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Samantha Willer, eine ledige Berlinerin, erfüllt sich einen Traum. Ihr lang gehegter Wunsch vom Urlaub in London verändert ihr Leben, als sie einem traurigen Schlipsträger begegnet. Wird dieser Mann ihrem Wunsch entsprechen und kann Samantha ihrer Vorstellung der Zukunft gerecht werden? Dunkle Machenschaften, Vorurteile und schwache Charaktere und moralische Verwerfungen stehen im Weg aller. Dieser erste Teil einer turbulenten Geschichte beginnt im Herbst 2015. Korruption, Hass, Gewalt und Liebe prägen diese Schilderung. Die Erlebnisse und Rätsel für Samantha und die Familie des Lords führen zu einer Änderung in ihrem und seinem Leben. Wie entscheiden sich die Beteiligten? Welche Heimlichkeiten führen zu Problemen? Finden beide zusammen?
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Seitenzahl: 399
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Ankunft ohne Wiederkehr - Teil 1
Von Vicky Lines
Der letzte Tag
Samantha Willer, Berlin, September 2015, Donnerstag
Meine Augenlider öffneten sich nur schwer. Ein Glück, dass ich auf dem Rücken lag und die Sonnenstrahlen es mir leichter machten, meine Augen zu öffnen. Die Zimmerdecke schwebte da über mir, schien mir viel zu nah und trotz alledem unerreichbar zu sein. Sekunde um Sekunde entfernte sie sich. Heute Morgen brummte oder gar schrie wenigstens nichts in meinem Kopf. Meine lebhaften Träume der letzten Nächte hallten immer noch eine Weile, wie ein Bergecho, nach. Ziemlich wirre Episoden, die eigentlich in einen Film oder ein Buch gehörten. Trotzdem war dieser Morgen nicht wie sonst, weil ich heute Abend nach London flog. Vor einem halben Jahr hatte ich mich entschieden, diese Stadt besuchen zu wollen. Zahlreiche Bücher und Filme pflanzten etwas namens Neugier in mein Köpfchen. Meine Familie, wie ich sie lapidar nannte, überredete mich, nachdem sie mich immer öfter mit Büchern über London erwischt hatten, meinen Urlaub in dieser Stadt zu verleben. Bis hierhin dachte ich immer, ich liebte Berlin zu sehr, um meine Heimatstadt zu verlassen und mich aus meinem Schneckenhaus zu bewegen. Den ganzen Stress, den die Arbeit mit sich brachte, kompensierte ich in den letzten sechs Jahren mit Heimurlaub, Voyage de Balkonie. Dieser neue Job, dem ich seit mittlerweile drei Jahren nachging, brachte mir zwei neue Themen in mein bis dahin sehr tristes und ödes Dasein: einen furchtbar egoistischen und uneinsichtigen Chef, aber auch zwei liebe, ebenfalls leidende Kolleginnen. Es war schon seltsam und auch bedenklich, dass in der Informatik um ihn herum nur weibliche Angestellte diesem Chef zuarbeiteten. Immer wieder redeten wir drei in unserer Mittagspause, die wir überwiegend außerhalb der Firma verbrachten, über unsere Situation. Entlohnt wurden wir schon recht ordentlich, doch das Pensum wurde immer wieder durch seltsame Einfälle und Anfragen arg bedrängt. Innerlich brachte mir das immer wieder ein wenig Motivation, die ich auch heute dringend benötigte, um nicht vollkommen diesen letzten Tag zu verreißen. Waren wir drei gut drauf, schlussfolgerten wir bei unserer Bewältigung der Missstände am Ende, es ginge um fehlende geschlechtsbezogene soziale Interaktion bei unserer Arbeit. Andererseits schoben wir es auf sadistischen Sexismus und zu viel Testosteron bei den ganzen Schlipsträgern. Egal, wie wir es auch drehten, dieser Chef hatte eine gehörige Macke, nur kannten wir den Grund seines seltsamen Gebarens nicht. Allenthalben gab er mit uns auch vor seinen Freunden an. Die Firma lief gut, es gab reichlich zu tun, denn die Vorgänger, ja das waren „leider“ Männer, hatten hier und da einen kleinen Haufen Chaos hinterlassen. Meine Kollegin Maren, die mit mir die Verwaltung all der Daten und Rechentechnik vor ungefähr drei Jahren übernommen hatte, hielt immer zu mir, wann auch immer unser Chef wieder irgendwo einen Haken suchte, an dem er uns aufhängen wollte. Dafür dankte ich ihr oft, indem ich das ebenfalls für sie tat. Rita, die Dritte im Bunde, beschäftigte sich mit Steuern und Buchhaltung der hiesigen Dependance. Ihr Gespür für die richtigen finanziellen Entscheidungen brachte unsere Firma weg vom Rand des finanziellen Chaos. Alles in allem stand meinem Job eine Drei zu, wenn ich Zensuren vergeben würde. Also ging es mir eigentlich mit ein bisschen Murren nicht wirklich schlecht. Ich schluckte – genug der versuchten Motivation, heute zur Arbeit zu fahren. Dann schwante mir der eigentliche Unbill des Tages. Kurz vor dem Abflug berief meine Mutter noch ein Familientreffen ein. Huch? Meine Arme bewegten sich, ich schien wirklich wach zu sein. Da! Die Beine auch. Klasse. So richtig wach also.
Kaum dachte ich über den Tagesverlauf und meine Stolperfallen nach, hatte sich mein Körper, wie beinahe jeden Tag, in meiner Wohnung in mein weiß gefliestes Bad bewegt. Also heraus aus dem gemütlichen Schlafzimmer, über den ungemütlichen Flur, ins helle Bad. Die tiefstehende Herbstsonne brüllte mich gnadenlos an. Schnell unter die Dusche hüpfen und dann die üblichen Versuche, mein Alter hinter mehr oder minder geschicktem Makeup zu verbergen, zeugten von eingefleischter Alltagsroutine. Wieder so ein komisches Wort, Alltagsroutine. Falsch, Routine ist Alltag und umgekehrt. Kopf geschüttelt, damit ich noch ein wenig mehr meiner Selbst Herrin wurde. Mit meinen zweiundvierzig Jahren beklagte ich noch nicht so sehr viele altersbedingte Kollateralschäden in meinem Gesicht. Deshalb gelang es mir ohne künstlerisches Talent, mich immer wieder irgendwie genießbar herzurichten. Mir kam es so vor, als stünde seit zehn Jahren die Zeit still. Vielleicht war die Batterie vom Spiegel leer. Allerdings wusste ich, dass die beiden vorherigen Jobs mich richtig gefordert und auch innerlich beinahe aufgefressen hatten. Seitdem gewöhnte ich mir einen Arbeitsstil im Schatten an. Oder ich wollte einfach keine öffentlichen Rechenschaften mehr ablegen, weshalb ich wann, was und womit erledigt habe. Doch heute fragte ich mich, warum ich mich eigentlich jeden Tag schminkte. In den letzten drei Jahren war es sehr still in meinem Privatleben geworden. Nicht nur ein bisschen, sondern so richtig still. In mir löste sich die Wehmut und kroch – besser – rannte durch meine Brust, was mit einem kleinen Stich honoriert wurde. Direkt in meinem Kopf gebar es und kam als Seufzer auf die Welt. Sie hatte eigentlich keinen Sinn, meine morgendliche Schminkübung. Keinen rationalen zumindest, wahrscheinlich aber einen tieferen emotionalen Grund. Eben noch wollte ich mich nicht aufgeben und schon waren wieder die leicht depressiven Tendenzen spürbar. Somit folgte noch ein Seufzer. Der wiederum kam nur vom Kopf und fand ziemlich schnell den Weg nach draußen. Einer ist keiner. Oder nimm zwei. Von Zeit zu Zeit liefen mir optisch ansprechende Menschen mit dem gewissen Etwas zwischen den Beinen über den Weg, doch sobald ich auch nur länger als dreißig Sekunden hinsah, kam in mir die Alarmsirene, dass ich gar keinen Grund hätte, mich opfern zu müssen. Meine letzten Erfahrungen schüttelten mich dann immer durch. Neulich mit einem Schüttelanfall, als hätte ich reale Malaria-Fieberschübe. Welchen Grund es dafür gab? Keine Ahnung. Alles verdrängt. Vermutlich stimmte es, was mir meine Schwester Patrizia immer mal wieder zu bedenken gab. Es drehte sich meistens um nicht bewältigte Jugendtraumata und das gemeinsame Geheimnis. Nun gut, nach der kleinen, aber geglückten Schminkübung war doch mal ein erster Pluspunkt heute für mich erstritten worden. Nun zog ich an diesem Donnerstag bequeme Kleidung für die Reise an. Frühstück? Nein! Danke. Schon gar nicht alleine. Also schnappte ich mir elegant meinen kleinen Rollkoffer. Doch bevor ich loslief, prüfte ich noch einmal alle notwendigen Utensilien. Schminktasche, samt Miniapotheke, Dokumente, Fotoapparat, Handy, Tablet mit Zubehör und all das, was eine Frau ohne Ambitionen noch so herumschleppte, wenn sie die Wohnung für zehn Tage hinter sich ließ. Gestern und vorgestern arbeitete ich meine Reiseliste ab und erarbeitete mir somit für diesen Morgen des Monats September die notwendige Ruhe für diesen unerquicklich erscheinenden Donnerstag. Auch wenn ich Religionen ziemlich belastend fand, Halleluja. Es begann zu regnen. Falsch, passender musste es lauten, es pladderte gegen die Fensterscheibe, die ich gleich nach meiner Wiederkehr putzen wollte. Gute Einstimmung, emotional und geografisch, fand ich. Londons nachgesagtes Lieblingswetter entsprach so gut meinem inneren Gefühlschaos, dass es mich seltsamerweise beruhigte. Sieh da, der Welt geht es ähnlich wie mir. Ich musste einfach über meine Erkenntnis lächeln.
Endlich in der Firma mit meinem Koffer, Handtasche und Rucksack angelangt, musste ich blöderweise meinem Chef, Herrn Stratter, über den Weg laufen. Bei meinem durchnässten Anblick grinste er breit und betrachtete interessiert meinen Koffer. So viel Pech konnte ich doch gar nicht haben. Trotzdem setzte sich ein breites Grinsen in meinem Kopf durch, weil ich im Gegensatz zu meinen letzten drei „Urlaubserlebnissen“ nicht erreichbar sein würde. Gleich käme eine Spitze von diesem, für mich nervigen, Mann und irgendetwas Anzügliches meinen Koffer betreffend. War mir echt egal. Super Gefühl, die Lockerheit oder Vorfreude auf London diktierten mein Gefühlsleben. Stopp, keinen Fehler machen. Pokerface konnte ich mittlerweile sehr gut. Der Typ ging mir einfach auf die Ketten. Wie eigentlich alle Männer in letzter Zeit, die ich auf Datingportalen oder in meinem Büro erdulden musste. London schwirrte mir wie ein Schwarm Hummeln im Kopf herum. Beruhigend summend und die Neugier mit Honig fütternd. Das erste Mal in die Stadt von Sherlock Holmes, Gwendolyn Shepherd, Olivia Silber, Lord Nelson, der Queen, Oliver Twist und einer Historie, wie sie hier in Berlin mitunter auch zu finden war. Der Big Ben und die Burg – Tower of London genannt – diese roten Doppeldeckerbusse auf der falschen Straßenseite fahrend, dunkle Pubs, ein Meer an Straßen, das an Parks brandete, die vielen Kirchen und die alten viktorianischen Häuser. Ertappte ich mich gerade rechtzeitig doch noch beim Lächeln, überhörte ich, was der Chef wieder in seinem vermutlich blöden Männergestammel von sich gab. Huch, da landete ich schon in unserem Büro, beengt, weil eigentlich nicht für drei Personen gedacht, sah ich Maren bei meinem Eintreffen. Endlich den ersten Punkt meiner heutigen Reise erreicht. „Hallo Maren. Puh, bisschen feucht, wahrscheinlich genau das englische Wetter zum Vorkosten“, grüßte ich die liebe Kollegin, die mir gegenüber saß.
„Hey, Sammy. Ja stimmt. Vorhin war der Chef hier und wollte mich über dich ausfragen, ob du in der Stadt bleibst. Hab ihm an den Kopf geworfen, dass ihn das ein Scheiß angeht, weil du seit zwei Jahren keinen zusammenhängenden Urlaub länger als eine Woche erlebt hast“, flötete sie mir mit einem diabolischen Grinsen zu.
Meinen Parka hatte ich einfach über meine Stuhllehne gehängt und den Koffer unter das Fensterbrett gestellt. Ach, Maren war ein Schatz, da bot ich ihr für ihre Anteilnahme und den Schutz meiner Privatsphäre ein Highfive an. War unter uns drei Kämpferinnen so üblich, denn sonst bekamen wir von den überwiegend männlichen Mitarbeitern nur Nörgeleien zu hören. Auch zu lesen. Zumeist ging daraus ihre eigene Dummheit hervor. Daran war allerdings die Frau Stratter, die Personalrätin des Unternehmens, maßgeblich schuld. Während Herr Stratter hübsche Damen bevorzugte, wählte sie milchbubige Yuppies aus. Als wäre ein Wettstreit zwischen beiden entbrannt.
„Komm, Patschehändchen. Find ick echt knorke von dir“, sagte ich ruhig und noch vornüber gelehnt.
„Wow. Toller Ausschnitt hat dein neues Top. Gefällt mir, Große“, erwiderte sie mein Highfive immer noch grinsend.
So mochte ich meinen Tagesbeginn, setzte mich hin, schaltete den Monitor an und fand in meinem E-Mail-Postfach zuerst eine Nachricht vom Chef, in der er ernsthaft fragte, warum ich meinen PC über Nacht angelassen hatte. Heute ließ ich mich natürlich nicht mehr ärgern. Copy and Paste war einfacher, denn ich kopierte einfach die Statistik des Datenbankreports meiner dringend benötigten Aufräumarbeit. Kurz hielt ich inne und fing an zu kichern. Gleich kopierte ich einfach sämtliche Reportstatistiken der letzten zwei Wochen. Summarisch glatte 5905 Minuten Laufzeit und gleich noch den benötigten Speicher, weil der Arsch von Chef mir aus Kostengründen keinen neuen Rechner dafür genehmigen wollte. Ärgern? Kann ich definitiv besser. Währenddessen hatte ich es den Hummeln in meinem Kopf gleichgetan und angefangen zu summen. Dafür besaßen die Herrschaften da draußen im Anzug alle einen Rechner, einen Laptop, ab und an auch zwei, plus ein Handy. Je „härter“ sie drauf waren, auch einen Dienstwagen. Zurück zu meiner kleinen Rache. Ohne jede Erklärung, jedoch mit der Überschrift: Arbeitspensum Datenbankverwaltung zur Vorbereitung auf erwünschte, nicht dringend benötigte Zusatzmodule
Ich drückte ohne Gruß auf Absenden. Vorsorglich hatte ich noch Maren mit einer Kopie bedacht. Eine Minute später vernahm ich das laute Lachen Marens, die sich beinahe nicht mehr einkriegte. Irgendwie schaffte sie es mit ihrem klaren melodischen Lachen, mich aufzumuntern. Dass ihr Ex immer noch heulte, weil sie ihn vor einem Jahr, nach zwei dummen aufgedeckten Affären, in die Wüste geschickt hatte, konnte ich nachvollziehen. Da ich reichlich überarbeitet war, sogar der Betriebsrat bestand auf meinem Urlaub, ging mir mein gutes Benehmen mittlerweile völlig am Popo vorbei. Eben eine freche Hummel, hierhin und dahin fliegen, eine Blume hier probieren und eine andere da. Hätte ich den Popo etwa auch sicherheitshalber schminken sollen? London wartete. Doch leider stand mir noch das ungeliebte Familientreffen bevor. Die nächste E-Mail in meinem Postfach ließ ich liegen und holte mir einen großen Pott Earl Grey. So ließ es sich leben. Wir hatten uns eine eigene Minibar hergerichtet, weil die ewigen Diskussionen mit jeder von uns und den Schlipsträgern in der Küche einfach zu viel Zeit kosteten. Meistens verstanden diese Herren einfach nicht, dass wir nicht für jeden der Mutterersatz sind. Alle dachten, wir wären „ihre“ persönlichen Assistentinnen, zuständig für ihre Extras. Kaffee sollte ich sogar mal bereiten. Seitdem war ich rigoros. Soweit kommt das noch, studierte Informatikerin als Saftschubse. Die spinnen, die Römer, hallte es in meinem Köpfchen.
Vorurteile, die auch noch geschürt wurden, empfand ich als beleidigend. Servicekraft bin ich gerne, aber nicht auf Kosten meiner Reputation. So empfand ich meine Widerborstigkeit als gerechtfertigt, wie Rita und Maren eben auch. Eine meiner Erfahrungen der früheren Anstellungen lautete, Extras nur für extra liebe Kollegen. Wie ein Hundeleckerli. Nach dieser Erkenntnis, denn der Support, in dem die meisten Frauen arbeiteten, befand sich zwei Etagen unter uns, bedankte ich mich mit in einer E-Mail mit Bildchen. Damals rauften wir drei uns zusammen und erstritten uns dieses gemeinsame Büro. Die Schikane folgte in Form der Größe des Büros. Der Konter kam prompt, denn für Aktenordner und anderen Bürokram war einfach kein Platz mehr vorhanden. Rita jubelte immer wieder darüber, weil sie damit ungeliebte Arbeiten, das Stöbern in alten Papieren und Heftern, nicht mehr nebenher erledigen konnte, sondern in den Keller, in unser Register, expedieren musste. Kaum saß ich, öffnete sich die Tür und glücklicherweise für meine, ein klein wenig wankelmütige Laune, trat Rita ein. Mit ihrer schlanken Figur, dem jugendlichen Gesicht und den dunkelrot – nein, Hot Chili hieß das – gefärbten Haaren, sah sie für eine junge Mutter wirklich schön aus. Was aber viel wichtiger war, in unserer Runde fühlte sie sich pudelwohl und ergänzte unser Büro hervorragend in Farbe, Form und Wissen. Jedes Mal, wenn sie das Büro verließ, flüchteten einige der Kollegen in ihre Büros. Denn Rita konnte so richtig austeilen. Zurecht musste sie das können. Statt sich hinzusetzen, kam sie mit ausgebreiteten Armen zu mir. Ich stand auf und wir umarmten uns.
„Ach Sammy, ich freue mich so sehr, dass du mal nicht hier sein wirst. Wir haben dir auch etwas mitgebracht, weil du uns in den letzten Monaten so oft geholfen hast“, sagte sie und gab mir einen Umschlag.
Als ich den öffnete, fand ich einen Gutschein für The Shard darin. Das berührte mich unvermittelt, weil auch noch eine Karte, auf der ganz viele Kollegen unterschrieben hatten, beigelegt war. Der Support, der gesamte Wareneingang und der Empfang hatten diese Glückwunschkarte koloriert, als hätte ich einen runden Geburtstag. Doch kannte niemand außer der Personalabteilung diesen Tag, meinen Geburtstag. Glücklicherweise kannte ich den zuständigen Mitarbeiter und er versprach mir, nachdem ich ihm das dritte Mal aus einem ernsten Problem geholfen hatte (Löschen ist manchmal eben nicht wirklich weg), niemandem etwas zu verraten.
„Ihr seid doch verrückt. Oder seid ihr froh, mich mal nicht ertragen zu müssen?“, frotzelte ich.
„Wir wollen, dass du mal rauskommst. Denke an uns, mehr wollen wir nicht“, erwiderte Maren sehr ernst.
„Danke, klar denke ich an euch“, antwortete ich sofort.
„Wehe, wenn du das tust. Urlaub heißt, nicht an uns Kolleginnen zu denken“, fuhr mir Rita in meinen Zuspruch.
„Dann gebt mir eure privaten Mailadressen oder wir verbinden uns endlich mal übers Netz“, kämpfte ich gegen diese Abschottung an.
Prompt piepte es auf meinem Handy. Zwei Anfragen per Instagram von den beiden vor mir sitzenden.
„Nee, jetze, oder?“, tat ich pikiert.
„Klar doch! Du gehörst doch zu uns“, kicherten mir beide entgegen.
Viel schöner konnte dieser Tag eigentlich nicht mehr werden. Eine ganze blühende Sommerwiese um mich herum und das Summen. Das reichte mir und meine gute Laune erkämpfte sich die Vorfahrt. Noch eine E-Mail, von einem der Schlipsträger drei Türen weiter. Der wollte von mir eine Auflistung aller verkauften Produkte zwischen Januar und Februar … Ich stöhnte.
„Sammy, der Chef wollte unbedingt wissen, ob du zu greifen bist, während du im Urlaub bist, weil er der Meinung ist, länger als drei Tage hält die Datenbank nicht durch“, stammelte Rita immer weiter in den Monitor kriechend zu mir.
„Was für ein Idiot!“, grummelte ich. „Der Chef oder deine Schlipsträger?“, fragte Maren zurück, die diese Mails auch lesen konnte.
I am not amused. Antwort: „Tut mir leid, aber alle Bezüge länger als sechs Monate zurück bedürfen eines ausgefüllten Formulars, wegen des Datenschutzrechts, in dreifacher Ausführung. Der Chef muss dies unterzeichnen und selbst prüfen, ob die Anfrage rechtens ist.“
Egal, ich schlürfte noch einmal einen guten Schluck Earl Grey. Herrlich. Hoffentlich nimmt mir Maren diesen Streich nicht übel. Heute erwachte und blubberte in mir eine Schelmine. Die Vorfreude auf London führte zu einem inneren Sonnenschein und einer Leck-mich-doch-Stimmung. Solche Stimmung, daran konnte ich mich nur schwach erinnern, erlebte ich zuhauf noch während meines Studiums. Weil der Chef sich nicht bewegte, seine Schafe zu einer Schulung zu drängen, trugen die Schlipsträger alles auf unseren Rücken aus. Frauen sind zum Kaffee kochen und als Sekretärinnen gedacht, hörte man Stimmen von Geistern im Flur öfter rufen. Irgendwann beschloss ich in den letzten beiden Jahren, dass ich einfach zu teuer dafür bin.
„So, ich denke, mehr werde ich heute nicht mehr tun. Meine fünf Lieblinge streicheln und dann ab zum blöden Familientreffen. Flugzeug hebt in fünf Stunden ab“, kommentierte ich kurz meine Vorhaben.
Maren lachte sich regelrecht in einen Rausch, Rita fuhr auf dem Stuhl zu mir und las meine Antwort. Dann fing sie auch noch an. Hmm, ungewohnt, dass ich solche Seiten mal offenbarte. Das war sehr laut, was dazu führte, dass der Chef hereinplatzte. Das führte bedingungslos zu einem erneuten Lachen meiner beiden Bürofreundinnen. Meine Mundwinkel wurden unweigerlich wie an Marionettenstrippen nach oben gezogen. Nur so ein süffisantes Bisschen. Die Tränen in Marens Augen liefen schon die Wange herunter und Rita krümmte sich. Verstand ich ihre Ausgelassenheit, oder hatte ich unwillkürlich einen überbordenden Humor? Da ich mit dem Herrn Halbgott ohne Talent partout nicht reden wollte, entschied ich mich für einen letzten Rundgang durch den Serverraum. Zuerst führte mein Weg wortlos am Chef vorbei, der mich ahnungslos anstarrte und meine Antwort meiner heutigen ersten E-Mail bereits ausgedruckt hatte.
„Ich wusste gar nicht, dass Web 4.0 noch mit ausgedruckten Mails funktioniert“, raunte ich doch noch ganz nebensächlich beim Vorbeigehen dem immer noch glotzenden Herrn Stratter zu.
Buzzwording par Excellence genügte mir, mich zu entschuldigen. Gestern frotzelte mein Chef über mich vor den Yuppies, nur hatte ich es brühwarm mitbekommen. Glücklicherweise setzte ich durch, dass er absichtlich keinen Zutritt zum Serverraum bekommen hatte, wohin es mich gerade zog. Wäre ich erblindet, könnte ich hier ohne weitere Probleme weiterarbeiten. Keine Hand auf meiner Schulter. Die beiden lachten noch lauter im Büro hinter mir. Einer dieser blauäugigen, dunkelhaarigen und dreißigjährigen Möchtegernyuppies in seinem tief dunkelblauen Anzug mit gelber Krawatte schritt mir mit weiten männlichen Schritten auf dem typischen Bürokorridor entgegen. Schlank war er ja, aber diese Köpfe funktionierten irgendwie meist nicht richtig. Zumindest wusste ich, dass dieses Exemplar eine gleichaltrige Freundin seit circa sieben Monaten ausführte oder hofierte. Ich musterte ihn eingängiger, um eventuelle neue Anhaltspunkte zu sammeln. Der „Kollege“ sah mich an und blieb auf der Stelle, wie angewurzelt, stehen. Mein musternder Blick schien ihn zu verwirren. Oder zu verunsichern. Ignoranz funktionierte immer und ich öffnete die Tür zum Serverraum. Rein da. Feine 18 Grad erwarteten mich. Kaum war ich drinnen, sah ich die Schränke und begann, wie in den letzten Monaten, mit meinen Schätzchen zu reden und wollte ihnen guttun. Als ich vor meinen Drillingen stand, Athos, Aramis und Porthos nannte ich sie, hielt ich inne. Kniete mich hin und sah sie mir genauer an.
„Also meine drei Haudegen, schlagt euch wacker. Wir haben uns doch lieb, oder? Ich bin in London für ein paar Tage. Seid stark miteinander und lasst euch nicht ärgern“, beruhigte ich mich.
Seitdem ich diese Arbeit von einem Typen übernommen hatte, der anscheinend keine Ahnung von gut funktionierender Rechentechnik hatte, lief es in dieser Firma viel besser. Keine Abstürze seit über vierzehn Monaten. Darauf war ich stolz. Allerdings vertraute mir hier in der Firma niemand, außer den ganzen lieben Menschen, die mir auf meiner Karte einen tollen Urlaub wünschten. Okay. So alleine fühlte sich das wirklich nicht an. Natürlich entschloss ich mich, ihnen dafür auch eine Ansichtskarte zu schreiben. Um mich herum zwirbelten sich Kabel und surrte, na summte, viel Technik. Vor zwanzig Jahren hätte ich niemals vermutet, so viel Verantwortung für Technik ganz locker auf mich zunehmen. Noch einmal sah ich meine Rechner an und sie schienen mir zu zuzwinkern:
Mach ruhig Urlaub. Ich lächelte. Streichelte noch einmal über das Gehäuse jedes einzelnen Rechners, ging dann zum Telefon und rief die Nummer der Netzwerkabteilung an. Kurzer Report meinerseits und ich bekam sehr erfreut zu hören, ich solle mich ruhig auf den Weg machen. Die Jungs da unten mochte ich nicht nur wegen ihrer Anerkennung. Oft standen sie mir bei, wenn es darum ging, ordentliche Lösungen für unsere Probleme zu finden. Eigentlich war doch alles gut. Komm schon altes Mädchen, geh einfach zurück, nimm deine Sachen und verschwinde von hier. Genau, ich hatte einfach keinen Bock mehr auf den Irrsinn. Als ich mich verabschiedete, umarmten mich Rita und Maren. Beide freuten sich wirklich für mich. Der Chef war einfach wieder verschwunden, nachdem ich ihm diesen Schlag in die Magengrube erteilt hatte. Als ich am Empfang vorbeiging, um meinen Schlüssel zu hinterlegen, saß eine der lieben Unterzeichnerinnen vor mir und sortierte Post. Ganz leise legte ich meinen Schlüssel und die ID-Karte auf den Tresen. Kurz blieb ich stehen, betrachtete noch einmal das vertraute Bild. Beinahe so, als verabschiedete ich mich für immer. Mein erster Urlaub seit drei Jahren.
„Nun aber schnell weg hier, Samantha. Vermissen werde ich dich auf jeden Fall. Erhole dich gut. Und einfach anrufen. Ich verlängere für dich, verlasse dich darauf“, sagte sie zu mir.
„Nett, echt nett von dir, Simone. Danke für das tolle Geschenk. Und nun, bis denne. Kopf hoch, ja?“, munterte ich sie auf. Ihr Lächeln strahlte so viel Zufriedenheit aus, dass all die befürchteten Bauchschmerzen verflogen. Ich wandte mich meinem Urlaub zu. Ach nein, da war ja noch das leidige Familientreffen. Vor dem Fahrstuhl rang ich mit mir, das nicht einfach abzusagen, doch zwei Stunden vor dem Boarding auf dem blöden, langweiligen Flughafen herumzusitzen, würde mir kräftig meine Laune vermiesen. Es öffnete sich die Fahrstuhltür, leer. Damit verließ ich für vierzehn Tage diese kleine Welt.
Regnerische Familie
George Haggerthon, London, September 2015, Freitag
Als ich in der Küche eintraf, entdeckte ich nichts Neues. Viel zu kurz schlief ich in letzter Zeit. Meine Sorgen und Nöte drängelten sich vor den dringend notwendigen Schlaf. Meine Kinder schienen in den letzten Monaten mit sich beschäftigt zu sein. Jason lernte neben seinem morgendlichen Müsli für seine Klausur und versuchte, den Sticheleien Olivias mit Ignoranz auszuweichen. Er kam ganz nach mir. Warum auch immer sie das ihrem Bruder oder ihrer Schwester antat, wusste ich immer noch nicht. Ab und an fragte ich sie, jedoch verschwand Olivia dann einfach mit ihrer herzzerreißend leidenden Miene in ihrem so gar nicht typisch eingerichteten Zimmer. Sie war brünett, hatte also Barbaras Haare und meine grünen Augen. Aus ihr sprach bereits der Zynismus, um diese Welt zu ertragen.
Wenn sie ebenfalls so aufgeweckt wie ich werden sollte, stünden mir einige schwere Jugendjahre bevor. Nun, zwölfjährige Mädchen schienen ebenso schwierig wie Jungs zu sein. Dürfte doch in diesem Jahr bei Olivia bereits die viel gepriesene Pubertät zuschlagen. Mit Jennifer, ihrer drei Jahre älteren Schwester, erlebte ich das vor eben drei Jahren. So deutlich erinnerte ich mich daran, als wäre es gestern. Meine älteste Tochter hingegen trug heute ihre Schuluniform wieder offenherzig, worüber ich mich nicht mehr aufregte, seit es für mich einfach keinen Sinn mehr ergab, bei ihr für irgendwas einzustehen. Ihre wundervollen schwarzen Haare, die sie von mir geerbt hatte, wurden von den blauen Augen meiner verstorbenen Frau komplettiert. Der Pferdeschwanz gefiel Jennifer anscheinend zur Schuluniform besonders gut. Sie war schlank, eher eine dieser typischen hochnäsigen Schulschönheiten, vermutete ich jedenfalls. Das war mir eigentlich gar nicht recht, aber die eigenen Kinder ähneln einem eben nur. Meinen Verdacht, sie hätte schlechten Umgang, müsste ich erst noch beweisen. Allerdings roch ich oft Zigarettenrauch an ihren Sachen. Jennifer hatte meine Hartnäckigkeit, ihr Leben betreffend, geerbt. Die Energie, ihr Paroli zu bieten, wurde mir durch die vergangenen Erlebnisse geraubt. Bald stand Jennifers Geburtstag an, der Sechzehnte. Ehrlich gesagt, hatte ich keinen Schimmer, was ich ihr denn schönes zu ihrem ersten großen Geburtstag auf dem Weg ins Leben bieten könnte.
Eigentlich hatte ich in den letzten vier Jahren den Bezug zu meinen Kindern verloren. Ihr Anblick erinnerte mich an meine verstorbene Frau. Diese Küche auch. Sie ist das einzige überlebende Element der damaligen viel zu perfekten und wunderschönen Zeit in diesem Haus, worin ich die Vergangenheit nahezu jeden Tag erneut schmerzlich erlebte. Als Olivia mich erblickte, ging ich um Munterkeit bemüht zur Kaffeemaschine und ließ mir einen Kaffee brühen. Doch eigentlich widerte mich schon der Geruch von Kaffee wieder regelrecht an. Ein Glas Wasser tat es auch. Oft erinnerte mich der Geruch an meine verstorbene Frau, die den Kaffee auf die gleiche Art, wie ich ihn trank, mochte. Als ich mich zu den drei Kindern umdrehte, sahen die drei mich an, als wäre ich ein Zombie, ein lebender Toter. Jason kniff etwas seine Augen zusammen, er erinnerte mich an meine Barbara. Olivia hingegen runzelte die Stirn, weil sie von meinen Erlebnissen nichts wusste. Schief den Kopf geneigt, beobachtete mich Jennifer argwöhnisch.
Barbara starb bei einem ungeklärten und sehr mysteriösen Autounfall vor neun Jahren. Seit neun Jahren erwachte ich jeden Tag aufs Neue und hoffte auf der anderen Bettseite, wie durch ein Wunder, Barbaras glückliches Gesicht ansehen zu können. Mit ihrem Lächeln begrüßte sie mich, wie jeden Morgen, mit einem Kuss auf meine Nase. Unwillkürlich hob ich meine linke Hand und berührte meine Nase. Jennifer seufzte entnervt und verschwand aus der Küche. Sie kannte das Ritual, von ihren Momenten, als sie noch bei uns im Bett den Morgen verbracht hatte. Damals liebte sie das Ritual abgöttisch.
Mist! Jason holte tief Luft und schüttelte traurig den Kopf. Ja, ich müsste in eine Therapie. Besser, ich war bei einer Therapie, doch die half mir nicht weiter. Melancholie, die sich wieder in Richtung Depression verlagerte, konnte ich nicht gebrauchen, weder hier in meiner Familie noch dienstlich. Als Politiker ging das einfach nicht. Nach dem Tod meiner Barbara brach die Hölle über uns herein. Finanziell gar kein Problem, emotional für die Kinder tat ich alles Erdenkliche, damit sie möglichst unbeschadet diese Katastrophe überstanden. Beruflich zog ich mich einfach von einigen Aufgaben zurück. Gekämpft hatte ich, damit meine Kinder möglichst diesem Boulevard-Mob entkamen. Meine Mutter half mir immer wieder, wofür ich ihr sehr dankte.
Damals verhielt sie sich konträr zu dem sonst kühlen britischen Gebaren meiner Familie. Doch wusste ich instinktiv, dass sie nur die Form wahren wollte, wie mein Vater es indoktriniert hatte. Dieser Kampf kostete mich sehr viel Energie und veränderte mich zusehends zu einem Vaterebenbild, der nicht seinem Vater ähneln wollte. Immer wieder rief meine Mutter Diana mich an und erkundigte sich nach unserem Befinden. Mittlerweile holte sie mich immer wieder zurück aus meinem Sumpf an Trauer, Pflicht, Politikergesäusel und -betteln. Auf der anderen Seite trafen mich die vollkommen unbegründeten Vorwürfe meiner Schwiegereltern ganz tief in meiner Seele. Den Vorwurf, ich hätte dabei sein sollen, konnte ich nur mit der Vorstellung stillen, dass dadurch drei Waisen in dieser Welt hinzugefügt worden wären. Je öfter ich mich im Spiegel betrachtete, desto weniger gefiel ich mir. Vielleicht hatten meine Schwiegereltern recht, denn meinen Kindern tat ich nicht gut. Dieser Schmerz gewann immer öfter die Oberhand. Diese Küche gefiel mir nicht!
Als ich mit dieser immer wiederkehrenden Selbstverurteilung endlich am Ende war, brachte ich erst Jennifer und Olivia in deren Privatschule und danach parkte ich meinen Jaguar in der Nähe der Underground Station, um mit Jason in Richtung City of Westminster zu fahren. Diese Fahrten ähnelten eher einem Trauerzug, weil niemand von uns beiden ein Wort über seinen Lippen hervorbrachte. Nach den zahllosen Streitereien zwischen mir und meinen Kindern ergab ich mich letztlich einfach irgendwann in mein Schweigen. Vielleicht deuteten meine Kinder dies als Strafe oder als Aufgabe meinerseits. Zumindest taten sie kund, dass sie es mir positiv anrechneten, meinen Verpflichtungen in finanzieller Hinsicht nachzukommen. Northern Line. Jeden verdammten Werktag, manchmal auch am Wochenende. Die gemeinsamen familiären Unternehmungen wurden immer seltener. Mein Pensum heute schien mir unerträglich lang zu werden.
Freitag. Vielleicht doch wieder versuchen, irgendeine Frau treffen? Schließlich schien mein Aussehen immer noch zu punkten, wenn ich die Reaktion der Damen in den letzten Jahren in meiner Erinnerung abrief. In den letzten neun Jahren schleppte ich ohne eigene Bemühungen drei Frauen nach Hause, alle mindestens zehn Jahre jünger. Die erste, kennengelernt zweieinhalb Jahre nach dem Tod Barbaras, wollte mit meinen Kindern nichts zu tun haben. Das war der Horror, denn ich dachte, sie würde schon irgendwann Kontakt knüpfen. Diese Frau, Priscilla hieß diese Eroberung, sah meiner verstorbenen Frau sehr ähnlich. Gleiche Größe und Haarfarbe, eleganter Stil und britisches Benehmen, was mir recht war. Die ausgelebte Antipathie zwischen meinen Kindern und ihr erwies sich als beiderseitig sehr fruchtbar für Unkraut. Ich hasste Unkraut. Nicht nur in meinem Garten. Es gab Szenen, die mich immer noch erschauern lassen. Regelrechte verbale Schlammschlachten spielten sich am Ende dieser fatalen Beziehung zwischen meinen Kindern und ihr ab.
Nach nicht einmal zweieinhalb Wochen gemeinsamen Familienlebens erwischte ich sie mit einem jüngeren Mann in dem Pub, in dem ich sie kennengelernt hatte, meinem damaligen Stammpub. Hinzukam ihre Aussage, als ich sie zur Rede stellte, dass meine Kinder degeneriert und hässlich wären. Das war ein für alle Mal genug. Damit verlor ich nicht nur diese Frau, sondern konnte auch nicht mehr diesen netten lieb gewonnenen Pub besuchen. Der Wirt achtete immer auf mich, weil er auch Barbara kannte. Eigentlich erinnerte mich der Pub immer an meine glücklichen Zeiten. Ach, das war auch so ein herber Tiefschlag, der mich beinahe um meinen Verstand brachte. Die Überwindung, dort wieder einzukehren, brachte ich einfach nicht über mein Herz. Nähe Leicester Square befand sich dieses kleine und feine Od. Zu Fuß konnte ich immer in die Kulturszene abtauchen. Die Bahn fuhr ein und ich hing weiter meinen dunklen Gedanken über mein Leben nach.
Die zweite Versuchung war zu sehr Mutter und nervte nicht nur meine Kinder, sondern auch mich mit zunehmender versuchter Dominanz ihrerseits. Irgendwann nach vier oder fünf Monaten lief das Fass dann über. Schließlich bekam ich von der Mutter der besten Freundin Jennifers den Hinweis, dass diese Eddie, wie sie hieß, mir absprach, die Kinder erziehen zu können. Großspurig verkündete sie, meine Kinder adoptieren zu müssen, um „ihre“ Familie zu retten. Irre, nur Irre in meiner Reichweite. Hätte ich auf Jennifer oder Jason nur gehört, könnte ich immer noch auf mein Image als zuhörenden Vater zurückgreifen. Versagen war so einfach. Zwei Monate lang gab ich mir jede Mühe, den Kindern alles recht zu machen. Doch irgendwann fanden sie es besser, mich nur noch genervt abzuweisen.
Wieder traf es mich tief in meinem Herzen. Was machte ich nur falsch? Was? Die dritte im Bunde der herben Enttäuschungen, war so ein Moneychicken. War zwar super schön, aber nur für das Feiern und Geld ausgeben zu begeistern. Soziale Kompetenz absolute Fehlanzeige. Mitunter benahm sie sich wie ein verzogenes Mädchen. Natürlich konnte ich nicht mehr mithalten, denn meine Kinder waren auch noch da. Nachdem meine rosarote Brille verschwand und ich zwanzigtausend Pfund leichter war, zog ich die Notbremse. Dann, nach zahllosen Versuchen, eine Lösung zu finden, stellte sich bei mir Melancholie und Lethargie ein. Meine Kinder dachten wahrscheinlich, ich brauchte eine Ruhephase.
Doch nun, drei Jahre später, schien Jason immer mehr Angst um mich zu haben. Soll er ruhig. Jennifer gab einfach auf, mich zu fragen oder Mutter spielen zu wollen. Olivia kapselte sich weiter ab. Sie versank in ihre Bücherwelten. Hier saß ich also, neben mir Jason, der vernünftige Sohn. Sein Gesicht ähnelte Barbaras so sehr, dass es mich manchmal schmerzte, ihn anzusehen. Mein Leben war ein theatralisches Drama in unendlich quälenden Akten. Jason stupste mich an, wir mussten umsteigen. Embankment. Als wir beide auf dem Weg zur Central Line waren, überwand ich mich.
„Es tut mir sehr leid, Jason“, sagte ich unvermittelt.
„Dad, was uns, nein, dir passierte, wuchs doch nicht auf deinem Mist. Versuche einfach nur endlich, ein neues Leben anzufangen. Am allerbesten mit uns“, erwiderte er mir mit gedämpfter und leiser Stimme.
Verdutzt sah ich ihn an. Verdammt, er hatte Recht. Drei Jahre, ich war schon fünfundvierzig Jahre alt. Die letzten vier Jahre einfach vergeudet. Vielleicht vergaben mir meine Kinder meine Lethargie. Gefangen auf einer Insel und nicht genug Kraft, um mit dem selbst gebauten Floss zu entkommen. Schöner Vater. Er hatte so recht.
„Hmm. Geht es dir wenigstens gut? Erzählst du mir, wenn dich etwas bedrückt?“, unglücklicherweise musste ich gleich wieder aussteigen.
Jason blieb auch stehen, beobachtete zwei junge Frauen, die auf dem Smartphone etwas betrachteten und kicherten. Eine hatte wunderschöne naturblonde lange Haare und ein schmales Kinn. Der anderen jungen Frau fielen die schwarzen Locken in ihr indisches, glattes und nougatfarbenes Gesicht. Welcher von den beiden würde Jason wohl eine Rose schenken, durchfuhr es mein Hirn. Mir würden beide so viel Mut und Hoffnung geben. Bitte lass meinen Sohn eines Tages solch eine wunderhübsche Freundin nach Hause bringen. Mit einem großen Herz und einem Lächeln, was uns derzeit so sehr fehlte. Dann drehte er den Kopf zu mir.
„Ach Dad, ich bin der, dem es in unserer Familie am besten geht. Hab noch einen schönen Tag, ja?“, verabschiedete er mich und ging auf den leeren Platz gegenüber der beiden Frauen zu.
Schnell verließ ich die Station Westminster und lief auf mein Büro zu. Jeden Morgen von der kalten Insel in die brütende Hölle des Parliaments. Es interessierte mich heute aber nicht. Früher verdrängte ich die Sorgen, sobald ich in meinem Büro eintraf. Moment, was hatte Jason mir eben beim Abschied gesagt? Er wäre der, dem es am besten ginge? Was sollte das heißen?
Kaum war ich in meinem Büro eingetroffen, begannen die Intrigen und Ränke auf mich einzuprasseln. Früher mochte ich es doch, Intrigen aufzudecken, meine Position zu vertreten und falsche Ansichten und Fehler zu bekämpfen. Hinzukam, ich redete mir ein, mit meinen Kompromissen diese Welt friedlicher und gerechter zu gestalten. Gerecht? Was war in dieser Welt schon gerecht? Müde, ich war einfach müde von meinem Leben. Hoffnungslos erschöpft von all den Grabenkämpfen ohne jede Vision. Mir war auch klar, dass der Brexit einfach nur falsch war. Total falsch.
Die wussten gar nicht, wie schlimm es ist, ohne Freunde bestehen zu müssen. Bevor ich darüber nachdachte, wem ich was offenbarte, versuchte ich auf der Toilette, meine Gedanken zu ordnen. Jason hatte mir mitgeteilt, dass? Mein Magen drehte sich. War ich wirklich so abgestumpft, dass ich die Probleme von Jennifer und Olivia nicht mehr wahrnahm? Mir entglitt mein Leben, meine Aufgabe als Vater, meine Familie? Das darf ich nicht zulassen. Mein privates Smartphone piepste. Meine Mutter fragte nach meinen Unternehmungen am Wochenende. Das auch noch.
Genervt stand ich auf, schaltete das Smartphone aus und kehrte in mein Büro zurück. Meine Liste der zu erledigenden Arbeiten war lang. Heute wollte ich früher nach Hause. Wollte? Ich musste! Die geweckten Sorgen um meine Töchter begannen in mir, an meinen Nerven zu nagen. Also setzte ich mir Ziele, die ich bis zum Mittag erledigt haben wollte. Leidlich kam ich voran, denn diese so geliebte Bürokratie kniff mich, zwickte meine Nerven und schlug immer wieder auf meinen Kopf. Genug, ich würde gleich Essen gehen. Obwohl, ein Sandwich sollte es auch tun. Und siehe da, mein gesetztes minimales Pensum hakte ich zufrieden ab. Nachdenklich stand ich auf und entschied mich für einen der Sandwichläden. Bloß keinem Kollegen oder Mitarbeiter begegnen. Nahm meine Jacke und schaute nur kurz bei meiner Assistentin hinein, die wirklich eine Assistentin war, keine Sekretärin. Jedoch mein Angebot, ihr etwas mitzubringen, lehnte sie erstaunt und sehr freundlich lächelnd ab. Wie lange saß sie schon dort? Bestimmt vier Jahre. Mindestens. Nichts wusste ich über sie, gar nichts. Es gab nur zwei wichtige Pfeiler, meine Familie und meine Arbeit.
Als ich hinaustrat, holte ich tief Luft, um mir zu beweisen, dass ich doch kein Zombie war. Dann fiel mir der Pret-A-Manger-Laden in der Tothill Street ein. Zu Fuß genau die richtige Entfernung. Und in so einem „Schuppen“ begegnete ich höchstens meiner Assistentin aber keinem der anderen hochtrabend faselnden Herren des Hauses. Nie kam ich mir unnütz vor, heute irgendwie schon. Meine Töchter. Was mag mit ihnen los sein? Ablenken, mit der Überlegung, was ich mir wohl kaufen würde.
Ein Tee – Darjeeling – wäre toll. Mich fröstelte, weil ich Idiot Sommerklamotten angezogen hatte. Dann bevorzuge ich heute eine Suppe. Immer noch nicht angekommen, sah ich den Verkehr und wäre beinah in einen Fahrradfahrer hinein gelaufen. Erst setzte der zu einer Schimpftirade an, dann erschreckte ihn anscheinend mein Gesicht. Darum machte ich mir schon lange keine Gedanken mehr. Gleich war ich da, wieder einen Punkt heute geschafft.
Die Flucht zurück
Samantha Willer, Berlin-London, September 2015, Freitag
Als ich gestern endlich meinen Platz im Flieger gefunden hatte, die 14 E hatte ich ausgewählt, begann ich, mich zu entspannen. Dieses Familientreffen nach meinem sehr kurzen Arbeitstag fing erwartet anstrengend an, als mein Vater wieder einmal auf mir herumhackte.
„Guten Tag, kinderlose Tochter. Wie sieht dein Liebesleben aus, endlich fündig geworden?“, nervte er gleich los.
Wie immer bei diesen Nachfragen und Bemerkungen überdachte ich meine Entscheidung, mein Geheimnis meinen Eltern immer noch nicht zu offenbaren. Denn, was er und Mutter nur nicht wussten, war der Umstand, dass ich ihnen nicht erzählt hatte, keine Kinder gebären zu können. Meine Operation, die diesen Umstand auf Grund einer früheren Begebenheit notwendig machte, verkaufte ich damals als Urlaubsreise nach München. Also eine Lüge in einer Wahrheit verpackt. In dieser Zeit waren meine Eltern so sehr mit meiner Schwester, deren Heirat und der Geburt ihres Kindes beschäftigt, dass ich diese positiven Ereignisse nicht durch meine negativen Erlebnisse trüben wollte. Mein Vater fand meine Berufswahl schon abartig, da wollte ich nicht noch den Eindruck erwecken, dass ich unbedingt im Mittelpunkt stehen wollte. Allerdings tröstete mich meine Schwester, nachdem ich ihr meine Unvollkommenheit gebeichtet hatte, vier Jahre nach der Diagnose. Sie verstand mich seitdem viel besser, als ich mir die Reaktion ihrerseits eingeredet hatte. Liebevoll bedachte sie mich immer mit dem Hinweis, mir beizustehen.
Ihre beiden Söhne liebte ich sehr. Der ältere, zwölf Jahre, fragte mich immer wieder nach meinen Kenntnissen in der Informatik aus, während der vier Jahre jüngere meine Vorliebe für Science-Fiction-Literatur teilte. Wie sehr meine Schwester mir vertraute und mich liebte, bewies sie immer wieder, da sie mir die Kinder auch ohne Grund für ein Wochenende überließ. Nach solchen Wochenenden regte sie sich hin und wieder auf, weil ich die kleinen Racker zu sehr verwöhnte. Meine Mutter, die diese Hasstiraden nicht mehr ertragen konnte, wurde plötzlich sehr laut und energisch. Ganz die Lehrerin, wies sie meinen Vater zurecht, dass er doch bitteschön seine Meinung für sich behalten dürfe, denn heute wäre ein freudiger Tag. Mich beeindruckte diese resolute Zurechtweisung zu meinen Gunsten. Nach diesem Statement sprach mein Vater kein einziges Wort mehr mit mir, nur die Verabschiedung nötigte ihm ein „Hab viel Spaß“ ab.
Als ich endlich das Haus verließ, nahm ich einfach ein Taxi, denn ich hatte keine Lust, mich durch die Stadt per Bus und Bahn zu quälen. Dreimal Umsteigen brauchte ich nicht auch noch zu ertragen. In meiner schwarzen Röhrenjeans, der weißen Bluse und dem hellgrünen Parka fühlte ich mich für eine Reise gut gerüstet. Das Kuvert von meiner Mutter und meiner Schwester – vielleicht auch meinem Vater – offenbarte mir auf dem Flughafen zwei Gutscheine für den Tower of London und den Eintritt zur Saint Paul‘s Cathedral. Das fand ich wirklich lieb. Endlich startete das Flugzeug. Von meinem Sitzplatz sah ich hinaus und nahm Abschied von meiner Heimatstadt und meinem Alltagsleben.
Der Herr neben mir schien etwas Flugangst zu haben. Nicht einmal voll besetzt, hoben wir Richtung Westen ab. Das Wetter schob Wolken zwischen die Flugzeugfenster und den Erdboden, deshalb bestaunte ich noch die puderzuckerweißen Wolkenformationen einige Momente und versuchte dann, einfach vor mich hin zu dösen. Dann wurde ich von einer vibrierenden Stimme aus dem Off gefragt, ob ich denn nicht gerne in die puderzuckerweißen Fluten springen wolle. Seltsam. Aber nett. Anscheinend war ich sogar eingeschlafen, denn plötzlich kam die Durchsage, wir würden uns im Landeanflug auf London befinden.
Aus dem Fenster blickend sah ich? Genau! Wolken. Welche unglaublich einfach vorhersehbare Überraschung. Egal, weg von dem drögen Alltag, den unzähligen Hürden und langweiligen Wiederholungen. Weg vom nörgelnden Vater, dem unzumutbaren Chef und meinen vier Wänden. Selbst bei Schnee käme ich nicht umhin, mich mal anderweitig umzusehen. Bei der Landung glotzte ich wie gebannt aus dem Fenster. Dann die elend langen Gänge und der Zoll. Nun drängte mich die Neugier nach der Tube. Ich holte mir ganz vorsichtig, wie eine Hummel eine unbekannte Blume ausprobieren würde, so eine Oystercard. Na bitte, klappte doch.
Als ich eine Stunde später mein Hotel betrat, welches nördlich des Hyde Parks lag, merkte ich eine furchtbar schnell aufkommende Müdigkeit. Von außen sah das Hotel mit der viktorianischen Fassade merkwürdig aus. Ein kleines Einbettzimmer beherbergte für mich die gesuchte Liege, das Bad ähnelte meinem und der Ausblick ließ sich ertragen. Mein Magen knurrte. Deshalb die frühe Müdigkeit. Kurz vor dem Abflug sandte mir meine liebe Kollegin Maren noch eine Mail, um mir den Urlaub noch schöner zu reden.
Doch nun? Noch mal raus hier. Es regnete. Klar doch. Entschlossen ging ich noch kurz auf die Jagd nach etwas Essbarem und Getränke für morgen benötigte ich ebenfalls. Erschöpft sank ich gegen neun Uhr auf mein Bett und las noch etwas auf meinem Tablet, welches ich mitgenommen hatte. Ach ja, gleich noch den ersten Blog-Eintrag aus England schreiben, fand ich auch noch eine gute Idee. Irgendwann schlief ich einfach ein.
An diesem Freitagmorgen erwachte ich, so gegen sieben Uhr Londoner Zeit, frisch und ausgeschlafen. Ich duschte, nutzte dazu mein Lieblingsduschbad und ging eine Dreiviertelstunde später hinunter zum Frühstücksbuffet. Die Bedienungen, nur Frauen, hatten diese schwarz-weißen, klassischen Kleider an. Seltsam, aber doch gar nicht so ungewohnt, nur altbacken. Ich bestellte mir ein Kännchen English-Breakfast-Tee. Wennschon, dennschon, dachte ich mir. Zwei Scheiben Toast und etwas Butter mit einer Tomate ergatterte ich vom gut gedeckten Buffet. Das reichte mir. Aha, einen Scone wollte ich schon immer einmal probieren. Nach der ersten Tasse Tee breitete sich in mir ein wohliges Gefühl aus. Wärme. Zufrieden betrachtete ich die Gäste um mich herum. Ein Lächeln breitete sich in meinem Gesicht aus. Familien, Geschäftsreisende und zwei ältere Damen gönnten sich ebenfalls ein Frühstück im Souterrain des Hotels.
Es war doch kühl in London. Wie sollte ich den ersten Urlaubstag für mich gestalten? Ach, ich beschloss, nachdem ich mir gestern so famos eine Oystercard gekauft hatte und die Fahrt mit der Tube so einfach und spannend war, in das Herz Londons zu fahren und wie eine typische Touristin einfach nur zu staunen und meinem Fotoapparat ein wenig Arbeit abzuverlangen. Einfach losfahren. Genau. Als ich wieder auf meinem Zimmer ankam, das nicht groß war, aber ausreichend Platz bot, packte ich meine Sachen ein wenig beiseite, platzierte das Pfund-Stück für die Reinigungskraft und blieb bei meiner Kombination aus Tunika und Leggings komplettiert mit einer Biker-Lederjacke. Das sollte heute reichen. Meinen Schirm hatte ich in meiner großen Handtasche verstaut. Im Spiegel sah ich gar nicht so schlecht aus, obwohl mein Gesicht doch abgekämpfte Züge zeigte. Generell fand ich mich dieses Mal mit meinen Unzulänglichkeiten noch ab. Es war schön, am Leben zu sein und beinahe alles selbst im Griff zu haben.
Keine Viertelstunde später saß ich in der Tube und stieg Oxford Circus aus. Die neue Mischung an Mitreisenden empfand ich als so interessant, dass mir das gewohnte Nachdenken über mich und meine Situation nicht einmal im Traum einfiel. Indische Familien und die jungen, feschen Schlipsträger, die ganz anders auf mich wirkten, als daheim, Mädchen und Jungen in ihren Schuluniformen und die typisch britischen Menschen eben. Vom Oxford Circus schlenderte ich in Richtung Picadilly Circus, die Regent Street hinab und bestaunte die fremden Menschenmassen. Die roten Doppeldeckerbusse spuckten hier und da an den Stopps Menschen aus und aßen wiederum eine Traube derer. All die Geschäfte, die entgegen Berlins Art, in vielen Straßenläden untergebracht waren, statt in irgendeiner dieser hässlichen, monotonen und sterilen Einkaufpassagen, wirkten wie Teile eines riesigen, bunten Puzzles.
Diese Vorstellung mochte ich. Sich vorzustellen, wie es hier in den Roaring Sixties zuging, war ein Leichtes. Ich hüpfte also heute von Puzzleteil zu Puzzleteil. Alles wirkte auf mich ein, immer tiefer, bis mir bewusst wurde, dass ich wirklich Urlaub hatte und hunderte Kilometer von zu Hause und dem Job entfernt war. Am Picadilly Circus beschloss ich, mir diesen geschäftigen Platz in der Dunkelheit anzusehen, weil die vielen Lichtreklametafeln, die hier im Übrigen ihren Ursprung hatten, um diese Uhrzeit fade wirkten. Eben tagsüber bei weitem nicht so imposant. Trotzdem versuchte ich, den Brunnen mit Eros obenauf zu fotografieren. Dies gelang mir sogar mit den gerade durchbrechenden Sonnenstrahlen.
Es begann zu nieseln und ich machte mich gemütlich auf, um mir die wichtigste Sehenswürdigkeit anzusehen, das Parliament mit dem Turm und Big Ben darin. Schon von weitem erspähte ich den Waterloo Place mit den beiden Monumenten. Als ich die ganzen viktorianischen, wunderschön in Schuss gehaltenen Häuser erblickte, verführte es mich, mir vorzustellen, wie es vor 130 Jahren hier zuging. Somit zückte ich meinen Fotoapparat und fotografierte wild darauf los. Auch das Licht war perfekt in diesem Augenblick. In mir begann es zu schwärmen. Meine Güte, waren hier aber viele alte, wundervoll verzierte viktorianische Häuser erhalten geblieben. Ganz vorsichtig berührte ich das Monument des Duke of York. Herrlich.
Als ich kurz danach den Saint James‘s Park erreichte, schummelte sich die Sonne für mich wieder durch die Wolken und ich beschloss einfach so, gutgelaunt durch den Saint James‘s Park am See entlangzuwandern. Über die Brücke gehend, befand ich mich in der Nähe vom alten Westminster. Die Vorfreude auf diese weltberühmten Sehenswürdigkeiten motivierte mich umso mehr, meinen Plan, dieses London aufzusaugen, in diese wundervolle erlebnisreiche Realität umzusetzen. Langsam gewöhnte ich mich an den Linksverkehr, auch auf dem Gehweg. In der Tothill Street knurrte mein Magen dann doch so unangenehm, dass sich das Hungergefühl auf meine Wahrnehmung auswirkte. Leichtes Schwindelgefühl erfasste mich bereits. Die ganze Zeit hatte ich Hunger, aber so viele neue Eindrücke verdrängten all die inneren Warnungen. Morgen Früh sollte ich etwas mehr zu mir nehmen. Knurrte mittlerweile dieser blöde Magen bereits lauter als ein Dackel. Es fing an, mir immer peinlicher zu werden, weil sich mitunter Passanten umdrehten oder mich verwundert ansahen. Von weitem sah ich ein Pret-A-Manger und dachte mir, dass für heute auch ein Snack reichen würde.
Als ich in den Laden eintrat, sah ich mich kurz um. Rechter Hand befand sich eine Treppe in das Kellergeschoss, wo sicherlich noch mehr Sitzplätze zu finden waren. Linker Hand ein kleiner Tresen mit Barstühlen am Fenster und zwei kleine Tische an der Seite der Treppe vor mir. Auch für diese Zeit war der kleine Laden gut gefüllt mit Gästen. Die Schlange war lang. Also schnappte ich mir schnell ein Buffalo Chicken Baguette, eine Cola und einen Blaubeermuffin. Schnell musste ich bei dem Hunger einfach sein. Mittlerweile tat es auch ein wenig weh. Glück keimte in mir auf, weil es zügig voranging. Wie eine kleine Pflanze, die gerade die ersten Sonnenstrahlen im Frühling genoss, fiel mir ein. Kleine Halluzinationen durfte ich mir genehmigen. Vollkommen entspannt mit einem röhrenden Magen, stellte ich mich an der Schlange an. Nach zwei Minuten passierte ich einen der Tische an der Treppe, an dem ein einsam aussehender schwarzhaariger Mann mit leicht angegrauten Schläfen über seinem Essen nachdachte. Der wirkte so deprimiert und war damit so unscheinbar, dass ich ihn vorhin übersehen hatte. Grummel!
Er sah auf und beäugte argwöhnisch meine Magengegend. Auch in der Schlange vor mir drehten sich zwei Frauen in Bürokleidung nach mir um. Einfach so tun, als käme das gar nicht von mir. Trotzdem starrte dieser Herr in seinem typisch dunkelblauen Anzug immer noch genau auf meinen Bauch. Doch kam er mir im Gegensatz zu allen anderen Menschen hier sehr viel abwesender vor, erschöpft oder gar depressiv. Ein Schlipsträger eben, was aber so gar nicht zu ihm passen wollte. Bitte, an so einem Tag, erschien mir das aber wirklich unpassend zu sein, so eine Niedergeschlagenheit allen hier darzubieten.
Grummelgrummelgrumm!
Wieder ein Donnergrollen aus meinem Bauch. Mir schoss das Blut in den Kopf, obwohl ich intensiv mein Baguette betrachtete. Oder weil ich es betrachtete? Schon war ich an der Kasse. Der Kassierer sagte mit britischer Ironie, dass ich es definitiv sehr nötig hätte und es eine gute Wahl wäre. Vor allem der Blaubeer-Muffin fand noch ein Extralob. Ich legte artig und lieb zwinkernd meinen Zwanziger auf den Tresen und schnappte mir mein Essen und das Wechselgeld. Als ich mich umdrehte, sah ich mich nach einem freien Platz gleich hier oben um. Drei hatte ich zur Auswahl. Aber einer fiel wegen der Nähe zur Tür aus meiner Wahl heraus. Die Barstühle fanden keinen Anklang, weil ich mich bequem hinsetzen wollte. An den Tisch zu einem Bauarbeiter wollte ich aber auch nicht. Meine Stilfragen schienen zwar nicht angebracht, aber bei meiner derzeitigen Situation relevant zu sein. Stattdessen überlegte ich, mich zu dem dunkelhaarigen Mann zu setzen. Was mich etwas überraschte. Wie der aussah, könnte er ein Stück von meinem Glücksgefühl gebrauchen. Interessant, interessant, interessant. Schnell vergrub ich mein Portemonnaie, fasste mein Tablett mit beiden Händen und lief hungrig und entschlossen zu diesem Mann, einsam am Tisch sitzend. Der kannte meinen Magen wenigstens schon.
Grummel!
„Dürfte ich mich auf den freien Platz setzen?“, stotterte ich auf Englisch heraus.
Er sah verdutzt auf. Oh, er hatte grüne Augen. Die waren seegrün und matt. Nicht gut. Matte Augen deuten entweder auf Stress oder Drogen hin. Na gut, ich wollte es nicht anders. Und doch zog mich diese Traurigkeit und das Geheimnis dahinter magisch an.
„Ja, kannst du ruhig“, hörte ich seine etwas desinteressierte Antwort. Ich setzte mich und biss in dieses Baguette.
Meine Güte, hatte ich einen Hunger. Zwei Bissen und ich stellte fest, das schmeckte auch ganz passabel. Aber irgendwie fühlte ich mich beobachtet und schaute auf. Mein Magen grummelte sehr viel leiser als vorhin. Okay, ich legte meinen Fotoapparat neben mein Tablett auf den Tisch und dieser Mann da gegenüber beobachtete mein Treiben. Vor allem musterte er immer wieder meinen Bauch. Noch einen Bissen hinterher. Interessiert studierte ich meine Rechnung, auf der auch ein Code für die Toilettennutzung stand. Sogleich musste ich lächeln. Nun schaute er mir in die Augen und ich bekam so ein ganz komisches Gefühl von Unsicherheit. Als hätte ich vier Liter Wasser in mir, das zu allen Seiten drohte, überzuschwappen. Diese grünen Augen brachten mich zum Nachdenken. Vielleicht habe ich irgendwas im Gesicht. Du kannst mich doch einfach darauf hinweisen.
Hmm, es wurde warm in meinem Kopf. Fehler gemacht, schoss es mir durch mein Köpfchen, das beste Teil an mir, fand ich. Mist, ich bekam gleich rote Ohren. Also lieber schnell irgendetwas sagen.
„Ja, ich werde leiser knurren. Bitte nimm mir das nicht übel. Der Weg vom Oxford Circus bis hierher war wohl doch etwas weit“, versuchte ich, zu erklären.
Doch er neigte nur seinen Kopf und stierte wieder auf seine Suppe. Meine Güte, die roch doch gut und sah frisch aus. Was war bloß los? Unbändige Neugier packte mich.
„Gelaufen? Vom Oxford Circus bis hierher?“, hörte ich die tiefe, angenehme Stimme, die mir schon den Platz offeriert hatte.
Ich nickte, weil ich gerade genüsslich kaute. Sein Hemd deutete an, dass er keine dieser Unterhemden trug, die ich albern fand. Doch er schaute mich gar nicht an, sondern versuchte, meine Schuhe zu identifizieren. My Adidas könnte ich nun Run-D.M.C. zitieren. Mann, ich wurde ungeduldig. Hör auf, mich wie eine Fensterpuppe in Damenunterwäsche anzuglotzen und rede endlich.
Lange hielte sich meine gute Laune nicht mehr aufrecht. Besser, ich stünde auf und verließe den Laden. So geht das nicht weiter. Allerdings bin ich eine deutsche Touristin und darf mich ein klein bisschen daneben benehmen.
„So schlecht kann es doch gar nicht sein. Sogar die Sonne scheint draußen“, säuselte ich in einem echt mädchenhaften hohen Ton.