Ankommen dürfen statt loslassen müssen - Lea Wedewardt - E-Book

Ankommen dürfen statt loslassen müssen E-Book

Lea Wedewardt

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Beschreibung

Inzwischen ist eine begleitete Eingewöhnung Standard in Krippe, Kita und Kindertagespflege. Dennoch gibt es immer wieder Unsicherheiten und Missverständnisse in Bezug auf die Durchführung. In zehn Kapiteln wie "Das machen wir hier so! – Wenn Eingewöhnungsmodelle zum Hindernis werden", "Weinen gehört dazu! – Wie viele Tränen dürfen sein?" oder "Sie müssen auch mal loslassen! – Bedürfnisse von Begleitpersonen ernst nehmen" sensibilisiert die Autorin für eine achtsame und bedürfnisorientierte Beziehungszeit.

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Gestaltungssaal,

Rohrdorf bei Rosenheim

Satz: Sabine Hanel, Gestaltungssaal

Coverillustrationen: © eamesBot - shutterstock,

MIKHAIL GRACHIKOV - shutterstock

Illustrationen im Innenteil: © eamesBot - shutterstock,

MIKHAIL GRACHIKOV - shutterstock, Sabine Hanel - Gestaltungssaal

ISBN (Print) 978-3-451-39777-6

ISBN EBook (PDF) 978-3-451-83029-7

ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-83028-0

Inhalt

1 Ankommen dürfen und Sicherheit finden

2 Bedürfnisorientierte Eingewöhnung oder eine Beziehungszeit gestalten

3 Verantwortung tragen für die Beziehungsqualität

4 Wenn Eingewöhnungsmodelle zum Hindernis werden

5 Den Abschiedsmoment passend gestalten

6 Zugewandt trösten

7 Wie viele Tränen dürfen sein?

8 Reaktivierung von erinnertem Schmerz

9 Bedürfnisse von Begleitpersonen ernst nehmen

10 Nähe als Chance begreifen

11 Übergangsobjekte und Übergangsrituale schätzen

12 Wiedereingewöhnung oder einen Schritt zurück

Exkurs: Bindung oder Beziehung?

Exkurs: Stress durch Trennung

Exkurs: Der Unterschied zwischen Empathie und Mitgefühl

Exkurs: Mythen über Tränen in der Eingewöhnung

Exkurs: Das Wichtigste zum Tragen

Exkurs: Übergangsobjekte können Stress reduzieren

Danke

Literatur

1 Ankommen dürfen und Sicherheit finden

Stellen wir uns vor, wir landen auf einem weit entfernten Planeten. Die Tür des Raumschiffs geht auf, wir steigen aus und betreten unbekanntes Terrain. Es sieht alles so anders aus als zuhause, es riecht anders und es hört sich anders an. Angst steigt in uns auf. Die Lebewesen sehen so anders aus, der Umgang untereinander scheint anders zu sein, die Sprache ist anders. Alles ist so fremd. Es kommen komische Wesen auf uns zu, wir wissen nicht, sind sie gefährlich? Sind sie freundlich? Was tun sie, wenn ich Angst bekomme? Schützen sie mich oder bin ich in Gefahr?

Plötzlich schließen sich die Türen des Raumschiffs und es fliegt davon. Da stehen wir nun, ganz alleine, ohne etwas oder jemanden zu kennen, ohne zu wissen, wohin wir uns wenden sollen.

Wie geht es uns? Was fühlen wir? Was wünschen wir uns? Was tun wir? Eines ist sicher: Wir brauchen Zeit, um anzukommen, alles kennenzulernen, um mögliche Gefahren einschätzen zu können. Es wird eine Weile dauern, bis wir uns ein wenig entspannen können. Und erst wenn wir wissen, wie die anderen sich verhalten, wie alles läuft, wenn wir wissen, wer uns wohlgesonnen, zugewandt ist und uns unterstützt, können wir zur Ruhe kommen.

Bei aller Vorsicht kann es auch sein, dass gleich bei der Landung ein wenig Neugierde und Interesse mitschwingt, das Neue erkunden zu wollen, etwas Neues zu lernen, die Herausforderung auf dem fremden Planeten als Möglichkeit zu sehen, spannende Abenteuer zu erleben.

Es fällt leichter, irgendwo anzukommen, wenn wir jemanden haben, der uns begleitet, der uns versteht, der uns zeigt, wie alles geht, der uns mit unserer Unsicherheit oder Angst ernst nimmt, der uns wieder beruhigt, wenn eine verunsichernde Situation auftritt, der uns tröstet, wenn wir unser Zuhause vermissen. Schritt für Schritt können wir uns auf der Grundlage der Sicherheit gebenden Beziehung immer heimischer fühlen, zugehörig, gemocht und angenommen. Dann sind wir angekommen. Und umso besser wir angekommen sind, desto mehr zeigen wir uns auch; je sicherer wir uns fühlen, desto mehr können wir entspannen, loslassen und sein, wer wir wirklich sind.

Um irgendwo anzukommen, braucht es einiges: Zeit, Offenheit, Vertrauen, Kontrolle, Sicherheit und Wohlbefinden.

Ähnlich geht es auch Kindern und Familien, wenn sie den Schritt von zuhause in eine außerfamiliäre Betreuung, in eine Krippe, Kita oder Kindertagespflege gehen. Etwas Neues wartet, das viel Freude und Neugierde, aber auch Angst und Sorgen auslösen kann. Die Aufgabe für alle Beteiligten ist es dann, den fremden Ort zu einem sicheren Ort werden zu lassen. Dieser erste große Übergang definiert eine sensible, verletzliche Zeit für alle Beteiligten, die besondere Aufmerksamkeit benötigt. Gelingt es, diese Ankommenszeit sensibel, achtsam und Grenzen wahrend, partizipativ und bedürfnisorientiert zu gestalten, prägt diese Erfahrung alle Übergänge, die das Kind in seinem weiteren Leben erfährt, in positiver Weise. Ist diese sensible Zeit jedoch von negativen Erfahrungen geprägt, wird sich auch diese Umgangsweise mit den Aspekten Abschied und Trennung als Muster verankern.

Um eine positive Erfahrung zu ermöglichen, braucht es eine feinfühlige Begleitung der Gefühle und Bedürfnisse der beteiligten Menschen: des Kindes und der begleitenden Bezugsperson. „Die wichtigste Aufgabe während der Eingewöhnung ist, dass das Kind zusammen mit seiner vertrauten Bezugsperson eine Beziehung zu einer pädagogischen Fachkraft entwickelt, die sich langsam aufbauen kann und die mit Gefühlen des Wohlbefindens verknüpft ist. Kinder sind auf Bezugspersonen angewiesen, um sich bei belastenden Gefühlen wie Angst oder Trauer Sicherheit holen zu können” (Alemzadeh 2021a, S. 37). Es braucht ein genaues Hinsehen, um zu erkennen, welche Gefühle und Bedürfnisse aktiv sind und welche Grenzen gezeigt werden. Auf diese Weise entsteht eine Beziehung, entstehen Vertrauen, Verbindung und Sicherheit – all das, was nötig ist, um ankommen und loslassen zu können.

Eingewöhnung – ein schwieriger Begriff

Das Wort „Eingewöhnung” scheint in der Fachliteratur und im fachlichen Sprachgebrauch der gängige Begriff für den Übergang eines Kindes von zuhause in eine außerfamiliäre Einrichtung zu sein. Der Begriff wird jedoch immer öfter auch kritisch gesehen, denn er impliziert, dass ein Kind sich „nur” an etwas oder jemanden lange genug gewöhnen müsse, damit es in er Einrichtung ankommt. Das mag auch zum Teil stimmen und gibt dem Wort „Eingewöhnung” hinsichtlich einiger Aspekte seine Berechtigung. Der Begriff „Eingewöhnung” enthält jedoch auch die Annahme, dass der Ankommensprozess etwas Passives ist, das mit dem Kind passiert, statt das Kind als aktiven Gestalter seines Ankommens zu verstehen. „Eingewöhnung” wird diesem so sensiblen Übergang also an vielen Stellen nicht ausreichend gerecht. Es geht für ein Kind und seine Begleitperson um so viel mehr: Es geht darum, anzukommen, sich willkommen zu fühlen, Sicherheit zu finden, sich aufgehoben zu fühlen, Beziehungen einzugehen, sich miteinander einzuschwingen, in Resonanz zu gehen und nicht nur, sich an etwas, einen Raum, einen Ablauf oder eine Person zu gewöhnen.

Aus diesem Grund werden in diesem Buch jenseits der wissenschaftlichen Einordnung anstatt „Eingewöhnung“ auch die Begrifflichkeiten Beziehungszeit, Ankommenszeit oder Ankommensphase genutzt.

1.1 Die Bedeutung der Eingewöhnung – eine wissenschaftliche Einordnung

Welche Relevanz eine gute und professionell gestaltete Eingewöhnung hat, ist mittlerweile gut erforscht. Mithilfe der Bindungsforschung, der Transitionsforschung, der Psychotraumatologie und der Stressforschung lässt sich erläutern, wie wichtig es ist, dass Kinder und Eltern in ihrem Ankommensprozess individuell und passend begleitet werden.

Bindungstheorie und Bindungsforschung

Die Bindungsforschung zeigt auf, dass Bindungserfahrungen für eine gesunde mentale Entwicklung von großer Bedeutung sind (z.B. Grossmann & Grossmann 2012/2021). Belegt wurde durch verschiedene Forschungen, dass ein wesentlicher Schutzfaktor für eine gesunde Entwicklung eine stabile, verlässliche, wertschätzende und emotional warme Beziehung zu einer (erwachsenen) Bezugsperson ist (z.B. Dornes 2009; Luthar 2006).

Ein grundlegender Faktor für eine sichere Bindungsrepräsentation ist die Feinfühligkeit (vgl. Ainsworth & Bell 1974) der Bezugspersonen. Gemeint ist damit die passende Beantwortung auftauchender Bedürfnisse des Kindes. Kinder entwickeln im Laufe ihrer ersten Lebensjahre eine sogenannte Bindungshierarchie (vgl. Hédervári-Heller 2008; Brisch 2013). Ausschlaggebend für die Hierarchie ist nicht die Qualität der Bindung, sondern die Häufigkeit der Interaktionen in bindungsrelevanten Momenten, wenn Kinder unsicher sind, weinen, starke Gefühle erleben und Co-Regulation benötigen. Auch pädagogische Fachkräfte können so Teil der Bindungshierarchie werden. Je mehr Zeit Kinder in der Einrichtung verbringen, umso höher „rutscht” die Fachkraft in der Hierarchie – unabhängig davon, wie die Qualität der Bindung ist. Nach und nach erweitern Kinder den Kreis ihrer Bezugspersonen und vermindern so Stück für Stück ihre angeborene Trennungsangst (vgl. Bensel u.a. 2020, S. 10).

Exkurs: Bindung oder Beziehung?

Viel diskutiert wird in der Pädagogik die Frage, ob Kinder zur pädagogischen Fachkraft eine Bindung oder eine Beziehung aufbauen.

Auch wenn davon ausgegangen wird, dass die elementaren Bindungsbeziehungen im ersten Lebensjahr entwickelt werden, kann zur pädagogischen Fachkraft eine bindungsähnliche Beziehung entstehen. „Die Fachkraft-Kind-Beziehung kann Elemente von Bindung enthalten und bindungsähnlich sein” (vgl. Hörmann 2014, S. 6). Je nachdem, wie viel Zeit Kinder in einer Einrichtung verbringen, wie gut ihr Bedürfnis nach Bindung in ihrer Herkunftsfamilie erfüllt werden kann, welches Alter sie haben, welche Persönlichkeit und welche Kultur sie mitbringen, ändert sich sicherlich auch der Bedarf an Beziehung oder auch Bindung zu den pädagogischen Fachkräften. Es lässt sich also schwer sagen, ob Kinder eine Bindung zu einer Fachkraft eingehen oder eine Beziehung. In diesem Buch ist im Folgenden von einer Fachkraft-Kind-Beziehung die Rede, weil diese Begrifflichkeit dem aktuellen wissenschaftlichen Standard entspricht.

Es gibt Hinweise darauf, dass die Bindungsqualität von Kindern zu ihren primären Bezugspersonen ausschlaggebend dafür sein kann, wie eine Eingewöhnung verläuft: Sicher gebundene Kinder weinen zu Beginn einer Eingewöhnung oft mehr als unsicher gebundene Kinder. Diese hingegen wirken im Vergleich mit sicher gebundenen Kindern nach einigen Wochen belasteter, spielen weniger etc. (vgl. Rauh 1998, S. 244). Es scheint so, als wären sie anfänglich „stark”, versuchten alles alleine zu bewältigen, bis ihnen die „Kraftreserven” ausgehen (vgl. Bensel u.a. 2020, S. 14).

Grundvoraussetzung für das gesunde Aufwachsen von Kleinkindern ist aus bindungstheoretischer Sicht, die Eingewöhnung so zu gestalten, dass ein Kind in seinem Tempo eine sichere Beziehung zu den pädagogischen Fachkräften aufbauen und so Sicherheit gewinnen kann.

Fühlt sich ein Kind sicher, so kann es lernen und sich entwickeln. Im Umkehrschluss: Fehlen Beziehung und Sicherheit, können Lernen und Entwicklung gehemmt werden.

Stressforschung

Die Eingewöhnung kann zu einem großen Stresserleben bei allen Beteiligten führen. „Die Trennung eines Kindes von seinen Eltern gilt als der wichtigste Stressor in der frühen Kindheit”, so beschreiben es Wilfried Griebel und Renate Niesel in ihrem Buch „Übergänge verstehen und begleiten” (2016, S. 59). Angsteinflößende oder herausfordernde Situationen führen dazu, dass Menschen Stress empfinden. Das Hormon Cortisol wird produziert.

In mehreren Studien (vgl. Vermeer & van IJzendoorn 2006; Datler u.a. 2012; Ahnert 2004a) wurde ermittelt, wie hoch der Cortisolwert bei Krippenkindern während der Eingewöhnungszeit ist: In den ersten Wochen ihres Krippenbesuchs weisen sie einen bis zu 100 Prozent höheren Cortisolwert in ihrem Blut auf als zuhause (vgl. Vermeer & van IJzendoorn 2006; Datler u.a. 2012; Ahnert 2004a). Unabhängig von der Eingewöhnung, scheint es bei Kindern normal zu sein, dass der Cortisolwert im Speichel am Morgen am höchsten ist. Allerdings zeigen die Forschungsbefunde, dass in den untersuchten Fällen der übliche Abbau des Stresshormons nicht stattfindet. Der Cortisolwert nimmt im Laufe des Tages eher noch zu.

Cortisol ist dafür da, in schwierigen Momenten wach und reaktiv zu sein. Es half den Menschen früher, zu überleben, wenn es gefährlich wurde, zum Beispiel, wenn ein gefährliches Tier auftauchte, das es zu bekämpfen galt. Dieser ursprüngliche Überlebensmechanismus ist noch immer in unserem Körper und in unserem Gehirn gespeichert. Eine zu starke Bündelung von Energie über einen längeren Zeitraum, also zu viel Cortisol im Blut, kann Auswirkungen auf das Immunsystem und die Organe, etwa die Nebennieren haben. Erleben Kinder in der Eingewöhnung zu viel Stress, werden sie deshalb häufig krank, essen nicht mehr und ihre Ausscheidung kann gehemmt sein. An dieser Stelle soll angemerkt werden, dass am Anfang der Krippen- oder Kindergartenzeit Krankheitssymptome auch damit zu erklären sind, dass Kinder sich gegen die Viren und Bakterien in der Gruppe immunisieren.

Zu viel Stress in jungen Jahren, wenn das Gehirn noch stark reift, wirkt sich nachweislich negativ auf die kindliche Entwicklung aus (vgl. Brisch 2014). „Belastende Erfahrungen in den ersten Lebensjahren können im Erwachsenenalter zu chronischen Erkrankungen und ‚unerklärlichen‘ Beschwerden führen” (Wilhelm 2014, S. 26). Nachgewiesen ist, dass ein erhöhtes Stresserleben in der Kindheit mit einem erhöhten Risiko für Depressionen im Erwachsenenalter korreliert (vgl. Caspi u.a. 2003).

Exkurs: Stress durch Trennung

Experimente mit kleinen Rhesusaffen zeigten, dass die Trennung von ihren Müttern starke Aktivität und Unruhe auslöste. Blieb das Muttertier mehr als drei Tage fern, hörten die Kleintiere meist auf zu rufen, sie stellten ihre Bindungssignale ein. Der Körper der Affenkinder aktivierte eine „Sparschaltung” und verharrte in einer Warteposition. Dafür stieg der Cortisolspiegel stark an und das Wachstumshormon Somatotropin war in dieser Zeit gehemmt. Durch den nun erhöhten Cortisolwert im Blut verminderte sich ihre Immunabwehr, was sie anfälliger für Krankheiten machte. Es zeigten sich noch weitere physiologische Symptome aufgrund der Trennung: Herzrhythmusstörungen, Störungen des Schlaf-/Wachrhythmus und zeitweiliges Fieber (vgl. Grossmann & Grossmann 2012/2021, S. 47f.).

Auch wenn dieses Experiment nicht eins zu eins auf den Krippenalltag übertragbar ist, da Kinder nie ganz alleine bleiben, zeigt es doch, was im Körper passiert, wenn nicht genügend Sicherheit und Regulation von außen zur Verfügung stehen. Der Körper eines Kindes ist stark gestresst und schaltet in einen Überlebensmodus.

Eine sensible, bedürfnisorientierte Eingewöhnung kann mit dazu beitragen, dass das Stresserleben des Kindes, seiner Eltern und der pädagogischen Fachkraft in einem gesunden Level gehalten werden kann. Deshalb sollte zu jeder Zeit das Maß der Anspannung des Kindes und der Begleitperson im Blick behalten werden. Wird der Stress für das Kind oder die Begleitperson zu hoch, sollte etwas an der Eingewöhnung verändert werden.

Psychotraumatologie

Wird eine Eingewöhnung nicht angemessen begleitet, kann es je nach individuellen und äußeren Bedingungen zu einer Traumareaktion bei den Beteiligten kommen. „Eingewöhnung ist wichtig, kann aber ganz schön schiefgehen. So schief, dass Kinder sie sogar als traumatisch erleben“ (Alemzadeh 2021a, S. 37). Werden Kinder zu kurz eingewöhnt, wird die Eingewöhnung zu früh beendet, obwohl das Kind weiter inneren Stress erlebt, konnte noch kein anderer Sicherheitsanker entwickelt werden, kann eine Trennungserfahrung während der Eingewöhnung als traumatisch erlebt werden. Es ist davon auszugehen, dass nicht nur Kinder Eingewöhnungen unter bestimmten Umständen als traumatisch erleben können, sondern auch Eltern und pädagogische Fachkräfte (vgl. Alemzadeh 2021b).

Ein Trauma kann dann entstehen, wenn Einflüsse von außen so herausfordernd sind, dass sie überfordern und die individuellen Bewältigungsstrategien nicht ausreichen. Entscheidend für die Entstehung eines Entwicklungstraumas sind die Ressourcen des Einzelnen, seine Resilienz, seine traumatischen Vorerfahrungen und die Art der Zuwendung in der belastenden Situation (vgl. Garbe 2015). Je jünger Kinder sind, desto weniger Bewältigungsstrategien stehen ihnen zur Verfügung. Sie benötigen dabei unbedingt die Regulation von außen durch Erwachsene.

Eine traumatische Erfahrung ist ein „vitales Diskrepanzerleben zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit dem Gefühl von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauernde Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt”

(Fischer & Riedesser 1999, S. 83).

„Trennungsangst gehört zu einem Übergang dazu und kann ein Entwicklungsstimuli sein oder ein Minitrauma bedeuten” (Bensel u.a. 2020, S. 14). Ein Trennungsschmerz kann durchaus ein Gefühl „existentieller Bedrohung“ (vgl. Zwettler-Otte 2006, S. 22) auslösen. Das Kind kommt, je nach Dauer und Intensität des Trennungserlebens, in einen übererregten Zustand, in dem sein Organismus um das Überleben kämpft. Je nach Ausmaß der Stressreaktion schaltet der von Angst durchflutete Körper in einen Erstarrungsmodus (vgl. Porges 2021, S. 9). Dieses Erleben speichert der Körper als traumatische Erinnerung ab. Trennung, Abschied, Dunkelheit und Alleinsein können in diesem Fall mit Gefühlen von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Bedrohung im Gehirn verankert werden.

Abb. 1 Das Stress-Toleranz-Fenster nach Daniel Siegel (2014)

Bei einer Eingewöhnung, die nicht an den Kindern orientiert ist, „drohen Kleinkinder von belasteten Gefühlen der Angst, des Verlorenseins, der Verzweiflung oder auch der Wut überschwemmt zu werden, ohne eine Möglichkeit zu haben, sich von diesen Gefühlen zu befreien“ (Datler u.a. 2010, S. 161).

Eine traumatische Eingewöhnung kann verhindert werden, indem Kinder und Eltern mit ihren individuellen Gefühlen und Bedürfnissen ernst- und angenommen werden. Sie bestimmen, wann sie bereits sind, sich zu trennen. Denn um ein Trauma zu verhindern, braucht es eines: Kontrolle über das Geschehen. Entscheidend ist dafür ein Gefühl von Sicherheit. Konnte in der Eingewöhnung also eine Sicherheit gebende Beziehung zu einer oder mehreren pädagogischen Fachkräften aufgebaut werden, so gelingt es Kleinkindern, ihre Gefühle von Angst, Verlorensein und Verzweiflung zu regulieren. Sie haben einen sicheren Ort, an dem sie ihren Zustand einordnen und sich wieder beruhigen können (vgl. Datler u.a. 2012).

Transitions- und Eingewöhnungsforschung

Die Transitions- und Eingewöhnungsforschung zeigt ebenfalls, wie wichtig eine gut begleitete Eingewöhnung für das Wohlbefinden des Kindes ist. Der Eintritt in die außerfamiliäre Betreuung kann als ein Übergang im Kindesalter betrachtet werden, dessen gelungene oder misslungene Bewältigung Einfluss darauf nehmen kann, wie ein Kind zukünftige Übergänge im Lebenslauf und somit seine Entwicklung meistert (vgl. Beelmann 2006, S. 44). Die Transitionsforschung macht immer wieder darauf aufmerksam, dass dieser erster wichtige Übergang der Eingewöhnung als Marker dafür dient, wie ein Kind mit allen weiteren Übergängen in seinem Leben umgeht (vgl. Griebel & Niesel 2016).

Eine nicht ausreichend gut gestaltete Eingewöhnung kann die Ursache für ein gehäuftes Kranksein und ein Hemmnis der Entwicklung der Kinder sein. Eine Eingewöhnung, bei der keine Trennung in den ersten drei Tagen stattfand, waren die Kinder viermal weniger häufig krank. Das fand der Soziologe Hans-Joachim Laewen (1989) an der Freien Universität Berlin in einer Studie begleitend zu der Entwicklung des Berliner Eingewöhnungsmodells heraus.

Die Transitionsforschung macht deutlich, dass für eine Bewältigung der Eingewöhnung die Anforderungen und die Bewältigungskapazität in Balance bleiben müssen. Werden die Kapazitäten des Kindes überschritten, wird die Anforderung zur Überforderung. Damit das nicht passiert, braucht es eine adäquate Begleitung (vgl. Griebel & Niesel 2016, S. 59).

In einer vergleichenden Untersuchung von abrupten und allmählichen eingewöhnten zehn Monate alten Kindern konnte festgestellt werden, dass prompt eingewöhnte Kinder in den ersten 18 Tagen mehr Stress und negative Gefühle zum Ausdruck brachten als Kinder, die allmählich eingewöhnt wurden. Grund dafür war die „aktive Auseinandersetzung (Coping) mit den Veränderungen ihres Alltags. Die Kinder unter den abrupten Eingewöhnungsbedingungen waren gehemmter in ihrem Ausdruck von Gefühlen im Zusammenhang mit dem erlebten Stress” (ebd., S. 70f.). Langsam eingewöhnte Kinder weinten langfristig gesehen weniger, zeigten weniger Unwohlsein und ließen sich leichter trösten. Die langsame Eingewöhnung in Anwesenheit einer vertrauten Person ist für die Gesundheit des Kindes also nur förderlich.

Achtsame Übergangsgestaltung

Die Forschungen aus den letzten Jahrzehnten über Bindung, Psychotraumatologie und Transition belegen, welche hohe Relevanz einer sensiblen Eingewöhnungsgestaltung zukommt. Diese erste Trennung der Kinder von ihren Eltern oder anderen Bindungspersonen birgt viele Risiken, die sowohl das Kind als auch sein Lebensumfeld belasten können. Weil die Erfahrung des Übergangs so prägend für alle künftigen Übergänge ist, sollte sie umso achtsamer gestaltet werden, und die Bedürfnisse aller Beteiligten in diesem Prozess ihren Platz haben.

1.2 Eingewöhnungsmodelle

Eingewöhnungen werden seit den 1980er Jahren häufig nach Modellen durchgeführt, die aus verschiedenen Forschungsstudien entstanden sind. Das Berliner Eingewöhnungsmodell (vgl. Laewen u.a. 2007) war das erste Modell und damals eine echte Revolution. Denn bis dato wurden Kinder nicht nach bestimmten Vorgaben, sondern nur nach Bauchgefühl eingewöhnt. Es folgte das Münchener Modell (vgl. Winner & Erndt-Doll 2009), das eine längere Eingewöhnung vorsieht. Aktuell werden das Peergroup-Eingewöhnungsmodell (vgl. Fink 2022; Cantzler 2022) und das partizipatorische Eingewöhnungsmodell (vgl. Alemzadeh 2023) diskutiert und in Kitas implementiert.

Heute ist es Pflicht jeder Krippe und Kindertagesstätte, ein Eigewöhnungskonzept vorzulegen. Und hier steht schwarz auf weiß, dass kein Kind mehr einfach so, mit Tränen in den Augen am ersten Tag in die außerfamiliäre Betreuung abgegeben werden darf.

Tipp:

Die gängigen Eingewöhnungsmodelle auf einen Blick finden sich auf:

https://beduerfnisorientiertepaedagogik.de/die-eingewoehnungsmodelle-im-ueberblick

2 Eingewöhnung Bedürfnisorientierte oder eine Beziehungszeit gestalten

Die theoretischen Grundlagen für das bedürfnisorientierte Ankommen in der Einrichtung bildet die bedürfnisorientierte Pädagogik (vgl. Wedewardt & Hohmann 2021).

Bedürfnisorientiert in einer außerfamiliären Einrichtung anzukommen bedeutet, dass die Bedürfnisse aller Beteiligten – die des Kindes, der Begleitperson und der pädagogischen Fachkraft – wahrgenommen und berücksichtigt werden.

Als theoretisches Fundament ist neben der Bindungsforschung, der Transitionsforschung, der Psychotraumatologie, der Achtsamkeitsforschung und der Neurowissenschaft auch die Gewaltfreie Kommunikation von Marshall Rosenberg (2016) hervorzuheben.

Die bedürfnisorientierte Beziehungszeit ist von einem individuellen Vorgehen geprägt, das sich an den beteiligten Menschen ausrichtet. Es bezieht die individuellen Temperamente, die unterschiedlichen neuronal-genetischen Voraussetzungen (Neurodivergenzen), kulturellen Hintergründe, Eigenheiten und Interessen jedes Beteiligten mit ein. Auf diese Weise ist jede bedürfnisorientierte Eingewöhnung einzigartig.

Die bedürfnisorientierte Beziehungszeit macht sich frei von Eingewöhnungsmodellen, die einen bestimmten Ablauf oder einen Zeitrahmen vorgeben. Es wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch so unterschiedliche Voraussetzungen mitbringt, dass Modelle dem Einzelnen im Ankommensprozess kaum gerecht werden können. Es gibt Voraussetzungen, die dazu führen können, dass der Ankommensprozess schnell verläuft, es ist aber auch möglich, dass die erste Trennung nach vier Wochen stattfindet. Alles darf sein – immer an den Gefühlen und Bedürfnissen der Beteiligten ausgerichtet. Jeder bekommt das, was er braucht.

Entsprechend des Menschenbildes der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg (2016) wird auch im Ankommensprozess davon ausgegangen, dass jeder Mensch zu jeder Zeit sein bestmögliches Verhalten zeigt, um sich seine Bedürfnisse zu erfüllen. Egal, wie Menschen sind, was sie tun, was sie sagen oder wie sie sich verhalten, sie streben danach, sich ihre Bedürfnisse zu erfüllen, um psychisch und physisch gesund zu bleiben. Besonders stark können Bedürfnisse in der Beziehungszeit am Anfang sichtbar werden, da der Übergang in aller Regel mit vielen verunsichernden Gefühlen einhergeht. Gefühle und Körperreaktionen der Beteiligten geben Hinweise darauf, welche Bedürfnisse wahrgenommen und erfüllt werden wollen.

Abb. 2 Mögliche Gefühle und Bedürfnisse in der Ankommenszeit

Oft wird davon ausgegangen, dass im Ankommensprozess nur das Bedürfnis nach Sicherheit und Bindung relevant ist. Es gibt jedoch so viel mehr Bedürfnisse, die zum Tragen kommen können. Die Bedürfnisse können sich jederzeit verändern, parallel aufkommen oder im Widerspruch zueinander stehen. Manche Bedürfnisse sind verdeckt, manche zeigen sich eindeutig. Bestimmte Wünsche der Beteiligten in der Ankommenszeit können als Strategien für dahinter verborgene Bedürfnisse verstanden werden, die es zu ergründen gilt.

Es geht dabei nicht immer um die Erfüllung von Bedürfnissen, als vielmehr um das Wahrnehmen und Benennen von dem, was im Moment zu spüren ist. Darauf aufbauend können die unterschiedlichen Bedürfnisse einander gegenübergestellt und in gleichwürdiger Beziehung ausgehandelt werden. Dafür benötigt es eine kontinuierliche Kommunikation über Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen.

2.1 Gefühle, Bedürfnisse und Erinnerungen

In der Beziehungszeit, also im Rahmen einer bedürfnisorientierten Eingewöhnung, stehen die Wahrnehmung und das feinfühlige Handeln der Bezugsfachkraft