorgten Blicke, um sich richtig zu fühlen. Sie fragt nicht, ob sie was im Auge hat, ob der Schnorchel korrekt sitzt, sie schwimmt, kommt wieder aus dem Wasser raus, zuppelt auch nicht unsicher an ihrem Bikini rum, setzt sich einfach aufs Handtuch neben ihn, schüttelt ihr nasses Haar, lächelt ihn an und liest weiter in ihrem Buch. Ihr Auftreten ist so wahnsinnig attraktiv und hat gar nichts mit ihrer Optik zu tun, nur mit ihrer Souveränität. Er guckt sie von der Seite an, als habe er sich gerade in sie verliebt, küsst sie auf den Mund und leckt sich danach das Salz von seinen Lippen. Und ich muss hinter meiner Sonnenbrille wie ein geisteskranker Stalker aussehen. Ich war immer so kompliziert, hatte stets Angst, mich zu verbrennen. Kaum waren wir früher als Familie im Süden, lag ich weiß wie Michael Jackson unter einem Sonnenschirm. Die ökologische Sonnencreme war so dick und zähflüssig, dass wir sie nur »Der Teig« nannten. Auch das Kind wurde damit ummantelt wie ein roher Calamari im Bierteig. Ich hatte Angst vor Sonnenbrand, vor Hautkrebs, vor Sonnenallergie, vor Lippenherpes, vor einem Sonnenstich, und gleichzeitig Angst, nicht braun zu werden. Ich brauchte eine Sonnenliege, einen Sonnenschirm, einen Sonnenhut, jemanden, der mir den Rücken eincremt, jemanden, der schaut, ob der Rücken rot ist, und am liebsten noch jemanden, der mir sagt, dass der Leberfleck da hinten auf der Rückseite des rechten Oberschenkels sich nicht verändert hat. Und unbedingt jemanden, der mir am Abend sagt, dass ich schon total braun geworden bin. Es war nicht wirklich entspannt, mit mir unterwegs zu sein. Heute liege ich auf einem dünnen Läppchen direkt auf einem Felsen, die Wellen schwappen jedes Mal über, wenn ein Motorboot vorbeibrettert, setzen mein Lager unter Wasser, ach egal, ist ja heiß. Ich höre auf Kopfhörern sehr laut »Tints« von Anderson Paak und vergesse mich einzucremen. Mein Bikini ist ausgeleiert, ausgeblichen und von vorvorvorvorletzter Saison, ich fühle mich grandios darin, genieße die Wärme auf meiner Haut, und mache mir nicht bereits jetzt gedanklich einen Termin bei der Hautkrebsvorsorge. Ich genieße, was ist. Nicht das, was war, nicht das, was wird. Was wollte meine Angst eigentlich bewirken, oder anders gefragt: Hat sie mir womöglich gedient?

Am nächsten Tag kaufe ich auch einen Schnorchel bei einem Opi im Dorf, bei dem sicher auch schon Henry Miller einen gekauft hat. Der Opi hat einen Laden, in dem es alles gibt, von Postkarten über Ledersandalen bis Pingpong und Schnorchel. Er sieht so alt und gebrechlich aus, dass er im nächsten Sommer wahrscheinlich nicht mehr hier sein wird. Er wird begraben werden unter der Erde, oder seine Asche aufs offene Meer wehen, er wird dort hinfliegen, wo auch Leonard Cohen, meine Oma und meine Freundin Alexandra hingeflogen sind. Wo auch ich eintreffen werde, eines Tages. Ich bezweifle, dass es der Himmel über uns ist, und fürchte mich 24 Stunden am Tag vor diesem unbekannten Ort. Um das nicht 24 Stunden am Tag zu spüren, kaufe ich nun ein Paar Ledersandalen und den Schnorchel. »Good for you«, sagt er, als ich frage, ob der Unisex sei. »Good for you.« Ich vertraue ihm, fünfzehn Euro, wird schon passen. Wie viele Schnorchel ich in meinem Leben schon hatte, in jedem Urlaub war das Schnorcheln ein Thema. Damals in Italien, auf dieser Insel, die gegenüber dem Vesuv lag. Wir fuhren mit dem Schiff und unserem Sohn hinaus aufs Meer, sprangen von Bord, hinein ins tiefe Meer. Nein, das ist bloß meine blühende Phantasie, in Wahrheit kraxelte ich ängstlich die Leiter des Bootes hinab und hatte die Bikinihose voll, vor Angst, unser damals sechsjähriger Sohn könne absaufen. Ich vergewisserte mich hundertmal, dass mein Mann gut auf ihn aufpasst, ihn nicht aus den Augen oder von der Hand lässt. Ängstliche Mütter sind das Schlimmste, was einem Kind widerfahren kann, aber es ist so schwer, nicht ängstlich zu sein, wenn das Kostbarste, was man hat, eventuell untergeht, man jeden Tag aufs Neue selbst untergeht, begraben unter dem nicht stillstehenden magischen Denken. Die Tatsache, dass er bereits schwimmen konnte, hatte keinerlei Einfluss auf meine Gedanken. Es bestand keine Gefahr, vermutlich zu keinem Zeitpunkt, aber in mir standen alle Zeichen auf Alarm. Einer der Bootstypen sprang tatsächlich von der Railing, mit einem Messer an der Badehose befestigt wie bei einem Bond-Girl. Er tauchte kurz darauf wieder auf mit einem frischen Seeigel. Ich habe dieses Bild noch genau vor Augen, die Freude in den von der Sonne glühenden Gesichtern, auch in denen meiner kleinen Familie, die wider Erwarten den Schnorchelausflug unbeschadet überlebt hatte. Am Abend wurde es kühl auf dem Boot, es gab Risotto und Fisch, und ich konnte es nicht genießen, weil ich jeden Bissen so lange zerkaute, bis er Brei war, und immer wieder darauf hinwies, dass man gut aufpassen müsse wegen der Fischgräten. Mir wurde als Kind beigebracht, Fisch nie mit einem anderen Nahrungsmittel zusammen zu essen. Immer hintereinander, denn, wenn man den Kartoffelbrei mit dem Fischstäbchen zusammen im Mund habe, spüre man die Gräten nicht. Später schlief unser Sohn eingewickelt in ein Strandtuch auf unserem Schoß, der Vesuv glühte wie ein Lagerfeuer, und ich ließ endlich meine festgekrallten Zehen in den Flip-Flops los.

Wo ist der Notausgang?

Am zweiten Tag auf Hydra steige ich mit meinem neuen Schnorchel ins Meer, schwimme vorsichtig über die Korallen, nah am Ufer entlang. Als ich nur wenige Meter rausgeschwommen bin, entdecke ich unter mir Schwärme von Sardellen, sie glitzern in der Sonne. Ich treibe auf dem Wasser, höre meinen Atem, ein und aus, gleichmäßig, er beruhigt mich, ich entdecke orange-grüne Fische, solche, die Schuppen haben wie Echsen, gelb-schwarze, und dann: den Abgrund. Das Meer hier fällt steil bergab, und das nicht etwa weit draußen, schon unweit vom Ufer wird es richtig tief. So tief, dass ich einen Schreck bekomme und panisch wende. Was war das gerade? Es war schwarz und bodenlos und zog mich hinab ins Unbekannte. Am nächsten Tag gehe ich trotzdem wieder rein, schwimme vorsichtig über die Korallenbänke, immer weit genug entfernt vom Abgrund, in sicherer Entfernung. Am dritten Tag werde ich waghalsiger. Einen halben Meter weiter, noch ein Stück, siehst du, es passiert gar nichts, da ist kein Sog, wie du dir das vorstellst, es ist nur in deinem Kopf, siehst du da unten den großen silbernen Fisch, und daneben den Seeigel, siehst du das? Ich lächle unter Wasser, unter meinem Mundstück, und verschlucke mich am Salzwasser, glücklich, so glücklich, hier zu sein, unter der Oberfläche mit mir allein. Nichts, denke ich da unten, nichts kann dir jemals wieder Angst machen, wenn du das einmal gesehen hast, wie friedlich die Welt hier unten ist. Vielleicht sind die Seelen der Toten gar nicht im Himmel, vielleicht sind sie hier. Als ich wieder den Kopf über der Wasseroberfläche habe, fühle ich mich so, als hätte ich ein Geheimnis. Die anderen Urlauber sonnen sich da oben und ahnen nicht, was dort unten los ist. Wenn sie es wüssten, müssten sie auch nie wieder etwas befürchten. Vielleicht ist die Natur die beste Therapie, überlege ich, immer wieder zu sehen, zu spüren, dass es etwas gibt, das größer und tiefer ist als alles, was wir glauben zu wissen. Eine natürliche Ordnung, die sich unserer Kontrolle entzieht. Etwas, das noch existieren wird, wenn wir schon lange über alle Berge sein werden.

Am vierten Tag freue ich mich schon beim Aufwachen aufs Abtauchen, dabei ist es kein Tauchen, es ist das Harmloseste, was man tun kann im Meer, es ist für kleine Kinder, einfach den Kopf ins Wasser stecken und gucken. Diesmal schwimme ich bis zum Abgrund, dorthin, wo es unter mir unergründlich aussieht, ich den Meeresgrund nicht mehr sehen kann, nur ganz kurz, dann kehre ich um. Und ich werde belohnt für meinen Mut, Schwärme von Fischen unter mir, die ich drei Tage zuvor noch nicht gesehen hatte, das Schwarz wirkt weniger bedrohlich, je länger ich es aushalte. Dann kommt der Punkt, an dem es reicht, schnell den Kopf rausstrecken, vergewissern, dass ich noch so nah an den Felsen bin, dass ich mein Handtuch sehen kann, so nah, dass ich jederzeit wieder festen Boden unter den Füßen habe, so nah, dass ich raus kann, wann immer ich raus möchte aus dieser Situation. Ich kann das nur, wenn der Notausgang im Meer in sichtbarer Nähe ist, und tue so, als würde ich Apnoetauchen. Dabei bin ich nur alberne zehn Meter vom Steg entfernt. Ich brauche vier Tage, bis ich es bis zum Rand des Riffs schaffe. Ich bezweifle, dass andere Menschen dafür das Wort Mut in den Mund nehmen würden.

Für alles in meinem Leben habe ich eine Exit-Strategie. Meine Schwester gab mir vor vielen Jahren den Spitznamen Woody, er stammt von Woody Allen, weil ich wie der Stadtneurotiker lange Zeit auch etwas kompliziert mit den alltäglichen Gegebenheiten umgegangen bin. Es wird besser, aber ich sitze immer noch lieber am Gang, sei es im Flugzeug oder im Kino. Ist mir völlig unverständlich, sich freiwillig zwischen Menschen zu platzieren, die sich mit Käse überbackene Nachos reinpfeifen. Diese Kaugeräusche, der penetrante Gestank, diese Ausweglosigkeit. Also sitze ich stets am äußersten Rand der Reihe, allerdings nur an dem Rand, der direkt zur Tür liegt, nicht jener, der an der Wand endet, denn dann würden ja zwischen mir und dem Ausgang mindestens zwanzig Leute sitzen, die mir den Weg versperren würden. Nein, nicht, wenn ich aufs Klo müsste, sondern wenn es einen Notfall gäbe, ein Feuer, eine Bombendrohung, oder eine Panikattacke. Meine eigene, meine ich. In Flugzeugreihen sind es weitaus weniger Personen, über die ich klettern müsste, meistens ja höchstens zwei Sitznachbarn, wenn man am Fenster sitzt. Aber das Gefühl, nicht freie Bahn zu haben, wenn ich freie Bahn brauche, raubt mir den Atem. In jeder Lage, in jedem Augenblick, in jeder Beziehung.

Wenn es so weit ist, kannst du dich immer noch fürchten

Man hat nicht immer vier Tage, um sich was zu trauen. Manchmal nicht mal vier Minuten. So wie vorletztes Jahr in Australien, ich war auf einer Pressereise, einer der Programmpunkte lautete »Schwimmen mit den Buckelwalen«. Große Aufregung im Vorfeld, eine Kollegin, hieß es, habe kurzfristig abgesagt, weil sie sich das doch nicht zutraute. Ich sagte selbstverständlich zu. Große Klappe erst, klar mache ich das, dann verstanden, dass Buckelwale die Maße eines Omnibusses haben und dich mit einem Flossenschlag umhauen können, aber das sei sehr unwahrscheinlich, las ich bei meinen gründlichen Recherchen. Je näher der Tag rückte, an dem wir aufs Meer fuhren, über uns Helikopter, die die Wale sichten sollten, umso nervöser wurde ich. Am Tag selbst war mir schlecht vor Aufregung, es gab Butterkekse und schwarzen Tee an Bord, die Neoprenanzüge wurden verteilt, meiner war zu weit, der zweite zu stramm, mein ganzer Körper sagte Nein, bevor es überhaupt losging. Meine Kolleginnen wirkten so aufgekratzt, als würden wir gleich in eine Outlet-Mall gehen, dabei ging es immer weiter aufs offene Meer. Der Himmel war dunkel, das Wasser war dunkel, ich war bleich. Bevor es losging, gab es eine Einweisung von einem jungen Typ, der offenbar ganzjährig allein auf dem Boot lebte, später scherzten seine weiblichen Kolleginnen, er habe Schwimmhäute zwischen den Fingern. Wir mussten ein Trockentraining absolvieren, in der Nähe des Bootes schnorcheln mit Flossen, um zu beweisen, dass wir die Basics draufhaben. Man bot mir eine Schwimmnudel an, weil ich offenbar so unsicher wirkte, als könne ich nicht mal schwimmen. Ich sagte: »Ich kann schwimmen, es ist nur so, dass ich Angst habe, auf dem offenen Meer zu schwimmen.« Was ich nicht erwähnte, war, dass ich mit sechs Jahren in den Sommerferien sechs Wochen lang täglich einen Schwimmkurs im Freibad absolviert hatte. Nach den sechs Wochen hatte ich meiner Mutter erklärt, es habe bloß deshalb so lange gedauert, bis ich schwimmen konnte, weil mich der böse Bademeister immer so ruppig von hinten an meinem Badeanzug hochgezogen habe, damit ich oben bleibe. Wenn jemand von außen eingreift in meine Welt, in meine Wahrnehmung, jemand sagt, wie ich es machen soll, wenn man mir nicht die Zeit und Zuversicht gibt, in einer mir angemessenen Geschwindigkeit meine eigenen Erfahrungen zu machen, werde ich unsicher. Braucht nicht jeder Vertrauen, um sich was zu trauen? Nicht nur Vertrauen in sich selbst, sondern auch von außen? Die Info, dass ich später nur das Seepferdchen ergattert hatte, weil auch die Schwimmlehrerin in der Grundschule ein alter Drache war, der Spucke in den Mundwinkeln hatte, einen Damenbart und eine moosgrüne Badeshorts aus Wolle trug, ließ ich auf dem australischen Dampfer unter den Tisch fallen. Auch scheiterte meine Schwimmkariere an meiner mangelnden Kooperation, als der Drache in rüdem Tonfall befahl, vom Dreimeterbrett zu springen. Ich stand dort oben, und drehte wieder um. Danach betrat ich nie wieder ein Dreimeterbrett. Hat man was verpasst, wenn man niemals von einem Dreimeterbrett gesprungen ist?

Die australische Meerjungfrau, die für unsere Truppe zuständig war, sah mich an, als hätte ich gesagt, ich könne nicht laufen, als ich die Sache mit dem offenen Meer zugab. Wir mussten im Vorfeld einen Fragebogen ausfüllen, ob und wie gut wir schwimmen könnten, ob es Probleme gebe mit »open waters«. Ich meine, was heißt das denn überhaupt »auf dem offenen Meer«, gibt es auch ein geschlossenes, fragte ich mich, während ich bereits mit den Wellen und meiner Furcht kämpfte, obwohl ich noch an einer Strippe befestigt probeweise ums Boot trieb. Ich hasse Flossen, wie soll ich in Flossen denn Froschbewegungen machen? Man erklärte mir wieder mal, dass man mit Flossen aber doch viel schneller vorankäme, man statt Froschbewegungen eben Fischbewegungen machen soll, aber ich mag das Gefühl nicht, in diesen Plastikfüßen gefangen zu sein, als seien meine eigenen gefesselt. Später, wenn es dann losgehen würde, sagte der Typ mit den Schwimmhäuten, müsse es schnell gehen. Er würde uns ein Zeichen geben, sobald er das Signal über Funk von den Kollegen im Helikopter bekäme, dann würde er Go, Go, Go rufen, und dann müssten wir echt auf Zack sein. Wenige Sekunden, höchstens. Er verzog keine Miene, als er das mehrmals wiederholte, keine Zeit für Witze. Mich stresste allein die ganze Atmosphäre. Außer uns, meine vier Kolleginnen und ich, waren noch drei Paare mit an Bord. Das eine Pärchen machte bereits übertrieben gut gelaunte Selfies, als sie noch in ihren brottrockenen Neoprenanzügen steckten, für jeden Schnappschuss Daumen hoch und Dauergrinsen. Daumen hoch für was, dass sie 500 Dollar pro Person geblecht hatten, um an Bord sein zu dürfen? Es war doch noch gar nichts passiert, sie hatten noch nicht mal einen Fuß benetzt. Das andere Paar wirkte ähnlich verstört wie ich, das dritte schaute professionell schweigend in die Ferne. Meine Schweizer Kollegin setzte sich neben mich und fragte, was los sei. »Ich kann das nicht, ich hab’ echt zu viel Angst.« Sie: »Vor was denn?« »Na, vor all den Dingen, die schiefgehen können. Was, wenn ich nicht schnell genug bin oder da draußen Panik bekomme?« Sie sah mich verständnislos an und meinte: »Wenn es so weit ist, kannst du dich immer noch fürchten. Aber doch nicht vorher.« Ich fand den Ansatz klug, so positiv, so weise, er klang so gut, aber er erreichte nicht meinen Kern. Im Kopf verstand ich ihn, im Rest des Körpers nicht. Und dann sagte sie noch: »Du machst doch Yoga!« Den Satz hatte ich schon mal gehört. Als sei Yoga ein Garant, um mit jeder Situation klarzukommen, als sei ich ein schlechter Yogi, weil ich trotz tiefer Bauchatmung nicht mit jeder Situation umgehen kann. Und es war ja auch was dran. Trotz all meines Yogawissens, der jahrelangen Praxis, meiner Erfahrung, der Atemübungen, der Millionen herabschauender Hunde, der Kopfstände, der stundenlangen Meditationen, die ich gemacht, die Ashrams, die ich besucht hatte, blieb ich im Kern ich: ein Hasenfuß. Was sie allerdings nicht wusste, war, wie mutig dieser Hasenfuß in anderen Bereichen des Lebens schon gewesen war. Bereiche, die sich nicht mal annähernd messen lassen mit einem Sprung ins kalte Wasser.

Ich ließ ihren Vorschlag, mich erst zu fürchten, wenn es so weit ist, kurz sacken. Wenn es so weit ist, wenn die Situation lebensbedrohlich ist, sagen wir, wenn ich während der Buckelwalverfolgung Panik bekäme, ich infolgedessen nicht mehr schwimmen könnte, wäre es doch bereits zu spät. Also muss ich gefährliche Situationen erkennen, sie umschiffen, gar nicht erst riskieren. Meine andere Kollegin raunte mir zu, sie habe auch Angst. Ich war erleichtert, nicht der einzige Schisser zu sein, und kämpfte mit mir: Soll ich sie davon überzeugen, dass sie zu Recht Angst hat und wir beide besser zurückbleiben auf dem Boot, ihr klarmachen, dass wir die beiden Einzigen sind, die noch richtig ticken? Sollen sich doch die anderen vom Wal erschlagen lassen, wir zwei wissen es besser. Hatte ich nicht gelesen, dass einmal sogar so ein riesiges Säugetier versehentlich und ohne böse Absicht bei einem seiner Sprünge in ein Beiboot gehüpft sei, in dem ausgerechnet ein kleiner Junge mit seiner Mama saß, um dem Schauspiel aus, nun ja, sicherer Entfernung beizuwohnen? Beide kamen dabei ums Leben. Und war das Unglück nicht auch in Australien geschehen? Oder soll