Ankunft ohne Wiederkehr - Teil 3 - Vicky Lines - E-Book

Ankunft ohne Wiederkehr - Teil 3 E-Book

Vicky Lines

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Beschreibung

Samantha Willer und George Haggerthon durchlebten mit ihren Familien eine Zeit voller Geheimnisse und Aufregungen. Nun hatten beide endlich die Gefahr abgewandt, als der Bruder unerklärlich von der Bildfläche verschwindet. Welche Kräfte gegen und welche für sie wirken, erfahren beide in diesem Teil der Geschichte. Am Ende wird diese Welt der beiden endlich klarer. Gefühle hin oder her, zusammen sind sie stark, oder vielleicht doch nicht? Dieser dritte Teil einer turbulenten Geschichte beginnt vor dem Jahreswechsel ins 2016. Die vorangegangenen Ereignisse prägten alle Beteiligten. Langsam trennen sich die Vorbehalte von der Vorsicht, die Vermutung wandelt zu Wissen und Geheimnisse werden offenbart. Spannung und Aufregung bewegen auch diesen Teil. Allerdings erkennen nur die wenigsten, welche Kraft und Macht die beiden Hauptprotagonisten für ihre Familie einsetzen.

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Seitenzahl: 472

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Zeitverwerfungen:

Für diesen Teil benötigte ich beinahe zwei Jahre, was mir selbst sehr zu denken gab. Jedoch schiebt das Leben oft auch mal Hindernisse in den Weg, die einem zu schaffen machen. Hinzukommen die allseits bekannten Einschränkungen einer weltweiten Seuche, die auch meine Zeiteinteilung im Kopf gehörig durcheinandergewirbelt haben.

Auch an diesem Buch bin ich inhaltlich selbst schuld, ließ aber meine seltsamen Erzählungen mit den irren Verwirrungen und komischen Sätzen von Noah, Gabi und Stephan durchsuchen. Ihr Meckern spornte mich an, wobei es sehr viel weniger zu meckern gab.

Nun aber los. Auf zur fast letzten Schlacht der beiden Schnuffel.

Impressum:

Alle Personen und Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden und beruhen aufmeiner eigenen Fantasie.

Texte: © Copyright by Vicky Lines 2015, 2016, 2017, 2018, 2019

Umschlaggestaltung: © Copyright by Vicky Lines 2020

Laux, Ernststr. 25, 12437 Berlin, Deutschland

[email protected]

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Abfahrt

Jennifer Haggerthon, Berlin, 25. Dezember 2015, Freitag

Aufgeregt saß ich in Berlin auf dem Bett Samanthas, sah mich neugierig um. Hier lebte eine der ungewöhnlichsten Personen, die mir je über den Weg gelaufen war. Mit geschlossenen Augen watete ich seit einer viel zu langen Zeit durch diese Welt. Keinen Schimmer wohin ich gehörte. Rannte einfach los. Aber diese Frau lehrte mich das Fürchten, erklärte mir das Vertrauen und erweckte in mir das Staunen wieder. Samantha kämpfte heimlich mit uns und für uns, weshalb ich dachte, sie wäre irgendeine Emanze, die meinem Vater den Marsch blasen wollte. So eine der üblichen Tanten, die alles besser wissen. Beinahe selbstverständlich nahm ich an, sie wäre nicht mütterlich oder ein richtiges Mannweib. Je länger ich in ihrer Nähe lebte, desto mehr zerstörte die neue Frau im Leben meines Dads mein so wahnsinnig erwachsenes Weltbild. Erst gestern wurde mir vollkommen klar, welche mögliche Motivation Samantha getrieben hatte. Meinen Fehler begriff ich nur langsam. Wie bescheuert war ich nur gewesen? Samantha schloss sich unserer Familie an. Was mich betraf, verunsicherte mich die Situation recht heftig. Wohin sich die Haggerthons entwickelten, schien mir fragwürdig. Es gab zu viele Ereignisse und Änderungen. Mit einer neuen Frau loderte in mir zeitweise erneut Unsicherheit auf.

Den Bademantel übergeworfen streifte ich durch ihre Wohnung, doch fand ich meine neue Heldin nicht. Sie schien außer Haus zu sein. Im Wohnzimmer betrachtete ich ihre Musiksammlung, als mir eine CD auffiel. Unter einer ganzen Reihe rockiger Titel, bei denen U2 eine der Hauptrollen spielte, zog ich eine heraus, die mich an schlechte Gefühle erinnerte. Das brauchte ich jetzt. Ich setzte die Kopfhörer auf und sang. Bisher fand ich nicht, was ich gesucht hatte. Aber dieser Song beschrieb auch meinen Part in den vergangenen Monaten wirklich gut.

Kodalines – All I wanted:

„Alles, was ich will, ist nichts mehrAls zu hören, wie du an meine Tür klopfst.Denn wenn ich dein Gesicht noch einmal wiedersehen könnte, könnte ich als glücklicher Mensch sterben, da bin ich sicher.“

Salzige Tropfen liefen mir über meine Wangen, weil es meinen Wunsch zu einer mir nahestehenden Person ausdrückte. Meine Mama fehlte mir so sehr.

„Als du mir dein letztes "Auf Wiedersehen" gesagt hast,bin ich innerlich ein kleines bisschen gestorben.Ich lag in Tränen aufgelöst im Bett die ganze Nacht.Allein, ohne dich an meiner Seite.“

Widmete ich meiner Mama. Barbara wurde ermordet. Einfach so, weil meine Eltern ehrlich waren, Prinzipien vertraten, denen ich auch folgen wollte. Aber den rechten Weg verloren hatte ich. Was hätte wohl meine Mum getan und gesagt?

„Aber wenn du mich liebtest, warum hast du mich dann verlassen?Nimm meine Leiche, nimm meine Leiche.Alles, was ich will, ist alles, was ich brauche, istjemanden zu finden.“

Erklärte all meine Klagen an Barbara. All mein Schmerz legte ich hinein. Meine Tränen ließ ich laufen. Die Dämme brachen. Die ewig dauernden Verhandlungen, die Verletzungen meiner Mitschüler, die Entführung träumte ich immer wieder. Mehr und mehr mischte sich Samantha in meine Gefühle.

Zaghaft sang ich das: „Oooohhhh ohhh“

Doch diese Nacht mit dieser Befreiung aus dem Nebel torpedierte meine dummen Annahmen Samantha betreffend. Sammy, die über uns wachte, wie eine Löwin im Saal der Schande vor uns patrouillierte. Uns beide beschützte. Niemand wäre an ihr vorbeigekommen, solange sie gelebt hätte. Tief holte ich Luft. Es befreite mich. Sie tat es nicht nur für Dad, sondern auch für uns, hoffte ich.

„Weil du das Beste in mir zum Vorschein brachtest, einen Teil von mir, den ich noch nie gesehen hatte. Du nahmst meine Seele und wischtest sie sauber. Unsere Liebe war wie für Kinoleinwände gemacht.

Aber wenn du mich liebtest, warum hast du mich dann verlassen? Nimm meinen Körper, nimm meinen Körper.Alles, was ich will, ist alles, was ich brauche, ist jemanden zu finden. Jemanden zu finden.“

Ich sang aus voller Erleichterung, dass ich endlich wusste, wieso ich dumm gewesen war: „Oooohhhh, ohhh.“

„Wenn du mich liebtest, warum hast du mich dann verlassen? Nimm meinen Körper. Nimm meinen Körper.Alles, was ich will, ist alles, was ich brauche, istJemanden zu finden.Jemanden zu finden.Wie dich.“

Samantha war es, die ich vielleicht zurecht in meine Welt hineingelassen hatte, um wieder eine Familie um mich zu wissen. Vermisste ich so sehr diesen Rückhalt, der mich in diese Tiefen gezogen hatte, dass ich nun bereit war, Vorurteile zu überwinden? Das war ein wirklich gutes Gefühl.

Und es ging ganz leicht: „Ooooohhhhhh...“

Jetzt schrak ich zusammen. Im Türrahmen stand Samantha mit roten Augen. Ihre Tränen liefen immer noch. Sie drehte sich um und ging. Entschlossen schlüpfte ich aus dem Bett und stolperte im zu großen Pyjama meiner Gastgeberin hinterher in die Küche. Bereits in der Tür stießen wir beide zusammen. Beinahe wäre ihr das Glas mit dem restlichen Punsch entglitten und eine farbliche Bereicherung für uns geworden.

„Habe ich so schlimm gesungen?“, rutschte es mir heraus.

Samantha mit dem komisch wippenden Dutt schien verloren zu sein. Irgendwo anders. Beeindruckte mich die Sicht auf diese Frau? Auf jeden Fall. Bei meinen Socken suchte ich verlegen nach der alles entscheidenden Antwort. Schließlich ziemte es sich nicht, Samantha auszuspionieren.

Ihre weiche und verdammt besorgte Stimme erlöste uns beide aus dem Dilemma: „Das war beeindruckend schön und erschreckend zugleich. Ich denke über dich und mich nach. Ich kenne solch ungewöhnliches Verhalten, weißt du? Und dahinter stecken oft Gründe, die einem noch nicht klar geworden sind. Aber ich finde dich mutig oder neugierig.“

Spontan stimmte ich ihr zu: „Kann gut sein. Können wir einfach nur darüber reden?“

„Sehr gerne. Eine Bedingung habe ich aber“, drängte sie mich in eine Ecke, die mir unbehaglich zeigte, wie sehr meine Gefühle offen lagen.

„Welche?“, erwartete ich die Androhung von Kopfdoktorgesprächen.

„Wir singen jetzt zusammen. Besser noch, du lässt deine Stimme uns verzaubern. Ich komme nicht zur Ruhe und du auch nicht. Vielleicht schaffen wir es so, unsere Gefühle zu beruhigen. Weißt du, ich singe auch gerne in solchen Situationen. Lass uns vor das Fenster ziehen, um dem viel zu warmen Winter zuzusehen. Erst um elf müssen wir bei meinen Eltern sein“, bereitete Samantha mir eine Möglichkeit, meinem Plan für einen emotionalen Ausgleich zu folgen.

Heftig nickte ich diesem Vorschlag zu, weil es zwei Antworten gab. Die andere Option unterstellte der Berlinerin nicht plausible Gründe. Kaum saßen wir, summte ich Evanescence – „My Immortal“. Nun ließ Samantha den Song auf ihrem Handy abspielen. Wir beide sahen dem ungemütlichen Winter zu. Und ich sang einfach los. So oft ich diesen Titel heimlich geübt hatte, kannte ich Melodie und Songtext auswendig. Immer mehr steigerten wir beide uns in diesen treiben Text hinein. Sie klang stimmlich tiefer, als sie im Refrain mit einstieg. Und sie riss mich mit. Die letzte Strophe jedoch griff die Freundin meines Dads nach mir. Mit mir gemeinsam sang Samantha eindringlich und wunderschön.

„Als du geweint hast, habe ich dir die Tränen weggewischt. Als du geschrien hast, habe ich deine Ängste bekämpftund deine Hand durch all die Jahre gehalten,aber du hast immer noch alles von mir.Alles von mir...Alles von mir…“

Es dauerte keine fünf Minuten, bis wir uns zusammen vor dem Fenster auf die neu platzierte Couch gelümmelt hatten. Mein großer Pott Tee wärmte nicht nur meine Hand, sondern auch meine Seele. Neben mir lag oder saß Samantha. Diese Lockerheit strahlte auf mich ab. Ich fühlte mich richtig wohl. Doch ehrlich gesagt, begann es gestern schon. Der Zwiespalt zu meinem Leben verschwand mit jedem Moment mehr.

„Es tut mir leid, dass ich dir damals wehgetan habe“, rutschte ein Satz aus meinem Mund, den ich viel zu häufig mit mir selbst diskutiert hatte.

Dauernd dachte ich darüber nach. Doch jetzt in dieser entspannten Situation kam genau die Bürde, die ich lange mit mir herumgetragen hatte. Ich wollte das unbedingt loswerden. Angestrengt starrte ich vor Angst, eine gehörige verbale Abreibung verpasst zu bekommen, hinaus ins dunkle Berlin. Neben mir saß hoffentlich eine ganz große Seele oder ein riesiges Herz, damit ich Absolution für meine Anmaßung erhielt. Durch den Wind und die Wassertropfen türmten sich Wohnungen zu grauen Schattenriesen auf. Der Regen zeichnete ein düsteres Bild eines unwirtlichen Winters. Trotz der Wärme erzitterte ich. An meiner Schulter fühlte sich die Berührung meiner Gesangspartnerin wie eine Massage an. Tief atmete ich ein. Ganz leise vernahm ich ein sanftes Brummen von ihr. Das hörte sich an wie, wie Mum damals. Machte mir Mut. Ich lehnte mich gegen diese Superheldin, die gar nicht so unantastbar war.

Samanthas Flüstern hebelte meine Zurückhaltung einfach aus: „Es gibt nichts zu entschuldigen. Du bist hierhergekommen, singst und redest mit mir. Zwar war ich geschockt, doch ahnte ich, dass es nicht leicht mit euch drei Kindern werden würde. Was will ich denn noch?“

„Du hast mich gerettet. Zweimal alles gegeben, um mich vor Schaden zu bewahren. Mehr als meine Mum – Barbara – für mich jemals getan hat“, versuchte ich den Weg zu finden.

„Sieh dich im Spiegel an, Jennifer. Barbara hat dich auf diese Welt gebracht. Dein Dad deutete an, wie sehr Barbara euch wollte. Aber sie durfte aus beschissenen Gründen nicht weiterleben. Weißt du so genau, was sie für dich getan hat oder hätte?“, riss Sammy meine Ansicht in Fetzen, die ich sorgfältig aufgebaut hatte.

Diesen Gegenpol meiner einfacheren Annahme bezweifelte ich nun auch. Nur wie konnte ich die folgenden Fragen beantworten? Samantha Willer verfluchte, bekämpfte oder verachtete meine verstorbene Mutter überhaupt nicht. Warum nicht? In dieser seltsamen Welt entdeckte ich immer wieder ganz neue Seiten.

Eine Träne rann mir meine Wange herab: „Ich sehe Mum und träume ab und an von ihr. Manchmal bin ich wütend auf sie und Dad. Wie konnten sie uns das antun? Warum war George damals nicht dabei, um sie zu beschützen oder zu retten?“

„Hoffentlich hast du das nicht dem Lord gesagt. Deine Mum muss eine starke Frau gewesen sein. Denke mal nach, warum dein Dad sich so schwer nach ihrem Tod getan hat.“

Ich erschrak, antwortete deshalb aufgebracht: „Nein! Nein! So etwas würde ich niemals Dad sagen. Es ist alles in meinem Kopf. Alles hier oben drin. Irgendwie ist es oft sehr nebelig bei all den seltsamen Geschichten und Geheimnissen.“

Plötzlich lächelte mich diese liebe Berlinerin an, blieb aber still. Ganz hell leuchteten ihre Augen, während sie mein Gesicht musterte. Warum mein Vater diese Frau sofort gemocht hatte, zeigte sie mir gerade.

„Vermute ich richtig, dass du Barbara ersetzen wolltest? Das wäre eine so wundervolle Erklärung für all die gemeinsamen Erlebnisse und auch dein Verhalten“, verriet Samantha mir ihre Sicht, auf die ich noch gar nicht gekommen war.

Schwer verunsichert vollzog ich nach, was sie mir genau offenbart hatte. In dieser brüllenden Stille dachte ich nach. Und je länger ich es auf dem Schachbrett der Familie hin und her geschoben hatte, fing ich bei dieser Erinnerung aus meiner Kindheit an zu kichern. Eine Lösung für so viele ungelöste Gleichungen zu finden, beglückte mich einfach. Sie hatte so recht. Meine Zickigkeit beruhte auf Konkurrenzverhalten. Wie bescheuert hatte ich mich denn benommen? Kurz hob ich meinen Kopf. Wieder begann das Kichern aus mir herauszubrechen. Neben einer klugen Frau zu sitzen und mit ihr zu reden, hatte mir ehrlich zugegeben unglaublich gefehlt.

Diese Welt erschien mir nun riesig groß. Ich war noch keine gestandene Frau, bestenfalls ein Teenie. Noch nicht mal sexuelle Erfahrungen verbuchte ich auf meinem Konto. Liebe erst recht nicht. Mit dem Kopf zu verneinen, was ich gerade erkannt hatte, erheiterte Samantha. Es erleichterte mich, eine Lösung für mein Rätsel gefunden zu haben. Mit jeder verdammten Strophe meines inneren Kichersongs fiel er ab, dieser elendige Nebel voller giftiger Dämpfe. Folglich stellte sich das zweite Rätsel in den Weg.

„Du hast all das nicht nur für George getan, um ihn zu erobern?“, fragte ich die letzte blöde Frage.

„Nur für einen Mann oder einen Status mein Leben zu riskieren? Nein, so blauäugig bin ich schon lange nicht mehr. Dafür erlebte ich zu viele Enttäuschungen“, brachte es mich viel weiter.

War das wirklich die Wahrheit, was sie gesagt hatte?

Ehrlich gab ich zu: „Du bist das Beste, was mir passieren konnte. Beantwortest einfach meine Fragen ohne Bedingungen, bist zur richtigen Zeit zur Stelle, um mich zu retten und tust uns allen gut. Du hast das nicht nur für George getan, sondern für uns, stimmt es nicht? Falls es so ist, möchte ich dich nicht verlieren. Versprich es mir, bitte. Du meinst das wirklich ernst mit uns.“

In mir betete ich einfach nur für die richtige Antwort.

„Leider kann ich nur zusagen, es zu versuchen. Wir alle bekommen ab und an vom Leben nicht genug Glück geschenkt. Lord Haggerthon ohne euch wäre nicht George. Mir war schnell klar, dass ich das gesamte Paket wollte. Euch alle!“

Gemeinsam Spaß zu erleben, entspannte meine Sprünge zwischen Zweifel und Hoffnung in mir. Glücklich zu sein, konnte ich seit langem nicht für mich verbuchen. Und auch ein seltsam wohliges Gefühl, als wäre ich hier genau, wo ich sein müsste. Nach unserem ersten Gespräch erhob ich mich, suchte meine Wechselklamotten aus meinem Gepäck. Jetzt würden wir zu den Willers fahren. Als ich vor dem Bad stand, lehnte ich mich an die Wand. Wortlos erfolgte der Tausch des Duschplatzes. Guten Mutes strahlte ich Samantha an, die etwas stutzte. Doch es gab noch einen Punkt, den ich ihr beichten musste.

In der Straßenbahn durch das verregnete Berlin fahrend, nahm ich erneut all meinen Mut zusammen. Ihr konnte ich verraten, was ich in den letzten Monaten organisiert hatte.

„Im Januar möchte ich für drei Trimester nach New York ein Auslandsjahr absolvieren. Ich brauche Abstand von London. In einem normalen Internat, an einer normalen Highschool, wo mich niemand kennt, einfach ein Jahr leben. Von vorne anfangen. Na ja, gerade zweifle ich daran, weil wir … geredet haben“, flüsterte ich.

Samantha tätschelte meine Hand, sicherlich würde sie es mir ausreden, wegen Sicherheitsbedenken, Familienleben oder was weiß ich. Moment, falsche Annahme? Jedes Mal hatte ich verkehrt bei solchen Entscheidungen und Überlegungen gelegen. Vergeblich wartete ich auf einen Einwand. Wie recht ich doch meinen Fehler vorausgesagt hatte.

Ganz unverfänglich fragte Samantha: „Finde ich gut. Mir half es früher auch. Wie weit bist du denn mit deinem Ziel des Wunsches gekommen?“

„Du bist die Erste, der ich es erzählt habe. Es fehlen nur die wichtigen Unterschriften. Klar muss ich das bezahlen, aber ich habe in der Vergangenheit nicht allzu viel Geld verprasst“, gestand ich.

Die Ruhe ihrerseits brüllte mich regelrecht an. Ohne Worte warf sie mir vielleicht Grausamkeit vor. Nach den letzten Monaten erschien es undankbar. Dieses Mal erwartete ich keine vorgefasste Idee ihres Widerspruchs. Eigentlich sollten meine Leute meine Pläne zuerst erfahren. Zitternd holte ich mein Mobiltelefon heraus. Samantha drehten ihren Kopf zu mir.

Sehr ernst blickte Samantha herüber und schüttelte den Kopf: „Lass das lieber. So eine Ansage bringt man persönlich vor. Besser wäre es, wenn ich das einfädele. Okay?“

Was hatte ich eben gehört? Sie würde das für mich übernehmen? Vergeblich suchte ich nach einem Einwand. Ihr schiefes Lächeln verriet mir, dass ihre Erfahrung, mir jeden Vorteil brachte, den Blödsinn meines Verheimlichens zu bereinigen. Jetzt war der Zeitpunkt genau richtig. Schnell gab ich ihr einen kleinen Kuss auf ihre Wange. Je länger ich Samantha erlebte, desto häufiger überlappten sich unsere Ansichten. War sie vielleicht eine Inkarnation meiner echten Mum? Nun säuselte ein Wind um diese Straßenbahn. Meine liebenswerte Gastgeberin beobachtete das weihnachtliche Treiben. Meines Erachtens hatten ihre Wangen etwas mehr Röte. Die Fahrt strich sachte an mir vorbei, wie eine Feder eines Daunenkissens. All die neuen Orte schoben einen Vergleich vom Jetzt zum Früher in den Mittelpunkt. Durch meinen argen Verlust an sogenannten Freunden kam mir diese Reise erst als Flucht vor. Mittlerweile fühlte es sich nicht mehr danach an.

Das Mobbing in der Schule ging von Verräterin über Tussi bis Schlampe. Selbst die Lehrer verhielten sich mitunter, durch Abstand nehmen, befremdlich. Niemand erahnte auch nur, wie es wirklich zugegangen war. Selbst dieser Horror bei der Anhörung gelangte nur in Teilen nach außen. Livi duckte sich in der Schule ebenfalls so gut es ging weg. Es tat mir nicht gut, nicht die ganze Wahrheit offen erzählen zu dürfen. Nur zwei Gefühle brachten mir Zuversicht und Mut. Die Befreiung aus dem Kidnapping und der Schutz im Saal. Und an beiden war Samantha beteiligt. Eine Frau, die ich mit meiner britischen Arroganz und Hochnäsigkeit versucht hatte, zu vertreiben. Wie stark musste sie wohl sein? Jene Frage ängstigte mich. Und nun sitze ich neben ihr, sang mit ihr, verlebte ein Weihnachtsfest, um mir eine erdachte Verschrobenheit vor Augen zu führen. Doch ich fand Zuflucht, Verständnis und Vertrauen. Ihre Familie und die Vorgeschichte zeigten mir deutlich, wie sehr ich danebengelegen hatte.

„Ich mag dich!“, sagte ich Samantha einfach ins Gesicht.

Meine Zukunft begann von vorne. Dieses Mal jedoch wähnte ich diese Frau als eine Verbündete an meiner Seite. Sicherlich hätte ich zu dieser Zeit nicht geglaubt, dass es ein Leben lang halten könnte. Doch dieses Gefühl ehrlicher Hoffnung stimmte in mir eine Fröhlichkeit an, welche die schrecklichen Erinnerungen zurückdrängte.

Alternatives Weihnachten

Samantha Willer, Berlin, 25. Dezember 2015, Freitag

Dieser Morgen brachte mir soviel guten Gefühls zurück, dass ich schwer mit mir zu kämpfen hatte, nicht vor Glück meine Gesangskünste auszuleben. Gestern am Heiligabend verriet mir Jenny, dass sie mich mochte. Zwar wusste ich noch nicht, wie ehrlich sie es meinte, doch es war ein Anfang. Vorhin hatte ich George angerufen. Jenny duschte gerade. Immer wieder ging ich unser Gespräch durch.

„Sobald Jenny wieder zurück ist, werde ich ein Wörtchen mit ihr reden“, schnaubte der sonst ruhige Lord griesgrämig.

Natürlich widersprach ich ihm ganz ruhig: „Das wirst du nicht tun. Dafür gibt es zu viele Gründe für ihr Verhalten. Und in Filmen geht das immer schlecht aus. Wir hatten einen wundervollen Abend und einen viel besseren Morgen.“

„Soll heißen, sie kann uns ihre Absicht abzuhauen, zweifach verheimlichen, ohne die Konsequenzen zu tragen? Findest du das nicht falsch?“, lockte mich nicht mal einen Wimpernschlag hinter dem Ofen vor, weil ich mir einfach sicher gewesen war.

Kurz und knapp antwortete ich, was ich aus den letzten beiden Tagen erfahren hatte: „Es sind ihre Folgerungen und Entscheidungen aus ihren Erlebnissen. Sie ist sich bewusst, was sie angestellt hat. Deine Tochter will uns schützen, sich selbst wiederfinden. Und das, mein Lieber, hast du auch hinter dir. Und nun erinnere dich mal, ob du nicht auch ganz schönen Mist gebaut hast.“

Die Pause hörte sich nach einem Gang zum Sessel an. Einer dieser längeren Momente, welche mit einer entscheidenden Geste begannen, dann jedoch mit einem verzweifelten Seufzer endeten.

„Ich dachte, wir hätten alles überstanden. Jenny macht mir erneut Sorgen. Was hat sie dir angedroht?“, klang nicht enttäuscht, eher nach Verzweiflung.

Ganz leise säuselte ich: „Schön, zu hören. Sag ihr das auch, dass ihr über den Berg seid. Meiner Meinung nach braucht Jenny Zeit, alles zu verarbeiten. Wir haben gemeinsam gesungen. Jenny hat mir damit mehr verraten, als ich jemals von ihr erfahren hatte. Und deine Tochter ist genauso klug, wie du es bist“, wartete ich vergeblich auf seine Reaktion.

Nachdenklich sah ich mich um, nahm mein Wohnzimmer atmosphärisch in mich auf. Die Geschenke lagen ein wenig verloren unterm Weihnachtsbaum, Gemütlichkeit der gestrigen Runde konnte ich nur noch in meiner Erinnerung wiederfinden.

„Deine grauen Schläfen vermisse ich, alter Nasenbär. Und deine Augen sind bestimmt ganz klein. Okay, hast du dein neues Handy dabei?“, forderte ich ihn aus seiner Ecke.

Sein enttäuschtes Schnauben heiterte mich auf: „Ja, habe ich. Vermisse dich doch auch. Wir müssen uns beide wiederfinden. Am besten nackt mit dir im Bett!“

Kurz kicherte ich bei der Vorstellung: „Auf gar keinen Fall. Klicke auf den gesandten Link und dann warte ich auf deine Antwort.“

Nach einer Minute hörte ich das Summen seines Handys und mit der Armlehne den Takt des Songs mitzuklopfen. All das deutete auf seine immer größere Entspannung hin.

„One, Baby. One Love. Du hast bei mir einen riesigen Gefallen offen. Zum Beispiel einen Monat jede Nacht mich, egal, wie du es magst“, flüsterte er heiser.

Allerdings hielt es mein Lord nicht lange aus. Ein Räuspern verriet mir, dass er wieder zurückgekommen war. Wir beide schwebten um uns herum, entluden uns wie Gewitterwolken, um danach ganz unschuldig als Schäfchenwolken weiterzuziehen.

George: „Will meine Tochter deine Anerkennung verdienen? Warum floh sie zu dir?“

Gemächlich lehnte ich mich zurück, um zu horchen, ob Jenny schon fertig im Bad war: „Das brauche ich nicht. Du weißt das genau. Aber deine Jenny sucht nach einem Ausweg, uns nicht wieder zu enttäuschen. Sie braucht Antworten auf Fragen, um ihren Platz zu finden. Den eigenen Platz in dieser verrückten Welt zu kennen und zu füllen.“

„Haben wir diesen Platz denn nicht schon längst gefunden? Sammy, du bist wirklich gut. Spielst das heikle Spiel Familie besser, als ich es je gekonnt habe. Dabei sollte ich perfekt darin sein, Menschen auf meine Seite zu bringen. Also ihr beiden hattet ein schönes Weihnachten?“, wollte George wissen.

„Es war ganz anders. Du tust mir Unrecht. Wir haben zusammen gefeiert. Auch dank dir, trafen sich alle Willers und Jenny“, gab ich zu.

Trotzdem kränkte es mich schon, wie er mir manipulatives Verhalten vorzuwerfen drohte, weil ich alles tat, diese Familie zusammenzukleistern.

„Niemalsmöchte ich dich als Gegnerin erleben müssen. Aber eine Nacht nackt mit mir, muss doch trotzdem möglich sein, oder? So ein kleiner Traum von mir“, quälte es den angefixten Londoner Lord.

„Tstststs. George, so wenig Selbstvertrauen? Ich hätte ja Dessous angezogen, statt dich schnöde in Nacktheit zu betören“, flüsterte ich beinahe singend.

„Verdammt. Jetzt bin ich reif. Hör auf. Bitte! Unsere Lordschaft muss gleich hinunter schreiten, die Massen bespaßen. Wie bekomme ich diese Bilder aus meinem blöden Schädel wieder heraus? Wir hören uns, du verrücktes sexy Ding. Ich vermisse dich“, störte das heftige Anklopfen an seine Zimmertür auf seiner Seite unsere intime Unterhaltung.

Zwei Füße patschten meinen Flur entlang. Die kleine Große summte vor sich hin. Dabei erkannte ich einen wirklich tollen Weihnachtssong. Dieser achtziger Jahre Song dudelte wie jedes Jahr zuhauf in den Radiosendern herauf und herunter. Mir machte ihre Auswahl gerade überhaupt nichts aus. Okay, ich hatte wenigstens George besänftigt. Hoffentlich fühlten sich die Haggerthons dieses Jahr nicht allzu einsam. In meinem Hosenanzug in schimmerndem Dunkelrot, mit der kalt-weißen Schluppen-Bluse darunter wurde das heute bei weitem kein sehr förmlicher Auftritt meinerseits. Seit diesem Jahr verstellte ich mich nicht mehr. Keine künstliche Angleichung an die Vorstellungen anderer. Blutrot für meine derzeitige Gefühlswelt addierte sich mit meiner konsequenten Haltung seit den Erlebnissen in London. Der Knoten meiner Person war ganz schön fett gewesen. Und Herunterschlucken kam nicht infrage, also kotzte ich alle Probleme einfach aus. Atmen fiel mir seitdem leichter. Passend dazu lief im Radio „I‘m a survivor“ von Destiny‘s Child. Motiviert sang ich immer fester zum Refrain. Solange bis Jenny mit mir singend vor dem kleinen Weihnachtsbaum mittanzte. Und sie überflügelte mich gesanglich locker, intonierte bravourös die gesamte Lyrik. Beeindruckt resümierte ich erstaunt, viel mehr von Jenny entdeckt zu haben, als ich erhofft hatte.

Als wir bei meinen Eltern eintrafen, öffnete mein Vater die Wohnungstür. Statt in alten Anzughosen und einem üblichen Poloshirt trug er ein sonnengelbes Hemd zu schwarzen Jeans.

„Tag, du siehst aber gut aus in den neuen Hosen und dem Hemd. Hallo Papa“, bot ich ihm einen ganz einfachen Einstieg an.

Statt mich zu begrüßen, schnappte er sich Jenny, um sie zu umarmen. Damals passten meine Eltern auf die drei auf. Daher seine vertraute Geste. Sein „Welcome“ klang sehr aufgeregt und ehrlich. Schmunzelnd entführte er die Tochter des Lords ins Wohnzimmer meiner Eltern. Mich ließ er einsam zurück. Endlich hing ich meine Jacke auf, wollte den beiden folgen, als mein Dad mit der Daunenjacke Jennys zurückkehrte. Peter versperrte mir eher lässig den Gang zum Zentrum der Feier. Seine Augen blickten aufmerksam auf mich herab. Pures Interesse flackerte aus ihm heraus. Mein alter Herr kam mir beinahe zwanzig Jahre jünger vor. Peter musterte meine Erscheinung. In schmerzlicher Erwartung irgendeines blöden Spruches schloss ich meine Augen. Mein Versuch mich von der Anspannung zu lösen, ähnelte einer kleinen Meditation. Zwei Arme umfassten meine Taille und zogen mich an einen männlich duftenden Körper, der mir sehr vertraut war, doch den ich lange nicht mehr genossen hatte. Beängstigend erregende Gefühle erfassten mich. Hilflos hob ich meine Hände. Mein Vater umarmte mich. Tränen liefen mir über meine Wange, einer über vierzigjährigen Tochter.

„Das wollte ich schon so lange tun. Es tut mir so unendlich leid. So leid. Ein schlechter Vater zu sein, macht mich so wütend auf mich selbst. Samantha, ich habe dich lieb“, ließ mich weinen.

Sein Zucken in der Brust und das schwere Atmen seinerseits bewiesen, dass auch ihm sehr wohl diese Situation sehr nahe gegangen war. Dann wurde mir klar, dass er Vergebung suchte. Vergebung für jeden negativen Gedanken, für all seine Fehler.

„Vergibst du mir? Wir sind also wieder eine Familie?“, brummte er ganz tief, wie ein riesiger Bär.

Ich nickte nur mit dem Kopf. Kaum sah er mir ins Gesicht, wurden seine Augen groß. Die beiden prägnanten Brauen zogen sich zusammen. Mit roten Ohren zückte er sein Taschentuch und tupfte mir sanft die Tränen ab. So hatte ich meinen Vater noch nie erlebt. Mit einer zitternden Linken strich er mir über die Wange. Dann breitete sich ein Lächeln aus, die Lippen weit, die Augen samt den Fältchen und die unverkennbar hochgezogene Stirn verjüngten meinen Vater um Jahre. Er griff nach meiner Hand, um in Richtung Küche zu gehen. In der Küche wartete meine Mutter auf mich. Auch sie weinte. Vermutlich bezog sich ihre Gefühlsregung auf die Begrüßung meines Vaters und seiner Geste. Sie sah bedeutungsschwanger auf Jenny, die artig die Tafel eindeckte. Meine Schwester samt Kindern und Mann waren noch nicht da. Das Wohnzimmer brachte mich zum Staunen. Dort stand der Tisch in einer Ecke, auf dem das Essen geduldig zum Verzehr einlud. In der Mitte lagen viele Sitzkissen. Mit hinaufgezogenen Augenbrauen drehte ich mich um. Mein Vater zog eine Miene, die mich auflachen ließ. Scheinbar konnte er sich zwischen ängstlich, aufregend und beschämend nicht entscheiden.

Er erklärte mir: „Meine Schuld. Habe es versäumt einen Tisch und Stühle zu besorgen. Also dachten wir, ein Picknick im Wohnzimmer könnte zum Neuanfang passen. Mal sehen, wie schief das gehen wird.“

„Dann habe ich doch genau das passende Outfit an“, zwinkerte ich ihm aufatmend zu.

Jenny tat so, als wäre das vollkommen normal. Trotzdem hielt ich sie kurz auf, damit sie aufhörte, einen Roboter zu mimen. Gefasst strich ich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte sie ganz offen an. Verunsicherung dürfte wohl einer der Gründe sein, weshalb sie verwirrt war. Der Tochter meines Lords traute ich viel mehr zu, als sie sich selbst.

„Höre auf, bitte. Lass den anderen auch Arbeit übrig. Heute ist alles anders. Aber das ist oft auch gut, eine Befreiung, weißt du. Das Fest eröffnet uns ein ganz neues Weihnachten“, richtete ich ihre Stola und den Kragen etwas in die peppige Richtung.

Eine halbe Stunde später war die Bude rappelvoll, sagen wir Berliner. Anfangs breitete sich eine anregende Stille aus. Jenny murmelte dann eine Bewunderung der Kochkünste meiner Mama, die der neuen Londonerin dankbar auf den Kopf küsste. Patrizia durchbohrte mich auffordernd mit Blicken. Schließlich verrieten wir beide, den Hintergrund, warum Jenny hier überraschend in Berlin aufgetaucht war.

Ich sagte: „Jenny wollte mal raus aus dem Londoner Umfeld. Weihnachtskoller. Kennen wir doch alle, oder?“

Fast schon dümmlich nickte die gemeinte Begleiterin meiner Lüge zu, weil alle anderen entspannter reagierten und sie anlächelten. Ihre roten Ohren könnten mich meiner kleinen Lüge strafen, jedoch kicherte Jenny los, als sie meine beiden verschränkten Finger entdeckte. Ihre Belustigung klang erwachsen und doch verspielt. Beim Dessert holen, flüsterte sie mir ein Dankeschön zu. Noch fühlte sich Jenny nicht richtig wohl, doch wirkte sie entspannter. Mit den Söhnen Patrizias verstand sie sich immer besser.

Das war ein unkonventionelles Fest. Niemand kleckerte und alle stierten auf die Flimmerkiste, während Jenny an mich gelehnt, sich an der Ruhe labte. Das Fernsehprogramm deprimierte mich nicht so sehr, wie die letzten Jahre. Endlich trennten sich die Interessensgebiete. Patrizia und Matthias saßen mit Jenny und mir am Tisch. Alsbald spielten wir gemeinsam Uno. Zufälligerweise kannte die ältere Tochter von George dieses Kartenspiel ebenfalls. Vor dem Kaffee verabschiedeten wir uns. Toll anzusehen, wie nahe sich langsam alle gekommen waren. Unser Kuchen wartete daheim inklusive des langen Videoanrufs im Haggerthon Manor. Zu diesem Zeitpunkt ahnten wir noch nicht, welcher Sturm sich zusammenbraute. Wiederholt tippte Jenny auf ihrem iPhone Textnachrichten. Zufällig entdeckte ich den Chatpartner. Es war so wundervoll Livis Namen zu erspähen.

Kaum schüttelten wir den mit hereingebrachten kalten Regen ab, fragte mich Jenny: „Sag mal, wie war das damals, als du Livi das erste Mal gerettet hattest? Erzählst du mir davon?“

An jenen Tag erinnerte mich just in diesem Moment. Ohne zu zögern, fing ich an, zu rekapitulieren. Teetasse in der Hand begann ich diese Geschichte zu schildern.

Auf der anderen Seite der mittlerweile vereinsamten Straße trafen drei junge Männer eine kleine brünette Schülerin. Sie kreisten sie ein. Die drei Herren jüngeren Alters waren zu alt für eine Schule, sogar ein College. Schon an ihrer Haltung, Kleidung und Gesicht erkannte ich, dass diese Typen da, nichts, absolut gar nichts mit dem Mädchen zu tun hatten. Ich wechselte unwillkürlich die Straßenseite. Das Antlitz kam mir sehr bekannt vor. Alle anderen Schüler schienen bereits nach Hause oder zu ihren Freizeitvorhaben verschwunden zu sein. Nur die kleine dunkelhaarige Engländerin strebte einsam und alleine mit einem ziemlich angewachsenen Bücherpacken verstohlen zur nächsten Underground Station. Die Vermutung lag nahe, dass diese Bücher aus der Schulbibliothek stammten.

„Die Leseratte! Sieh an. Hatte ich nicht gestern gesagt, du sollst nicht mehr in diese Schule gehen? Du weißt, was mit unartigen Mädchen passiert?“, schüchterte der älteste dieser Gang die Kleine ein.

Hörweite erreicht. Diese Sätze kannte ich in Deutsch. Sehr gut sogar. Einer der mir zutiefst unsympathischen Männer drehte sich um, um auf mich zuzugehen. Da ich mein mittägliches Outfit gegen meine Jeans und den alten Hoodie getauscht hatte, wirkte ich unauffällig und nicht sehr respekteinflößend. Schnell zog ich beiläufig die Kapuze tiefer ins Gesicht. Nur meine Augen konnten gerade noch so die Situation überblicken. Verstecken, Unsichtbarkeit und still zu sein, lernte ich aus den grauenvollen Erlebnissen meiner Jugend. Noch dazu krümmte ich etwas den Rücken, damit ich mich entspannen konnte. Schließlich legte ich in meinen Gang ein wenig mehr Unsicherheit hinein. Der rotblonde muskelbepackte, dämlich grinsende Typ winkte mich weg. Vergeblich. Seine Bierfahne wehte bis zu mir. Ekelhafte Angewohnheit tagsüber Alkohol zu konsumieren. Meine Neugier auf das Kommende machte mich blind und taub. Ich hatte ein neues Ziel und hier und jetzt fing es an. Meine Erinnerungen an die schwarze Vergangenheit übermannten meine Gedankenwelt. Mir kamen all die Schandtaten aus Opfersicht wieder zurück in meinen Kopf, erschienen wie ein Horrorfilm vor meinen Augen. Mich erschauderte es. Ein Zittern durchfuhr meinen gesamten Körper.

Hellwach, als wäre ich aus dem Eiswasser der Vergangenheit entronnen, erhellte ein reiner glasklarer Gong dieses Tal namens Gerechtigkeit, in dem ich nun flog. Denn schon warfen die zwei Handlanger die Utensilien der Schülerin umher. Bücher landeten absichtlich und entwürdigend im Straßendreck dieser grausamen Metropole. Eine Lawine rollte zwischen den Bergen beiderseits mit all der schönen Natur, den Bäumen, Wiesen, Vögeln, Wild und dem Bach. Nein, dieses Bild durfte nicht verloren gehen. Ertrinken erschien mir kein Ausweg, Flehen oder gar Beten, lachhafte Versuche verschwanden in der Finsternis. Genug war genug!

Diese Gewalt gegen unschuldige, in der Minderheit befindlichen Menschen ging mir gehörig gegen den Strich. Erst recht sträubte sich innerer Widerstand bei Kindermisshandlung. Ja, ein Mädchen sollte Opfer werden. Konnte ich nicht hinnehmen. Nicht mehr. Meine Muskeln begannen zu arbeiten. Meine Hände ballten sich zu Fäusten, meine Nackenpartie verhärtete sich. Mir wurde warm. Ein Schwall Sonne durchfuhr meinen Körper, der Fluss aus Kraft, Licht und Aufmerksamkeit erhob alles in einen Alarmzustand. In solch einer Situation, so brüllte es in meinem Kopf, darf ich einfach tun, wonach mir ist? Um dieses Mädchen vor dem zu schützen, was mir mehrfach widerfahren war, brauchte es aktiven Beistand.

Der rotblonde Typ näherte sich auf doppelte Armlänge, wobei er mir folgenden ereignisreichen Satz erbrach: „Eyh Schlampe, verpiss‘ dich und halt‘s Maul!“

Wenn er mir zu nahekäme, würde er es bereuen, schrie es in meinem Hirn. Mein Halstuch über meinen Mund und die Nase gezogen, atmete ich fester. Nur noch eine Armlänge und der rotblonde Mann hatte seinen Arm nach mir ausgestreckt. Anmutig glitt ich gebeugt unter dem Arm hindurch, hebelte über die Schulter diesen nach oben, stellte mein linkes Bein hinter das linke des Idioten und drehte den Arm über die Schulter zusätzlich mit einer Drehbewegung ein. Er ging in die Knie und versuchte, gegen zuhalten. Anfängerfehler! Doch ich sprang und setzte mein Körpergewicht ein. Er landete laut schnaubend mit dem Rücken auf dem Gehsteig. Als ich meine Pirouette vollendete, knirschte es beim Niedergerungenen.

Es platschte vor mir. Von einer Pfütze umrahmt, blickten zwei blaue Augen, geschockt aufgerissen zum Himmel. Der Mund schmerzverzerrt und die Nase gekräuselt. Schade um die Lederjacke. Mit dem Rücken zur Hauswand hörte ich keine Bewegungen. Nun sprang ich zwei Sätze vor und holte mit meinem Bein aus. Der Tritt traf in den Bauch. Mein Schuh presste das hässliche nazibraune Hemd in die Fettriefen. Instinktiv holte ich noch einmal aus. Der dunkelhaarige bullige Typ vor mir sackte wimmernd in sich zusammen. Familienglocken läuteten gerade das heutige Finale ein. Mein Knie hatte den Weg zur Schatzkammer gefunden. Noch immer verstand ich nicht, wie ich diese Bewegung hinbekommen hatte. Alles lief so langsam ab. Zeitlupe.

Wie gerne hätte ich damals solche Laute von den fiesen Jungs eine Klasse höher vernommen, die mich drangsalierten, jeden verdammten Samstag nach dem Ende der Schule.

Der letzte Handlanger drehte sich wundernd zu mir und bekam eine eingesprungene Maulschelle. Linksverkehr halt. Er taumelte. Durch den Widerstand des beinahe doppelt so schweren Mannes ging ich in die Beuge. Und dann begriff ich genau das, hieb direkt vor meinem Gesicht mit aller Wut der Erlebnisse meiner Vergangenheit in die Magengegend. Die Muster des Pullovers von dem übermächtigen Kerl bewegten sich, knautschten erst unter meiner Hand zusammen, dann fielen sie wieder sanft. Kleine Entspannung durch mein Ausatmen synchronisierten diese Situation fast schon als Choreographie. In Zeitlupe wurde ich gewahr, wie die Pullovermusterung, ähnlich wie Strukturen der Fahrstuhlwände beim Aufwärtsfahren an mir vorbeiglitten. Ein schmerzverzerrtes Gesicht des Vollidioten passierte mich nur zwei Sekunden später. Der glotzte in weite Ferne, als wüsste er nicht, ob er träumte. Mein Blick erreichte sein Gesicht und er schreckte zurück. Vergeblich rang er nach Luft. Ganz langsam beugte ich mich über ihn.

„Leg dich niemals wieder mit mir oder ihr an! Sie ist ich und ich bin sie!“, flüsterte ich ihm ganz ruhig zu.

Adrenalin durchflutete ganz deutlich jedes Ende meines Innersten. Trotzdem schwebte ich eher in einem Ruhezustand, ausgeprägt besonnen und meiner Situation voll bewusst. So etwas kann man sich vorstellen, wie einen Blumenstrauß, bei dem alle Blumen für einen kurzen Augenblick ihre Knospen gleichzeitig öffneten und ihren betörenden Duft in einem Hauch abgeben, um sich danach wieder zu verschließen. Ein großer junger Mann fasste die kleine brünette Schülerin am Arm an und zog sie an sich. Als sie lächelte, beruhigte dies meinen Drang nach weiterer körperlicher Betätigung. Jetzt wegdrehen, weil ich nicht erkannt werden durfte. Zuerst mal drehte ich mich von ihm weg. Meine Schultern breitete ich vor den Geschlagenen aus. Nun stand ich zwischen dem Mädchen und den Angreifern. Das kleine Minenfeld voller Gemeinheiten vor mir, bohrte sich in meinen Magen voller Gewissensbisse.

Beide Jugendlichen standen regungslos in meinem Rücken. Der Rothaarige erhob sich ächzend. Er fluchte unverständlich lallend. Ich ging automatisch in Verteidigungsposition, um jeden Angriff der drei Gewalttäter abzufangen, falls einer es wagen wollte. Nahm ich flugs mein Handy heraus und fotografierte diese Szene mit den Typen.

„Oh mein Gott. Wer ist das? Mein Arm“, zischte der dunkelhaarige Blödmann.

„Ich … be … Luuuuft“,

„Sie hat mir in die …“, stammelten diese widerlichen Typen vor mir liegend.

Nun hörte ich auch wieder die Stimme des jungen Mannes: „Livi, komm schnell mit nach Hause. Sieh nicht hin.“

„Es gibt doch Superhelden. Siehst du, Jaz!“, antwortete die Mädchenstimme.

Diese Namen bewirkten zwei Dinge, mein Adrenalinspiegel senkte sich unvermittelt und dann kamen Endorphine durch. Diese beiden Menschen hinter mir waren zweifelsohne Jason und Olivia Haggerthon. Bedächtig richtete ich mich auf. Die Tochter des Schlipsträgers hatte ich richtig erkannt, konnte ohne blauen Fleck, ohne Erniedrigung und mit all ihren Sachen heil nach Hause gelangen. Mein Gehör reagierte empfindlich durch das Adrenalin, offenbarte in meinem Rücken den Abgang beider Geschwister.

Ich hörte mich in meiner tiefsten Tonlage beeindruckend laut zischen: „Sehe ich euch noch mal in der Nähe der beiden, richte ich noch mehr Schaden an und melde euch der Polizei. Haben wir uns verstanden?“

„Wer bist du überhaupt? Ihre Mutter?“, plärrte der rothaarige noch mal, der sich um seinen windenden Kumpan kümmerte.

„Euer Alptraum!“, zischte ich effektvoll, während ich mich vorsichtig umdrehte.

Zuerst ging ich ganz ruhig bis zur nächsten Ecke, bog in die Nebenstraße Richtung Bus-Stopp ab. Folglich begann ich zu joggen, um mich abzureagieren.

Erleichtert blickte ich auf. Jennys Gesicht war sehr bleich. Welche Erkenntnis erzeugte diese Geschichte in ihrem Kopf? Meist erfuhr eine Frau Ablehnung bei solchen Übergriffen, egal wie sehr sie gerechtfertigt waren. Entgegen meiner Erfahrung trat sie mutig einen Schritt nach dem anderen auf mich zu.

„Als Livi damals von dir sprach, stempelte ich sie als Spinnerin ab. Total blind stolperte ich weiter in die Falle. Wie dumm ich gewesen war. Gleich flenne ich wieder los deshalb. Schon damals lief viel schief. Aber ich wollte erwachsen sein. Ich hatte schon zwei blaue Flecke und eine Ohrfeige von dem Scheißkerl eingesammelt. Nur weil ich widersprochen hatte“, erklärte sie mir entnervt.

„Es tut mir sehr leid. Es ist gut, dass es dich emotional so bewegt. Es macht dich stark, aufmerksamer und schlauer. Andererseits, lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende“, stammelte ich.

Unsere Hände fassten zu. Wir hielten uns fest. Schwer kämpfte Jennifer Haggerthon um ihre Fassung. Sie sah beschämt auf unsere Füße. Sie atmete vorsichtig. Vermutlich der Versuch, nicht loszuweinen. Ebenso erging es mir. Lauter, immer lauter redete meine innere Stimme der Vernunft davon, dass es so eine heftige aber vielleicht endgültige Lösung gegeben hatte. Warum ich mit beiden Daumen begonnen hatte, ihre Handrücken leicht zu streicheln, begriff ich nicht, doch es beruhigte mich. Zwei schimmernde blaue Augen fanden endlich den Weg zu mir. Diese geweiteten Augen ließen mich stutzen. Hatte ich etwas falsch gemacht?

Jenny griff nach ihrem Handy: „Das hatte Mama auch in solchen Situationen getan. Genau das. Wie abgefahren ist das denn? “

Erleichtert atmete ich auf. Die Begründung für meine Massage erinnerte mich daran, dass ich als Au-pair von der Mutter dieses Hausmittelchen für aufgelöste Kinder beigebracht bekam. Die Bindung zwischen Jenny und mir wackelt bestimmt noch, doch hoffte ich, endlich mit Jenny einen guten Stand des gegenseitigen Verstehens geschafft zu haben.

Der kleine Blondschopf sagte dann, leise, nachdenklich, aber mich im Kopf und Herz erreichend: „Du möchtest eine Familie, ich auch. Es wird eigentlich Zeit, dass ich verstehe, wie toll es sein kann, eine lebende Mum zu haben. Also ich …“

Meine Arme umschlangen dieses gefühlsechte Mädchen, welches definitiv kein leichtes Leben gehabt hatte. All diese Reden brachten doch nur zusammengesetzte Buchstaben. Eine Umarmung sagte mehr als Worte. Alle ihre Widerstände brachen meine gewonnene Zuneigung zu diesen Kindern nicht entzwei.

„Ich gebe mir alle Mühe, unsere Gemeinschaft aufrecht zu halten“, versprach ich.

Jenny: „Es war keine gute Entscheidung, zu dir zu fliehen. Meine Schwester, Diana und meinen Dad alleine zu lassen zum Weihnachtsfest, ist nicht okay. Aber es hat mir weitergeholfen.“

Ich: „Hey, glaubst du nicht, wir verstünden dich? Also ich kann das sehr gut nachvollziehen. Wichtig ist es nur, seine Entscheidung den betroffenen Menschen nahezubringen, damit sie eine Idee haben, warum du so entschieden hast.“

Ganz versonnen kaute die ältere Tochter des Lords eine warme Schrippe mit Kräuterquark und schlürfte dazu einen English-Breakfast-Tea. Zwischen uns verschwand ein Teil des Abstands. Spätestens als sie ihre Füße mit meinen unter dem Tisch verschränkte, begriff ich mein richtiges Gefühl. Still dachte ich nach, erinnerte mich an diese Szene, als Jenny mich angefeindet hatte. Damals zweifelte ich an der Möglichkeit näher an die Haggerthons zu rücken. Es ging immer drei Schritte vor und vier stolperte man wieder zurück.

„Freust du dich, endlich Dad wiederzusehen?“, wollte Jenny wissen.

Ich drückte meine Unsicherheit wortlos aus. Schließlich gab es in keinem der mir bekannten Liebesdramen oder Liebeskomödien auch nur annähernd solch ein holpriges Kennenlernen zweier Hauptprotagonisten. Vielleicht sollte ich ein Buch darüber schreiben. Lord George schwirrte mir seit diesem Nachmittag damals im Kopf herum. Seine ganze angedeutete Art reizte mich, mehr zu wagen. Seine geheimnisvolle Seite kitzelte immer noch meinen Verstand, forderte mich heraus, ließ mich träumen und planen. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr klärte sich der Tatbestand des Liebens statt des Verliebtseins als eine Art Anker meines Lebens auf. Eine Trennung würde mich brechen. Es wäre, als verbiete man einem Hund zu schnüffeln, einer Katze sich abzulecken oder einer Maus Käse zu naschen. Ob mir das jemand glauben würde, bezweifelte ich stark.

Schließlich rang ich mich durch und erklärte: „Sieh mal, wir hatten mehr Pausen, als zusammen gewesen zu sein. Aber in meinem Kopf seid ihr immer bei mir. Auch für mich viel zu kitschig. Diesen lapidaren Liebesschnulzen konnte ich noch nie etwas abgewinnen. Und jetzt stecke ich selbst in einer fest.“

Jennys Kichern riss mich mit. Auch ich konnte ein verschmitztes Lächeln nicht unterdrücken. Wir aßen ganz genüsslich und blickten auf ein leicht verschneites Berlin. Einen kleinen Blick in das Gesicht der älteren Tochter meines liebsten Lords verriet mir, wie sie über ihre Situation nachdachte, abwog und sich dann doch nicht traute. Herrliches Gefühl, Menschen so beobachten zu können. Sie bemerkte es, ihr Gesicht verbarg mir Neugier nicht. Eher zeigte es ungebändigte Neugier.

„Was hast du da gestern Abend noch getrieben? Diese Übungen meine ich“, wollte sie wissen.

Kurz dachte ich nach, aber es war bekannt, dass ich mehr als nur eine halbwegs gutaussehende Frau war: „Tai-Chi und ein wenig mehr. Übung macht den Meister. In letzter Zeit habe ich viel trainiert. Half mir über die Einsamkeit in meinem Leben hinweg.“

Ihren Tee schlürfte sie, ohne abzusetzen, weil ein weiterer Gedanke sichtlich in ihr reifte: „Du bist doch gut in dem, was du kannst, stimmts?“

„Weißt du, ich finde, solche Aussagen sagen nichts Reales aus. Schon schlimm genug, dass ich mein Erlerntes anwenden oder auch lernen musste“, zerriss es mich gerade innerlich, ihr mein ganzes Dilemma zu offenbaren.

Ein leerer Stuhl

George Haggerthon, London, 25. Dezember 2015, Freitag

Ode an die Freude spielte mein elektronischer Freund und Helfer. Diese Melodie ertönte bei Anrufen der Familie, also nahm ich, ohne auf das Display zu sehen, ab. Meine verlorene Tochter wagte es endlich, uns zu kontaktieren. Erstaunt stellte ich fest, nachdem ich die bedauernde Stimme einer fünfzehnjährigen Haggerthon vernommen hatte, wie sehr ich dieses Gespräch erwartet hatte. Meine wütende Gefühlsregung dämpfte ich jedoch erheblich ab, weil sie zu Samantha geflohen war. Irgendeinen Grund musste es für Jennifer geben, dass sie unserem Rund entflohen war. Hinzukam, dass ich Samantha kein Unrecht oder Gewissensbisse anhängen wollte. Natürlich freute es mich, meine mittlerweile beinahe erwachsene Tochter so gelöst zu erleben. Fragte ich mich doch, wie schnell eine einstige Konkurrentin meiner Jennifer zu ihrer Vertrauten wurde. Durch all ihre schlechten und guten Erfahrungen bewies die neue Jenny, Initiative zu ergreifen. Alleine Reisen zu planen, klappte schon hervorragend. Noch vor einem Jahr hätte ich so ein Vorhaben bezweifelt. Jenny begann erwachsen zu werden. Nebenbei bestärkte mich ihre Flucht, den Kontakt zu Samantha wieder zu intensivieren. Wie sehr mir diese mysteriöse Frau, Lady, Berlinerin oder Flamme gefehlt hatte, merkte ich gerade jetzt. Unsere erste Videokonferenz seit langem.

„Hallo, meine vermisste Tochter“, verließen meine Grußworte doch etwas gepresst meinen Mund.

Oha, hoffentlich ging das nicht schief. Wut wollte wieder hinausstürmen. Doch die Berliner Nummer im Kopf regte ich mich wieder ab. Vater zu sein, stellte mir Herausforderungen entgegen, welchen den Charakter formten, resümierte ich ironisch. Die sehr vertraute Stimme meiner Jennifer klang vorsichtig. Aber es ging ihr gut, das hörte ich zweifelsohne heraus.

„Dad? Bitte sei nicht sauer auf mich. Ich musste einfach mal weg. Raus aus diesem giftigen Erlebnis. Samantha war genau die richtige Adresse, weil ich mit ihr darüber reden kann. Verzeihst du mir?“, klang leise und hoffend.

„Lass uns skypen“, bat ich sie.

Nach drei halben Minuten stand das Bild. Ich japste, als Samantha in einem kuscheligen Poncho an einem Tisch mit tollem Weihnachtsgedeck in meinem Videofenster erschien. Sie hatte ihre Haare offen, war wundervoll anzusehen. Ein eifersüchtiger Stich auf meine Tochter erschrak mich. Diese schwarz umrandeten Augen verwandelten ihr Gesicht in etwas Mystisches. Dieser neue Blick, der von ehrlicher Verlegenheit erzählte, erweichte meine Gedanken im Nu. Diese Weihnachtstasse so elegant erhoben, als wäre sie Tag ein, Tag aus, bei der Queen zugegen. Verdammt, es erregte mich. Diese Frau Willer brachte mein dickes Blut zum Dampfen. Mein Herz beschleunigte den Takt, als sie ihren dezent geschminkten Mund bewegte. Diese wunderbar weichen Lippen, die ich Trottel schon geküsst hatte. Wann holte ich in der vergangenen Beobachtung das letzte Mal Luft? In meiner Lendengegend frohlockte ein Zucken meiner Triebe. Vorsorglich reckte ich mich, bemühte mich krampfhaft um Ablenkung. Schnell ging ich ins Wohnzimmer und aktivierte den großen Bildschirm.

Meine Tochter saß neben meiner Angebeteten mit einer leichten Röte in ihrem Gesicht. Beide saßen einträchtig eng beieinander. Schuldig schlug Jenny schuldbewusstihre Lider auf. Ihre schmalen Schultern versteckten sich unter einer peruanisch-gemusterten Decke, die sicherlich von Alpaccas stammte. Natürlich wollte der Vater in mir losbrüllen, denn jeder Grund unser Weihnachten zu torpedieren, berechtigte mich dazu. Doch diese letzten Tage und Wochen entschuldigten beinahe jedes abwegige Verhalten meiner Kinder. Meine Tochter, welche sich auf den ersten Blick unserer Seite der Haggerthons nicht gerade familiengerecht verhalten hatte, verdankte meiner Angebeteten ihr Leben, ihre Gesundheit und eine Riesenportion geheilte Hoffnung. Gelernt hatte Jennifer auch eine erhebliche Portion Toleranz. Zur Kirche zu rennen und zu beten, hätte mich eigentlich nicht gewundert. Doch sie fuhr zu jener Retterin nach Berlin. Das war Größe, Verständnis und Schuldeingeständnis.

„Da sitzen zwei Personen, die ich vermisse“, grummelte ich enttäuscht.

Livi kuschelte sich an mich und sagte ganz leise: „Hallo, Berlin. Frohes Fest.“

Überrascht entdeckte ich erst jetzt das Nesthäkchen neben mir sitzend. Diese quirlige, erst vor Kurzem erwachte, gewachsene Haggerthon jagte uns allen eine mittelgroße Portion Angst ein. Katapultiert diese kleine Lady mit einer Energie ins erwachsene Leben, dass mir jedenfalls regelmäßig schwindelig wurde.

„Ja, genau, euch auch ein Frohes Fest. Jenny? Spannendes Fest ohne dich. Warum hast du nichts gesagt?“, drückte auch Jason seine Enttäuschung aus.

Mein Sohn stand hinter mir. Seine kalte Nässe strahlte noch nach. Nun fehlte noch meine Mutter, die gerade mit einer Tasse Tee zu uns stieß. Nur leicht lächelnd setzte sie sich zu uns.

Als Sammy uns betrachtet hatte, veränderte sich ihr Gesicht. Falten spannten sich über ihre Stirn, die Augenbrauen hoben sich leicht, während ihre Lider sich zusammenzogen. Dabei rümpfte sich ihre Nase ganz leicht. Wie genau ich sie beobachtete, wurde mir gerade in diesem Moment bewusst. Eine Sehnsucht überfiel mich. In meiner Nase roch es nach unserer Garage, in der wir beide explosiven Sex erlebt hatten. Mein Weihnachtsgeschenk für meinen Sohn manifestierte sich deshalb in einem neuen gebrauchten Kleinwagen. Ganz studentisch eben.

Diana: „Hallo ihr beiden. Sehr angenehm dich lebendig zu sehen, verlorenes Enkelkind. Ich nehme an, du magst Samanthas Weihnachtsdeko mehr als die unsrige? Henry hat sich noch nicht gemeldet. Wir machen uns Sorgen.“

Livi neben mir kuschelte sich an mich. Kurz schaute sie zu mir auf. Ruhig betrachtete und küsste ich meine große Kleine, damit sie verstand, dass ich nicht böse, wütend oder sauer war. Wir waren alle beisammen, oder? Mit einem Zwinkern drehte sich Livi wieder zum Fernseher um. Ungewohnt, trug meine jüngste ein grünes weihnachtliches Kleid. Es stand ihr ausnehmend gut. Die Stola in grün umschlang ihren makellosen Hals. Diesen Wust an Haaren vereint in einer Hochsteckfrisur, erwirkte eine Mischung aus festlich und locker. Ein wirklich wunderbarer Lichtblick. Ein wenig versteifte sich meine Mutter, um zu zeigen, dass es nicht normal für sie war.

„Ja, ich bin abgehauen. Ist ungeschickt. Ich musste einfach mal weg. Und mit Sammy wollte ich dringend sprechen. Aussprechen. Also nicht so richtig weg von euch. Eher von London. Nur mal für eine Weile. All die Geschehnisse erdrücken mich. Diana ich mag unsere Deko genauso gerne, das weißt du aber“, gab sich Jenny Mühe, sich zu entschuldigen.

Verwundert registrierte ich die Ruhe, die Jenny ausstrahlte. Als hätte sie Frieden gefunden, verhielt sich meine Tochter einfach anders.

Livi: „Hi Sammy! Dürfen wir wieder reden? Falls ja, dann gibt es ganz viel zu erzählen.“

Samantha: „Guten Abend ihr da drüben und frohe Weihnachten. Überraschungen mag ich zwar, als Jenny hier auftauchte, schleuderte mich das aber ganz schön aus meinem Plan. Mit meinen Eltern und Patrizias Familie verbrachten wir einen wundervollen Heiligabend. Wir beide haben uns zusammengerauft. Toller Moment, kann ich euch sagen. Seid nachsichtig, bitte.“

„Auch dir ein frohes Fest, Samantha. Hört sich nach harmonischer Feier an. Schön zu wissen", sagte ich etwas reserviert.

Kurz hielt ich inne, fing mich wieder, um warmherzig an meine Tochter zu appellieren: „Liebe Jenny, bitte rede auch mit uns. Wir hätten doch nichts gegen deine Reise eingewandt. Unsere Besorgnis trieb uns doch alle um. Bitte, lass uns teilhaben. Die Haggerthons hatten doch immer einen guten Draht untereinander.“

Jennifer seufzte erleichtert auf: „Hast recht Dad. Es war eine rein emotionale Entscheidung. Verzeiht mir. Hat sich Henry gerührt?“

Verwirrt fragte ich nach: „Mein Bruder meldete sich nicht bei dir?“

Fokussiert auf Jennys Gesicht begann die Bewegung, die mich alarmierte. Sie drehte den Kopf abwechseln von links nach rechts, als trüge sie einen Korb Eier auf dem Kopf. Der Teint meiner Tochter färbte sich fast kalkweiß. Wenn sie nach so einer Reaktion mit ihren Augen kneisterte, kämpfte sie um Fassung. Nein, ich hatte mich nicht getäuscht, dass Jenny die Situation an die Nieren ging, ihren Onkel zum Weihnachtsfest nicht um sich zu wissen. Jetzt erinnerte ich mich, wie sich beide zu diesem Fest immer wieder zusammengefunden hatten.

Meine aufmerksame Olivia zeigte ein sehr echtes ernstes Gesicht, als sie fragte: „Geht es dir gut, Schwesterchen?“

„Ja, Livi. Mir geht es viel besser. Henry rief noch nicht an, weshalb ich mir krasse Sorgen mache“, überraschte mich nicht im Geringsten.

„Kommt doch her, dann sind wir nicht mehr alleine“, schlug Livi neckend vor.

Ganz offensichtlich sah meine Jüngste betont nebensächlich in ihren Pott heiße Schokolade. Es schien eine Pause zu benötigen, um die Gedanken aller zu sortieren. Selbst meine Mutter presste die Lippen derart aufeinander, dass ich geneigt war anzunehmen, sie kämpfe mit Tränen. Mit ihrer üblichen Geste fuhr Jenny mit ihrer Hand durch ihr blondiertes Haar. Ihre wachsende Unruhe übertrug sich langsam auch auf mich. Auch hier in England breitete sich zunehmend Besorgnis aus.

Nervös fragte ich: „Er hat also auch dich nicht angerufen, Jenny? Das beunruhigt mich noch mehr.“

Samantha erhob die Hand zur Wortmeldung: „Wir sollten darüber nicht mehr über einer offenen Leitung reden, denn ich denke, wir haben genug erlebt, um vorsichtiger zu sein. Vielleicht erleichtert euch unser Entschluss, nach London zu kommen.“

„SUPER!“, rief Livi.

Nach der Beendigung dieses Telefonats kämpften zwei Seiten in mir. Eine dunkle um meinen Bruder wabernd, die andere zitterte vor Freude und Aufregung, diese Frau wiederzusehen. Sofort erhob ich mich. Nun würde ich alles für ihre Ankunft und Jennys Rückkehr vorbereiten. Meine Mutter lächelte besorgt, schloss sich mir an. Jason griff zum Smartphone und durchforstete erneut seine Nachrichten. Zuverlässig ließ sich erst am 27. wieder offiziell nach Henry suchen. Mein Bruder, der die andere Seite der Haggerthons verkörperte, lebte in einer anderen Welt. Mein Einfluss darauf versteckte ich recht geschickt in den letzten Jahren. Unsere Beziehung beruhte derzeit auf Geheimnissen und Missverständnissen. Jedoch hielt uns das familiäre Blut und meine Kinder beisammen. Seine Beziehungen zu meinen Kindern bewies ihm, dass ich ihn nie ablehnen würde. Mit einem lachenden Herzen begrüßte ich jeden Kontakt meiner Kinder zu ihm. Hoffentlich war ihm nichts widerfahren.

Nun würde ich mich endlich mal wieder um unsere Tiere kümmern. Livi stand eine Stunde später dafür ordentlich gekleidet in meiner Tür, beäugte mich, wie ich für Sammy die andere Betthälfte im dritten Schlafzimmer des Manors bezog. Keinen Moment fragte sie mit Blicken oder ihrer wundervollen Stimme. Vollkommen klar für uns beide als Ankunftsabordnung der Haggerthons war, dass erst die im Flugzeug sitzenden fehlenden Personen, dieses Weihnachtsfest nur mit Henry komplett wäre. Obwohl die Eagerwoods, welche immer zu uns gehören würden, noch fehlten. Allerdings lebten diese in ihrer eigenen Welt. Gestern riefen die beiden für uns überraschend an, um uns einen Weihnachtsgruß zu übermitteln, was sonst ausschließlich schriftlich erfolgte. Die Hoffnung den Kontakt zu den Schwiegereltern meiner ermordeten Frau aufleben zu lassen, milderte die Sorge um Henry ab.

Kaum betrat ich das Terminal im London City Airport, murmelte mir mein Bauch ununterbrochen lauter seltsame Nachrichten zu. Angefangen von der Frage, ob ich wirklich, als ein aufgeregter Junge auf einen Traum wartete oder sehnsüchtig um ein neues Abenteuer flehte. Die Landung des Fliegers aus Berlin steigerte meine Vorfreude. Unsicherheit platzte herein, weil meine eigene Tochter ebenfalls eintreffen würde. Meine Gier musste ich zügeln. Nervös summte ich einen alten Song der Beatles vor mich hin. Zwei Arme umarmten mich. Sofort erkannte ich meine Tochter. Erfüllt von Freude, kehrte ich mich zu ihr.

„Jenny! Endlich können wir Bescherung feiern. Wir warten sehnsüchtig auf dich. Meine Güte wie viel Gepäck hast du dabei?“, stöhnte ich.

Dann umflog ein Parfüm meine Nase. Im Augenwinkel näherte sich katzenhaft eine wohlbekannte Figur. Blitzschnell schritt ich auf Samantha zu, senkte meinen Kopf. Ihre dunklen Haare kämmte ich mit meinen beiden Händen zurück. Ihre Augen schlossen sich bereits. Dann trafen meine Lippen ganz sanft auf ihre. Sacht, ganz vorsichtig berührten wir uns. Ihr ungeschminkter Mund öffneten sich. Nichts hielt mich mehr. Meine Lippen umfassten ihre und meine Zunge eroberte sie. Als ihr Körper sich endlich in meinem vergrub, fühlte ich Erlösung. Seit Jahren darbte ich vor mich hin. Alles um mich herum interessierte mich nicht. Ihr Geruch betörte meine Nase, die Berührung der zarten Haut, trieb mir Gänsehaut vom Nacken zu meinen Armen und meinen Lenden. Es begann zu schmerzen, dort unten. Sammys Hände gruben sich unter meinem Jackett über mein Hemd den Rücken hinauf. Es war wie Fliegen. Fliegen, wie ich es kannte, frei, ohne Rumpf um mich herum. Nur ein Fallschirm auf dem Rücken fallen. Alles summte in meinem Kopf. Verliebt, wie ein Teenager.

Ein langer Blickkontakt entlockte ihr ein süffisantes Lächeln: „Es freut mich außerordentlich, in England wieder willkommen zu sein.“

„Also wäre ich Premier Minister, wäre ich intelligenter. Aber der wird nur gewählt. Schönes altes England – hochnäsig, abgedriftet und verdammt altmodisch. Ich hoffe, du bist nicht der Untergang dieses Königreiches. Deine Ausstrahlung schillert in allen Farben weit über die Grenzen. Hier bin ich also, eine Liebesmotte“, hauchte ich mit britischer Coolness Sammy entgegen.

Das Lächeln auf ihren Lippen entschädigte mich teilweise für die enthaltsame Zweisamkeit. Als ihre Hand an meiner entlang streifte, beruhigte ich mich, als wäre ich Buddha. Dann spreizte sich ihr kleiner Finger nach mir aus. Wir verhakten uns. Mit dem Koffer Samanthas trotteten wir verliebt hinter Jenny her. Ihr Gang zeichnete sich sehr fraulich aus. Sie wurde erwachsen. Meine Jenny wird eine Frau. Meine Tochter seufzte, um ihrer ungewollten Beteiligung an diesem Wiedersehen etwas beizutragen. Das ungerechte Grinsen meiner Berlinerin konnte ich gar nicht übersehen.