Angst selbst bewältigen - Dietmar Hansch - E-Book
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Angst selbst bewältigen E-Book

Dietmar Hansch

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Beschreibung

Angst ist in Deutschland die häufigste seelische Störung, noch vor Alkoholismus und Depression. Als einer der erfahrensten Angsttherapeuten im deutschsprachigen Raum vermittelt Dietmar Hansch fundiert und klar, wie man die am häufigsten auftretenden Ängste in den Griff bekommen kann: Panikattacken, Platzangst, soziale Phobien und chronisches Sich-Sorgen und Befürchten. Die Synergie-Methode verbindet die erfolgreichsten Therapien und Ansätze aus der modernen Angstforschung zu einem praxistauglichen Konzept der Selbstbehandlung. "Wenn es Ihnen gelingt, den Prozess Ihrer Selbstveränderung positiv zu definieren, als einen Weg nicht nur fort von der Angst, sondern auch und vor allem als einen Weg hin zu persönlicher Meisterschaft, die Ihre Lebensmöglichkeiten erweitert, dann wird dies ein nicht nur schmerzlicher, sondern ein über lange Strecken auch sehr freudvoller Weg werden können." Dr. Dietmar Hansch

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Seitenzahl: 577

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Dietmar Hansch

Angstselbst bewältigen

Das Praxisbuch. Die Synergie-Methode – entwickelt aus der aktuellen Angstforschung

Knaur e-books

Über dieses Buch

Panikattacken, soziale Phobien, Platzangst und das Befürchten von negativen Ereignissen sind die am häufigsten vorkommenden Ängste. Langfristig erfolgsentscheidend bei der Behandlung von Ängsten ist vor allem die tägliche Selbstkorrektur in den vielfältigen Situationen des Alltags.

Dietmar Hansch gibt aus seiner langjährigen Praxiserfahrung sein umfassendes Hintergrundwissen und detaillierte Anleitungen zur Selbstbehandlung weiter. Die Synergie-Methode integriert die wirksamsten Techniken zu einem stimmigen Gesamtkonzept. Dieser sehr fundierte und weitgreifende Ansatz bietet auch Betroffenen mit schon chronischen Angsterkrankungen eine neue Chance, bei denen allzu »einfache Tricks« nicht geholfen haben.

Inhaltsübersicht

Hilfe und Selbsthilfe bei Panik, Phobien und generalisierter AngstWarum Selbsthilfe-Bücher?Warum gerade dieses Selbsthilfe-Buch?Wie umgehen mit diesem Buch?Teil 1:Angsterkrankungen im Überblick1 Angst und GehirnVier Gesichter der Angst: Panikstörung, Agoraphobie, soziale Phobie und generalisierte AngststörungAngstantrieb: der evolutionäre Sinn von FurchtDas heiße, emotionale Selbst (Ebene 1)Das kühle, vernünftige Ich (Ebene 2)Selbst und Ich – wie Ross und ReiterDrei Lern- und Verinnerlichungsstufen im Selbst: Denken/Wissen, Konditionierung und Gewöhnung2 Die Ursachen von AngsterkrankungenNicht eine Ursache, sondern viele!Dispositionen: Gene und frühe VerletzungenWegbereiter und Auslöser: Dauerstress und der berühmte letzte TropfenEskalations- und Chronifizierungsmechanismen auf drei StufenUrsachen 2. Ordnung – Mangel an Selbstkompetenz und Ressourcen3 Sofortmaßnahmen – Was immer und schnell hilftEntlastungStressmanagement: klären und Entscheidungen treffenReframing: förderliche Sichtweisen für wiederkehrende BelastungenDeeskalieren mit taktischer Akzeptanz und paradoxer IntentionDen Worst Case akzeptieren, um Blockierungen und Verkrampfungen zu lösenAuch Achtsamkeit wirkt deeskalierendEntspannungsverfahren: LippenbremsatmungWas noch wichtig ist: Ressourcenaktivierung und nachhaltige Balance4 Spezielle Anti-Angst-Maßnahmen im ÜberblickStufe 1: Anti-Angst-Wissen verinnerlichen und deeskalieren lernenStufe 2: Umkonditionieren mit ImaginationsübungenStufe 3: Konfrontation und DesensibilisierungNoch mal ein Blick aufs Ganze: die 2e3s-Synergie-MethodeAnti-Angst-Grundhaltungen: Akzeptanz, Vertrauen, OffensiveUse your Brain to shape your Brain – das Geheimnis nachhaltigen TherapieerfolgsTeil 2: Selbsthilfe bei den wichtigsten Angsterkrankungen5 PanikstörungInitialphase: die erste PanikattackeDie Symptome der PanikattackeKonditionierungsphase: Krankheits- und Erwartungsängste schärfen die BombeRückzugsphase: Vermeidung, Agoraphobie und DepressionMedizinische Abklärung: Steckt nicht doch eine körperliche Erkrankung dahinter?Selbsthilfe bei Panikstörung:Wissensarbeit, paradoxe Techniken (Stufe 1)Umdenken: mit Reframing und paradoxen Techniken gegen die EskalationKonditionierungsarbeit: das Angstnetz auflösen (Stufe 2)Konfrontationsbehandlung: sich wieder daran gewöhnen (Stufe 3)Praxisphasen: die Angstbombe Schritt für Schritt entschärfen6 AgoraphobieWas Platzangst ist und wie sie entstehtWie Platzangst eskaliert und sich ausbreitetWelche Formen Platzangst annehmen kannDie Platzangst wieder loswerden – Wissensarbeit (Stufe 1)Das Situationserleben umkonditionieren (Stufe 2)Systematische, gestufte Konfrontation (Stufe 3)7 Soziale PhobieAngst vor kritischer Beurteilung – die SozialphobieSchäm dich! Setzen! Wie eine Sozialphobie entsteht und sich entwickeltSoziale Ängste überwinden – was es zu wissen gilt (Stufe 1)Coole Tagträume (Stufe 2)Ernste Lustspiele (Stufe 3)8 Generalisierte AngstKrank vor Sorgen – die generalisierte Angststörung (GAS)Sei bloß vorsichtig! Wie eine GAS entsteht und sich entwickeltGeneralisierte Ängste eindämmen – was man wissen sollte (Stufe 1)Wissen gegen die UrängsteIm Angesicht des Schreckens (Stufen 2 und 3)9 Zwei weiterführende OptionenFrühe Prägungen, Persönlichkeitsakzentuierungen, spezifische Defizite – Dispositionen bearbeitenAufbau von Selbstkompetenz und Ressourcen – Ursachen 2. Ordnung bearbeiten10 Über Psychotherapeuten, Kliniken und MedikamenteAmbulante TherapieStationäre TherapieMedikamenteWie geht es weiter?LiteraturZitatnachweis
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Hilfe und Selbsthilfe bei Panik, Phobien und generalisierter Angst

Da Sie sich für das Thema Angsterkrankungen interessieren, gestatten Sie mir, Sie als wahrscheinlich Betroffenen direkt anzusprechen. Zunächst einmal kann ich Ihnen Mut machen: Angststörungen sind gut behandelbar. In nicht wenigen Fällen ist Heilung ganz oder weitestgehend möglich; vielfach lässt sich die Angst so weit eindämmen, dass keine Einschränkung mehr empfunden wird; immer ist eine deutliche Reduzierung des Leidensdrucks erreichbar!

Die Grenze zwischen noch normaler Angst in unsicheren Zeiten und einer Angsterkrankung ist natürlich fließend und manchmal schwer zu bestimmen. Sie sollten sich angesprochen fühlen, sofern Angstprobleme in erheblichem Maß Ihren Alltag beeinträchtigen.

Es könnte sein, dass die Angst aus heiterem Himmel kommt, überstarke Ausmaße annimmt und mit ängstigenden körper­lichen Phänomenen einhergeht (z. B. Schwitzen, Herzrasen, Zittern, Schwindel oder Atemnot). Es könnte sein, dass Sie aus Furcht vor solchen Angstanfällen bestimmte Alltagssituationen meiden, z. B. Einkaufszentren, öffentliche Verkehrsmittel oder Fahrstühle. Oder Sie haben in sozialen Anforderungssituationen – z. B. beim Halten von Vorträgen – eine überstarke Angst, die Ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Und schließlich könnte es sein, dass Sie über viele Stunden des Tages von schwer kontrollierbaren Sorgen geplagt werden, die sich auf eigentlich normale Alltagsprobleme beziehen.

In diesen Fällen könnten Erkrankungen wie Panikerkrankung, Platzangst (Agoraphobie), soziale Phobie oder generalisierte Angststörung im Entstehen sein oder schon vorliegen. Diese Formen von Angststörungen sind die wichtigsten und werden im vorliegenden Buch besprochen. Aufs Ganze gesehen gehören Angsterkrankungen zu den häufigsten psychischen Störungen, und es gibt starke Hinweise, dass zumindest leichte bis mittelschwere Formen von Angststörungen häufiger werden.

Warum Selbsthilfe-Bücher?

Sollte das Gesagte zumindest teilweise auf Sie zutreffen, ist es eine gute Idee, zu solch einem Buch zu greifen. Insbesondere bei Angststörungen haben Selbsthilfe und Selbsthilfe-Bücher einen hohen Stellenwert. Fehlendes Wissen und inkorrektes Denken spielen bei der Entstehung von Angststörungen eine deutlich größere Rolle als bei anderen psychischen Erkrankungen. Die einfachste und effektivste Weise, sich das nötige Hintergrundwissen anzueignen, ist die Lektüre eines solchen Selbsthilfe-Buches.

Generell sollte sich Psychotherapie so weit wie möglich als »Hilfe zur Selbsthilfe« verstehen. Einerseits wird so vermieden, dass Patienten in zu hohem Maße abhängig von ihrem Therapeuten werden, und andererseits geht es ja, genau besehen, auch gar nicht anders. Kaum einmal – ich selbst habe es nie erlebt – funktioniert Psychotherapie nach dem Prinzip der Wunderheilung: Eine geniale therapeutische Maßnahme, ein »innerer Knoten« löst sich und alles ist gut. Psychische Störungen beruhen zumeist auf Reaktions- und Verhaltensmustern, die durch die Gene, frühe Prägungen und ungute Gewohnheiten fest verwurzelt sind. Ihre Veränderung gelingt meist nur in einem längerfristigen Prozess des Umlernens und Übens nach dem Prinzip der kleinen Schritte. Das braucht deutlich mehr Zeit, als in ambulanten oder stationären therapeutischen Settings zur Verfügung steht. Daraus folgt: Es wäre gut, wenn Sie Schritt für Schritt die Fähigkeit aufbauen würden, einen möglichst großen Teil der Therapiearbeit in Eigenregie zu leisten. Soweit es Ihnen möglich ist, sollten Sie sich zu Ihrem eigenen Therapeuten ausbilden (lassen). Nutzen Sie dazu unbedingt Selbsthilfe-Bücher wie dieses. Studien zeigen, dass es Betroffenen mit geringen bis mäßigen Problemen durchaus gelingt, auf solchen Wegen der Selbsthilfe ausreichende Besserung zu erreichen. Anderenfalls suchen Sie sich zusätzlich einen Therapeuten. Erwarten Sie von diesem aber nicht, dass er Sie sozusagen am »offenen Herzen« operiert – engagieren Sie ihn als einen Helfer bei Ihrer Selbsthilfe und ergänzen Sie die Therapie durch eine selbstständige Arbeit mit Büchern wie diesem.

Gerade bei Angststörungen sind die Erfolgschancen eines solchen Selbsthilfe-Konzepts auch deshalb besonders gut, weil die Betroffenen zumeist genügend Kraft haben, es in ausreichendem Maße umzusetzen. Anders als etwa bei Menschen mit Depressionen oder Burn-out sind bei ihnen Antrieb und Motivation nicht oder zumindest nicht so stark und dauerhaft reduziert. Die Angst ist und bleibt eine Kraft – eine Kraft, die man auch zu ihrer eigenen Zähmung positiv nutzen kann.

Warum gerade dieses Selbsthilfe-Buch?

Zum Thema Angststörungen gibt es schon eine Fülle von Selbsthilfe-Büchern, darunter sehr gute, auf die hier zum Teil auch verwiesen wird. Was ist am vorliegenden Buch also neu oder anders?

Um es gleich vorweg zu sagen: Was auch ich nicht anbieten kann, ist eine gänzlich neue Heilmethode mit sofortiger und durchschlagender Wirkung, und ich fürchte, auf eine solche Wundermethode sollten wir auch nicht hoffen. Denn viele gewichtige Gründe sprechen dafür, dass es so etwas auf absehbare Zeit nicht geben wird. Was es dagegen gibt, ist eine Handvoll altbekannter Verfahren, deren positive Wirkung wissenschaftlich nachgewiesen ist. Darüber hinaus gibt es eine Überfülle weiterer Methoden, die allenfalls eine geringe Wirkung zeigen, sofern man an sie glaubt (Placebo-Effekt). Das Feld der Angstbehandlung ist deshalb sehr unübersichtlich. Oft werden bestimmte Einzelmethoden unangemessen in den Vordergrund gerückt oder gar als einzig heilbringende angepriesen. Es ist sehr schwer, hier Ordnung hineinzubekommen, um sinnvolle Auswahlentscheidungen zu treffen.

Was braucht es in dieser Situation? In welcher Richtung wäre noch Fortschritt zu erzielen? Nun, man müsste die wirksamen Methoden auswählen und auf eine Weise in ein Rahmenkonzept integrieren, die Synergien ermöglicht. So kann sich aus Einzelmethoden, die für sich genommen nur eine mäßige Wirkung haben, ein Gesamtherangehen entwickeln, das eine hochgradige Wirkung zeigt. Diesen Ansatz verfolge ich im vorliegenden Buch.

Deutlicher als bisher soll die »Psycho-Logik« der Angstentstehung und -behandlung dargestellt werden, deutlicher als bisher soll in einem ganzheitlichen Bild gezeigt werden, wie Psyche funktioniert, wie sich Angsterkrankungen einschleifen, welchen Ort, welche Funktion und welchen Stellenwert die einzelnen Therapiemaßnahmen haben, wie sie zusammenwirken und dadurch »Aufwärtsspiralen« erzeugen können. Dies sollte beim Leser und beim Betroffenen durch einen Zugewinn an Plausibilität die Veränderungs- und Therapiemotivation stärken.

 

Greifen wir kurz einen der zentralen Punkte heraus: In der wissenschaftlich fundierten Psychotherapie gibt es eine Tendenz, bestimmte Formen des Lernens isoliert zu betrachten, sie überzubetonen und gegen andere Lernformen in Stellung zu bringen. So solle man z. B. entweder nur kognitiv arbeiten oder nur konfrontativ, weil sich die beiden daran beteiligten Lernformen – das Einsichtslernen und das Gewöhnungslernen – wechselseitig behindern würden. Das ist nicht psycho-logisch. Im Gehirn laufen alle Lernformen ganzheitlich-integriert und parallel ab, auch und gerade bei den fehlgeleiteten Lernprozessen, die zu Angsterkrankungen führen. Im vorliegenden Buch werden die einzelnen Lernstufen deshalb gezielt angesprochen und in einem ganzheitlichen Prozess des Korrekturlernens zusammengeführt. Nur wenn ich auf der Einsichtsebene in der Tiefe verstanden habe, dass etwas Ängstigendes wirklich ungefährlich ist, vermag ich es in der Konfrontation auch innerlich so nah an mich »heranzulassen«, dass eine effektive Gewöhnung stattfinden kann.

 

Einer solchen »Suche nach Synergien« habe ich mich im Übrigen nicht nur bei der Angstbehandlung verschrieben. Seit vielen Jahren bemühe ich mich unter der Bezeichnung Psychosynergetik um den Aufbau einer ganzheitlichen Lehre der psychischen Veränderung. Hier geht es in erster Linie nicht mehr um die Beseitigung von Defekten, sondern um den Aufbau des Positiven und Gesunden. Sollten Sie die Herangehensweise dieses Buches überzeugend finden, hätten Sie damit die Möglichkeit, in verschiedener Richtung bruchlos weiterzugehen – in Richtung einer Burn-out-Prävention z. B. oder in Richtung einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung. Zu diesen und anderen Themen habe ich weiterführende Bücher publiziert.

Wie umgehen mit diesem Buch?

Ich habe mich entschlossen, in diesem Buch die Selbsthilfe bei den vier wichtigsten Formen von Angsterkrankungen – Panikstörung, Agoraphobie, soziale Phobie und generalisierte Angststörung – integriert zu besprechen. Zum einen sind die Grenzen zwischen den Diagnosen fließend – Betroffene werden oft von Mischformen geplagt –, zum anderen gibt es gemeinsame Grundlagen, und die Selbsthilfeprinzipien für eine Diagnose sind immer auch in Teilen für andere Diagnosen hilfreich.

Diese gemeinsamen Grundlagen und universellen Behandlungsansätze werden im ersten Teil des Buches besprochen. Im zweiten Teil geht es dann um die vier o. g. Einzeldiagnosen. Hier werden die spezifischen Mechanismen und Behandlungsmaßnahmen ergänzt.

Für den Betroffenen und Leser ergibt sich daraus die folgende Empfehlung: Egal, wo der Schwerpunkt Ihres Problems oder Ihres Interesses liegt, lesen Sie dieses Buch nach Möglichkeit ganz und beginnen Sie vorn. Die Buchteile und Kapitel bauen aufeinander auf, und es werden einige wenige Fachbegriffe eingeführt.

 

Ich habe mich bemüht, dieses Buch so einfach und so gut lesbar wie möglich zu gestalten. Allen meinen Patienten, Kollegen und Freunden, die mir dabei als kritische Probeleser geholfen haben, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Ein »Psycho-Krimi für den Nachttisch« ist es natürlich trotzdem nicht geworden. Ich bin mir aber sicher, dass es für die meisten Betroffenen gut möglich sein wird, es zu lesen und die besprochenen Übungen ausreichend gut umzusetzen. Zumindest unter Aufwendung einiger Mühe.

Und das sollte es Ihnen wert sein! Bedenken Sie, worum es geht! Wie gesagt, sind Angststörungen gut behandelbar. Dennoch befinden Sie sich als Angstbetroffener in einer mehr oder weniger schwierigen und beeinträchtigenden Situation, aus der auf lange Sicht durchaus Gefahren erwachsen können. Denken Sie an Ihre gegenwärtigen Einschränkungen, denken Sie an die Freiheit und das Glück, das Sie zu gewinnen haben. Und dann entscheiden Sie sich dafür, die nötige Zeit und Energie aufzubringen, den Weg aus der Angst konsequent zu gehen.

Wenn Sie das Gefühl haben, dass dieses Buch zu Ihnen passt, dann entschließen Sie sich, richtig damit zu arbeiten. Es könnte sinnvoll sein, es zur Orientierung erst einmal komplett zu lesen, um es dann ein zweites Mal gründlich durchzuarbeiten. Hierbei können Sie entsprechend Ihrer individuellen Problematik natürlich Schwerpunkte setzen. Machen Sie Unterstreichungen, schreiben Sie sich Wichtiges heraus, denken Sie darüber nach, ergänzen Sie es durch eigene Gedanken, klären Sie aufkommende Fragen, wiederholen Sie die Hauptinhalte regelmäßig, bis Sie sie im Gedächtnis haben. Aber vor allem: Versuchen Sie so weit wie möglich, die beschriebenen Aufgaben und Übungen in die Praxis umzusetzen. Nur die mutigen Schritte auf der steinigen Straße bringen Sie ans Ziel, nicht das Betrachten des Wegweisers. Lassen Sie sich nicht durch Hindernisse aufhalten, springen Sie nicht von Buch zu Buch und von Guru zu Guru in der Hoffnung auf einfache Lösungen. Die gibt es leider nicht! Die Lösung liegt in einer systematischen, kleinschrittigen Veränderungsarbeit über längere Zeit. Besuchen Sie auch immer wieder einmal die Website www.angst-selbst-­bewältigen.de, die kontinuierlich um weiterführende und unterstützende Multimedia-Inhalte ergänzt wird.

Machen Sie sich bewusst: Krankhafte Ängste sind überbordende, irrationale Gefühle. Hierfür gibt es in unserer Psyche nur eine Gegenkraft: die Vernunft. Und genau diese stärken Sie, indem Sie sich ein Buch wie dieses zu eigen machen und seine Inhalte beherrschen lernen. Nehmen Sie die unvermeidlichen Schwierigkeiten an und wachsen Sie daran.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei!

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Teil 1:Angsterkrankungen im Überblick

1Angst und Gehirn

Vier Gesichter der Angst: Panikstörung, Agoraphobie, soziale Phobie und generalisierte Angststörung

»Oh nein – jetzt geht das wieder los! Das ist so grauenvoll!« Und dann fängt das Herz an zu rasen, Hitze wallt hoch, das Zittern beginnt, Schweiß quillt aus allen Poren, die Luft wird knapp und ein Kloß verschließt den Hals. Eine innere Stimme schreit: »Ich kriege einen Herzinfarkt! Ich ersticke! Mich trifft der Schlag! Ich werde verrückt! Gleich falle ich um!« oder gar: »Ich sterbe!« Brustschmerzen, Schwindel und Entfremdungsgefühle können hinzukommen.

Wenn Sie solche Zustände kennen, leiden Sie wahrscheinlich an einer Panikstörung. Oft kommt es wie aus heiterem Himmel zu sich wiederholenden Panikattacken, bei denen sich die Angst in kürzester Zeit zu maximaler Intensität hochschaukelt. Die o. g. körperlichen Phänomene sind übersteigerte, aber im Kern normale und ungefährliche Begleiterscheinungen starker Angst. Sie werden aber nicht als solche erkannt, sondern als Symptome schlimmer körperlicher Erkrankungen interpretiert, die Angst machen und sich dadurch selbst verstärken.

In der Folge vermeiden die Betroffenen oft Situationen, in denen es schon einmal zu Panikattacken kam, in denen eine Flucht oder das Holen von Hilfe schwierig wäre oder peinliche Situationen entstehen könnten. Das betrifft einerseits sehr belebte Plätze wie Einkaufszentren oder öffentliche Verkehrsmittel, andererseits aber auch Situationen des Alleinseins wie Fahrstuhlfahren oder Waldspaziergänge. Dies nennt man Agoraphobie (Platzangst). Panikstörung und Agoraphobie können zu sehr heftigen, einschränkenden und langwierigen Erkrankungen heranwachsen, sofern sie nicht frühzeitig und effektiv behandelt werden.

Oft ist die Angst aber auch auf ein spezielles Thema fokussiert – man spricht dann von spezifischen Phobien. Die wichtigste und belastendste aus dieser Gruppe ist die soziale Phobie. Diese auch als soziale Angsterkrankung bezeichnete Störung ist die dritte Form von Angststörungen, um die es in diesem Buch gehen soll.

Die Sozialangst kann sich eher diffus auf alle sozialen Situationen – außerhalb von Familie und engem Freundeskreis – beziehen, in denen man bei bestimmten Tätigkeiten Gefahr läuft, prüfend beobachtet zu werden, z. B. Bezahlen an der Kasse, Unterschreiben am Bankschalter. Sie kann sich aber auch auf bestimmte Situationen fixieren, wie das öffentliche Reden und Präsentieren oder der Kontaktaufbau zum anderen Geschlecht. Sichtbare Symptome wie Rotwerden, Kloß im Hals, Zittern oder Schwitzen sind hier besonders gefürchtet, und es ist möglich, dass sich daraus ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten entwickelt.

Ein viertes Gesicht der Angst trägt den Namen »generalisierte Angststörung«. Hier tritt die Angst nicht so punktuell und heftig in Erscheinung, sie verteilt sich sozusagen gleichmäßiger über das ganze Leben. Die Betroffenen machen sich über jedes halbwegs problematisierbare Thema Sorgen: über die Gesundheit von Familienmitgliedern, über die finanzielle Absicherung oder die Zukunft der Firma. Schließlich sorgen sie sich darüber, dass sie sich so viele Sorgen machen und dass sie das nicht abstellen können. Je nach Veranlagung sind die Begleitsymptome unterschiedlich. Häufig finden sich Nervosität, Unruhe, Muskelverspannungen oder Schwindel. Diese Form der Angststörung entwickelt sich eher schleichend und kann in eine Depression übergehen.

 

Haben Sie sich bei den hier geschilderten Beschwerden wiedererkannt? Dann sollten Sie weiterlesen! Im zweiten Teil des Buches besprechen wir diese vier Angsterkrankungen im Detail – hinsichtlich ihrer Symptome, der dahinterstehenden Mechanismen sowie der Möglichkeiten von Hilfe und Selbsthilfe.

Aber zunächst: Was ist Angst eigentlich? Ist Angst immer krankhaft? Wo kommt sie her?

Angstantrieb: der evolutionäre Sinn von Furcht

Unser Körper, unser Gehirn und seine psychischen Funktionen sind im Laufe der Evolutionsgeschichte entstanden. Es bildeten sich Strukturen und Funktionen heraus, die unter den Lebensbedingungen der Primaten und Steinzeitmenschen dem Überleben dienlich waren. Alle Reaktions- und Verhaltenstendenzen, die für das Überleben des Einzelnen und seiner möglichst zahlreichen Nachkommen förderlich sind, sind genetisch festgeschrieben und haben die Tendenz, sich durch Genweitergabe von Generation zu Generation auszubreiten. Schon hier sei angemerkt: Das macht uns nicht zu Sklaven unserer Gene. Im Weiteren werden wir ­sehen, wie diese biologisch geprägten Verhaltenstendenzen auf menschlichem Entwicklungsniveau durch kulturelle Werte ergänzt und zum Teil korrigiert werden können.

Nun konnten ja Menschenaffen und Frühmenschen noch nicht wirklich gut konzeptionell denken und verfügten nicht über bewusstes Wissen in Bezug auf die Gefahren in ihrer Umwelt. Also musste ihnen die Evolution einen Instinkt »einbauen«, der sie per Gefühl von Gefahrenquellen fernhielt. Diesen Instinkt und seine Basis im Gehirn wollen wir hier als Angstantrieb bezeichnen (s. Abb. 1).

Abb. 1: Der Angstantrieb

Der Angstantrieb reagiert auf bestimmte Auslösereize und weckt dann Gefühle von Furcht bzw. Angst. Im weiteren Sinne werden die Begriffe »Furcht« und »Angst« meist synonym benutzt. In der Fachsprache meint Furcht eher die emotionale Reaktion auf konkret im Raum stehende Gefahren. Angst dagegen bezieht sich mehr auf diffuse Bedrohungen, die noch unklar sind oder erst in der Zukunft erwartet werden. Um ein passendes Verhalten zur Gefahrenabwehr vorzubereiten, wird der Körper schon vorsorglich aktiviert. Hierfür sorgt die sogenannte Stressreaktion, die wir noch genauer besprechen.

Welche Gefahrenmomente gab es in der Steinzeit? Zählen wir mal die wichtigsten auf:

mächtige und räuberische Tiere wie etwa Büffel oder Tiger

kleine giftige Tiere wie bestimmte Schlangen oder Insekten

Abgründe bzw. große Höhen, Verbunden mit der Gefahr des Abstürzens

wankender Grund unter den Füßen, auf dem man den Halt zu verlieren oder einzubrechen droht

Dunkelheit, tiefe Wasser, Unwetter, Feuer und andere Naturunbilden

erkennbare Verletzungsgefahr mit der Erwartung von Schmerz und Blutaustritt – wenn einem etwa eine Speerspitze oder ein Büffelhorn zu nahe kommt

körperliches Aufgehalten-, Bedrängt- und Eingeengtwerden – etwa in Felsspalten, durch Tierherden oder gar in den Schlingen einer Riesenschlange

Aufenthalt auf großen, freien Flächen, die einen für Feinde gut sichtbar machen

ungewollte Trennung von der Gruppe – wenn man beim Marsch zurückbleibt und sich womöglich verirrt; ungewolltes Im-Mittelpunkt-Sein mit dem Gefühl, dass alle Blicke kritisch auf einen gerichtet sind, z. B. nach einem Verstoß gegen irgendeine soziale Norm; den Kontakt zur Gruppe zu verlieren oder aus ihr ausgeschlossen zu werden, würde in der Wildnis den Tod bedeuten

All diese potenziell gefahrvollen Situationen lösten bei unseren Steinzeit-Vorfahren mehr oder weniger starke Furcht aus. Und auch bei uns finden sich diese Reaktionen weitgehend unverändert. Bei uns modernen Menschen allerdings sind Hirnrinde und Frontalhirn noch etwas gewachsen, und hier beheimatete »höhere« Funktionen wie Sprache, Fantasie, Denken und Wissensansammlung haben sich sehr stark entwickelt. Entsprechend sind bei uns auch die Angstreaktionen eingebunden in die Prozesse von Fantasie und Denken.

Wir können mit Angst reagieren, wenn wir uns Gefahrensituationen auch nur vorstellen oder wenn das Denken solche Vorstellungen weckt. Auch hier versucht der Angstantrieb im Körper alle Vorbereitungen für intensive Muskelarbeit zu treffen: Das Herz klopft heftiger und schneller, wir empfinden Luftnot und atmen hektischer, die Muskeln spannen sich zitternd an, die körpereigene Klimaanlage springt an und wir beginnen zu schwitzen. Umgekehrt können wir mit dem Denken die Angst aber auch eingrenzen. Wir sehen eine Spinne und schrecken zurück. Dann machen wir uns bewusst, dass es in Europa keine wirklich gefährlichen Giftspinnen gibt, und die Angst lässt wieder nach.

Unsere Reaktions- und Verhaltenstendenzen sind genetisch festgeschrieben. Doch das macht uns trotzdem nicht zu Sklaven unserer Gene. Wir können sie mit Vernunft und Übung modifizieren.

Stress im modernen Alltag

Im Alltag des modernen Menschen erzeugt der Angstantrieb das, was heute als Stressreaktion in aller Munde ist. Allerdings spielen die o. g. urzeitlichen Gefahrensignale, wenn wir in Stress geraten, meist keine offensichtliche Rolle. Moderne Chefs fletschen nur noch selten die Zähne. Der Stress des modernen Menschen wird überwiegend durch Gedanken getriggert. Menge und Höhe der Anforderungen erreichen dann ein Maß, das unausweichlich Gedanken aufkommen lässt wie: »Das ist nicht zu schaffen! Das geht schief! Du wirst versagen! Was werden bloß die anderen denken!« Und obwohl das bei realistischer Betrachtung fast immer falsch ist, sind diese Angstgedanken in der Tiefe mit unseren »Urängsten« verbunden: »Wenn ich versage, verliere ich meinen Job, steige sozial ab, werde von Freunden und Familie verlassen, lande unter der Brücke und werde wohl irgendwann erfrieren.«

 

Abbildung 2 zeigt die verschiedenen Aspekte der Stressreaktion auf. Schon hier wird deutlich, dass Angst und Stress die höheren geistigen Funktionen untergraben: Das Bewusstsein fokussiert sich auf die (vermeintlichen) Gefahren (Tunnelblick), das Denken verliert an Schärfe und Stimmigkeit, man wird planlos und hektisch.

Bei Menschenaffen klingen Stress und Angst ab, sobald die Gefahr aus dem Blickfeld verschwunden ist. Das macht den Weg frei für Regeneration und Erholung. Folgen auf Stress ausreichend lange Phasen der Entspannung, entstehen in aller Regel weder psychische noch körperliche Langzeitschäden.

Abb. 2: Die akute Stressreaktion

Bei uns modernen Menschen sieht das leider anders aus. Durch unser begrifflich fundiertes Weltbild und die dadurch ermöglichten Erinnerungs- und Fantasiebilder sind unsere Innenwelten viel reicher und stabiler. Und auch auf erinnerte oder für die Zukunft vorgestellte Gefahren sprechen unsere Stressmechanismen an, wenn auch nicht so intensiv wie auf real präsente Gefahren. Hinzu kommt, dass wir Menschen durch die Evolution auf Fehler- und Gefahrensuche programmiert sind. Und so fällt es vielen von uns gar nicht schwer, sich eine Innenwelt voller Leid und Gefahren zu konstruieren, aus der ein hohes Maß an Dauerstress und Angst erwächst. Auf lange Sicht kann ein solches chronisches Dysstress-Syndrom durchaus körperliche Erkrankungen begünstigen, aber auch eine Vorstufe von psychischen Störungen wie Burn-out oder Depression sein. Das gilt besonders dann, wenn gesundheitliches Risikoverhalten hinzukommt (Abb. 3).

Abb. 3: Dauerstress und seine Folgen

Gerade bei der Entwicklung von Angststörungen gehört chronischer Stress zu den wichtigsten begünstigenden Faktoren. Bevor wir uns diese Prozesse genauer anschauen, müssen wir den Angstantrieb aber noch in den Kontext des Gesamtgehirns stellen.

Das heiße, emotionale Selbst (Ebene 1)

Das zweigeteilte Gehirn

Wir haben gesagt, dass unser Gehirn im Laufe der darwinschen Evolution geformt wurde. Die Natur arbeitet dabei nicht wie ein Ingenieur, der die Möglichkeit hat, Apparate bei neuen Anforderungen immer wieder von Grund auf neu und optimal zu kon­struieren. In der Evolution kann das Alte, schon Bestehende nicht so einfach verändert oder gar abgeschafft werden. Zumeist legt die Evolution auf bestehende Funktionsstrukturen nur immer wieder neue. Dabei muss es zwangsläufig zu Spannungen und Konflikten kommen, wobei sich die älteren Strukturen oft noch lange als die stärkeren erweisen. Ein Beispiel dafür haben wir oben schon angesprochen: Das entwicklungsgeschichtlich junge Denken ist schwach gegenüber den alten Instinkten. Obwohl wir wissen, dass die Spinnen im heutigen Mitteleuropa ungefährlich sind, können die meisten Menschen eine starke Abneigung nicht unterdrücken und manche entwickeln sogar überstarke Ängste (Spinnenphobie). Umgekehrt wissen wir, dass Fahren mit Tempo 200 gefährlich ist, und tun es doch immer wieder. Warum? Für unsere Vorfahren war es vorteilhaft, nach Möglichkeiten zu suchen, mit wenig Krafteinsatz eine große Wirkung zu erzielen – dementsprechend haben wir eine angeborene Freude daran. Nirgendwo kann man das besser ausleben als in einem Sportwagen: kleiner Tritt aufs Pedal, großer Sprung nach vorn. In der Steinzeit gab es noch keine Sportwagen oder kraftpotenzierenden Maschinen – also musste die Evolution auch keine Begrenzung für diesen Instinkt in uns einbauen. Und die neue »Vernunft-Bremse« ist eben oft zu schwach gegen die alte und starke »Effekt-Freude«. Die Urinstinkte unseres Steinzeit-Gehirns passen einfach nicht mehr in unsere moderne Lebenswelt, und das Denken hat große Mühe, diese Kluft zu überbrücken.

Das entwicklungsgeschichtlich junge Denken ist schwach gegenüber den alten Instinkten.

Damit haben wir schon die beiden Funktionsebenen angesprochen, in die wir das Gehirn vereinfacht einteilen wollen: Auf Ebene 1 liegt das heiße Instinktsystem, das ich hier, wie schon in meinen anderen Büchern, als »Selbst« bezeichne. Auf Ebene 2 liegt das kühle Vernunftsystem, welches wir »Ich« nennen. Schauen wir zunächst genauer, wie unser Selbst aufgebaut ist.

Erbantriebe – angeborene Instinkte und Motivationen

Unsere noch nicht zum Denken befähigten Vorfahren durch Furchtgefühle von den Gefahren ihrer urzeitlichen Umwelt fernzuhalten war eine wichtige Aufgabe des heißen Instinktsystems, aber bei Weitem nicht die einzige. Dieses System, das Selbst, muss alle Grundfunktionen von Leben, Überleben und Fortpflanzung sicherstellen und regulieren. Im Selbst sitzen die Quellen all unserer Lebens- und Gefühlsenergien; die Kräfte, die uns zur Nahrungs- oder Partnersuche antreiben; die Neugier, die neue Lebensräume erkunden lässt; die Funktionslust, die Bewegungs- oder Kampfspiele befeuert; die Aggression, die Kraft – auch zum Kampf gegen überlegene Feinde – verleiht. Da diese Antriebssysteme in ihren Grundfunktionen angeboren sind, bezeichnen wir sie als Erbantriebe. Den ersten, den Angstantrieb, haben wir schon besprochen. Weitere in unserem Zusammenhang wichtige Erbantriebe sind:

 

Bevorratungsantrieb: Schon Tiere legen Nahrungsmittelvorräte an oder sammeln allerlei Tand, um das andere Geschlecht zu beeindrucken. Es liegt auf der Hand, dass das Horten von Ressourcen aller Art in Notzeiten dem eigenen Überleben und dem des Nachwuchses dienlich ist. Ebenso klar ist, dass der Gewinn attraktiver und gesunder Sexualpartner und ihrer »guten Gene« die Zukunftschancen des gemeinsamen Nachwuchses steigert. Bei uns Menschen hat sich hieraus das Bedürfnis nach Sicherheit, das Streben nach Wohlstand oder gar Reichtum und Luxus entwickelt.

 

Statusantrieb: Unsere Vorfahren lebten in sozialen Gruppen und entwickelten eine Tendenz zur Bildung von Hierarchien ( »Hackordnung«). Nur wenn einer das Sagen hat, ist ein koordiniertes Zusammenwirken als Gruppe möglich. Bei der Jagd oder der Verteidigung vervielfachen sich dadurch die Kräfte. Außerdem reduziert sich das Konfliktpotenzial innerhalb der Gruppe. Nach einem Kräftemessen ist für längere Zeit klar, an welchem Platz man steht, und es muss nicht bei jeder Gelegenheit neu ausgefochten werden. Der Einzelne entwickelt dann ein Streben, so hoch wie möglich in der sozialen Hierarchie aufzusteigen, denn das wirkt in die gleiche Richtung wie beim Bevorratungsantrieb angesprochen: Status bringt Macht und Einfluss und dies schafft Zugang zu Ressourcen und attraktiven Partnern. Auch beim modernen Menschen ist das Streben nach Status, nach Ruhm oder Macht eine der stärksten Triebkräfte. Von kaum etwas werden Menschen stärker umgetrieben als von der Frage, was andere über sie denken. Das Streben nach und das Prahlen mit Statussymbolen ist weitverbreitet.

 

Beziehungsantrieb: Beim Kampf um hohe Rangpositionen oder bei der Jagd hilft es, Freunde und Verbündete zu haben. Um viele Nachkommen zu zeugen und ihnen das Überleben zu ermöglichen, muss man Bindungen zum Partner und eventuell zur weiteren Familie aufbauen. All das wurde bei unseren entfernteren Vorfahren durch soziale Instinkte geregelt, die auch noch bei unserem Verhalten eine große Rolle spielen. Obwohl der moderne Mensch so viele Ausgleichsmöglichkeiten hat, dass er auch allein halbwegs zufrieden leben kann, wünschen sich die meisten eine Familie oder zumindest einen Freundeskreis.

 

Diese und weitere angeborene Antriebssysteme sind also Teil des Gehirns bzw. Selbst des modernen Menschen und wirken an unseren Gefühls- und Verhaltensreaktionen mit. Wie der Angstantrieb, so sind auch die anderen Erbantriebe beim Menschen in die Bewusstseinsprozesse eingebunden und lassen sich durch Fantasie und Denken modulieren. Wer z. B. einen Preis gewonnen hat, kann sich seine Leistungen innerlich überhöhend vor Augen führen und platzt auf dem Podium vor Stolz. Er kann sich aber auch bewusst machen, wie flüchtig der Erfolg ist, wie viele andere daran beteiligt waren und wie viel gefährliche Missgunst zur Schau getragener Status weckt. Er wird daraufhin seinen Stolz bremsen und bescheidener vor das Publikum treten.

Zugleich sind unsere Erbantriebe auch untereinander verbunden und können sich durch Gedankenvermittlung wechselseitig aktivieren. Gedanken und Fantasien, die etwa Verarmung, sozialen Abstieg oder Vereinsamung zum Inhalt haben, können den Angstantrieb aktivieren und unsere »Urängste« wachrufen.

Hitzköpfige Reaktionen

In vielen Situationen neigt unser Selbst dazu, mit schnellen und heißen Reaktionen zu antworten. Auch das liegt natürlich an unserer Steinzeit-Vergangenheit, in der viele Gefahren akut und viele Chancen kurz befristet waren. Wer bei einem Angriff nicht augenblicklich heftigste Gegenwehr zeigte, war verloren. Bei Nahrungsfülle galt es, sich den Bauch vollzustopfen und Fettreserven anzulegen – Gefriertruhen gab es noch nicht und die nächste Hungerzeit kam bestimmt.

In heutigen Zeiten ist das nur noch selten hilfreich, oft sogar kontraproduktiv. Das heiße System lässt uns unmittelbar auf die konkret gegebene Situation reagieren. Es weiß nichts vom meist komplexen Kontext dieser Situation, es schert sich nicht um die Langzeitfolgen des Verhaltens. So kaufen wir oft gierig bei der erstbesten Gelegenheit, nur um kurze Zeit später viel günstigere Angebote zu finden. Wir reagieren cholerisch auf das Versäumnis eines Kollegen; zu spät erinnern wir uns, dass dessen Frau schwer erkrankt ist. Wir können verführerischen Speisen oder sexuellen Gelegenheiten nicht widerstehen, obwohl die durchaus erahnbaren Langzeitfolgen oft dramatisch sind. Wir dreschen unüberlegt rechthaberische oder prahlerische Phrasen, um unseren Status zu erhöhen – doch was am Stammtisch eben noch funktioniert hat, kehrt sich im gehobenen Kreise ins Gegenteil.

 

Diese Neigung zu heftigen, schnellen und überschießenden Reaktionen wird nun oft noch verstärkt durch Eigenheiten des Denkens, das in seinem spontanen Lauf zumeist eine aufschaukelnde Wirkung hat. Denken spitzt zu, idealisiert, perfektioniert, verabsolutiert, (über-)verallgemeinert. Es erzeugt auf diese Weise Muss-Vorstellungen in unserer Psyche: »Ich muss unbedingt ein Vermögen dieser oder jener Größe erwerben. Ich muss unbedingt dieses oder jenes Karriereziel erreichen.« Dabei tendiert unser Denken dazu, nach Gefahren und Fehlern zu suchen: »Sein Versprechen reicht mir nicht, ich muss absolute Sicherheit haben, dass er nicht fremdgeht. Ich muss ihn beobachten und kontrollieren.« All das macht Stress und steigert Gefühle, vor allem die negativen. Hinzu kommen sogenannte Teufelskreis-Mechanismen. Hier verbinden sich Teilmomente so, dass sie sich wechselseitig verstärken. Weil die Nervenzellen in unserem Gehirn hochgradig miteinander vernetzt sind, zünden in unserem Denkorgan solche Teufelskreisprozesse sehr schnell. So neigen z. B. Gedanken und Gefühle dazu, sich gegenseitig zu verstärken und regelrechte Gedanken-­Gefühls-Lawinen aufzubauen.

Da wird morgens auf dem Gang einer von seinem Chef nicht zurückgegrüßt. Es entsteht ein ungutes Gefühl, das Gefahr signalisiert. »Hab ich einen Fehler gemacht? Mag er mich nicht mehr?« Das Denken macht sich nun auf die Suche nach möglichen weiteren erhärtenden Hinweisen auf Gunstentzug vonseiten des Vorgesetzten. »Hilfe, ja!! Er ist seit Längerem nicht mehr so freundlich wie früher!« Jetzt entsteht Angst. Und flugs macht sich das Denken auf die Suche nach Fehlern, die man gemacht haben könnte, und wird natürlich fündig: »Hat er meinen Scherz neulich in der E-Mail für bare Münze genommen? Das muss es sein – diese verfluchten E-Mails, die sind immer so missverständlich!« Und schon drängt die jetzt entstehende Panik das Denken zur Suche nach einer neuen Arbeitsstelle.

In ähnlicher Weise kann man sich natürlich auch in euphorische Zustände hineinsteigern. So kommt es, dass die unreguliert-spontanen Prozesse im Selbst oft einen instabilen, selbstverstärkend auf- oder abschwellenden Charakter haben. Menschliche Gefühle, so lässt sich vermuten, können Intensitäten erreichen, wie sie das Tier nicht kennt: Wut steigert sich zu Hass, Appetit steigert sich zu Gier, Süchte entstehen, Liebes- oder Eifersuchtswahn, Angst steigert sich zur Todesangst. Manche Menschen erleben ihre Stimmungen als einen Wechsel von »himmelhoch jauchzend« und »zu Tode betrübt«. Unser Selbst ist wie ein merkwürdiger Ozean, dessen Wellen umso schneller aufschießen, je höher sie schon sind.

Das kühle, vernünftige Ich (Ebene 2)

Die Selbststeuerungsfunktionen des Ich

Das Selbst ist also zunächst ein aufbrausender Ozean voller Gefühle und Energien aus unseren Erbantrieben. Sie sichern mit heftigen und schnellen Instinktreaktionen das Überleben im Hier und Jetzt. Im Gehirn entspricht dieser Bereich zu großen Teilen dem sogenannten limbischen System. Hier hat auch der Mandelkern (Amygdala) seinen Sitz, der in der populären Literatur oft als Angstzentrum bezeichnet wird. Das limbische System liegt zwischen dem Hirnstamm, in dem die elementaren Lebensprozesse wie Atmung oder Herzfunktion geregelt werden, und der Hirnrinde (Neocortex), in der sich höhere geistige Funktionen wie das Denken entwickeln. Der Rindenbereich hinter der Stirn heißt Frontalhirn und gilt als Sitz des Bewusstseins.

In seiner spontan-assoziativen Form hat das Denken wie schon gesagt eine zumeist eher aufpeitschende Wirkung. Unser Selbst wird so zu einer Art Innovationskochtopf. Wenn er brodelt, sind wir spontan und kreativ, sprunghaft und chaotisch. Dies ist gut und wichtig, um Ideen zu haben, etwas Neues zu schaffen, Lösungen für Probleme zu finden, Mut, Zuversicht und Energie für große Projekte zu mobilisieren. Aber für die Umsetzung der Projekte braucht es dann natürlich Fokussierung und Zielstrebigkeit. Deshalb musste sich auf dem Entwicklungsweg zum Menschen ein System zur Kanalisierung und Kontrolle dieses »kreativen Ozeans« entwickeln. Diese Instanz bezeichnen wir als Ich. Es sitzt im Bereich des Frontalhirns und ist zuständig für Bewusstsein, Wille, Konzentration, Selbstkontrolle, systematisches Denken, gedankliches Bewerten und langfristig-strategisches Entscheiden. In der wissenschaftlichen Literatur wird all das unter dem Begriff Exekutive Funktionen zusammengefasst – wir werden hier von Selbststeuerungs-Funktionen sprechen.

Mithilfe dieser Selbststeuerungs-Funktionen ist das Ich in der Lage, die Energien des Selbst in zielgerichtete Aktivitäten zu kanalisieren – beginnend schon beim Steinzeitjäger, der viele Stunden beharrlich und systematisch an seiner steinernen Speerspitze zu arbeiten hatte, ehe er sich über den Jagderfolg freuen konnte. Das Zusammenwirken von Selbst und Ich wird in Abb. 4.1 beschrieben.

Abb. 4.1: Aufbau der Psyche in drei Schritten: Ich und Selbst

Das Ich kann spontane Verhaltensreaktionen stoppen, es kann aufschießende inadäquate Spontangedanken bremsen und korrigieren, es kann Gefühle abkühlen und unterdrücken oder durch Ablenkung zum Abklingen bringen. Es kann Gefühle durch das bewusste Aufrufen innerer Bilder und Gedanken modulieren. Allerdings ist ein einzelner Gedankenbaustein schwach gegenüber starken Gefühlswellen. Was macht das Ich? Nun, es macht genau das, was Küstenbewohner gegen die Fluten des Meeres tun: Es baut Dämme, Schleusen und Kanäle. Es baut Strukturen zur Lebensregulierung, die aus unzähligen über die Jahre systematisch gesetzten Gedanken- und Verhaltensbausteinen bestehen oder – besser gesagt – aus deren materiellem Niederschlag in den Gehirnstrukturen.

Nicht nur bewusstes Lernen, sondern jede Form von wiederholter Verhaltensveränderung führt zur Gedächtnisbildung auf Basis materieller Umbauvorgänge an den elektrischen Kontaktstellen zwischen unseren Nervenzellen, den Synapsen. Durch Bildung von Proteinen, Neurotransmittern u. a. wird die Signalübertragung vermehrt oder vermindert.

Bewusstes Lernen und wiederholte Verhaltensveränderungen führen zu einem Umbau der materiellen Strukturen unseres Gehirns.

Lebensregulierungsstrukturen: Gewohnheiten, Kompetenzen, Wissen

Was kann man sich unter solchen Lebensregulierungsstrukturen genauer vorstellen? Nun, wir verstehen hierunter alle durch Lernen im Gehirn (und Körper) entstandenen Strukturen, die geeignet sind, die Lebens- und Gefühlsenergien aus dem Selbst in geordnete, konstruktive Lebens- und Verhaltensprozesse zu transformieren. Dabei kommt es zu einer Entspannung durch Abbau der Energie. Wenn das Verhalten Erfolg hat, der Tätigkeitsprozess mit hoher Ordnung abläuft oder sogar ein neues Niveau von Ordnung erreicht, kann negative Energie in positive umgewandelt werden.

Das beginnt bei einfachen Gewohnheiten und Ritualen: regelmäßige Schlafens- und Essenszeiten, Teezeremonien, feste Gewohnheiten im Sport- oder Hobbybereich. Es gibt autobiografische Zeugnisse, dass Rituale der Körperpflege wie das morgendliche Rasieren bei Männern in Kriegs- oder Notsituationen zur Aufrechterhaltung der Moral beitrugen. Auch das reiche Repertoire an Ritualen, das alle Religionen ihren Zugehörigen auferlegen, dient unter anderem dazu, in emotionalen Krisen und sonstigen Verzweiflungssituationen Halt zu geben.

Des Weiteren zählen zu Lebensregulierungsstrukturen Kompetenzen aller Art, die wir in unserem Leben einmal gelernt oder trainiert haben: Joggen, Musizieren, Kompetenzen zur Regulierung eigener Gefühle, berufliche Kompetenzen, Interessensgebiete wie Münzensammeln oder Lesen, soziale Kompetenzen etc. Wer negativ gestresst von der Arbeit kommt, könnte all diese Kompetenzen dazu nutzen, seine innere Unruhe in einen Tätigkeitsprozess zu transformieren, in dessen Ergebnis Entspannung oder sogar positive Gefühle stehen.

Und schließlich gehört auch alles theoretische Wissen, das wir uns durch bewusstes Lernen oder auch nebenbei aneignen, zu den Lebensregulierungsstrukturen. Alle äußeren und inneren Wahrnehmungsreize, die ständig in unser Bewusstsein branden, werden durch diese Wissensstrukturen kanalisiert, mit der Folge, dass entweder Gefühle aufschießen und womöglich eine Gefühls-­Gedanken-Lawine losbricht oder aber dass alles wieder in Gelassenheit verebbt, vielleicht nach einem Prozess der konstruktiven Verarbeitung.

Hört eine Frau abends Geräusche im Haus, erschrickt sie vielleicht im ersten Moment. Doch diese kleine Erregungswelle bricht sich sofort an den Wissensbausteinen, die sie daran erinnern, dass es ihr Mann ist, der ja gesagt hatte, dass er einen Tag früher von der Dienstreise zurückkommt. Ohne diese »Wissenspoller« wäre vielleicht eine Angstflut aufgestiegen. Laufen die Vorboten einer Börsenpanik über den News-Ticker, wird das bei »innerlich armen« Menschen mit materialistischen Werten eine Angstwelle auslösen, während es »innerlich reiche« Menschen mit geistig-kulturellen Werten sehr viel leichter haben, solche Nachrichten angstfrei abzupuffern. Während Erstere viel teuren Konsum für ihre Zufriedenheit brauchen, schöpfen Letztere das Glück mehr aus ihrem Inneren.

Oder stellen Sie sich vor, jemand ertastet eine kleine Geschwulst an seinem Körper. Wie er reagiert, hängt in vielfältiger Weise wieder von der Gesamtheit der Lebensregulierungsstrukturen ab, die er in seinem Leben aufgebaut hat (oder nicht). Wenn er z. B. über medizinisches Grundwissen verfügt, wird es ihn beruhigen, wenn er feststellt, dass der Knoten gut verschieblich ist. Wenn er sich stoische oder buddhistische Lebensprinzipien angeeignet hat, wird er zumindest gefasst bleiben, bis die Diagnose geklärt ist. Sollte er sehr tief in einem religiösen Weltbild mit positiver Jenseitsvorstellung verwurzelt sein, bliebe er vielleicht sogar wirklich positiv gestimmt, selbst wenn am Ende eine ernste Diagnose he­rauskäme.

Die zentralen Trägerelemente in unseren Lebensregulierungsstrukturen werden von Werten, Prinzipien und Überzeugungen gebildet. Je stärker solche »Verstrebungen« ausgeprägt sind, desto standhafter können wir gegenüber Gefühlsaufwallungen sein – wir widerstehen den Versuchungen von Luxus und Lust und wir trotzen dem Schmerz und der Angst.

Und so baut unser Geist – unser Ich – lebenslang an solchen Lebensregulierungsstrukturen, die im Laufe der Jahre natürlich einen gewaltigen Umfang annehmen können. Sie wachsen in das Selbst hinein und prägen immer mehr auch dessen spontane Reaktionen. Je präziser und systematischer diese innere Arbeit erfolgt, je mehr sie sich an richtigen und positiven Inhalten ausrichtet, desto stärker prägt sich in diesen spontanen Reaktionen eine hohe Kultiviertheit aus, und zwar in allen Bereichen, z. B. Anstand, Charakter, Urteilskraft, Selbstdisziplin, emotionale Stabilität u. a. m.

Kulturantriebe: wenn es richtig »flutscht«

Wir haben gesagt, dass Lebensregulierungsstrukturen Lebens- und Gefühlsenergie – auch negative – in einen geordnet-konstruktiven Prozess transformieren können, der als positiv erlebt wird. Wie funktioniert das, was steckt dahinter? Kurz gesagt: Wir sind sensibel für Ordnung – Ordnung macht gute Gefühle (Stimmigkeits- und Harmoniegefühle). Störungen dagegen und Unordnung machen schlechte Gefühle (Unstimmigkeits- und Dissonanzgefühle).

Die Evolution musste uns diesen »inneren Lehrer« für hoch geordnete Prozesse einbauen, damit wir einen Anreiz haben, unsere Motorik beherrschen zu lernen. Weil harmonische Bewegungen Freude machen, vollführen Kinder Bewegungsspiele und wir Erwachsenen tanzen oder fahren Ski. Diese Sensibilität für hohe Ordnung überträgt sich auf unsere Wahrnehmungen und auf unser Denken. Deshalb haben wir Freude an Ornamenten und an Musik. Deshalb finden Mathematiker ihre Theorien schön und wir haben ein positives Aha-Erlebnis, wenn wir eine Einsicht gewinnen oder auf eine Lösung kommen. Auf der Ebene der Persönlichkeit fühlt es sich gut an, in Übereinstimmung mit seinen Werten und Überzeugungen zu leben (»eins mit sich sein«), im anderen Fall bohrt das schlechte Gewissen.

Dort, wo ihr Ordnungsgrad besonders hoch ist, können unsere Lebensregulierungsstrukturen nicht nur negative Energie in positive Energie transformieren, sie können sogar aus sich heraus positive Energie erzeugen. Alle kulturellen Aktivitäten, die wir besonders gut können, schaffen ein Bedürfnis danach, sie weiter zu vervollkommnen und auszubauen, vom Tanz über das Klavier- oder Schachspiel bis hin zur hobbymäßigen Beschäftigung mit Lokalgeschichte oder Philosophie. Wann immer wir uns mit diesen Aktivitäten beschäftigen: Wenn es gut läuft, werden wir positiv energetisiert, d. h., wir bekommen mehr Energie zurück, als wir hineingesteckt haben. Das funktioniert auch, wenn wir subdepressiv und antriebslos sind. Wenn es uns mittels Willenskraft gelingt, uns »anzuschieben«, geht es uns besser, wir handeln uns in eine gute Stimmung hinein. Anschieben? Ja, tatsächlich ein guter Vergleich! Beim Starten eines Autos – ob nun mit Anlasser, Anschieben oder per Kurbel – steckt man Aktivierungsenergie hinein und setzt damit Prozesse in Gang, die viel mehr Energie erzeugen, als man eingebracht hat.

In Ergänzung zu den Erbantrieben können wir diese Inseln besonders hoher Ordnung in unseren Lebensregulierungsstrukturen als Kulturantriebe bezeichnen. Während uns die Erbantriebe auf biologische Werte und Ziele verweisen, richten uns die Kulturantriebe auf kulturelle Inhalte, Werte und Ziele aus. Kulturantriebe sind Ressourcen, die unabhängig machen, die es erlauben, in schlechten Zeiten aus innerem Reichtum heraus Zufriedenheit zu erzeugen. Wer über genügend inneres Material verfügt, könnte sogar während einer Gefängnishaft in Geist und Gedächtnis ein Buch schreiben, um es danach zu Papier zu bringen. Wie in autobiografischen Zeugnissen berichtet, sind solche inneren Aktivitäten schon oft die entscheidenden Kraftquellen gewesen, die es überhaupt möglich machten, eine schwere Haftzeit zu überstehen. Und natürlich sind starke Quellen positiver Energie auch immer wichtige Bollwerke gegen überbordende Angst. In Abbildung 4.2 wird Abbildung 4.1 um das Neuerarbeitete erweitert.

Abb. 4.2: Aufbau der Psyche in drei Schritten: Lebensregulierungsstrukturen

Wenn wir uns faszinierende kulturelle Inhalte aneignen, schaffen wir innere Glücksquellen, die uns unabhängig machen.

Reframing: positive Sichtweisen finden, förderliche Geisteshaltungen aufbauen

Trifft nun ein äußerer oder innerer Reiz auf die äußeren oder inneren Sinnesorgane des Selbst, kommt es zu einer schnellen, spontanen Erstreaktion in Form einer Empfindung bzw. eines Gefühls, oft verbunden mit einem Impuls zu einer reflektorischen oder instinktiven Verhaltensreaktion. Während sich bei unseren weit entfernten Vorfahren dieses Spontanverhalten weitgehend unmoduliert Bahn brach, entstand auf dem Weg zum modernen Menschen zwischen Reiz und Spontanreaktion sozusagen eine Lücke, die sich immer mehr vergrößerte. Auch durch Erziehung und bewusstes Üben kann das Ich mit seinen Selbststeuerungsfunktionen immer stärker in diese Lücke hineinwirken. Je nachdem, wie schnell und effektiv das vonstatten geht, kann es z. B. die Entstehung eines Gefühls, zumindest aber das Spontanverhalten verhindern, abmildern oder transformieren. Diese Transformationen werden kanalisiert durch die Lebensregulierungsstrukturen. In diesem Zusammenhang wären das Sichtweisen und Lebenshaltungen, mit denen wir das Geschehen deuten und bewerten.

In neuartigen Situationen müssen wir uns Deutung und Prinzipien für ein richtiges Handeln erst noch zurechtlegen. Unter Stress gelingt das manchmal nicht. Dann bricht die Spontanreaktion durch – wir sagen dann Sachen wie »Ich war außer mir!«. Für den Umgang mit sich wiederholenden Situationen können wir uns aber förderliche Geisteshaltungen erarbeiten und verinnerlichen, die uns dann blitzschnell und automatisiert zur Verfügung stehen. Der spontanen Erstreaktion des Selbst folgt also eine Zweitreaktion aus dem Ich, die mehr oder weniger bewusst bzw. automatisiert ablaufen kann. Man könnte auch sagen, die Lebensregulierungsstrukturen wachsen immer weiter nach unten, sodass ursprünglich biologisch geprägte Spontanreaktionen allmählich transformiert werden zu kulturell geprägten, automatisierten Verhaltensreaktionen, die ähnlich schnell und spontan erfolgen können.

Machen wir das einmal an einem Beispiel deutlich: Hans ist im Auto unterwegs. Plötzlich kommt ein anderes Auto aus einer Nebenstraße, das ihm die Vorfahrt nimmt und zum Bremsen zwingt. Das physische Aufgehaltenwerden ist ein urzeitlicher Auslösereiz für Ärger, Wut und Aggression (die Steinzeit-Männer wurden gestoppt durch Feinde oder Felsblöcke auf dem Weg, die mit Gewalt beiseitegeräumt werden mussten). Entsprechende Spontanimpulse spürt auch noch Hans: dem anderen hinten drauffahren oder ihn ausbremsen und ihm eine reinhauen. Doch heute hatte er einen guten Tag mit einigen Erfolgserlebnissen. Die Wut hat keine Chance und er beruhigt sich bald. Es hätte aber auch anders verlaufen können. Nach einer Nacht mit schlechtem Schlaf hätte er sich vielleicht erst richtig in den Ärger hineinsteigert: »Diesen Jugendlichen die Fahrerlaubnis wegnehmen – allen!!« Und ­irgendwann hätte er dann begonnen, sich über sich selbst zu ­ärgern – darüber, dass er sich so lange über Kleinigkeiten ärgert; dass es dieser Verkehrs-Rowdy nun auch noch geschafft hat, ihm den ganzen Tag zu verderben. So hätte er als Reaktion auf die spontane negative Gefühlswelle sukzessive eine der negativen Gefühls-Gedanken-Aufschaukelungen losgetreten, von denen schon die Rede war.

Es hätte aber auch so ablaufen können: Hans wird richtig wütend, sieht dann aber, dass der Fahrer wie irre weiterrast und schließlich laut hupend in eine Einfahrt abbiegt, die zur Notaufnahme eines Krankenhauses führt. Sein Ich wird nun eine transformierende Regulierungsstruktur erzeugen, die zu einer ganz anderen Gefühlsreaktion führt: »Das ist wohl ein medizinischer Notfall – hoffentlich schaffen sie’s!« Die Wut ist nun wie weggeblasen, stattdessen kommt Mitgefühl auf (durch das Denken wird nun der Erbantrieb für Mitgefühl aktiviert). Ein solcher die Gefühle verändernder Wechsel des Interpretationsrahmens heißt in der Psychologie Reframing.

Und wie wäre es im Idealfall? Hans hätte sich einmal Zeit genommen, sich gründlich zu überlegen, welches Verhalten in diesen immer wiederkehrenden Verkehrsstress-Situationen sinnvoll und vernünftig ist. Dabei wäre ihm klar geworden, dass die urzeitliche Wut- und Gewaltreaktion im Straßenverkehr völlig sinnlos und kontraproduktiv ist. Sie würde das Stauproblem nicht lösen und hätte schlimme strafrechtliche Konsequenzen. Auch das Thema »Gesicht verlieren« hat keine Bedeutung, da die Verkehrssituation anonym ist (sodass kein Kollege auf die Idee kommen kann: Wenn der sich so einfach die Vorfahrt nehmen lässt, dann kann man ihm auch anderswo die Butter vom Brot nehmen). Die Wut bessert also nichts, sie richtet nur zusätzlichen Schaden an, weil sie den Tag verdirbt. Zudem ist der reale Schaden ja meist auch nicht groß, es geht um wenige Minuten Zeitverlust. Und selbst das müsste nicht sein. Man kann die Zeit, die man im Stau verbringt, auch zum Meditieren, Hörbuch- oder Musikhören oder zum Nachdenken über ein anstehendes Problem nutzen. Warum sollte das im Autosessel nicht ebenso gut gehen wie im Sessel daheim?

Aus diesen und vielleicht weiteren Überlegungen heraus sollte Hans die folgende Grundsatzentscheidung treffen: »Ich will mich im Straßenverkehr prinzipiell nicht mehr aufregen, egal was geschieht. Ich betrachte mein Auto als Trainingsstätte für die Ringkampf-Disziplin Frontalhirn gegen Mandelkern. Es ist mein Ehrgeiz zu lernen, den Urzeit-Automatismen in mir immer weniger auf den Leim zu gehen.« Wenn Hans das ausreichend übt, wird er an einen Punkt kommen, wo schon die geringste wahrnehmbare innere Anspannung im Straßenverkehr zum Auslöser wird für einen reflexartigen inneren Schritt zurück. Hierdurch öffnet sich gewissermaßen die Lücke zwischen Reiz und Reaktion. Hans wird sich augenblicklich und intuitiv des Inhaltes seiner förderlichen Geisteshaltung bewusst, und diese entfaltet auch prompt ihre abkühlende Wirkung. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde weicht die Anspannung der Gelassenheit (auch ohne dass Hans die o. g. Gedanken innerlich ausbuchstabieren müsste; automatisierte Gedanken werden intuitiv-ganzheitlich bewusst). Nach und nach entwickelt sich eine spontane automatisierte Gelassenheits-Reaktion.

Die Erarbeitung und Automatisierung ähnlicher förderlicher Geisteshaltungen in Bezug auf die wichtigsten individuellen Belastungssituationen sind der Kern dessen, was man als Stressmanagement bezeichnet (siehe Kapitel 3).

 

Aber im Grunde brauchen wir das nicht nur in Bezug auf Belastungssituationen. Die steinzeitlich programmierte Reaktionsausrichtung unserer Erbantriebe passt überwiegend nicht mehr zu unserer modernen kulturellen Umwelt. Es ist eine zentrale Aufgabe der Entwicklung unserer Persönlichkeit, die meisten unserer instinktiven Spontanreaktionen kulturell zu überformen. Dies gilt für den Umgang mit schwierigen sozialen Konfliktsituationen (bei Eifersucht etwa sollten wir unseren Drang nach Kontrolle des Partners eindämmen) oder für Versuchungssituationen (oft ist es ratsam, kulinarischen oder anderen Konsum-Verführungen zu ­widerstehen). Aber in einem Buch über Angsterkrankungen ist leider nicht genug Raum, auf diese Aspekte im Detail einzugehen (vgl. Hansch 2008, Baumeister 2012, Mischel 2015).

Wenn wir für wiederkehrende Belastungssituationen förderliche Geisteshaltungen entwickeln und automatisieren, können wir unseren Stress deutlich reduzieren.

Selbst und Ich – wie Ross und Reiter

In Weiterentwicklung von Abbildung 4.2 zeigt Abbildung 4.3 nun ein Gesamtschema unserer Psyche, vor dessen Hintergrund wir die Entstehung und Behandlung von Angsterkrankungen gut verstehen können. Und keine Angst, es wird jetzt nicht mehr schwieriger. Das »Schlimmste« in Sachen Theorievermittlung liegt hinter Ihnen.

Abb. 4.3: Aufbau der Psyche in drei Schritten: das ganze Bild

Fassen wir die wichtigsten Zusammenhänge mit Blick auf Abbildung 4.3 einmal zusammen: Die Basis unserer Psyche bildet das Selbst, das unbewusste heiße Instinktsystem, mit einer Reihe von Erbantrieben (Angstantrieb, Bevorratungsantrieb, Statusantrieb, Beziehungsantriebe u. a.), die das Überleben unserer Vorfahren in einer urzeitlichen Lebenswelt mit z. T. schnellen und heftigen Reaktionen sicherstellen mussten. Im Selbst wird die körperliche und motivationale Energie mobilisiert, die wir für unser Verhalten brauchen. Darüber sitzt das Ich mit seinen Selbststeuerungsfunktionen: Ziele setzen, Handlungsplanung und -steuerung, Prioritäten setzen, Impulskontrolle und Selbstbeherrschung, Aufmerksamkeitssteuerung, Bewertung und Kontrolle, Mobilisierung von Willenskraft. Hier werden bewusste Zweitreaktionen gebildet als Antwort auf das Spontangeschehen im Selbst.

Weil der Wille als solcher gegenüber starken Energie- und Gefühlswellen aus dem Selbst oft schwach ist, baut das Ich systematisch Jahr um Jahr an Lebensregulierungsstrukturen: Gewohnheiten, Rituale, Kompetenzen, mehr oder weniger systematische Wissensstrukturen, Werte, Prinzipien und Überzeugungen. Sie funktionieren wie Dämme, Schleusen oder Kanäle und helfen dem Ich bei der Transformation der Lebensenergie in konstruktives Verhalten. Die Bereiche, die zu einem besonders hohen Ordnungsgrad entwickelt wurden, haben wir als Kulturantriebe bezeichnet, die aus sich heraus positive Gefühlsenergie zu erzeugen vermögen.

Die Lebensregulierungsstrukturen werden vom Ich in das Selbst sukzessive hineingebaut, dem Selbst durch Gedächtnisbildung eingeformt, ja einverleibt. Sie gewinnen so tatsächlich materielle Gestalt, die man messen und wiegen könnte (in Form des Wachstums bestimmter Synapsen, s. u.). Die Lebensregulierungsstrukturen, so könnte man sagen, sind eine Art Polderland, das den »limbischen Feuchtgebieten« durch Kultivierung abgerungen wurde.

Wie Abbildung 4.3 auch deutlich machen soll, ist es von entscheidender Bedeutung, zwischen zwei Reaktionsebenen zu unterscheiden. Da haben wir zum einen die spontanen Wellen, die der Auslösereiz im Selbst schlägt: Wahrnehmungen, Körperempfindungen, Gefühle, spontan-assoziative Gedanken (oft Katastrophengedanken, die dann Gedanken-Gefühls-Aufschaukelungen bewirken). Und darüber haben wir die Ebene, auf der das Ich auf diese Primärereignisse reagiert – entweder durch bewusste Überlegung im Hier und Jetzt oder automatisiert in Form von Lebensregulierungsstrukturen (insbesondere förderliche Geisteshaltungen), die es in der Vergangenheit für ähnliche Situationen geformt hat.

Die meisten Bürger der westlichen Wohlstandsgesellschaften leben überwiegend in ausreichend sicheren und positiven äußeren Lebensumständen. Kaum einmal schauen sie in den Lauf einer Waffe oder sind von Hunger oder Kälte bedroht. Für ihr psychisches Leiden sind deshalb oft die äußeren Auslösereize nur von untergeordneter Bedeutung. Hauptverantwortlich ist eine falsche Zweitreaktion auf Ereignisse in Außenwelt und Selbst, die durchaus im Bereich des Normalen oder zumindest Verkraftbaren liegen. Und das ist doch eigentlich eine gute Nachricht, oder? Unsere inneren Reaktionen haben wir potenziell besser unter Kontrolle als die äußeren Lebensumstände. Unsere inneren Reaktionen können wir reflektieren, verstehen, korrigieren und umtrainieren.

Oft ungeahnte Potenziale im Selbst

Aufs Ganze gesehen ist die hier vertretene Idee der Aufteilung unserer Psyche in zwei Systeme sehr alt und weitverbreitet. Schon der griechische Philosoph Platon stellte sich vor mehr als zwei Jahrtausenden die Seele wie einen damals üblichen Wagen vor: Zwei Zugpferde (das Selbst) werden kontrolliert von einem Wagenlenker (das Ich). Sigmund Freud sprach vom Es und vom Ich. Als Analogie hierfür verwendete er Ross und Reiter. In der gegenwärtigen Psychologie stellt man das schnell-automatische System 1 dem langsam-bewussten System 2 gegenüber (Kahnemann 2011), an anderer Stelle ist vom heiß-emotionalen System versus kühl-ko­gnitiven System die Rede (Mischel 2015).

 

Die Metapher von Ross und Reiter hilft uns, etwas sehr Wichtiges deutlicher zu sehen. Das Ross ist ein eigenständiges Wesen – der Reiter wird es niemals vollständig kennen und beherrschen können. In neuartigen Situationen wird das Tier immer mal auf eine Weise reagieren, die den Reiter überrascht, immer mal wird es mit unerwarteten Launen aufwarten, nicht immer folgt es genau auf jeden Wink. Und genauso ist es auch mit unserem Selbst.

Das menschliche Selbst kennen und verstehen zu lernen ist ein menschheitsgeschichtlicher Lernprozess, den jeder Einzelne von uns angehalten ist, in seinem Leben möglichst weitgehend nachzuvollziehen. Dazu gehört, sich psychologisches Grundwissen anzueignen – was Sie ja gerade tun. Ferner gehört dazu, das eigene Erleben und Reagieren zu beobachten und vor dem Hintergrund dieses Wissens zu interpretieren. Es kann wichtig sein, die Rückmeldungen anderer aufzunehmen. Und man sollte sich die Möglichkeit geben, vieles im realen Leben auszuprobieren, ohne immer schon im Vorhinein zu »wissen«, dass es nicht gut ist, nicht funktioniert, keinen Zweck hat etc. Von der Ich-Ebene her können wir oft ganz schlecht vorhersagen, wie wir uns in Situationen fühlen würden, die wir uns nur vorstellen, aber noch nicht real erlebt haben. Wer lange allein gelebt hat, sagt vielleicht: »Mit einer alleinerziehenden Mutter zweier kleiner Kinder eine Partnerschaft eingehen und zusammenleben – das geht unter keinen Umständen.« Er sollte es ausprobieren. Vielleicht würde er die Situation als überraschend belebend und bereichernd erfahren. Und wenn nicht sofort, dann vielleicht nach einer längeren Zeit der Annäherung in kleinen Schritten.

Das menschliche Selbst kennen und verstehen zu lernen ist ein Prozess, der niemals abgeschlossen ist. Bei jedem von uns enthält es Facetten und Potenziale, die wir noch nicht kennen.

Ein großer Teil unseres Wissens wird im Laufe der Jahre implizit und verschwindet aus dem Bewusstsein. Wenn ich mich an den PC setze, um an diesem Buch zu schreiben, passiert oft in den ersten fünf bis dreißig Minuten gar nichts. Ich starre auf den leeren Bildschirm und habe das Gefühl, dass mein Kopf leer ist, ich nichts kann und nichts weiß. Aber nach einiger Zeit des »Brütens« fließen die Zeilen eben doch. Wer bei ähnlichen Gelegenheiten zu früh aufgibt, verbleibt womöglich zeitlebens in dem Irrglauben: »Dieses oder jenes kann ich einfach nicht!«

Unser Selbst verfügt über ein immenses Kreativpotenzial. Es ist dazu in der Lage, alte Verhaltensschemata an neue Situationen anzupassen oder sogar völlig neue Schemata spontan und sofort zu erzeugen, ohne vorheriges Lernen. Wer noch nie jongliert hat oder auf einem Seil gelaufen ist – zwei oder drei Kugeln bzw. zwei bis drei Meter schafft er auf Anhieb und ohne Übung. Hierum zu wissen und entsprechende Erfahrungen bewusst festzuhalten ist eine wichtige Basis für ein gesundes Selbstvertrauen.

Und zuletzt verfügt unser Selbst über ein enormes Anpassungspotenzial, das von vielen Menschen sehr unterschätzt wird. Das ist insbesondere in Bezug auf Invalidisierung und Traumatisierung bedeutsam. Viele Menschen denken, wenn mir dies oder jenes passieren würde, das könnte ich nicht aushalten, ich würde lebenslang schwer darunter leiden oder mir sogar das Leben nehmen. Aus Studien weiß man, dass Menschen, die nach einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt sind, ein bis zwei Jahre danach das gleiche Niveau an Lebenszufriedenheit angeben wie vor dem Unfall. Unsere Psyche hat die Tendenz, sich an dauerhafte Umstände zu gewöhnen und Misslichkeiten als Anreiz für Lernen und Wachstum zu nutzen. Auch nach anderen schlimmen Ereignissen ist das posttraumatische Wachstum viel häufiger als die Posttraumatische Belastungsstörung. Dies wundert einen nicht, wenn man bedenkt, welche Fülle an Katastrophen aller Art den Entwicklungsweg unserer Vorfahren gepflastert hat. Nicht selten mag es gerade das Wissen des Ich über das Selbst sein, das die Weichen stellt, denn wer aus den Medien entnommen hat, dass man nach einem Trauma nur psychisch krank werden kann, der läuft Gefahr, eine selbsterfüllende Prophezeiung in Gang zu setzen. Wer dagegen an seine Bewältigungsfähigkeiten glaubt, hat viel größere Chancen, gesund zu bleiben.

 

Ich finde es instruktiv, diese Selbst-Ich-Doppelung unserer Psyche zusätzlich in einen weiteren Analogie-Zusammenhang zu stellen, dessen Grundidee so etwas wie eine vom Meer bedrohte Polderstadt bildet, mit allen möglichen Kanälen, Befestigungswerken, Gezeitenkraftwerken, Flutwehren etc. In normalen Zeiten spielt alles gut zusammen, das Wasser dient der Lebenserhaltung, dem Transport, der Energiegewinnung usw. Leider steht das Meer aber von Zeit zu Zeit zu Fluten oder gar schweren Sturmfluten auf, und dann sind alle städtischen Lebensregulierungsstrukturen in Gefahr, überschwemmt und zerschlagen zu werden. Ähnliche Gefahren drohen auch dem Ich mit seinen Selbststeuerungsfunktionen und den ins Selbst gebauten Lebensregulierungsstrukturen, wenn aus dem Selbst zu starke Wellen an negativer Spannung und Angstenergie hochbranden oder gar die Sturmfluten von Panikattacken heraufschlagen.

Klingt zu vereinfachend und mechanistisch? Grundsätzlich bin ich ja auch ein Gegner des mechanistischen Denkens und allzu vereinfachender Analogien. Bleibt man sich ihrer Grenzen bewusst, können sie manchmal aber doch helfen, wichtige Zusammenhänge anschaulich und greifbar zu machen.

Krankheit, auch psychische Krankheit, ist im Kern ein Prozess der Entdifferenzierung, der Vereinfachung (die größtmögliche Entdifferenzierung tritt dann mit dem Tod ein, wo unser Körper sozusagen zu gleichförmigem Staub zerfällt). Angsterkrankungen haben bei jedem Einzelnen ganz individuelle und einzigartige Ausgangspunkte. Eskalationsmechanismen, Panikattacken und Maßnahmen der ersten Hilfe (z. B. Atemtechniken) sind aber für alle ähnlich.

Auch in unserer Polderstadt wird man in Zeiten des gesunden Gleichgewichts feinsinnig über Tausende und jeden Tag neue Themen diskutieren. Wenn aber eine Sturmflut droht, gibt es nur ein einziges Thema: sind die Deiche hoch und fest genug und wie kann man sie ggf. verstärken. Und so universell, wie die Grundgesetze des Deichbaus sind, so universell sind auch die Grundprinzipien der Eindämmung starker Angst.

 

Ehe wir zu den Ursachen von Angststörungen kommen, bleibt ein letzter wichtiger Punkt zu besprechen: die verschiedenen Ausbau- und Verinnerlichungsstufen der Lebensregulierungsstrukturen.

Drei Lern- und Verinnerlichungsstufen im Selbst: Denken/Wissen, Konditionierung und Gewöhnung

Der Auf- und Ausbau unserer Lebensregulierungsstrukturen ist im Kern ein Lernprozess, der alle drei Hauptformen des Lernens umfasst, die in unserem Selbst bzw. unserem Gehirn ablaufen. Zugleich werden diese Inhalte in drei unterschiedlichen Modi im Gehirn vernetzt, ja »einzementiert«. Auf drei unterschiedlichen Stufen entsteht ein »materieller Niederschlag«, der diese Strukturen real wirksam und langzeitstabil macht. Wie das im Gehirn im Detail abläuft, wissen wir nicht. Wahrscheinlich spielt die Neubildung bzw. Verstärkung oder Abschwächung der synaptischen Verbindungen zwischen den Nervenzellen eine zentrale Rolle. Die drei Grundformen des Lernens sind: Einsichtslernen, Konditionierungslernen und Habituationslernen. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, zwischen den folgenden drei Stufen der Verinnerlichung im Selbst zu unterscheiden.

Stufe 1: Denken/Wissen (Einsichtslernen)

Hier haben wir zunächst die flüchtigen Bewusstseinsprozesse im Hier und Jetzt: Gleich dem Wellenspiel auf einem See gehen uns jeden Tag Tausende Gedanken durch den Kopf, begleitet von mehr oder weniger deutlichen visuellen Vorstellungen oder Bildern, die mehr oder weniger intensive und schnell wechselnde Gefühle anregen. Wir erfassen hier Inhalte, die von außen kommen. Wir beobachten etwas, hören jemandem zu oder lesen einen Text. Oder die Inhalte kommen von innen, aus dem Gedächtnis oder der Fantasie. Wenn wir diese Prozesse spontan treiben lassen, haben sie oft wenig Bedeutung und sind schon Stunden später unwiederbringlich vergessen. Wie besprochen können sich hierbei aber auch schnelle Strudel und starke Aufschaukelungen bilden: Wir kommen ins Grübeln, oder zuspitzende Spontangedanken steigern Gefühle wie Wut oder Angst zu immenser Stärke.

Unter Nutzung der Selbststeuerungsfunktionen unseres Ich können wir aber auch systematisch lernen. Wir konzentrieren uns auf bestimmte Lehrmaterialien, rekonstruieren deren Inhalte in unserem Denken, prüfen sie kritisch, korrigieren sie eventuell und bemühen uns dann, sie im Langzeit-Gedächtnis abzuspeichern. Hierbei helfen bestimmte Techniken wie Anschaulichkeit, Aufschreiben, Wiederholen etc. Schritt für Schritt versuchen wir, diese Lerninhalte weiter auf- und auszubauen. Das Wissen wird organisiert nach Prinzipien wie: sachlicher Zusammenhang, Übereinstimmung mit den Naturgesetzen, Logik und Vernunft.

So bildet sich der »harte Kern« unserer Lebensregulierungsstrukturen. Auf dieser Ebene liegen all unser Wissen, mit dem wir unsere Welt und uns selbst interpretieren, die Kulturantriebe und die förderlichen Geisteshaltungen sowie ein wichtiger Teil unserer Kompetenzen. All das wird in unserem Langzeitgedächtnis zu Materie, die man messen und wiegen könnte. An Abermillionen von Synapsen kommen reale Veränderungsprozesse in Gang, u. a. die Bildung von Proteinen. Gedächtnisinhalte können wir jederzeit reaktivieren und im heißen Fokus unseres Bewusstseins ergänzen oder verändern, gewissermaßen »umschmelzen«.

Aber Wissen und Denken sind immer ganzheitliche Prozesse. Auch die unbewussten Bereiche, die gerade nicht im Bewusstsein aktiviert sind, wirken in unterschiedlicher Form mit. So gibt es »Intuitionen«, die uns ein Gefühl für die richtige Denkrichtung geben, es gibt unerwartete »Eingebungen«, plötzliche Lösungsideen, wir sehen die Dinge anders, wenn wir eine Nacht darüber geschlafen haben. Und: Wenn bestimmte Inhalte sehr gut verinnerlicht sind, wenn wir sie mit schlafwandlerischer Sicherheit beherrschen, dann können wir ihrer blitzschnell und intuitiv innewerden; sie führen dann zu blitzschnellen, automatisierten gedanklichen und gefühlsmäßigen Bewertungen.

Stufe 2: Konditionierungen (Konditionierungslernen)

Zum Einsichtslernen sind nur wir Menschen fähig, in Vorformen aber wohl auch schon die Menschenaffen. Ein einfacherer im Tierreich weit verbreiteter Lerntyp ist das Konditionierungslernen. Hier werden die Inhalte nicht gemäß sachlich-logischem Zusammenhang verbunden, sondern einfach entsprechend räumlich-zeitlicher Nähe: Alles, was gemeinsam in Erscheinung tritt, wird im Nervensystem verknüpft. Bestimmt haben Sie in der Schule von den berühmten Hunden des russischen Gelehrten Pawlow gehört, der diese Lernform als Erster experimentell untersucht hat: Wie andere Tiere auch fangen Hunde im Angesicht von Nahrung an zu speicheln. Wurde wiederholt vor dem Füttern eine Glocke geläutet, begann nach einiger Zeit das Speicheln schon beim Glockenläuten. Glockenton und Nahrung wurden offenbar im Nervensystem miteinander verbunden.