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Miranda erlebte viele unschöne Momente, seit ihr Vater verunglückte. Nun lebt sie mit ihrer Mutter allein in Berlin. Sie vermeidet es, Freundschaften aufzubauen, weil sie zu oft enttäuscht wurde. Inzwischen hält sie sich bedeckt, um auch ihre Begabungen nicht zu verraten. Egal, ob sie sich in der Bibliothek herumtreibt, wegen der viel kleinen Wohnung häufig Sport treibt oder aber zu Hause immer noch ihrem Klavierspielen mit Trockenübung in die Erinnerung ruft, lässt sie sich unterkriegen. Nachdem sie von einem Mädchen angesprochen wird, geschehen wirklich beängstigende und auch unglaubliche Dinge, die ihr Leben verändern wird. Die Welt ist voller Wunder und Menschen, die es spannend machen, weiterzuleben. Auch jene Menschen um uns herum können uns überraschen, beiseite stehen, helfen, herausfordern, staunen oder Zuneigung zu äußern. Erzählt wird vielleicht ein kleines bisschen Aschenputtel oder Dornröschen. Doch Miranda hat es verdient, dass diese Gesicht aus meinem Kopf auf das Papier gelangt.
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Seitenzahl: 292
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Von Vicky Lines, (c) Berlin, 2019, 2020, 2021
Montagmorgen klingelte um halb sechs mein Wecker. Mittlerweile erwachte ich schon vorher. Noch vor mehr als zwei Jahren hätte mich mein schickes Handy geweckt. Leider mussten wir das schicke Ding verkaufen, um hierher ziehen zu können. Es war besser so. Seit dem Papa bei einem schweren Autounfall gestorben war, hatte meine Mama und ich viel verloren. Zusammen verkauften wir viele der schönen Sachen, um unsere Schulden zu tilgen. Das angenehme und angeblich schöne Leben lag eigentlich hinter mir. Trotzdem fand ich es jetzt besser als in den vergangenen Monaten. Wir beiden blieben übrig, meine Mama und ich. Genau durch diese schlechten Erlebnisse haben wir uns sehr viel mehr lieb als vor dem Unfall.
In einer halben Stunde kehrt meine Mutter, die Stephanie Tamara heißt, wieder heim. Ihre beiden Putzjobs gingen durch die Nacht hindurch. Der Letzte endete um fünf Uhr in der Früh. Damit wir zusammen essen konnten, machte ich seit unserem Einzug in unserer kleinen Wohnung das gemeinsame Frühstück. Es traf sich meist sehr gut, dass Mama erschöpft am Tisch saß, weil ich, seit ich Denken kann, eher ein Morgenmuffel bin. Doch merkte ich oft, wie stark meine Mama mit sich kämpfte. Deshalb wollte ich auch meinen Teil zum Leben beitragen, damit sie es leichter ertrug, was uns widerfahren war. Beim Frühstück musterte sie mich oft und lange, bevor sie mit dem Essen begann. Früher bestand sie oft auf ein Tischgebet. Als ich sie neulich fragte, warum sie nicht betete, flüsterte sie mir zu, dass sie an den nicht mehr glaube. Auch meine Mutter hatte sich stark verändert. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich immer mal wieder, wie meine Mama sich an ihrer blauen Kaffeetasse festhielt und jeden Fleck an mir genau musterte. Nie runzelte sie die Stirn dabei. Ab und an lächelte sie mich ganz leicht an. Erst glaubte ich daran, dass es ihr einfach leicht fiel. Mittlerweile jedoch, war ich mir sicher, dass sie sich durchrang, mir das leichte Lächeln vorzuspielen. Vielleicht traute sie mir nicht über den Weg, vermutete ich häufiger, als es mir lieb gewesen war. Ab und zu fragte sie mich, wo ich mich tagsüber herumtollte. Manchmal ertappte ich meine Mama dabei, wie sie mich anstierte, versuchte, mich zu durchschauen. Doch mir war ganz klar, dass die halbe Wahrheit besser für uns war. Warum? Weil ich mir dachte, sie würde sich die Schuld geben. Ihr Weinen weckte mich manche Nacht aus dem Schlaf. Letztes Mal schaffte ich es nur leicht die Augen zu öffnen. So einen kleinen Spalt nur. Gebeugt saß meine Mutter über einem Foto und strich ganz zärtlich darüber. Deshalb wollte ich ihr nicht von meinen abwechslungsreichen Freizeitbeschäftigungen erzählen. Nach unseren schweren Rückschlägen verstand ich ihre Aufmerksamkeit auch. Mir ging es ähnlich. Nur verrieten mir ihre grünen Augen, dass es pure Zuneigung ausdrückte, die mir zu teil wurde. Manchmal hörte ich ihr Schluchzen im Bad, bevor ich die Wohnung verließ.
Mit meinen dreizehn Jahren fand ich schon, dass ich meiner letzten Familienangehörigen beistehen musste oder auch sollte, wo und wann immer ich konnte. Mein damaliger Entschluss aus meiner kompletten Zeit, wie ich sie gerne nannte, alles zu retten und darauf aufzubauen, statt wieder und wieder von sogenannten Freunden belogen und betrogen zu werden, bedurfte viel Zeit. So, und nun los und diesen Tag bezwingen. Ich stand flugs auf, zog die Bettdecke und das Kopfkissen beiseite, um für meine Mama das Bett zu bereiten. Unser Budget war zu klein für eine Wohnung mit zwei Zimmern und somit auch leider kein Geld vorhanden für zwei Betten. Heute freute ich mich, meine frisch gewaschenen Jeans, meine Blümchenbluse, die selbstgestrickten Socken, meinen BH und den blauen Slip anziehen zu können. Glücklicherweise benötigte ich nicht sehr viel Kleidung. Mama staunte, warum ich nicht quengelte, zu wenig anzuziehen zu besitzen, wie ich es in damals genossen hatte. Jeden Tag etwas anderes herauszusuchen oder mit meiner Nanny einzukaufen, damit ich wieder neue Kombinationen ausprobieren konnte. Das Prinzessinnendasein war eben beendet. Solange meine Sachen sauber und nicht kaputt waren, störte es mich nicht mehr, wenige Auswahl zu haben.
Dienstag und Freitag stand Sport auf dem Schulplan. So brauchte ich meine Sportutensilien in diesen Tagen nur einmal zu waschen. Gänsehaut breitete sich bei der frühen Kälte über meinen Rücken aus. Schnell rannte ich durch die ungeheizte Wohnung ins Bad. Dort angekommen, bibberte ich schon wieder. Nur kurze Zeit später klapperten meine Zähne manchmal so laut, dass es mir schwerfiel, meine Beißerchen zu putzen. Im Waschbecken ließ ich handwarmes Wasser ein und nahm meinen grünen Frotteewaschlappen, um mich zu waschen. Danach hängte ich den grünen Lappen zum Trocknen auf und legte das Handtuch für Mama schon bereit. Schnell anziehen, damit ich pünktlich bei Mamas Heimkehr fertig wurde, schoss es mir durch den Kopf. Die Wohnung heizten wir nur am Nachmittag, weil die Gasrechnung sonst zu hoch wurde. Auch daran gewöhnten wir beide uns fix.
Der Tisch sah fertig gedeckt aus, der Wasserkocher brodelte und die beiden Tassen mit je einem Teebeutel darin standen für den Aufguss bereit. Jeder bekam eine Scheibe Toast mit Kräuterquark. Als Nachtisch, auf dem Mama bestand, teilten wir uns meist einen Apfel. Ich durfte mir immer zwei Stückchen Zucker in meinen Tee nehmen. Meine Mama sagte, dass ich das für mich brauchen würde. Manchmal leisteten wir uns eine Tafel Schokolade oder auch mal eine Packung Wurst. Obwohl Mama fleißig war, haushalteten wir beide streng mit dem Geld. Für uns war das wichtigste Ziel die letzten hundert Euro der aufgetürmten Schulden loszuwerden. Das Klacken im Schloss der Wohnungstür kündigte endlich meine Mama an. Hoffentlich durchlebte sie keinen allzu schweren Arbeitstag. Obwohl es eigentlich Arbeitsnacht heißen müsste. Irgendwie trieb es mich heute, meine Mama zur Begrüßung zu umarmen. Erwartungsvoll wartete ich am einzigen Tisch, um sie zu empfangen. In der Tür erschien ihre Person, diese große blonde Frau mit den grünen Augen. Grün waren auch meine Augen. Wir sahen uns beide ähnlich. Jedoch hatte ich dunkle lockige Haare, während Mama blonde glatte Haare hatte.
Früher ließ sie sich auch alle zwei Wochen Locken beim Frisör eindrehen. Dann sahen meine Eltern echt super aus. Aus dem Gesicht von dieser recht großen Frau sprach schier endlose Müdigkeit. Sofort ging ich ihr mit drei Schritten entgegen. Doch während ich sie umarmte, bevor sie sich ihrer Jacke entledigen konnte, brummte sie mich an. Es war ein heilsames beruhigendes Brummen. Ihre Hände legten sich auf meinen Rücken, strichen darüber, um mir den Kopf zu halten. Dann küsste sie mich zweimal. Das war ein gutes Zeichen, weil ich wusste, dass es nicht ganz so schlimm gewesen war, diese Nacht.
In den vergangenen zwei Jahren arbeitete meine Mutter ununterbrochen. Immer mehr Sorgenfalten fanden nicht mehr den Weg zurück ins flache Antlitz. Sie wirkte härter, nicht mir gegenüber, sondern im Umgang mit anderen Menschen. Aus einer strengen und sehr angesehenen Mutter, die mir versuchte, Benimm und Anstand einzubläuen, verkehrte sich ihr Bild und Benehmen in den letzten drei Jahren. Aus der halben Gouvernante mutierte meine Mutter zu einer beinahe liebebedürftigen Mama. Als ich sie vor einem Jahr beim Kuscheln und Trösten das erste Mal so nannte, waren ihr die Tränen über die Wangen gelaufen. Wie auch bei der Beerdigung von Papa erlebte ich meine Mutter sensibel und ganz weich. Solche Gefühle waren für mich noch mit sieben Siegeln versehen. Damals biss ich die Zähne zusammen, weil uns einfach viele sogenannte Freunde bereits die kalte Schulter gezeigt hatten. Doch auch alle meine sogenannten Freundinnen ließen mich letztendlich fallen. Mich bekümmerte das dauerhaft, weil Freundschaft für mich etwas Persönliches ist. Meine Oma und mein Opa erklärten mir das, als ich sechs Jahre alt war. Mir imponierten ihre Erzählungen über ihre Freunde. Freundschaft bedeutet Aufwand an Zuneigung und Verständnis, predigten beide mit all den wundervollen Geschichten. Dafür bekommt man Liebe und Zuneigung geschenkt.
Deshalb bemühte ich mich noch viel mehr um meine Mama. Doch seit ich mich in der Hausarbeit einbrachte, stritten wir nur über einen Punkt. Ihre sich wiederholende Erschöpfung bewies, warum ich darauf bestand, Pflichten mit ihr zu teilen. Jedoch wiegelte sie oft, ohne nachzugeben, meinen Wunsch ab. Zeitungen auszutragen, schlug ich vor. Für meine so fürsorgliche Mutter galt es als No-Go momentan, dass ich nebenbei Geld verdiente. Ganz oben auf ihrer Liste stand, dass ich meine Schule erfolgreich beenden sollte. Den Kompromiss akzeptierte ich mit den Zähnen knirschend. Wir beide hielten mittlerweile zusammen, wie Pech und Schwefel.
Ja, unsere Wohnung bestand aus einem kleinen Flur, wo unsere beiden zwei Paar Schuhe und der Müll standen, einer winzigen Küche und einem Zimmer mit einem kaputten Ofen, unserem Bett, einem Tisch und zwei Stühlen. Zwei Geräte stellten für uns beide den größten Besitz dar, der Ölradiator und die Waschmaschine. Unsere Schätze bedeuteten uns viel. Sauber hielten wir natürlich unsere jetzige Wohnung. Oft stank es aus den anderen Wohnungen in diesem Wohnblock. Alkohol, komisch stinkender Qualm vermischte sich oft mit Erbrochenem. Im Bad konnte nur eine Person entweder duschen oder auf die Toilette gehen. Früher genossen wir die drei Bäder des riesigen Hauses und auch unsere eigene Sauna war im Keller ein toller Luxus. Doch machten wir aus unserer jetzigen Situation das Beste. Glücklicherweise wurde keiner von uns in den letzten Monaten ernsthaft krank. Meine Mama saß gerade am Tisch, beobachtete mich intensiver seit einigen Tagen. Wir kauten gerade an unserem Toastbrot, als sie mir eine Frage stellte.
„Anda, hast Du eigentlich eine Freundin oder einen Freund? Du erzählst so wenig.“, flüsterte sie mir zu.
Ein wenig überrascht, überlegte ich und antwortete gespielt beiläufig: „Nein, na ja, bekannt halt, aber nicht befreundet.“
„Schatz, wir alle brauchen Freunde. Ich bin dir zu wenig und zu alt. Überwinde dich doch. Vergiss die schlechten Freunde, ja? Wir sind zwar nicht reich, aber du kannst auch gerne jemanden mitbringen. Demnächst feierst du deinen großen Geburtstag. Ungerne würde ich den mit dir alleine feiern.“
„Du reichst mir aber.“, hoffte ich, dass sie es dabei beließ.
Natürlich tat meine Mama das nicht, tätschelte meine linke Hand: „Nein, bin ich wirklich nicht. Und ich möchte auch, dass du in deiner, bis jetzt so unglücklich verlaufenen Jugend, mehr erlebst. Lebe, mein Schnuffel.“
„Gut, aber ich kann nichts versprechen oder zusagen.“, grinste ich aufmunternd und ein wenig frech, um sie zu beruhigen.
Schon war unsere Stimmung viel lockerer. Sie hörte nicht auf zu lächeln und biss noch einmal ab. Vermutlich wollte meine Mama mir eine Überraschung bereiten. Fand ich lieb, aber unnötig.
„Dann geh meine liebe Anda. Geh zur Schule, ich räume auf.“, entließ sie mich in die kalte Welt da draußen.
Schnell zog ich mich an, denn bis zur Schule erstreckte sich mein Fußweg von fünfzehn Minuten bis zur Schule. Und der erwies sich als nicht ganz ungefährlich. Zweimal schon entkam ich den Gangs meiner Schule. Es gab sieben oder acht, so genau wusste ich das auch nicht genau. Nur wollte ich definitiv nicht in diese Szene hineingeraten. Kurz dachte ich damals nach, als ich gerade noch so fliehen konnte, ob es nicht vielleicht besser wäre, ihnen nachzugeben. Seitdem entschied ich mich eher, den langen Weg über die Hauptstraßen zu nutzen. In diesem Herbst bestaunte ich bei jedem Gang die ganzen Menschen und die Lichter der Weltstadt Berlin. Viele Menschen schwirrten aus, um zu ihrem Job zu gelangen oder nach Hause zu fahren. Es gab ganz viele Unterschiede zu entdecken. Alte und junge, helle und dunkle, große und kleine, schnelle und langsame. Auch die Kleidung war vielfältig und bunt gemischt. Ich fand das immer wieder spannend. Aufmerksam ging ich möglichst unauffällig durch die eilig hetzenden Menschen. Obdachlosen begegnete ich auch. Nachdenklich verstand ich dann, wie viel Glück im Unglück wir dennoch gehabt hatten. Jede der vergangenen schweren Entscheidungen führte uns in diese Stadt. Wir hatten ein Dach über den Kopf. Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. München beeindruckte mich durch die Größe, aber diese Stadt setzte noch etwas obenauf.
Heute, Montagmorgen stand zuerst Deutsch und danach Geschichte auf dem Stundenplan. Seit der letzten Schule in München hielt ich mich ganz und gar mit aktiver Beteiligung zurück. So fuhr ich viel besser, bin unauffälliger und gerate nicht an Idioten, die mich schikanierten. Oder an neidische Mitschüler oder -Schülerinnen. Als Streberin eckte ich in München dauernd an. Selbst die Lehrerin hatte ich anscheinend genervt. Viele geistig schwächere wissen sich nur mit Gewalt, Respekt zu verschaffen. Hier in der Schule, die ich eben nach zwanzig Minuten betreten hatte, lebte ich nach Vorschrift. Auch im Sport zeigte ich nicht mein ganzes Können. Tat so, als hätte ich Probleme in Französisch und Englisch alles zu verstehen. Nicht mehr und auch nicht weniger als ein leicht doofes Mädchen zu sein. Sobald allerdings die Schule aus war, verschwand ich dreimal in der Woche in die Bibliothek. Dort las ich dann bis um fünf. Es war warm, es gab irre viele spannende Bücher zu entdecken. Die Sitzecke mit ihren Sesseln und der Couch lud zum Lümmeln ein. An den anderen beiden Tage versuchte ich, Sport zu treiben. Selbstinszeniertes Ballett und Schwimmen standen auf meinem Plan. Mit diesen Nebenbeschäftigungen half ich meiner Mama ungemein, damit sie ausreichend schlafen konnte. Diese Ruhe baute sie für die nächste anstrengende Nacht auf.
Anfangs meldete ich mich gleich in der Schülerbibliothek an, doch mittlerweile ging ich dreimal wöchentlich in die Stadtbibliothek. Einmal tuschelten viele hinter meinem Rücken. Auch in der Bibliothek lagen hinterhältige kleine Monster auf der Lauer. Hinzukam, dass sie viele Bücher nur in Deutsch vorrätig hatten. Schließlich las ich diverse Schulbücher im Original. So verlor ich niemals meine tolle Bildung, die ich vor dem Tod Papas erfahren hatte. Französische und auch englische Bücher zu lesen, machte mir wirklich Spaß. Spanisch holperte noch ein wenig. Natürlich verriet ich mein Geheimnis niemandem, auch nicht Mama. Letzten Freitag zwinkerte mir eine Blonde lächelnd zu. Sie kam mir bekannt vor. Zwar konnte ich sie nirgendwo einordnen, aber ich würde mich endlich mal bewusst umsehen, um sie einordnen zu können.
Die Gänge in der Schule würden sich erst noch füllen, weil erst in einer halben Stunde der Unterricht begann. Auch eine Vorsichtsmaßnahme, um nicht in die Fänge irgendeiner blöden Gang zu geraten. Ich nahm in der rechten und dritten Reihe meinen Platz am Fenster ein. Mit dem Rücken zum Raum starrte ich in Gedanken versunken hinaus. Als sich fünf Minuten später ein Mädchen neben mich setzte, wunderte ich mich darüber nicht mehr. Der Platz neben mir, war frei geblieben. Das Mädchen zwinkerte mir genauso zu, wie an diesem letzten Freitag in der Bibliothek. Die blonde und blasse Mitschülerin fiel mir schon einmal kurz auf, weil auch sie sich bemühte, wegen aller Probleme mit anderen Schülern und Lehrern einen weiten Bogen um jeden zu schlagen. Kein einziges Mal ertappte ich sie dabei, einem Jungen nachzusehen oder mit ihm zu flirten. Sie packte ohne zu Zögern ihre Unterlagen aus.
Dann drehte sie sich zu mir um und hauchte beinahe: „Hallo, ich bin Josephine.“
Mein Zögern verunsicherte sie zunehmend, weil ich abwog, dieses Angebot anzunehmen. Zu oft hatte ich in der Vergangenheit Herzschmerzen oder blaue Flecken wegen der Abweisung falscher Freunde erlebt. Genau deshalb verhielt ich mich sehr vorsichtig, beim Verschenken meiner Freundschaft. Wie viele Narben mein Herz jetzt schon ertrug, wusste ich nicht mehr, weil es einfach zu viele gewesen waren. Nach einer gewissen Zahl, weinte ich nicht mehr. Je öfter dies passierte, verzweifelte meine Mama mehr und mehr. Anfangs weinte ich bitterlich, doch lernte ich, dass es alles nichts half. Die meisten Menschen verhielten sich eben egoistisch. Das Wort suchte ich in einem Lexikon. Das Kuscheln mit meiner einzigen Familienangehörigen beschwichtigte uns beide in diesen Stunden.
Doch meine morgendliche Unterhaltung mit Mama hallte noch einmal nach: „Miranda heiße ich.“
„Außergewöhnlicher Name. Gefällt mir. Klingt geheimnisvoll. Ich heiße Jospehine“, erwiderte meine neue Sitznachbarin flüsternd.
Dann schwiegen wir fünf kurze Minuten, während sich der Klassenraum füllte. Verdammt. Ich kämpfte mit mir. Fühlte sich diese Begegnung gut an? War dieses Mädchen neben mir ehrlich? Hegte sie Hintergedanken? Plötzlich erinnerte ich mich an sie bei meinen Bibliotheksbesuchen der letzten zwei Wochen. Deshalb kam sie mir bekannt vor. Oft erspähte ich nur ihren Rücken oder ihr Profil.
„Du warst letzten Freitag auch in der Bibliothek, stimmts?“, hörte ich mich flüstern.
Ein leichtes Aufstöhnen der Erleichterung vernahm ich von Josephine. Wirklich? Sie schien unsicher gewesen zu sein. Oh nein, wegen mir oder quälte sie etwas? Welches Schicksal verbarg sie? Warum setzte sie sich neben mich? Niemand hier wollte neben mir sitzen. Meine Vorsicht und mein Argwohn nährten meine Verschlossenheit. Trotzdem keimte in mir ein Gefühl, einen neuen Freund gefunden zu haben. Jemand, der mein Schicksal teilte? Dieses Herz in mir jubelte verhalten. Natürlich drängte es mich, mehr Sicherheit zu finden. Bevor ich jedoch zu einem Gespräch ansetzen konnte, begann der Unterricht schon vor dem Klingeln, weil der Lehrer eine Ansprache halten musste. Das Übliche eben, Zurechtweisung der Mitglieder beider Jungen-Gangs und der Mädchen-Gangster in unserer Klasse war an der Tagesordnung. Wieder einmal kam es laut Vortrag zu Auseinandersetzungen vor der Schule. Eine arabische und eine russische Gruppe bekämpften sich wegen nichtiger Differenzen.
In der kleinen Pause sprach mich Josephine an: „Du fragst dich, warum ich mich zu dir gesetzt habe?“
Ich nickte überrascht und sah in ihre grünen, ein wenig glänzenden Augen. Ihre blonden Haare wirkten dünn. Mit dem blassen Teint schwante mir bereits, dass Josephine krank sein musste.
„In dieser Klasse bist du doch mit Abstand die Klügste. Und ich vermute mal, auch die Anständigste.“, holte mich ihr Lob schlagartig ein.
Wie kam sie eigentlich darauf dass ich die Klügste hier sein sollte? Woher wusste sie das. Verlegen betrachtete ich meine Nachbarin, weil ich herausfinden wollte, was ihr eigentlich fehlte und wie sie auf ihre annahm gekommen war. Würde sie diese Erkenntnis nutzen, sich Vorteile bei den anderen hier zu ergattern? Wie die blöde Marie in München? Oder warum schmierte sie mir Honig ums Maul? Steckte eine sonst mir nicht bekannte Absicht dahinter? Jetzt wartete sie doch noch auf meine Antwort.
„Wie kommst du darauf?“, fragte ich beinahe zischend.
Sie drückte mir einen Corny in die Hand. Ihr Lächeln überraschte mich. War das ein Freundschaftsangebot? Ich nahm den Corny, packte ihn aus und teilte ihn in zwei Hälften. Aufmerksam beobachtete sie meine Tat. Sie liebte es anscheinend, Geheimnisse zu erkunden. Das fand ich auch spannend, es reizte mich etwas zu spielen. Warum, weiß ich partout nicht.
„Weil du in dieser Klasse die Klügste bist. Ich habe gesehen, dass du Hunger Games im Original liest.“, gab sie ehrlich zu.
Oh verdammt. Hoffentlich verrät Josephine mich nicht. Nervös suchte ich in ihrem Gesicht nach Anzeichen danach ab. Gedanken purzelten übereinander, Erinnerungen quälten mich wieder einmal bis in die Haarspitzen. Kurz blickte ich mich verstohlen um, doch niemand nahm Notiz von den beiden Außenseiterinnen. Mir war vollkommen klar, wenn sie mich erpressen würde, müsste ich wohl oder übel nachgeben. Trotzdem wählte ich den Softieweg.
„Okay. Mag sein, aber verrate es niemandem.“, flüsterte ich angestrengt.
Meine neue Nachbarin antwortete: „Abgemacht. Ich verrate dir auch, was mit mir nicht stimmt. Nachher in der großen Pause, okay?“
Ihre Hand legte sich ganz leicht auf meinen Arm, was einen warmen Schauer durch mich hindurch jagte. Eine Verschwörung durfte das nicht werden. Sofort nickte ich. Als ich sie ansah, bemerkte ich eine leichte Röte auf ihren Wangen. Dann schossen mir Horrorszenarien durch den Kopf. Wenn sie nun das trojanische Pferd war, welches eine Falle für anderen Hintermänner sein sollte, wäre ich geliefert. Oft genug erfuhren Mama und ich hinterhältige Verhaltensweisen in den letzten Monaten. Vielleicht wurde sie auch erpresst, damit ich irgendwas preisgeben sollte? Bis dato bettelte sie nicht um das berüchtigte erste Treffen nur zu zweit. Immer wieder dachte ich während des langweiligen Geschichtsunterrichts darüber nach, warum Josephine auf mich aufmerksam wurde. Frau Schielmann erzählte monoton und nicht einmal wirklich interessiert über das Thema Humanismus. Für mich war dies eine spannende Zeit in der Geschichte. Allerdings erzählte unsere Geschichtslehrerin nichts Neues. Kaum war die Stunde um, schnappte ich mir meine Unterlagen und meinen Rucksack und verdrückte mich zuerst auf die Toilette.
Nach fünf Minuten des Zusammenreißens wagte ich mich in die Aula. Dort suchte ich nach Josephine, die in einer weit entfernten Ecke weitab unserer Mitschüler saß und enttäuscht in einem Buch versunken las. Natürlich warf ich mich nicht an die Verkaufstheken, wo einem üble Dinge widerfahren konnten. Mamas Geld vergrub ich tief in meiner Unterwäsche. Als ich mich meiner neuen Sitznachbarin langsam näherte, mied ich jedweden Blickkontakt zu allen anderen Mitschülern. Schließlich stand ich an ihrem verwaisten Sechsertisch. Allein versteckte sich Josephine vor den anderen, der halbe Tisch voll von Abfall der älteren Schüler vom Nachbartisch. Ganz vorsichtig setzte ich mich ihr gegenüber hin. Als sie aufsah, weiteten sich ihre Augen und zwei Augenblicke später bewegten sich ihre Lippen aufwärts. Ein Funken Hoffnung glomm in ihren Augen. Wärme durchströmte mich, weil ich mich selbst gut in sie hinein versetzen konnte.
„Ich war nur austreten. Alles okay?“, fragte ich gespielt normal aber cool.
Sie setzte sich aufrecht hin, legte das Buch in ihren Schoß und atmete unregelmäßig, als sie leicht stotterte: „Ich da da dachte... du... du rrrrnntest“
„Alles okay, Josephine? Ich bin kein Arschloch, keine Panik.“, nahm ich ihre rechte Hand und spürte ungewohnte Kälte.
Leicht streichelte ich daraufhin beide Hände. Das ängstigte mich allerdings schon. Aber sie beruhigte sich ein wenig. Dann musterte ich sie. Sie trug bluestoned Jeans und einen warmen Pullover mit gelben und roten Streifen in verschiedener Dicke mit einem Rundkragen. Darunter lugte der Kragen einer ganz weißen Bluse hervor. Der kleine runde Kragen schien sehr weich zu sein. Leicht erkannte ihre eigentliche Schönheit. Deshalb verfiel ich ihrem Charme nicht, aber es machte sie sympathisch. Ihre Kleidung fand ich viel zu warm. Ich spürte ihren Blick auf meine Augen gerichtet. Sie schluckte zwei Male.
„Ich bin krank. Deshalb muss ich mich warm anziehen.“, erklärte sie mir, schob mir zitternd einen roten Ausweis zu.
Andächtig nahm ich das eingeschweißte Dokument in Form einer Kreditkarte. Das große Emblem deutete darauf hin, von der Deutschen Herzstiftung zu kommen. Beinahe schnürte es mir den Hals zu. Ich sah in die ängstlichen Augen Josephines. Ganz behutsam las ich weiter. Groß in der ersten Zeile stand ihr Name. Josephine Vierler, 14 Jahre, ICD 25.3, aufgelistete vier Medikamente und eine irre Liste an Hinweisen samt den zu behandelnden Ärzten. Als sich ihr schockähnlicher Zustand immer noch nicht änderte, lächelte ich ihr zuversichtlich zu. Gleichzeitig flog eine leere Schachtel auf unser Essen. Zwei Servietten purzelten dadurch auf die benachbarten Stühle. Einer dieser Idioten, die sich nie benahmen, leckte obszön zu Josephine grinsend über seinen Mittelfinger. Ein Mädchen an dem selben Tisch errötete tief, als ich sie verächtlich ansah. Bestimmt konnte ich das genauso gut wie Mama. Bei ihr fürchtete ich mich davor, dass dieser Blick einmal mir gelten würde. Weg hier, dachte ich nur. Ich kannte einen Raum, der nicht abgeschlossen wurde und meist leer war. Sofort forderte ich Josephine auf, mir zu folgen. Sie stand mit mir auf, ging ohne ihr Tablet zum Ausgang.
Der Raum zum Nachsitzen gab mir oft die Gelegenheit, zu entfliehen. Falls mal wieder jemand auf mich angesetzt wurde, mich zu schikanieren, erkundete ich neuerdings solche Rückzugsgebiete aus. Angewöhnt hatte ich mir das in München. Nach dem dritten Mal einer ausgewachsenen Handgreiflichkeit gegen mich suchte ich mir Rückzugsflecken. Deshalb bedeutete so ein Raum Sicherheit für mich. Zwei Treppen hinauf, dann links und einmal um die Ecke führte ich meine Mitleidende zum Ziel. Erst sah ich hinein. Keiner drinnen. Der Raum war leer. Unschlüssig blieb Josephine davor stehen. Letztlich zog ich sie einfach hinein. Dann schloss ich die Tür. Josephine zitterte am ganzen Körper.
„Nichts zu befürchten. Das ist das Nachsitzzimmer.“, beruhigte ich sie.
Ich konnte Josephine doch so nicht herumlaufen lassen. Also stellte ich meinen Rucksack ab und ihren gleich mit. Ihr gab ich ganz fix den wichtigen Ausweis zurück. Sie weinte ganz leise los. Ein wenig hilflos entschied ich mich, sie zu umarmen. Josephines Erleichterung wirkte für uns beide befreiend. Mein Hals war ganz frei. Zwei Tränen liefen mir trotz der geklärten Situation die Wangen hinab. Wie beschissen war diese Welt, dass ein schwerkrankes Mädchen in der Schule fürchten musste, durch ihre schwere Krankheit gemobbt zu werden? Selbst Ausgrenzen geht gar nicht. Josephine wischte sich mit ihren Ärmeln über das einsetzende lächelnde Gesicht. Genau in diesem Augenblick empfand ich Glück. So ein ganz kleines Tröpfchen. Machte Lust auf mehr. Endlich reifte die Erkenntnis, alles richtig gemacht zu haben. Wir trauten uns, ein Grinsen zu riskieren. Man weiß nie, was gleich passieren würde. Vielleicht ist diese Welt doch nicht so abgrundtief mies. Wir saßen uns gegenüber. Sie seufzte noch einmal herzergreifend, wankte merklich zwischen Erleichterung und Kummer hin und her. Also ergriff ich mutig das Wort.
„Hab keine Angst. Ich bin nicht, wie die anderen Idioten. In gewisser Weise ist auch mein Herz krank. Wir können uns ja vertrauen. Kommst du heute nach der Schule in die Bibliothek?“
Kaum hatte sie lächelnd genickt und ein Buch herausgeholt, öffnete sich die Tür. Ein Lehrer blickte in das Klassenzimmer.
„Was macht ihr beiden denn hier?“, fragte unser Sportlehrer.
„Sie gibt mir etwas Nachhilfe.“, sprang Josephine ein und drehte sich zum Lehrer um.
Der Sportlehrer verharrte ganz still und beobachtete uns.
„Ah du bist es. Alles in Ordnung Josephine?“, klang auf einmal ganz warm und fürsorglich.
Josephine nickte und ein Strahlen breitete sich aus. Konnte ich genau sehen, sogar rückwärts. Das erste Fröhlichsein in dieser Schule.
„Kann ich dich mal in der großen Essenspause sprechen? Wie war dein Name? Mira, glaube ich mich zuerinnern? Melde dich im Sekretariat, ja?“, ging seine Bitte an mich.
Überrascht nickte ich. Natürlich kannte er meinen Namen nicht. Eigentlich unterrichtete uns Mädchen eine Sportlehrerin. Außerdem tarnte ich mich im Sportunterricht als ein wenig unsportlich. Niemand sollte erahnen, dass ich richtig tollen Reitunterricht genossen hatte. Auch der Ballettunterricht bereitete mir früher sehr viel Spaß. Zwar wehrte ich mich gegen diese harten Methoden, weil ich es auch ohne diese fiesen Regeln schaffte. Meine Erinnerungen komplettierte das Schwimmen im See hinter dem Haus, was mir im Sommer Abkühlung verschafft. Der einzige Luxus, der geblieben war, betraf das Schwimmen, wofür Mama mir eine Apanage zurücklegte. Als der Sportlehrer ging, lächelten wir uns beide zufrieden an. Ich glaubte bereits, dass es vielleicht der Beginn einer Freundschaft zwischen uns war.
„Du hast uns vor einem Anzählen gerettet. Wie lange bist du schon auf diesem Gymnasium“, fragte ich.
Sie holte Luft und antwortete erleichtert: „Seit einem Jahr.“
„Na ja, erst zwei Monate dann sollte die erste OP erfolgen. Leider ging es mir nicht gut. Ich gebe mir Mühe hinterherzukommen. Lernen im Krankenhaus ist nicht einfach. Aber die Schwestern und meine Mutter helfen mir. Meine ältere Schwester arbeitet in Hamburg, wir telefonieren viel, aber sehen uns sehr selten. Sie ist in einem Hotel angestellt.“
„Okay. Dann sind wir beide beinahe Frischlinge.“, tippte ich mir nachdenklich mit meinen linken Zeigefinger auf meine Lippen.
Josephine kicherte.
„Das sieht niedlich aus, wenn du nachdenkst.“, erklärte sie.
„Hab ich von meinem Papa geerbt.“, offenbarte ich.
Schließlich forsteten wir noch einmal den Stundenplan durch und quälten uns zu unserem Chemie und Mathematik Marathon. Wobei Josephine, wie ich erfahren hatte, richtig gut in Mathematik war. Das kam mir wie gerufen. Wie toll, ich fand eine neue Freundin. Als Belohnung verstand sie Dinge, welche für mich mystisch gewesen waren. Auch Mama benötigte Zeit sich einzudenken. Glücklichsein erlebte ich also seit langem einmal ohne meine Mama. Große Pause Nummer zwei, die Aufforderung des Lehrers drängte mich ins Lehrerzimmer zu verschwinden, wie versprochen. Mit Gedanken an irgendwelche nicht existenten Vorfälle meldete ich mich im Sekretariat, wo mir Frau Salmeier in üblicher Strenge mitteilte, mich umgehend im Lehrerzimmer zu melden. Sie schüttelte dann gewohnt missbilligend den ergrauten Kopf mit dem perfekt sitzenden Bob. Kurz hielt ich inne. Diese Türen waren und sind mir immer ein Graus für einen Schüler. Einmal wussten wir kleinen Menschen nie, was dahinter passierte und andererseits kam es mir wie ein Gefängnis vor. Oder ein Gerichtssaal. Dann klopfte ich an. Die Tür öffnete sich und der Sportlehrer bat mich freundlich hinein an einen der drei Tische. Dort scharten sich noch zwei weitere Lehrer. Einer war der Vizedirektor. Mir wurde mulmig. Der Sportlehrer musterte mich intensiv. Reaktion ein sehr seltenes, angedeutetes Lächeln.
„Keine Sorge. Wir möchten nur kurz mit dir reden“, klang doch viel beruhigender.
Während der Sportlehrer in einer ziemlich schicken sportlichen Kombinationen durch die Flure der Schule brauste und jeder Schüler ihm gebührenden Respekt zollte, zeigte der Vertrauenslehrer Herr Müller in seinem üblichen blauen Anzug ein ganz anderes Bild. Obwohl ich damals ganz sicher war, dass er mindestens drei dieser Anzüge besaß. Den heutigen nannte ich London, weil der wirklich sehr nach London ausschaute. Neben ihm wartete einwenig ungeduldig der Vizedirektor, der den Ruf genoss, ungewöhnlich streng in seiner Agenda den Tag zu verleben. Zuspätkommer rügte er sehr leidenschaftlich. Andere wiederum berichteten, dass er fair zu allen gewesen sein soll. Bei einigen erhielt der den Spitznamen Salomon. Sein Gesicht sah total durchschnittlich aus, mit einer ergrauten Halbglatze und buschigen Augenbrauen. Meine Erleichterung basierte hauptsächlich auf seinem Gesicht, weil keine Zornesfalten oder eine gerümpfte Nase sichtbar waren. Meine Nervosität flaute ein wenig ab, als der Vizedirektor mich milde anlächelte.
Er begann auch gleich: „Mir... rinda, richtig?“
„Ja. Miranda Rudzky.“, stammelte ich zustimmend.
„Sehr gut. Schön“, räusperte sich der Vizedirektor.
„Habe ich doch gesagt, dass wir ein nettes Mädchen gefunden haben.“, tätschelte mir der Vertrauenslehrer seltsam kindlich den Arm.
Der Sportlehrer fuhr ansatzlos bei diesem Verhör fort: „Wir wollen mit dir über Josephine reden. Du weißt, wen wir meinen?“
Es platzte frech aus mir heraus: „Das blasse blonde Mädchen, bei der das Bumbum stolpert?“,
Seltsame Ruhe begegnete mir, weshalb ich mich räusperte. Alle merkten, dass sie ganz schön daneben gelegen haben. Mädchen in meinem Alter können durchaus sehr viel seriöser oder eben erwachsener sein, als diese Herren es angenommen hatten. Komischerweise errötete mein Vertrauenslehrer merklich. Mein einsetzendes unschuldiges Lächeln entspannte diese missverständliche Lage.
Daraufhin räusperte ich mich mit einer Hand vor meinem Mund und versuchte, den für mich genehmen Ton zu treffen: „Ich bin im Bilde, was Josephine betrifft. Sie hat mir ihren Ausweis gezeigt. So ein schwerer Herzklappenfehler bedeutet nicht nur Einschränkungen, sondern auch Gefahr daran zu sterben. Dabei darf sie keine übergroße Angst oder Aufregung erleben. Auch zu heftiger Sport tut ihr nicht gut. Erinnere ich mich recht, dass sie in ärztlicher Behandlung in der Charite ist?“
Stille. Überraschte Gesichter blickten mich an. Jedes der Gesichter zeigte einen anderen ausgeprägten Zug. Der Sportlehrer war immer noch nach meiner frechen Antwort erschrocken. Der Vizedirektor verzog etwas mürrisch seinen Mund. Herr Müller wiederum grübelte beinahe schon in sich gekehrt. Zum ersten Mal sah er mich interessiert an und dieser warme Ausdruck erinnerte mich an meinen Großvater. Ahnte er, wie falsch er mit mir gelegen hatte oder versuchte, seinen Mangel an Wissen für mich zusammen zu klauben? Weiß er etwa von meinen kleinen Geheimnissen? Meine Mutter hatte mit ihm lange geredet, als sie mich hier angemeldet hatte. Allerdings ging es um meine psychische Situation, die ich längst ad acta gelegt hatte. Zumindest bereitete mir sein Wohlwollen wirklich ein besseres Gefühl.
Der Vize: „Gut. Dann weißt du, welche Verantwortung dir obliegt, falls du unserer Bitte zustimmst?“
„Wir passen auf uns auf. Und ich denke, ich weiß, was ich tun muss, falls es ihr schlechter geht? Das kann ich bestimmt. Habe ich schon zweimal gemacht. Zwar nicht mit Menschen, aber ja, das kann ich bestimmt“, ratterte ich automatisch herunter, um die Sympathie meines Vertrauenslehrers nicht zu enttäuschen.
Mir war klar, dass ich eine Verpflichtung einging. Aber ich war mir mittlerweile so sicher, dass ich das wollte und Josephine auch, dass ich mich ohne zu Zögern dafür entschied. Für uns mutig zu sein. Auch wollte ich, dass es ihr gut ging. Ihr Lächeln tat auch mir gut.
„Also. Ähm. Keine Menschen, was denn dann?“, hakte der Sportlehrer nach.
„Pferde. Eines mit durch eine schwere Geburt auch herzkrank und das andere, dass beinahe nach einem Unfall gestorben war. Manchmal sind Autofahrer unberechenbar und ein bischen doof.“, verriet ich.
Innerlich starb ich gerade. Bei dem Gedanken alle unsere Pferde verloren - besser verkauft - zu haben, brach mir wieder und wieder das Herz. Verillion und Nataliese vermisste ich, weil sie nach meinem Einsatz die ganze Nacht hindurch ein sehr enges Vertrauen zu mir aufgebaut hatten. Damals waren dies die einzigen intimen gemeinsamen Momente mit meiner Mutter vor Vaters Tod.
Alle drei zeigten sich überrascht und der Sportlehrer und der Vizedirektor sagten beinahe gleichzeitig: „Pferde?“
„Ich denke, das reicht uns vollkommen aus. Miranda, du scheinst Josephine zu mögen. Kümmerst du dich etwas um sie? Herr Schmidtlein“, er deutet auf den Sportlehrer, „würde dir gerne noch etwas beibringen, damit du Josephine beim Sport helfen kannst. Außerdem darfst du während der Pausen mit Josephine im Nachsitzzimmer bleiben, wenn ihr es wollt.“
Herr Schmidtlein und der Vizedirektor rafften nun all ihre Punkte der Liste zusammen. Zustimmung ihrerseits zeigte sich durch eine sich ausbreitende Erwartung meiner Zustimmung. Der Sportlehrer hielt kurz inne, dann notierte er etwas auf einem der zahlreichen Zettel, die er mit sich führte. Als er mir diesen gerade geschriebenen Zettel überreichte, stand dort ein Termin in einer etwas krakeligen Handschrift: „Morgen um neun in der Turnhalle mit Josephine.“ Ich nahm den Zettel an mich, faltet ihn und steckte ihn in meine linke Hosentasche. Der Vizedirektor erhob sich zufrieden. Dieses seltsame Gespräch war beendet.
Also ging ich zurück in mein Klassenzimmer. Dort fand ich eine traurige Josephine vor und reichte ihr mit angehobenen Augenbrauen den Zettel. Sie schaute mich fragend an. Als sie den Zettel nahm und diese Handschrift entziffert hatte, kuckte Josephine mit leicht geöffnetem Mund so dermaßen verdutzt, dass ich kichern musste. Automatisch ergriff ich ihre Hand und setzte mich endlich neben sie, um die restliche Pause noch zu genießen.
„Wenn du das möchtest, lass es uns tun.“, flüsterte ich und ernte eine herzliche Umarmung mitten im leeren Klassenzimmer.
In der Bibliothek betrat ich am Abend den kleinen Lesesaal. Links standen die Computer auf den Tischen aufgereiht. An zwei Computern saßen zwei Jungen. Bestimmt beeilten sie sich, ihre Hausaufgaben zu erledigen. Recherchieren nannte man das. Zwei grüne Augen erfassten mich, saugten mich nahezu zu sich. Josephine lächelte, ganz frei von einem Zwang sich zu verstecken. Sofort trugen mich meine Füße entgegen meines Rituals zu ihr an den Lesetisch. Ihre Freude übertrug sich auf mich. Sie erhob sich so ungestüm, dass sie beinahe bei unserer Begrüßung ihren Stuhl umwarf. Sie schluckte und atmete heftig. Ohne es zu wollen, streichelte ich ihr über den Rücken. Langsam beruhigte sie sich.
Josephine flüsterte ganz aufgeregt: „Sie mal, ich habe schon die drei Bücher geholt. Ach, ich freue mich so, dass wir zusammen lernen.“