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Der letzte Erbe Der elfjährige Jam Fluke steht unter dem Druck, die letzte Hoffnung seines Vaters auf einen Delfinerben des Unterwasserkönigreichs zu sein - eine Zukunft, die er auf keinen Fall will. Da seine sieben Schwestern alle darum wetteifern, den verlorenen Schatz des Piraten Redfin zu finden, der beschließt Jam, sich mit seinen Unterwasserfreunden der Jagd anzuschließen und seinem Vater zu beweisen, dass er mehr ist als nur ein kleiner Versager - und sich vielleicht sogar das Recht verdient, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Animox Origins 1. Der verlorene Schatz der Delfine: Ein packendes Fantasy-Abenteuer mit Jam Fluke - Hochspannung garantiert: Mitreißendes Prequel zur Fantasy-Bestsellerreihe von Aimee Carter für Kinder ab 9 Jahren. - Beliebte Held*innen: In diesem Animox-Buch bekommt Jam Fluke, der beste Freund von Simon Thorn, endlich seine eigene Story. - Eine Geschichte über Freundschaft, Mut und Selbstfindung: Der 11-jährige Außenseiter Jam will seinem Vater beweisen, dass er kein Versager ist. - Tierfantasy trifft Abenteuer: ANIMOX Origins ist die atmosphärisch dicht erzählte Vorgeschichte zur erfolgreichen Fantasy-Reihe der Bestsellerautorin Aimèe Carter. - Die Welt der Tierwandler: Das spannende Fantasy-Buch ist der ideale Lesestoff für Kinder ab 9 Jahren, die Percy Jackson, Woodwalkers und Warrior Cats lieben. In der Bestsellerreihe "Animox" von Aimèe Carter gerät der junge Gestaltwandler Simon in einen erbitterten Kampf zwischen verschiedenen Tierreichen. Als Animox kann er mit den Tieren sprechen und muss sich in einer magischen Welt vielen spannenden Herausforderungen stellen. Die erfolgreiche Fantasy-Buchreihe für Kinder ab 10 Jahren gibt es auch als Taschenbuch, Hörbuch und E-Book sowie als Comic-Roman zum Lesenlernen für Kinder ab 8 Jahren.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Jam Fluke ist elf Jahre alt und hat noch immer nicht animagiert, im Gegensatz zu seinen sieben ehrgeizigen Schwestern. Darum darf er auch nicht bei der Suche nach dem legendären Piratenschatz mitmachen. Aber Jam wittert eine Chance: Wenn er sich heimlich der Jagd anschließt, könnte er endlich beweisen, dass er mehr ist als der Außenseiter der Familie – und vielleicht sogar sein eigenes Schicksal bestimmen.
Doch die Tiefen des Meeres bergen uralte Gefahren, neue Freunde … und ein Abenteuer, das Jam nie für möglich gehalten hätte.
In ANIMOX Origins erzählt Bestsellerautorin Aimée Carter die packenden Vorgeschichten der Hauptfiguren aus ihrer erfolgreichen Fantasy-Reihe.
Aimée Carter
Der verlorene Schatz der Delfine
Aus dem Amerikanischen von Maren Illinger
Maren Illinger
Für Angie
Kapitel eins
Als der elfjährige Jam Fluke zum Schildkrötenstrand kam, sein Lieblingsbuch unter dem Arm und voller Vorfreude auf einen ungestörten Nachmittag, ahnte er nicht, dass er kurz davor war, eine Kette von Ereignissen in Gang zu setzen, die das Unterwasserreich an die Schwelle eines Krieges bringen konnten.
Natürlich war das überhaupt nicht seine Absicht. Aber Jam hatte ein Händchen dafür, ungewollt Ärger anzulocken. Wie etwa wie bei den Gelegenheiten, als er versehentlich eine Stachelrochenplage an einem Strand voller Touristen ausgelöst hatte oder als er durch eine unbedachte Bemerkung eine ganze Kompanie von Seelöwen dazu gebracht hatte, ihre Posten auf der Insel Santa Catalina aufzugeben. Sogar am Tag seiner Geburt war er der Grund gewesen, warum sein Vater zu spät zur großen Schlacht gegen das Vogelreich gekommen war, und er war sich ziemlich sicher, dass der General ihm das ewig vorhalten würde, obwohl er die Schlacht gewonnen hatte.
So wie Jam es sah, war das ein Fluch, den er nicht abschütteln konnte, ganz gleich, wie vorbildlich er sich benahm oder wie sehr er sich zurückzog – so wie er es auch an diesem Nachmittag vorhatte. Er wollte nichts anderes, als der Insel für ein paar Stunden auf dem einzig möglichen Weg zu entkommen, den er kannte: durch die Seiten eines Buchs. Doch das Universum hatte wie üblich andere Pläne.
Noch bevor er sich ein schattiges Plätzchen unter den Palmen suchen konnte, drang Gelächter an sein Ohr, und er verzog das Gesicht. Normalerweise war in Santa Catalina nichts los in dieser ersten seltsamen Januarwoche nach dem Trubel der Feiertage, bevor die Schule wieder anfing. Es war Jams Lieblingszeit im Jahr, weil ihn niemand mit militärischen Übungen und endlosen Tests belästigte und zur Abwechslung einmal nicht das erdrückende Gewicht der Erwartungen seiner Familie auf ihm lastete, denen er nie gerecht werden konnte. Auch die Einheimischen blieben in dieser Zeit eher für sich, und Jam hatte darauf gezählt, dass nun, da die frischgeschlüpften Schildkrötenbabys losgeschwommen waren, niemand am Strand sein würde. Tja, er hätte es besser wissen müssen.
Das Lachen wurde lauter, und Jam ging hinter dem nächsten Baum in Deckung, obwohl der eigentlich zu schmal war, um ihn zu verbergen. Er kannte dieses Lachen. Er hörte es, wann immer er bei den morgendlichen Übungen einen Fehler machte oder in der Schule eine falsche Antwort gab, und sein Herz begann zu rasen, als er um den Stamm herumspähte.
Eine Gruppe von sechs Kindern – fünf aus Jams Schulklasse vom Festland und ein Junge, den er nicht kannte – tauchte hinter der Uferbiegung auf und rannte am Wasser entlang. Trotz der warmen Januarsonne mussten die Wellen, die ihre Füße umspülten, eiskalt sein, und sie machten sich einen Spaß daraus, einander unter Geschrei Richtung Wasser zu schubsen.
»Ist das Meer hier immer so kalt?«, fragte der Fremde – ein großer Junge mit schwarzen Haaren, der mit seinem nackten Fuß ein Mädchen namens Goldie nassspritzte. Die quietschte und entwischte nach oben in den warmen Sand.
»Im Winter schon«, erwiderte der rothaarige Nelson Clipper. Seine Mutter arbeitete eng mit Jams Vater zusammen, was jedoch nicht zur Folge gehabt hatte, dass auch die beiden Jungen sich anfreundeten. Es war schwierig, mit irgendjemandem befreundet zu sein, wenn der eigene Vater die Angewohnheit hatte, überall, wo er hinkam, Befehle zu bellen und Kritik zu üben. »Wenn man zu lange in menschlicher Gestalt schwimmt, kann es gefährlich werden.«
Der Junge schnaubte verächtlich. »Warum sollte ich als Mensch schwimmen, wenn ich mir Flossen wachsen lassen kann?«
Jam wurde schlagartig klar, wer der Junge war. Zu Beginn des Jahres füllte sich die Insel mit neuen Salzwasserrekruten aus ganz Nordamerika – Hawaii, Alaska, der Karibik, der gesamten Küstenlinie Kanadas, dem Golf von Mexiko und sogar Grönland –, rechtzeitig zu Beginn des neuen Semesters an der Pazifischen Unterwasser-Militär-Akademie. Der Junge musste schon früher angereist sein.
Jam schauderte. Die Pazifische Unterwasser-Militär-Akademie war die für ihre Strenge berüchtigte Schule, die Jams Schwestern besuchten und an der auch er selbst bald anfangen sollte, obwohl er beim Gedanken daran am liebsten die nächste Fähre nach Los Angeles bestiegen und sich auf Nimmerwiedersehen davongemacht hätte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, sich sein Leben lang sagen zu lassen, was er zu tun hatte, und beinahe – beinahe – hatte er Mitleid mit dem schwarzhaarigen Fremden.
Bis der Junge stehen blieb, sich zum Wasser beugte und eine kleine grüne Meeresschildkröte herausfischte.
»Hey, wen haben wir denn da?«, rief er laut genug, dass die halbe Insel ihn hören konnte. »Ist das etwa ein Reptil, hier im Gebiet des Generals?«
Die anderen Kinder hielten in ihrem Spiel inne, und Jam verfolgte angespannt, wie die winzige Schildkröte in der Hand des Jungen zappelte. »Lass mich los!«, schrie sie sehr viel mutiger, als Jam erwartet hätte. Schildkröten waren nicht gerade für ihre Tapferkeit bekannt. »Gleich kommen meine Brüder und Schwestern!«
»Hast du nicht gesagt, an diesem Strand wären seit Wochen keine Schildkröten mehr gewesen?«, fragte der Schwarzhaarige Nelson, der plötzlich nervös wirkte.
»Die Brutsaison ist schon seit einer Weile vorbei«, gab Nelson zu und strich sich die roten Haare aus den Augen. »Ich weiß nicht, warum das Kerlchen immer noch hier ist, aber …«
»Aber es ist hier und es ist allein.« Die Lippen des Jungen verzogen sich zu einem bösartigen Grinsen. »Weißt du, was mit Reptilien passiert, die sich auf unserer Insel herumtreiben?«
Jam knirschte mit den Zähnen. Diesem Typen gehörte die Insel ganz bestimmt nicht. Soweit Jam wusste, war er nie zuvor hier gewesen. Seine Füße bewegten sich wie von selbst, so wie meistens, kurz bevor er sich in einem gewaltigen Schlamassel wiederfand, aber wenn sie sich einmal in Bewegung gesetzt hatten, ließen sie sich nicht mehr stoppen.
»Bei uns in Florida werfen wir Spione in den Sumpf«, erklärte der Junge großspurig. »Was glaubt ihr, was der General macht, wenn wir ihm sagen, dass ich auf seiner Insel einen Spitzel gefunden habe?«
»Hast du doch gar nicht.«
Jams zitternde Stimme durchbrach das Kichern der anderen Kinder, und alle drehten sich zu ihm um. Er spürte, dass seine Wangen heiß wurden, was nichts mit dem leichten Sonnenbrand zu tun hatte, unter dem er immerzu litt, ganz gleich, wie viel Sonnencreme er sich ins Gesicht schmierte.
»Was hast du gesagt?«, fragte der Junge und verengte die Augen.
»Ich …« Jam schluckte. Er war kein Feigling, aber der Junge war ein ganzes Stück größer als er, deutlich kräftiger und er sah ihn nicht gerade freundlich an.
Doch sogar aus der Entfernung konnte Jam die Angst in den Augen der kleinen Schildkröte sehen. Er wusste nur zu gut, wie Angst sich anfühlte, und hielt es nicht aus, sie im Gesicht eines anderen zu sehen, nicht einmal in dem eines Reptils. Deshalb versuchte er, nicht daran zu denken, welche Strafe ihn erwarten würde, wenn der General erfuhr, dass er sich mit einem neuen Schüler angelegt hatte, oder mit wie vielen Alligatoren dieser Junge in seiner Heimat Florida schon gerungen hatte, und holte tief Luft.
»Dieser Strand heißt Schildkrötenstrand, weil Meeresschildkröten die offizielle Erlaubnis haben, hier zu nisten«, sagte er fest und wagte sich noch einen Schritt weiter. »Solange sie an diesem Strand sind, stehen sie unter dem Schutz des Generals. Wenn du dem Kerlchen etwas tust, hast du ein gewaltiges Problem – es könnte sogar sein, dass du von der Akademie fliegst.«
Nelson, der auf der Insel aufgewachsen war und wusste, dass Jam die Wahrheit sagte, stieß den schwarzhaarigen Jungen mit dem Ellbogen an. »Ben«, zischte er. »Er hat recht. Wenn der General davon erfährt …«
Ben ignorierte ihn und hielt den Blick weiter auf Jam gerichtet. »Okay. Wenn die Schildkröte an Land unter Schutz steht, müssen wir sie eben ins Wasser bringen.«
Bevor Jam die Bedeutung seiner Worte erfassen konnte, schwang Ben den Arm zurück und schleuderte das kleine Wesen in hohem Bogen über die Wellen. Für einen Augenblick war Jam erleichtert – bis Ben laut johlend Anlauf nahm und ins Wasser hechtete, wobei sein Körper noch in der Luft die Gestalt änderte.
Seine Haut wurde grau und dehnte sich, bis sie glänzend und gestreift war, sein Hals verschwand, sodass Kopf und Rumpf zu einem flachen, breiten Schädel verschmolzen. Seine Beine formten einen Schwanz, aus dem mehrere Flossen sprossen, und in dem Sekundenbruchteil, bevor der sich verwandelnde Junge im Ozean verschwand, begriff Jam, warum er an der Pazifischen Unterwasser-Militär-Akademie im Herzen des Unterwasserreichs aufgenommen worden war.
Ben war ein Tigerhai, eines der tödlichsten Tiere der Meere – und der größte Feind von Meeresschildkröten.
Jam zögerte keine Sekunde. Er ließ sein Buch fallen, streifte seine Taucherbrille mit Sehstärke über, ohne die seine Mutter ihn nirgendwohin ließ, und rannte mit hämmerndem Herzen ins Wasser. Er hörte die anderen rufen, er solle anhalten, aber er ignorierte sie. Er konzentrierte sich nur auf die Stelle, wo die kleine Schildkröte vor wenigen Augenblicken untergegangen war.
Von allen Dingen, die er in diesem Moment hätte tun können – eine beträchtliche Zahl an Möglichkeiten, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu dem schwersten Konflikt geführt hätte, den das Unterwasserreich seit dem Tag von Jams Geburt erlebt hatte –, war dies das bei Weitem riskanteste. Denn Jam Fluke, der mehr Mut besaß, als ihm selbst klar war, hatte in diesem Moment die wichtigste Tatsache seines Lebens vergessen:
Anders als Ben hatte er noch nie in seinem Leben animagiert.
Kapitel zwei
Die eisigen Wellen schlugen Jam entgegen und versuchten, ihn wieder an Land zu treiben. Er hätte es als Warnung auffassen können, aber wie die meisten Mitglieder des Unterwasserreichs war Jam zu rational, um an Warnungen des Universums zu glauben. Entschlossen kämpfte er gegen die Kraft der Wellen an, bis er ins tiefere Wasser gelangte und ihn die Unterströmung hinaus aufs offene Meer trieb.
Erst als er etwa fünfzehn Meter vom Ufer entfernt war, fiel ihm auf, dass er gar keinen Schnorchel dabeihatte, geschweige denn eine Sauerstoffflasche, aber daran konnte er jetzt auch nichts mehr ändern. Er würde eben improvisieren müssen.
Er tauchte lange genug auf, um Luft zu holen, und ignorierte die Rufe vom Ufer. Als er wieder in die eisige Stille des Wassers sank, entdeckte er den Tigerhai sofort. Er schwamm mehrere Meter vor ihm, und sein stromlinienförmiger Körper glitt auf einen tanzenden Punkt im Wasser zu – die kleine Schildkröte, die um ihr Leben paddelte.
Wut pulsierte durch Jams Körper. Er hatte zwar weder Flossen, die ihn vorwärtstrieben, noch einen Neoprenanzug, der ihn warmhielt, aber er war am Pazifik aufgewachsen. So ziemlich jeden Tag seines Lebens war er im Meer geschwommen. Er mochte das jüngste Kind seiner Familie sein – und vermutlich das schwächste, da er sich als Einziger der Flukes noch nicht verwandeln konnte. Das machte er jedoch durch Schnelligkeit, Entschlossenheit und das Wissen, wie man sich auch unter schwierigen Bedingungen unter Wasser fortbewegt, wieder wett.
Der Tigerhai war beeindruckend groß und unbestreitbar schnell, aber seine Bewegungen waren alles andere als fließend, und es war leicht erkennbar, dass Ben noch nicht lange animagierte. Er sah aus, als müsste er über jede seiner ungelenken Flossenbewegungen erst nachdenken. Jam konnte leicht um ihn herumschwimmen und den toten Winkel des Hais zu seinem Vorteil nutzen. Ewig konnte er natürlich nicht im Verborgenen bleiben. Es gelang ihm jedoch, erst in letzter Sekunde vor Ben aufzutauchen und sich so schnell zu bewegen, dass der Tigerhai keine Chance hatte, ihn in einen Nachmittagsimbiss zu verwandeln.
»Scher dich zum Seeteufel«, rief er ihm zu, während er einen Wasserschwall in das geöffnete Maul des Tigerhais stieß. Er glaubte, hinter sich leises Fluchen zu hören, machte sich aber nicht die Mühe, nachzusehen, während er auf die Meeresschildkröte zuschwamm, die sich im Wasser kaum schneller fortbewegte als an Land.
»Hey!«, protestierte das verdutzte Reptil, als Jams Hand sich um seinen Panzer schloss. »Lass mich –«
»Keine Zeit, wenn du nicht als Hai-Snack enden willst«, entgegnete Jam mit gedämpfter Stimme. Natürlich wäre es höflicher gewesen, erst zu fragen, aber da die Schildkröte sich durchs Wasser quälte, als krieche sie durch Schlamm, und Jam seine Arme und Beine gern behalten wollte, blieb ihm in diesem Moment nichts anderes übrig, als auf Höflichkeiten zu verzichten.
Die zappelnde Schildkröte fest unter den Arm geklemmt, steuerte Jam die nächste Unterströmung an – hoffentlich würden sich die vielen Gelegenheiten, bei denen seine Schwestern ihn durchs Wasser gejagt hatten, endlich einmal auszahlen. Ein schneller Blick zurück zeigte ihm, dass der Tigerhai dicht hinter ihm war, und mit einer letzten Anstrengung seiner ineffizienten menschlichen Glieder schwamm er weiter auf die Strömung zu, die ihn hoffentlich ans Ufer trieb.
Unterströmungen waren extrem gefährlich, sie konnten selbst den erfahrensten Schwimmern zum Verhängnis werden, und Jam wusste, seine Mutter wäre stinksauer, sollte sie je erfahren, dass er sich gezielt einer solchen Strömung genähert hatte. Doch seine Schwestern hatten ihm beigebracht, nicht gegen die Kraft des Wassers zu kämpfen, und er traute es sich zu, am Ende der Strömung ans Ufer zu schwimmen. Natürlich war es ein Risiko, aber da der Hai so unsicher mit seinen Flossen unterwegs war, war Jam bereit, es einzugehen. Ben mochte keine Reptilien respektieren, vielleicht respektierte er jedoch wenigstens den Ozean und seine unsichtbaren Gefahren.
Leider nicht. Der Hai folgte ihm, ohne zu zögern, in die mächtige Strömung, völlig unbeeindruckt von der drohenden Gefahr. Was jetzt?
Als könnte sie seine Gedanken lesen, drehte die Schildkröte den Kopf in seine Richtung und sagte etwas, doch ihre Stimme war sowohl durch das Wasser als auch durch Jams Arm gedämpft. Verwirrt nahm er die Schildkröte in die Hand.
»Was?«, rief er über das Wasserbrausen hinweg.
»Gib – ihm – eins – auf – die – Nase!«, wiederholte die Schildkröte langsamer.
Jam blinzelte verwirrt. »Und das soll funktionieren? Alle meine sieben Schwestern sind Haie, wenn es so einfach wäre …«
»Pass auf!«
Jam wirbelte herum und entließ die Schildkröte in die Strömung. Der Tigerhai war nur noch wenige Handbreit hinter ihm und bleckte seine spitzen Zahnreihen.
Selbst wenn ihm mehr Zeit geblieben wäre, wäre Jam kein anderer Ausweg eingefallen. Also tat er genau das, was die Schildkröte ihm geraten hatte: Er holte aus und schlug dem Hai so kräftig, wie es unter Wasser möglich war, die Faust auf die Nase.
Der Aufprall seiner Knöchel auf der Knorpelmasse des Hais war härter, als Jam erwartet hatte, aber Ben schien von dem Schlag sogar noch überraschter zu sein. Der Tigerhai zuckte zurück, seine Flossen gerieten ins Schlingern, und während er um sein Gleichgewicht rang, holte Jam erneut aus, um ein zweites Mal zuzuschlagen, falls er wieder näherkam.
»He, was soll das?«, rief der Hai empört. Ihm lief Blut aus den Nasenlöchern, das das Wasser rot färbte. »Ich wollte dir doch nichts tun!«
»Ach ja? Erzähl das mal der Schildkröte«, gab Jam zurück, doch erst, als der Hai versuchte, sich mit seinen viel zu kurzen Brustflossen über das Gesicht zu reiben, wagte er es, aufzutauchen, um Luft zu holen. Wieder unter Wasser, fügte er hinzu: »Ich heiße übrigens auch Benjamin, aber meine Familie nennt mich Jam.«
»Interessiert mich nicht«, knurrte der Hai.
»Sollte es aber«, entgegnete Jam. Sie waren nun fast am Ende der Unterströmung, und es würde nicht lange dauern, bis der Hai erneut die Gelegenheit bekäme, nach der Schildkröte zu schnappen. »Mein voller Name ist Benjamin Fluke.«
Der Tigerhai erstarrte mitten in der Bewegung. Er blinzelte einmal, dann ein zweites Mal, während er eins und eins zusammenzählte, und stammelte dann zu Jams Genugtuung: »Fluke? So wie … General Fluke?«
»Jepp, der ist mein Vater.« Normalerweise nutzte Jam diese Beziehung nicht aus, um irgendetwas zu erreichen. Hauptsächlich, weil er seinen Vater derart selten zu Gesicht bekam, dass es sich manchmal so anfühlte, als hätte er gar keinen. In diesem Fall jedoch, während der Tigerhai und er weiter und weiter aufs offene Meer hinaustrieben, kam er zu dem Schluss, dass es gerechtfertigt war. »Und wenn du jetzt nicht sofort umdrehst und zurück zur Insel schwimmst, werde ich ihm erzählen, was du gemacht hast, Ben aus Florida!«
»Ich verschwinde ja schon«, stieß der Tigerhai hervor und wandte sich Richtung Ufer. »Ich lasse deine Kröte in Ruhe. Sag … bloß nichts dem General davon, okay? Meine Familie zählt auf mich.«
»Und der General zählt darauf, dass wir keinen neuen Krieg mit dem Reptilienreich anzetteln«, erwiderte Jam. Er verzog das Gesicht, als ihm klarwurde, dass er schon wie seine ewig mahnende Schwester Rhode klang. Er holte erneut Luft. »Wenn hier noch irgendjemand tyrannisiert wird, bevor das Schuljahr beginnt, gehe ich zum General und schiebe es auf dich. Also sorg besser dafür, dass deine Freunde sich benehmen.«
Der Tigerhai biss seine zahlreichen Zähne zusammen, nickte jedoch. »Ist ja gut. Ich werde mein Bestes tun. Aber wenn die anderen sich nicht daran halten …«
»Heißt das, dass du nicht dein Bestes gegeben hast.«
Der Tigerhai schluckte. Jams Lunge brannte, während er ihn unverwandt anstarrte. Diese Taktik wandte sein Vater ständig an, und Jam hasste es, angestarrt zu werden. Weshalb er, als Ben endlich schnaufend und nach wie vor schlingernd davonschwamm, ein schlechtes Gewissen hatte.
Mehrere hundert Meter vom Ufer entfernt tauchte Jam auf, atmete eine Riesenportion salziger Luft ein und ließ sich im offenen Wasser treiben. Er war ganz anders als der General, erinnerte er sich, als er die Augen schloss und den Kopf in Richtung Mittagssonne drehte. Genau genommen war er seinem Vater sogar so unähnlich, dass dies das größte Problem war, mit dem die Familie Fluke derzeit zu kämpfen hatte, auch wenn alle versuchten, es zu überspielen. Ein einzelner Vorfall bedeutete nicht, dass sich Jams gesamte Persönlichkeit verändert hatte.
»Warum hast du mich gerettet?«
Das dünne Stimmchen der Schildkröte ließ Jam zusammenzucken, und er drehte sich in dem leuchtend blauen Wasser um. Hinter ihm schwamm die kleine Schildkröte, ihr Körper hüpfte auf den Wellen. Mehrere Sekunden lang sahen die beiden einander neugierig an.
»Weil … ich es wollte«, stammelte Jam schließlich, weil ihm keine treffendere Erklärung einfiel. Weil es richtig gewesen war? Weil er wusste, wie es sich anfühlte, von Tyrannen umgeben zu sein, und es nicht aushielt, andere in dieser Position zu sehen, nicht einmal Reptilien? Er konnte es nicht genau sagen. »Alles okay mit dir?«
»Nein!«, erwiderte die Schildkröte schrill. »Nein, nichts ist okay. Wo sind wir? Ich muss zurück an den Strand. Meine Geschwister …«
»Deine Geschwister sind nicht am Strand«, sagte Jam und warf einen Blick über die Schulter. Er sah das Ufer, wo Ben, nun wieder in seiner menschlichen Gestalt, zurück zu den anderen trottete. »Jedenfalls noch nicht. Dafür sind diese Kinder da, und wie du gemerkt hast, sind Reptilien auf der Insel nicht gerade willkommen.«
Die Schildkröte blinzelte langsam mit ihren schwarzen Knopfaugen. »Aber du hast doch gesagt, der Strand wäre sicher.«
»Normalerweise schon. Im Moment aber nicht«, erklärte Jam. »Sag mal, bist du verletzt? Mir ist aufgefallen, dass du ein bisschen … langsam bist.«
Das war vielleicht nicht besonders zartfühlend ausgedrückt, aber die Schildkröte schien es nicht zu stören. »Ich wurde von einem Barrakuda gebissen«, gestand sie und hob ihre Vorderflosse. Jams Blick fiel auf eine tiefe Wunde, die aussah, als wäre sie schon ein paar Tage alt. »Meine Geschwister haben ihn vertrieben und gesagt, ich solle hier warten, bis sie mich holen. An diesem Strand bin ich zur Welt gekommen.«
Jam wurde flau im Magen. Die Geschwister des kleinen Kerlchens brauchten sicher nicht mehrere Tage, um einen Barrakuda zu vertreiben. Es musste etwas passiert sein. »Wie heißt du?«, fragte er, bemüht, sich seine Sorge nicht anmerken zu lassen.
»Beau«, sagte die Schildkröte. »Und du bist Jam. Das habe ich vorhin gehört«, fügte er hinzu. »Wenn ich nicht zurück an den Strand kann, wo soll ich dann hin?«
Jam zögerte. Wohin konnte Beau auf einer Insel voller Unterwasser-Animox, wo er nicht in Gefahr wäre?
»Ich habe eine Idee«, sagte er langsam. »Aber dafür musst du mir vertrauen.«
Kapitel drei
Die Felsenhöhle am Privatstrand der Familie Fluke war nicht gerade der gemütlichste Ort der Insel, aber sie war Jams Lieblingsplatz. Oder zumindest war sie es früher einmal gewesen.
Mit seinen Schwestern – besonders mit Pearl, Lorelei und Nixie, die ihm altersmäßig am nächsten waren – hatte Jam unzählige Stunden in dieser kleinen Bucht verbracht, die verschiedenen Höhlen erkundet und so getan, als wäre es ihre geheime Stadt. Jetzt, da Jam als einziger Fluke noch in Avalon bei ihrer Mutter wohnte – und der einzige Fluke war, der immer noch nicht animagierte –, kam er her, wenn er an Schultagen etwas freie Zeit hatte. Und an den Wochenenden, an denen er eigentlich lernen und alle möglichen militärischen Übungen absolvieren sollte. Schließlich war er der Sohn des Generals und so weiter. Aber so einen Spaß wie früher hatte er nicht mehr; die Bucht erinnerte ihn vor allem daran, wie einsam er jetzt war, da alle seine Schwestern entweder auf der Akademie oder mit ihren militärischen Aufgaben beschäftigt waren.
Dafür war Jam überzeugt, dass es auf der Insel keinen sichereren Ort für Beau die Meeresschildkröte gab, um wieder gesund zu werden. Niemand, ob Mensch, Tier oder Animox, würde es wagen, in das Privatgelände des Generals einzudringen, um die Bucht und die Höhlen zu erkunden, und zumindest für ein paar Tage wäre Beau hier geschützt.
