Anleitung zur Selbstüberlistung - Christian Rieck - E-Book + Hörbuch

Anleitung zur Selbstüberlistung E-Book und Hörbuch

Christian Rieck

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Beschreibung

"Wir wissen genau, was wir tun sollten, aber tun etwas völlig anderes. Wir schieben die wichtigen Dinge auf und erledigen das Unwichtige. Am Ende des Tages fragen wir uns, wo der Tag geblieben ist, am Ende des Jahres, wo das Jahr – und am Ende des Lebens? Es nützt nichts, sich vorzunehmen, etwas zu ändern, solange wir nicht die Gesetzmäßigkeit verstehen, die gegen uns arbeitet. Mit Hilfe der Spieltheorie lassen sich wie in einem Spiel Reaktionen und Spielzüge unserer Gegenspieler vorhersehen. Unter allen möglichen Gegenspielern gibt es einen, der besonders heimtückisch ist: wir selbst. Der Wirtschaftsprofessor und Experte für Spieltheorie Christian Rieck, dem auf YouTube rund 360.000 Menschen folgen, erklärt in diesem faszinierenden Buch, dass viele unserer Handlungen zwar völlig irrational erscheinen, in Wahrheit aber rational sind – wenn wir die Gegenspieler in unserem Kopf verstehen. Diese "inneren Agenten" stellen uns tagtäglich neue Fallen, um uns von langweiligen und langfristigen Aufgaben abzuhalten, doch wir können Strategien entwickeln, um sie zu überlisten. Von der Unordnung auf dem Schreibtisch über die Aufschieberitis bis zur Organisation des Arbeitstags zeigt der Autor verblüffende Wege auf, um unsere eigenen Gegenspieler wirkungsvoll zu überlisten. Erfahren Sie, wie Sie die richtigen Prioritäten verfolgen, große Projekte auf handhabbare Aufgaben herunterbrechen, Ablenkungen und innere Widerstände ausschalten und motiviert bleiben, sodass Sie spielend leicht vorankommen und jeder Schritt sogar Spaß macht. In diesem Buch erfahren Sie: -Warum Sie manchmal völlig unwichtige Dinge tun statt sich um das Wichtige zu kümmern -Warum Sie kurz vor der Deadline produktiver arbeiten -Warum Prokrastination nichts Schlechtes sein muss -Was wir von (Computer-)Spielen für unser Leben lernen können -Wie Sie die richtigen Prioritäten setzen -Mit welchen Tricks Sie Versuchungen widerstehen und Ablenkungen ausschalten können -Wie Sie optimal arbeiten, wenn Sie unter Druck stehen -Warum Aufräumen Zeitverschwendung ist -Wie Sie Ihren Arbeitsalltag und Ihr Büro optimal einrichten -Wie Sie in weniger Zeit mehr erledigen können und dabei motiviert bleiben -Wie Sie effizienter vorankommen, mehr Zeit haben und weniger gestresst sind"

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Zeit:10 Std. 56 min

Sprecher:Stefan Lehnen

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Christian Rieck

Anleitung zur Selbstüberlistung

Anleitung zur Selbstüberlistung

Machen Sie Ihr Leben zu einem Spiel, in dem Sie stets gewinnen

Christian Rieck

Wichtiger Hinweis

Die Ratschläge und Angaben in diesem Buch sind sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eventuell entstehende – mittelbare oder unmittelbare, verschuldete oder unverschuldete – Schäden oder andersartige Nachteile, die aufgrund von Äußerungen aus diesem Buch entstanden sind, berechtigen nicht zu irgendwelchen Ansprüchen (auch nicht seitens Dritter) gegen den Autor oder den Verlag und deren Beauftragte, soweit mit den gesetzlichen Regelungen vereinbar. Insbesondere die Haftung für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen. Obwohl Verlag und Autor größte Sorgfalt bei der Recherche haben walten lassen, wird keine Gewähr dafür übernommen, dass die Angaben richtig, vollständig oder anwendbar sind. Für Verbesserungsvorschläge und Hinweise auf Fehler sind Autor und Verlag dankbar. Die Benutzung von Markennamen, Zeichen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass diese frei verwendbar wären. Alle Angaben dienen ausschließlich zur allgemeinen Information und sind kein finanzieller oder medizinischer Rat oder gar eine persönliche Empfehlung. Informieren Sie sich bitte immer aus mehreren unabhängigen Quellen und suchen Sie professionellen Rat für Ihre Entscheidungen, insbesondere in den Bereichen Investments oder Medizin. Die geäußerten Meinungen stellen keinerlei Aufforderung zum Handeln dar, weder zum Kauf oder Verkauf von Vermögenswerten aller Art, insbesondere von Wertpapieren oder Sachwerten, noch zu irgendeiner Form der Selbsttherapie oder Selbstdiagnose.

Originalausgabe

3. Auflage 2024

© 2024 by Yes Publishing – Pascale Breitenstein & Oliver Kuhn GbR

Türkenstraße 89, 80799 München

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Illustrationen: Thomas Hoyer

Redaktion: Rainer Weber

Umschlaggestaltung: Imran Bashir Shaikh

Umschlagabbildung: Fran_kie/stock.adobe.com

Bild auf Seite 40: © Arcoss/Dreamstime.com

Layout und Satz: Carsten Klein

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-96905-240-2

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96905-241-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96905-242-6

Inhalt

Prolog Die Prinzipien der Selbstüberlistung

Sie sind umgeben von Nichtsnutzen

Die Direktorin-Angestellten-Theorie

Die Welt als Spiel: Spieltheorie und Spieletheorie

Was erwartet mich, wenn ich jetzt weiterlese?

Kapitel 1 Zeitinkonsistenz: Wenn die linke Hand nicht will, was die rechte tut

Die Oma, der Räuber und die Kaffeemühle

Marshmallows und der innere Konflikt

Wie lange lebt ein Agent?

Die Agenten sind mehr als Zeitgestalten: mentale Konten

Referenzpunkte: Normal ist die Welt nur bei der Geburt

Inkonsistente Zeitpräferenz: Wann unsere Gier die eigene Zukunft auffrisst

Exkurs: Verhältnis zu Schnelles Denken, langsames Denken

Kapitel 2 Die verschrobene Arbeitsmoral der Agenten

Aktivierungsenergie

Vorzieheritis (Präkrastination)

Aufschieberitis (Prokrastination)

Ach ja: noch mal zur Präkrastination

Nichtfertigstelleritis (Nonfinisierung)

Kapitel 3 Wieso wir uns das Leben schwer machen sollten

Was wir von (Computer-)Spielen für unser Leben lernen können

Die acht Elemente guter Spiele

Kapitel 4 Im produktiven Panikmodus: der Deadline-Sprint

Wie stelle ich die Uhr immer auf fünf vor zwölf?

Der Sprint: Lieber schnell arbeiten als gar nicht arbeiten

Der Tag ist voll produktiver Deadlines

Deadlines, wo keine sind

Die Geheimnisse des Deadline-Sprints

Kapitel 5 Wann es klug ist, dumm zu sein: Kybernetik und Nichtspieler

Kybernetik

Die Agenten auf Autopilot

Sollwerte für Ihre kybernetischen Agenten

Ihr Leben ist voll unbemerkter Sollwerte

Kapitel 6 Ihr Guru spielt falsch – Referenzpunkte, die keine sind

Sollwerteinstellung für Selbstüberlister

Der vergiftete Geheimagent und die abgebrochene Fritte

Der Agent, der nicht zu spät kommen will

Der Agent und sein Gegenspieler

Die Quest und die Faktor-10-Methode

Kapitel 7 Weitere Techniken der Selbstüberlistung

So sprechen Sie mit Ihrem zukünftigen Ich

Ein Ziel engt ein, ein Weg macht frei

Der letzte Tag des Lebens ist überbewertet

Der kleine Tod – besser als der letzte Tag des Lebens

Schenken Sie Ihren Agenten ein längeres Leben

Selbstbindung als Lebensverlängerung eines Agenten

Persönliche Regeln: »Ich bin Antialkoholiker«

Gewohnheiten, Routinen und Rituale

Wieso wir die Schule hätten lieben sollen

Der Stundenplan

Hausaufgaben und Minigewohnheiten

Kapitel 8 Was ist wichtig – im Leben und am Tag?

Lebenswichtigkeit

Alltagswichtigkeit

Unwichtigkeit

Eimer mit Steinen

Kapitel 9 Die Formen des Glücks: Nutzen – Hedonie – Eudämonie

Die zwei Dimensionen des Glücks: Hedonie und Eudämonie

Akrasia – wieso wir wider besseres Wissen handeln

Glück und Verzicht

Woran erkennt man Eudämonie?

Für Praktiker: Nein, Sie brauchen kein Mission Statement

Persönliche Projekte

Das Glück des glücklichen Fischers

Kapitel 10 Die dunkle und die helle Seite der Belohnungen

Bestrafende Belohnungen, Handicap und Adversity

Extrinsische Belohnungen und der Sawyer-Effekt

Intrinsische Belohnungen und der Flow

Der Reboundeffekt: Dick durch Sport

Falsche Belohnungen erkennen

Flow-Belohnungen: Verbinden Sie das Nützliche mit dem Angenehmen

Belohnungen, aber richtig

Der Saturn-Tüten-Effekt: Gewinnpunkte, Badges, Achievements und Levels

Kapitel 11 Anfangen hilft!

Den Einstieg planen, den Weg gehen

Beginnen Sie die Arbeit ungewaschen: Aktivierungsenergie verringern

Große Projekte beginnen: Speedrunning, Glitches und Cheats

Den Übergang von »Es ist ja noch viel Zeit« zu »Jetzt lohnt es sich auch nicht mehr« meistern

Essen Sie Ihren Obstkuchen von der Seite!

Die So!-Technik

Cliffhanger statt Zeigarnik-Effekt

Kapitel 12 Die Kunst, etwas nicht zu tun

Timeboxing und Monotasking

Zeitschloss und Yogapositionen

Nullbasis statt Detox und Fasten

Nicht »nicht«, sondern »sondern«

Behavioral Design und Nuding

Bonuskapitel Die Wahrheit über Prokrastination

Ohne Priorisierung keine Prokrastination

Wieso Sie Arbeiten immer aufschieben, bis sie zeitkritisch werden

Dringend ist wichtiger als wichtig

Vorsicht, Falle: absolute und relative Dringlichkeit

Kapitel 14 Antiprokrastination in der Praxis

Sind Sie überdreht? Dann tun Sie Unwichtiges zuerst!

Dinge erledigen mit strukturierter Prokrastination

Eine kleine Schulung zwischendurch: Wie Sie Selbstbetrug erkennen

Aktive Prokrastination: Gründe, wieso Sie verschieben sollten

Von der To-do-Liste zur Ideenliste und zu Ivy Lee

Kapitel 15 Methoden der Priorisierung

Wo bekomme ich am meisten für meine Zeit?

Priorisierungsfaustregeln für den Alltag

Eisenhower-Matrix: die missverstandene Methode

Wenn Ihnen das Wasser bis zum Hals steht: Triage

Kapitel 16 Schulden: zugleich besser und schlechter als ihr Ruf

Zeitliche Schulden: Kredit bei Ihrem zukünftigen Ich

Wieso Sie immer einen Berg Arbeit vor sich haben

Die Planungsfalle des freien Terminkalenders

Der Schuldzyklus

Der Weg aus dem Schuldzyklus

Kapitel 17 Wieso Aufräumen Zeitverschwendung ist

Die Ordnung der vermeintlichen Unordnung

Organische Ordnung ist keine Unordnung

Das Ordnungssystem für den Selbstüberlister

Epilog

Anmerkungen

Prolog

Die Prinzipien der Selbstüberlistung

Unter Akrasia (… Handeln wider besseres Wissen) versteht man den Fall,

dass eine Person eine Handlung ausführt, obwohl sie eine alternative

Handlung für besser hält.

Wikipedia

Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie: Sie sind ein Spieler mit gespaltener Persönlichkeit. Eine Ihrer Persönlichkeiten ist organisiert, gesund, freundlich und gibt immer rechtzeitig die Steuererklärung ab. Die andere trödelt, ernährt sich schlecht, verplempert die Zeit mit Streaming-Serien oder »Social« Media und bekommt hohen Blutdruck, weil sie sich ständig über die eigenen Unzulänglichkeiten aufregt.

Sie sind nicht die eine Person, die Sie und Ihre Freunde zu kennen glauben, sondern Ihr Kopf ist voller kleiner Ichs, die eigene Pläne haben. Ihr Ich von heute spielt gegen Ihr Ich von morgen; Ihr großes übergeordnetes und immer pünktliches Ich spielt gegen die vielen kleinen Ichs, die die schlauen Ideen des großen Ichs auch umsetzen sollen. Was sie nicht tun. Sondern sie verdrücken sich lieber und trinken in einer Hängematte Piña Colada, während Ihr großes Ich Bluthochdruck bekommt. Diese kleinen Ichs, wir nennen sie im vorliegenden Zusammenhang »Agenten«1, sind gerissen.

Wenn Sie sie anschreien, dass sie endlich mit diesem dämlichen Piña-Colada-Getrinke aufhören und mit der Arbeit anfangen sollen, dann hören sie zwar auf, Piña Colada zu trinken, aber arbeiten werden sie deshalb noch lange nicht. Diese Agenten trinken noch nicht einmal genug Wasser, geschweige denn dass sie Sport machen oder vernünftige Bücher lesen (okay, in diesem Punkt sind zumindest Sie gerade auf einem guten Weg). Am Ende des Tages haben Sie ein Ziepen im Bauch, weil Sie weder Qualitätszeit in der Hängematte verbracht haben noch die Arbeit getan ist. Selbst der Ausflug und die Party fanden nicht statt, die Sie der Arbeit vorgezogen hätten. Stattdessen verläuft das Leben in der Vorhölle zwischen dem Berg unvollrichteter Dinge und nicht genutzter Freizeit.

Sie werden es schon bemerkt haben, aber zur Sicherheit sage ich es Ihnen besser noch mal: Sie können Ihren Agenten nicht mit Vernunftargumenten kommen. Versuchen Sie mal, Ihrem Agenten, der gerade ein großes Stück Schokolade in Ihren Mund stopft, zu erklären, wie großartig Sie sich in einem Jahr fühlen würden, wenn Sie ab jetzt keine großen Stücke Schokolade mehr in sich hineinstopfen würden.

»Das stimmt«, antwortet Ihr Agent mit vollem Mund, »aber was habe ich davon?«

»Na, du wärst gesünder und hättest einen dünnen Bauch! Wieso muss ich dir solche Selbstverständlichkeiten erklären?«

»Nein, mein Lieber« (bricht ein weiteres Stück Schokolade ab und sucht den Raum nach der Chipstüte ab), »du hättest einen dünnen Bauch, nicht ich. Ich bin fürs Jetzt zuständig, und jetzt ist dieses Stück Schokolade das, was mir Vergnügen bereitet. So viel Dopamin musst du mir erst mal besorgen, und das schafft dein blöder Bauch im nächsten Jahr ganz bestimmt nicht. Über ein TikTok-Video könnten wir mal nachdenken, aber die Sache mit der Steuererklärung kannst du vergessen.« (Die rechte Hand greift nach dem Handy und öffnet die TikTok-App, die linke nimmt sich das letzte Stück der Schokolade.)

»Man kann mit dir einfach nicht vernünftig reden! Ich bitte dich, wenigstens dieses eine Mal …« (hier wiederholt Ihr Agent »dieses eine Mal« mit verdrehten Augen) »… keine Schokolade zu essen, und du machst gleich das Fass mit der Steuerklärung und TikTok auf! Sei doch ein einziges Mal vernünftig!«

»Also gut«, sagt Ihr Agent, »ich versuche vernünftig zu sein. Was würdest du denn tun, wenn du ich wärst?«

An dieser Stelle fällt Ihnen etwas auf. Sie selbst sind ja dieses Ich. Und es hat völlig recht. Hier und jetzt ist eine Schokolade mit TikTok sehr viel angenehmer als eine Steuererklärung. Den Bauch sieht man frühestens im nächsten Frühjahr; bis dahin ist noch viel Zeit abzunehmen, Sport zu treiben und Deadlines einzuhalten. Die Schokolade ist inzwischen aufgegessen, aber es gibt ja noch die Chips, und außerdem könnte man diese tolle Serie weiterschauen, die auf Netflix läuft.

Wie gesagt, Sie können Ihren Agenten nicht mit Vernunftargumenten kommen, denn die Vernunft ist auf deren Seite. Je rationaler Sie zu argumentieren versuchen, desto stärker geraten Sie ins Hintertreffen. Wenn wir einmal akzeptiert haben, dass es diese Agenten gibt, dann müssen wir zähneknirschend akzeptieren, dass sie andere Interessen haben als unser Ich in seiner Gesamtheit. Deshalb versuchen Sie gar nicht erst, sich (denn niemand anderes sind ja Ihre Agenten) mit Rationalargumenten zu überzeugen. Es gibt nur einen erfolgreichen Weg, Ihre Agenten endlich dazu zu bringen, etwas Sinnvolles zu tun: Sie müssen sie überlisten.

Deshalb sind Sie hier. Um zu lernen, sich selbst zu überlisten.

Sie sind umgeben von Nichtsnutzen

Lassen Sie uns kurz nochmals über Ihr Selbstbild sprechen. Ich hoffe, Sie sind mir bereits so weit gefolgt zu akzeptieren, dass Sie nicht der eine adrette Erdenbewohner mit ausschließlich edlen Absichten und höchster Disziplin sind. Stattdessen bestehen Sie aus einer Belegschaft katastrophaler Angestellter, die Sie (das ist der adrette Erdenbewohner) irgendwie unter Kontrolle bekommen wollen. Wenn es irgendwelche negativ besetzten Eigenschaften gibt, dann haben Ihre Angestellten sie auch. Sie sind faul, egoistisch, verfressen und kurzsichtig, denken also nur bis zur Nasenspitze.

Wenn Sie das jetzt für sich akzeptiert haben, dann können Sie den nächsten Schritt gehen und sich vergegenwärtigen, dass jede Organisation aus einer Zusammenstellung solch katastrophaler Mitglieder besteht. Das große Ganze entsteht, indem diese vielen kleinen Flachpfeifen, Nervgeigen, Müßiggänger und Herumposauner so orchestriert werden, dass ein Gesamtkunstwerk auf höherer Ebene entsteht. Sehen Sie sich die großen Leistungen der Menschheit an: Fast immer entstehen sie durch das Zusammen-Spiel vieler einzelner Individuen, die für sich allein genommen in der Regel faul, egoistisch und kurzsichtig sind. Und verfressen.

Aber mit der richtigen gemeinschaftlichen Ausrichtung entstehen die Wunder der Welt. Zugegeben, es gibt meist eine Person, die für die Ausrichtung und die Organisation sorgt; aber diese wäre nichts ohne die vielen kleinen Agenten, die die großen Ideen schließlich umsetzen. Ein Orchester besteht nicht nur aus einem Dirigenten. Dieser hat zwar eine herausragende Rolle, weil er die Leistungen aller anderen koordiniert und damit überhaupt erst zu einer Gemeinschaftsleistung macht. Er hat auch mehr Möglichkeiten, eine Richtung vorzugeben. Aber letztlich ist auch seine Rolle nur eine der vielen Spezialaufgaben, die ein Orchester braucht, um ein Orchester zu sein.

Ich habe eben nicht umsonst vom Zusammen-Spiel gesprochen. Das Kunstwerk entsteht aus dem Zusammenwirken der vielen Bestandteile. Aber dieses Zusammenwirken funktioniert nicht wie eine Maschine, in der Hebel und Zahnrädchen deterministisch ineinandergreifen und sich zu 100 Prozent dem einen großen Plan unterordnen. Vielmehr entsteht dieses Zusammenwirken, indem alle Mitglieder lokal für sich arbeiten und optimieren, kleine Probleme aus dem Weg räumen, das tun, was für sie am besten ist, und am Ende dennoch im Sinne des großen Ganzen handeln. Ein solches System aus lokalen Entscheidern ist dem Uhrwerk fast immer überlegen – zumindest in einer komplexen und variablen Umwelt. Denn das mechanische Getriebe ist viel zu starr, um sich auch nur an die kleinsten Abweichungen vom Plan anzupassen. Ein einzelnes Sandkorn bringt das Zahnradgetriebe zum Stillstand; ein lebender Organismus hingegen kann ganze Berge aus dem Weg räumen.

Das letzte Jahrhundert war das Jahrhundert der Maschinen; dieses ist das der Organismen.

Wie so etwas funktioniert, das untersucht die Spieltheorie. Ich möchte Sie an dieser Stelle nicht mit den technischen Details dazu langweilen, aber die Theorie ist keineswegs so verspielt, wie ihr Name nahelegt, denn ursprünglich war sie eine mathematische Theorie. Schon die verwendeten Bezeichnungen sind für Uneingeweihte abschreckend und unverständlich, weil sie oft genug aus deutsch ausgesprochenen englischen Wörtern bestehen. Nehmen wir als Beispiel den Begriff principal agent theory, dessen ungelenke Eindeutschung zu Prinzipal-Agenten-Theorie mehr zur Verschleierung als zur Aufklärung beiträgt. Kaum nehmen wir aber geeignete Übersetzungen, wie gleich in der folgenden Zwischenüberschrift, schon hellt sich das Bild auf.

Die Direktorin-Angestellten-Theorie

Wir definieren eine Agency-Beziehung als einen Vertrag, unter dem […]

die Direktorin eine andere Person (den Agenten) anstellt, um in ihrem

Auftrag eine Aufgabe auszuführen, und dabei die Freiheit mitdelegiert,

eigene Entscheidungen zu treffen.

Etwas frei übersetzt nach Michael C. Jensen und William H. Meckling, die als Urheber der Prinzipal-Agenten-Theorie angesehen werden können2

Bleiben wir einmal in dem Bild, dass eine Direktorin ihre Angestellten dazu bringen will, gemeinsam etwas Sinnvolles zu tun. Es gibt zwei Extreme, wie sie das umsetzen kann: In dem einen Extrem macht sie präzise Anweisungen für jeden Spezialfall, der auftreten kann; in dem anderen Extrem gibt sie lediglich das Ziel vor und hofft, dass die Angestellten selbst eine Methode entwickeln, dort anzukommen. Sie brauchen sich nicht für einen der beiden Wege zu entscheiden: Beide sind zum Scheitern verurteilt.

Genaue Anweisungen für jeden Spezialfall zu geben, ist in einer komplexen Welt ein Ding der Unmöglichkeit. In der Spieltheorie beschäftigen wir uns mit stark vereinfachten Fällen, und schon dort sind derartige vollständige Pläne sogar mit den leistungsfähigsten Computern nicht zu handhaben. Aber selbst wenn sie möglich wären: Ständig tauchen neue Informationen auf, und diese hat zuerst der Ausführende. Die Chefin würde also ständig der Realität hinterherlaufen und faktisch doch alles selbst machen müssen. Deshalb lebt eine Organisation davon, dass die Angestellten vor Ort selbständig Probleme lösen, Umwege gehen, Fehler ausmerzen und Methoden entwickeln, auf anderen Wegen zum Ziel zu kommen.

Wer aber ausschließlich auf diese Wunderheilung vor Ort vertraut, macht die Rechnung ohne den Wirt. Denn die Angestellten wissen ja, dass sie mehr wissen als ihre Chefin. Vor die Wahl gestellt, viel zu arbeiten und den Bonus der Chefin zu erhöhen oder Kaffee zu trinken und selbst das Leben zu genießen, entscheiden sie sich immer für Letzteres. Die Chefin hat nun einmal nicht die nötigen Informationen, um herauszufinden, ob das Projekt wegen der Kaffeetrinkerei oder wegen widriger Umstände von außen gescheitert ist.

Wenn die Direktorin die Sache falsch angeht, dann wird sie deshalb immer auf traurig dreinschauende Mitarbeiter stoßen, die ihr hochgradig plausible Gründe nennen, wieso alles nicht funktioniert hat. Und wieso sie mit dem Misserfolg nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Ehrlich! Große Hundeaugen.

Das Direktorin-Angestellten-Problem:3 Wie bekommt die Direktorin ihre Angestellten dazu, das zu tun, womit sie sie beauftragt, obwohl sie nicht alles kontrollieren kann?

Natürlich hat die Theorie eigentlich einen englischen Namen: Principal Agent Theory.4

Merken Sie sich den englischen Namen bei Bedarf gern für die nächste Cocktailparty.

Die Lösung zu diesem Problem besteht darin, Voraussetzungen zu schaffen, unter denen die Angestellten ihre Aufgabe freiwillig so gut wie möglich ausführen. Freiwillig heißt nicht unbedingt gern. Das liegt an der kleinen Asymmetrie in den Rollen der beiden Beteiligten. Denn die Direktorin kann die Spielregeln vorgeben, nach denen die Agenten zu spielen haben. Wenn diese Regeln geschickt gestaltet sind, dann kann es sein, dass die Agenten zwar eigentlich nach wie vor lieber Kaffee trinken würden, aber im Lichte der neuen Regeln zu dem Schluss kommen, zähneknirschend doch besser etwas anderes zu tun: zufälligerweise das, was die Direktorin von ihnen will.

Nehmen Sie folgende Regel: »Entweder der Job ist bis zum Ende des Jahres in hinreichend hoher Qualität erledigt, oder Sie sind danach in die Poststelle versetzt!« Diese Vorgabe ist erstaunlich motivierend, das eigene Wissen im Sinne der Direktorin einzusetzen (sofern der Agent die Poststelle nicht als positiven Karriereschritt ansieht). Diese Regel ist übrigens in totalitären Staaten gang und gäbe, weil dort jeder jedem misstraut; nur dass dort die Poststelle oft durch Straflager ersetzt wird. Ein etwas besseres Arbeitsklima könnte entstehen, wenn statt der Peitsche das Zuckerbrot eingesetzt wird und der Angestellte einen dicken Bonus bekommt, wenn er das vorgegebene Ziel erreicht.

In der Praxis ist beides nicht so einfach, wie es sich hier anhört, denn die Regeln müssen den Gegebenheiten geschickt angepasst sein. Hat der Angestellte keine Chance, das Ziel zu erreichen, versucht er es gar nicht erst; ebenso, wenn die Belohnung zu klein ist. Ist das Ziel hingegen zu leicht zu erreichen oder die Belohnung zu hoch, dann kostet das Spiel die Direktorin mehr, als es ihr bringt. Macht sie es hingegen aus ihrer Sicht richtig, dann ist es ein übelst abgekartetes Spiel, bei dem sich die Angestellten ihren Wünschen unterordnen müssen.

Nicht, dass es wichtig wäre, aber vielleicht möchten Sie in diesem Zusammenhang noch einen weiteren gelehrt klingenden Namen für Ihre nächste Cocktailparty kennenlernen:

Mechanismusdesign ist die Kunst, Spielregeln so zu gestalten, dass die Spieler »freiwillig« ein gewünschtes Ergebnis hervorbringen.

Für das Gebiet des Mechanismusdesigns wurde sogar ein Nobelpreis vergeben.5

Sie merken jetzt schon, worauf die Sache mit der Selbstüberlistung hinausläuft. Die Direktorin denkt sich ein cleveres Spiel aus, und indem es die Agenten nach den somit vorgegebenen Regeln spielen, tun sie das, was die Direktorin will.

Das war ein erster Blick in die Kunst der Selbstüberlistung. Aber gehen wir die Sache langsam an. Schließlich sind wir noch im ersten Level.

Die Welt als Spiel: Spieltheorie und Spieletheorie

Je komplexer das Modell, desto schwieriger ist es,

Einsichten daraus zu gewinnen.

Paul Papayoanou: Game Theory for Business6

Ich habe es ja bereits angedeutet: Die bisherigen Überlegungen entstammen durchweg der Spieltheorie. Normalerweise ist das eine ziemlich komplizierte Theorie, in der alles von oben bis unten mit Formeln gespickt ist, sodass man selten auch nur erahnt, was man damit wohl anfangen könnte.

Die wahrscheinlich einfachste Beschreibung lautet: Spieltheorie ist eine mathematische Theorie darüber, wie man Entscheidungen trifft. Dabei geht es um Entscheidungen in einem bestimmten Typus von Situationen, nämlich solchen, bei denen es andere »vernunftbegabte Gegenspieler« gibt, die ebenfalls Einfluss auf das Ergebnis der eigenen Entscheidung haben.

Das Wort vernunftbegabt besagt in diesem Zusammenhang, dass die betreffende Person

weiß, was sie gut und was sie schlecht findet,

und dass sie die Konsequenzen des eigenen Handels zumindest teilweise abschätzen kann.

Wir dürften uns darüber einig sein, dass wir selbst und die meisten Menschen um uns herum in diese Klasse fallen. Auch viele Tiere und zunehmend technische Geräte dürften mit dabei sein. Hunde haben nicht umsonst »treue Hundeaugen«, mit denen sie uns zur Fütterung bringen, und technische Geräte verhalten sich ebenfalls zunehmend vernunftbegabt, indem sie uns zum Beispiel durch clevere Tricks immer wieder dazu bringen, eine App zu öffnen, oder indem sie autonom Entscheidungen treffen, die ihre Programmierer nur sehr mittelbar auf den Weg geschickt haben.

Ein vernunftbegabter Spieler wird solche Entscheidungen treffen, von denen er annehmen kann, dass sie für ihn eher zu guten Konsequenzen führen als zu schlechten. Das muss nicht immer perfekt funktionieren, aber solange die beiden oben genannten Zutaten vorhanden sind, liegt Vernunftbegabung vor und die Situation fällt in den Bereich der Spieltheorie.

Wenn Sie sich fragen, wieso eine solche Theorie ausgerechnet Spieltheorie heißt: Das liegt daran, dass die eben beschriebene Situation in den klassischen Gesellschaftsspielen vorliegt. Schach ist ein gutes Beispiel: Sie müssen im Rahmen vorgegebener Regeln eine Abfolge von Entscheidungen treffen und verfolgen dabei ein Ziel; aber es gibt einen Gegenspieler, der ein anderes Ziel verfolgt, der ebenfalls entscheiden kann und der versucht, Ihre Pläne zu durchkreuzen. Tatsächlich ist dies die universelle Situation unseres Lebens. Fast immer sind wir umgeben von anderen Entscheidern, deren Interessen andere sind als unsere, vom Konkurrenten unseres Unternehmens bis zur Social-Media-App. Falls Sie sich wundern, dass eine App ein Gegenspieler sein kann: Das liegt daran, dass sie von einem vernunftbegabten Gegenspieler entwickelt worden ist, der eigene Interessen verfolgt. Dessen strategische Überlegungen fließen daher in das Verhalten der App ein.

Spieletheorie

Neben der Spieltheorie gibt es auch die Spieletheorie (mit einem E in der Mitte). Das ist die Bezeichnung für Theorien, die sich mit Spielen beschäftigen, die wir zur Unterhaltung spielen. Am Beispiel Schach sehen Sie sofort, dass es eine Überschneidung zwischen Spieltheorie und Spieletheorie geben muss. Es sind aber unterschiedliche Blickwinkel auf dieselbe Sache.

Die mathematische Spieltheorie fragt, wie man ein Spiel optimal spielt, was Rationalität ist oder wie man die Regeln so gestaltet, dass sich ein rationaler Spieler auf eine gewünschte Weise verhält (Sie erinnern sich an das Mechanismusdesign). Die Spieltheorie erklärt auch, wieso sich ein Spieler in einer bestimmten Situation (einem Spiel) auf bestimmte Weise verhält, indem er Überlegungen anstellt, die man erst auf den zweiten Blick sieht: Beim Schach reicht es nicht, nur das Offensichtliche zu tun, sondern man muss mehrere Schritte durchdenken beziehungsweise vorausdenken. Diese Theorie hat also einen sehr allgemeinen Begriff von »Spiel«: Fast jede Entscheidungssituation mit einem vernunftbegabten Spieler ist ein Spiel. Gibt es nur einen solchen Spieler und der Rest ist Zufall, dann handelt es sich um ein Glückspiel7 (Einpersonenspiel); sind mehrere vernunftbegabte Spieler beteiligt, dann ist es ein strategisches Spiel.

Die Spieletheorie hingegen fragt, wie man ein Spiel interessant gestaltet (zum Beispiel bei Computerspielen oder bei Lernspielen) oder welche Wirkung ein Spiel auf die Spieler hat (zum Beispiel in der Pädagogik). Die Theorie ist ebenfalls aus ihrer schmalen Ecke herausgekommen und tritt im Alltag in Erscheinung. Gamification beschäftigt sich damit, wie man Elemente von Unterhaltungsspielen in anderen Bereichen des Lebens einsetzen kann. Rabattgutscheinsysteme sind zum Beispiel mit solchen Elementen gestaltet (»Heute doppelte Punkte!«; »Rubbeln Sie das Feld frei!«). Auch hat der typische Schulunterricht viele Elemente der Spielgestaltung, obwohl es nicht immer danach aussieht (mehr dazu im Abschnitt »Wieso wir die Schule hätten lieben sollen« ab Seite 20).

Unser ganzes Leben besteht aus Spielen im Sinne dieser beiden Theorien. Stellen Sie sich vor, Sie wollen in die Bäckerei gehen, um ein Brot zu kaufen. Wenn Sie zu früh hingehen, dann schleppen Sie das Brot länger mit sich herum; gehen Sie aber zu spät, hat es vielleicht schon ein anderer gekauft. Dies wäre ein strategisches Spiel gegen Ihnen unbekannte Gegenspieler und gegen Zufallselemente (die S-Bahn ist ausgefallen, deshalb kommen die anderen Kunden nicht an). Die Bäckerei muss Preise und Einkaufsmengen festlegen, die wiederum von den anderen Bäckereien, den Kunden und ausgefallenen S-Bahnen abhängen.8 Vielleicht stellt die Bäckerei Brötchen in Form kleiner Männchen mit Pfeife her; das ist ein spielerisches Element im Sinne der Gamification.

Selbstüberlistung nutzt Elemente beider Theorien mit Schwerpunkt auf der Spieltheorie. Was die strategischen Spiele angeht, betrachtet sie hier aber einen ganz besonderen Typus von Gegenspieler: uns selbst. Spiele gegen uns selbst sind eine Anwendung der spieltheoretischen Forschung, die erstaunlicherweise zu kurz gekommen ist, obwohl auch dieser Fall unser Leben von vorn bis hinten durchzieht. Wenn Sie am Morgen verschlafen auf die Schlummertaste Ihres Weckers drücken, dann spielen Sie ein Spiel gegen Ihr Selbst vom Vorabend, das diese Höllenmaschine scharf gestellt hat. Indem Sie auf »Schlummern« statt auf »Aus« drücken, spielen Sie ein Spiel gegen Ihr Selbst in fünf Minuten, dem Sie nicht so weit über den Weg trauen, dass es ohne weiteren Lärm aufstehen wird.

Wenn Sie einen Job annehmen, anstatt zu studieren, dann spielen Sie ein Spiel gegen Ihr zukünftiges Ich, das dann ohne Studium arbeiten geht und sich vielleicht ärgert, dass sein vergangenes Ich zu wenig an die Zukunft gedacht hat. Vielleicht hatte Ihr früheres Ich aber auch so viel mehr Spaß, dass es sich gelohnt hat, dafür auf mehr Geld später im Leben zu verzichten. Und vielleicht taucht ein Zufallselement auf, das Sie genau deshalb reich werden lässt, weil Sie nicht studiert haben. Oder Sie machen Ihren Meister in einem gefragten Handwerk, gründen eine eigene Firma und hängen Ihr dann kontrafaktisches Akademiker-Ich ab. Da kann – von der gesicherten Auftragslage und vom Verdienst her – kein Akademiker mehr mithalten.

Wie Sie sehen werden, stehen wir uns nicht nur selbst im Weg, sondern haben oft genug auch gute Gründe dafür, das zu tun. Manchmal besteht die List darin, das Im-Weg-Stehen zu vermeiden; manchmal besteht sie darin, es zu fördern.

Was erwartet mich, wenn ich jetzt weiterlese?

Machen wir nun einen kleinen Test, ob es sich für Sie lohnen wird, dieses Buch weiterzulesen. Gehen Sie dafür einfach die folgende Liste durch. Je mehr der Punkte auf Sie zutreffen, desto eher sind Sie ein Kandidat für Selbstüberlistung.

Sie wollen etwas tun, machen es aber nicht.

Sie wollen etwas nicht tun, machen es aber trotzdem.

Sie wissen, was Sie tun sollten, fangen aber einfach nicht damit an.

Sie fangen etwas an, aber anstatt es zu Ende zu führen, machen Sie etwas ganz anderes.

Sie tun fast zwanghaft Dinge, die Sie keinen Schritt weiterbringen.

Sie beobachten an sich Suchterscheinungen, nicht nur gegenüber Substanzen, sondern auch gegenüber Tätigkeiten.

Am Abend wissen Sie nicht, was Sie den ganzen Tag getan haben.

Am Ende des Monats wissen Sie nicht, wo Ihr Geld geblieben ist.

Am Ende des Jahres wissen Sie nicht, wo Ihr Geld oder Ihre Zeit geblieben sind.

Am Ende des Jahrzehnts ist es genauso.

Sie hätten Angst, Ihren eigenen Nachruf zu schreiben.

Sie haben ständig das Gefühl, dass Sie mal aufräumen sollten.

Sie räumen dauernd auf, leben aber im Chaos, zumindest im gefühlten.

Ihr Leben ist gesäumt von halbfertigen oder geplanten und nie begonnenen Projekten.

Sie legen To-do-Listen an, aber die werden nur länger, nie kürzer.

Sie erlernen Zeitmanagement-Methoden, aber der Stress und der Berg unerledigter Arbeit bleiben.

Sie wären gern strukturiert, sind es aber nicht.

Sie haben ewig viel zu tun, langweilen sich aber trotzdem oft.

Sie würden sich gern gesund ernähren, tun es aber meistens nicht.

Sie würden gern Sport treiben, tun es aber meistens auch nicht.

Dafür nutzen Sie zu oft Ihr Smartphone, essen zu viel oder zocken zu oft Computerspiele.

Sie haben dauernd ein schlechtes Gewissen, weil Sie irgendetwas nicht erledigt, aufgeschoben, halbfertig unterbrochen, nicht überwiesen oder vergessen haben.

Wenn Sie sich in dieser Liste wiedererkennen, dann dürfen Sie hoffen. Denn die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der zuvor beschriebene Konflikt in Ihnen tobt und in Ihnen zwei Instanzen gleichzeitig laufen, die unterschiedliche Ziele verfolgen: die Direktorin und die Agenten.

Sie werden sehen, dass viele der obigen Handlungen oder Unterlassungen, die zunächst irrational erscheinen, in Wahrheit das Ergebnis völlig rationaler Optimierungen sind. Es hilft deshalb nichts, sich einfach vorzunehmen, etwas zu ändern. Solange das Prinzip dahinter nicht verstanden ist, werden wir immer wieder rückfällig. Aber mit dieser Erkenntnis stoßen wir auf Hebel, die uns sonst verborgen geblieben wären.

Ein Indikator dafür, dass hier eine überraschende Form der Rationalität vorliegt, ist, dass Sie auf der Liste mitunter Aktivitäten finden können, die Ihnen eigentlich Spaß machen. Es kann durchaus sein, dass Ihnen Sport eigentlich Spaß macht, Sie aber trotzdem viel zu selten damit anfangen. Es würde Ihnen auch Spaß machen, übers verlängerte Wochenende wegzufahren, aber die meisten Wochenenden vergehen ohne den Ausflug.

Die Lösung für diese Probleme entsteht, wenn Sie die unterschiedliche Natur der beiden Instanzen in Ihnen erkennen und die Existenzberechtigung beider akzeptieren. Vordergründig wirkt es oft so, als sei nur der eine Typus in Ihnen »rational« und der andere ein Störenfried (wobei wir je nach Situation den einen oder den anderen für den rationalen halten). Tatsächlich sind aber immer beide anwesend und immer haben beide aus ihrer jeweiligen Warte recht.

Dieses Buch will Ihnen helfen, mithilfe der Spieltheorie die beiden zu Partnern zu machen, die sich gegenseitig ergänzen. Es ist vollgestopft mit anwendbaren Tipps und Hintergrundinformationen, die ich wie ein Kurator für Sie aus Zigtausenden Seiten anderer Bücher zusammengemischt habe. Und zwar so, dass Sie durch die Theorie der Selbstüberlistung verstehen, wieso und wann manche Methoden so gut funktionieren und andere nicht.

Behandeln Sie das Buch daher wie eine gute Playlist in Ihrer Musiksammlung: Es lohnt sich, auf Wiederholungsschleife zu stellen und per Zufallswiedergabe immer mal wieder hineinzusehen. Verschlingen Sie es gern beim ersten Lesen, aber legen Sie es dann ans Bett oder auf Ihren Schreibtisch und sehen Sie immer mal wieder hinein. Sie stoßen auf das eine oder andere Juwel, das Sie vielleicht nicht auf Anhieb erkennen. Mir selbst zumindest ist es so gegangen.

Und jetzt bleiben wir nicht länger im Abstrakten, sondern sehen uns genauer an, wie die Spieltheorie arbeitet und wie der beschriebene innere Konflikt genau aussieht.

Werfen wir als Erstes einen Blick darauf, wie die Agenten denken und was genau der Unterschied zur Sicht der Direktorin ist. Denn erst mit diesem Verständnis für uns selbst können wir die Werkzeuge entwickeln, mit denen wir uns überlisten.

Kapitel 1

Zeitinkonsistenz: Wenn die linke Hand nicht will, was die rechte tut

Du bist dir nur des einen Triebs bewußt,

O lerne nie den andern kennen!

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,

Die eine will sich von der andern trennen;

Die eine hält, in derber Liebeslust,

Sich an die Welt mit klammernden Organen;

Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust

Zu den Gefilden hoher Ahnen.

Johann Wolfgang von Goethe, Faust

Auf einer jährlich stattfindenden Konferenz gab es das Problem, dass die Redner ständig ihre Redezeit überzogen und auf diese Weise das gesamte Tagesprogramm durcheinanderkam. Die Veranstalter versuchten so ziemlich alles: einen riesigen Countdown-Timer prominent im Gesichtsfeld der Referenten zu platzieren (wurde beständig ignoriert); einen Moderator einzusetzen, der mit Warnkärtchen in der Luft herumfuchtelte (wurde ignoriert); einen Wecker klingeln zu lassen (wurde auch ignoriert). In einem Jahr gab es deshalb den Beschluss, fünf Sekunden nach Ablauf der Redezeit das Licht anzuschalten und weitere fünf Sekunden später das Mikro abzuschalten.

Einer der ersten Sprecher war ein in seinem Bereich berühmter honoriger alter Herr. Es war eine Auszeichnung für den Veranstalter, dass diese Koryphäe sich die Ehre gab, dort vorzutragen. Natürlich ignorierte er die Zeitvorgabe und den Timer. Mitten im Satz schaltete der Veranstalter das Licht an und kurz darauf den Ton aus. Der Referent sprach tonlos weiter, gestikulierte noch einige Zeit und verließ dann entrüstet die Bühne. Es war ein Affront, eine Ungeheuerlichkeit. Wie konnte der Veranstalter es wagen, ihm, der Berühmtheit, mit der sich die Veranstaltung schmückte, den Ton abzustellen? Wer hatte es gewagt, ihn so bloßzustellen? Es war eine teure Entscheidung für den Veranstalter, denn er hatte nun einen wichtigen Kontakt und Gönner weniger.

Tatsächlich hatte er nicht verstanden, in welcher Entscheidungssituation er sich befand. Er hatte das Prinzip, das der Agententheorie zugrunde liegt, nicht verstanden. Das ursächliche Problem bestand darin, dass es für den Agenten am Ende des Vortrags die theoretische Möglichkeit gegeben hätte, den Referenten überziehen zu lassen. Egal, wie sehr vereinbart war, die Zeit genau einzuhalten – kaum ist der Zeitpunkt erreicht, ist es nicht mehr rational, den Ton tatsächlich abzuschalten. Die Kosten für den Veranstalter sind in jenem Augenblick viel zu hoch, seine eigenen Regeln durchzusetzen.

Sehen wir uns die Theorie dahinter etwas genauer an, indem wir in die Welt der Spieltheorie wechseln, bevor wir zu einer einfachen Methode kommen, die das Problem des Veranstalters gelöst hätte.

Die Oma, der Räuber und die Kaffeemühle

Betrachten wir dafür ein Spiel zwischen zwei Spielern, der Oma und dem Räuber Hotzenplotz aus dem bekannten Kriminalroman Der Räuber Hotzenplotz. Ich muss Sie warnen: Dieser Abschnitt ist zwar durchaus unterhaltsam, aber etwas technischer als der Rest des Buches.

Steigen wir also ein mit der spieltheoretischen Darstellung des Kriminalfalls zwischen den beiden Spielern Räuber Hotzenplotz und Oma.

Oma hat eine Kaffeemühle, die Hotzenplotz auch gern hätte. Hotzenplotz hat neben seinem fragwürdigen Charakter eine Pfeffergranate. Wenn er diese zündet, dann haben die Anwesenden (ihn eingeschlossen) schreckliches Augentränen, was daher alle zu vermeiden suchen. Um die Situation als Spiel abzubilden, müssen wir sie als strukturierte Abfolge möglicher Züge (= Einzelentscheidungen) darstellen. Diese Abfolge sieht folgendermaßen aus:

Hotzenplotz sieht die Oma mit ihrer Kaffeemühle und fragt sich, ob er diese Tatsache einfach ignorieren sollte oder ob er sie zur Herausgabe der Mühle auffordern sollte. Dies ist sein erster Spielzug: die Entscheidung zwischen nichts tun und Kaffeemühle verlangen.

Falls er die Mühle verlangt, ist die Oma an der Reihe. Bei ihrem Zug muss sie sich entscheiden, ob sie die Mühle hergibt oder behält.

In beiden Fällen ist danach wieder Hotzenplotz am Zug und muss sich entscheiden zwischen Pfeffergranate zünden oder Pfeffergranate nicht zünden. Wir gehen hier davon aus, dass er keine Möglichkeit hat, die Mühle einfach an sich zu nehmen; wenn die Oma sie nicht herausgibt, dann kann er zwar seine Granate zünden, bekommt aber nicht die Mühle.

Anschließend ist das Spiel vorbei und die Spieler erhalten Auszahlungen, je nachdem wie die Partie verlaufen ist.

Kenner der Hotzenplotz-Literatur werden hier möglicherweise Abweichungen von der Primärquelle erkennen; die wurden vorgenommen, um den Fall spieltheoretisch einfacher handhabbar zu machen. Außerdem ist der Fall nun analog zu unserem Eingangsbeispiel: Statt Hotzenplotz verlangt dort der Veranstalter etwas (nämlich die Redezeit einzuhalten), der Redner kann sich daran halten oder nicht, und der Veranstalter kann abschließend die Granate zünden, indem er das Mikrofon abstellt, oder er kann das Überziehen ignorieren.

Stellen wir nun das Spiel in seiner Hotzenplotz-Variante als Spielbaum dar. Es beginnt oben mit dem ersten Zug von Hotzenplotz, dann kommt die Oma dran, anschließend noch einmal Hotzenplotz. Ein Spieldurchlauf vom Start bis zu einem Endknoten heißt Partie. Nach jeder Partie (also an jedem Endknoten) erhalten beide Spieler je eine Auszahlung. Diese Auszahlung ist ein Maß dafür, wie gut oder schlecht die Spieler die verschiedenen Spielausgänge finden. Dieses Gut- oder Schlechtfinden drücken wir mit der Höhe der Auszahlung aus; je höher diese ist, desto besser findet der jeweilige Spieler den betreffenden Spielausgang. Die Auszahlung an den ersten Spieler (hier: Hotzenplotz) steht immer oben, die an den zweiten Spieler (die Oma) darunter.

Sagen wir, die Kaffeemühle habe für beide Spieler einen Wert von 1. Wenn die Granate gezündet wird, dann führt dies zu einem negativen Wert von –9. Stören Sie sich nicht daran, dass die Auszahlungspunkte willkürlich erscheinen. Für die hiesige Analyse kommt es nur darauf an, in welche Reihenfolge die Spieler die verschiedenen Spielausgänge bringen. Mit den Zahlenwerten veranschaulichen wir das, ohne viel Mathematik einführen zu müssen. Wir könnten das verkomplizieren und die Auszahlungen mit griechischen Buchstaben bezeichnen und durch Integrale herleiten; eine tiefergehende Erkenntnis würde das aber nicht bringen. Der gesamte Spielbaum mit Auszahlungen sieht nun so aus:

Das Spiel zwischen Hotzenplotz und der Oma.

Anleitung zum Lesen des Spielbaums:An jedem Knoten entscheidet ein Agent des jeweiligen Spielers, welchen Zug er wählt. Jedes Baumende entspricht einem Spielausgang. Die Zahlen sind die Auszahlungen an die beiden Spieler; Hotzenplotz als erster Spieler erhält jeweils die obere Zahl, Oma erhält die zweite.

Sehen wir uns an, wie die klassische Spieltheorie die Situation analysiert. Die Vorgehensweise dabei ist, in sogenannten Strategien zu denken. Eine Strategie ist ein vollständiger Verhaltensplan, der genau angibt, was in welcher Situation zu tun ist. Sie können sich eine Strategie vorstellen wie ein Computerprogramm, dem vorher genau einprogrammiert wurde, was wann zu tun ist. Vergleichbar auch mit verschachtelten Wenn-dann-Verzweigungen in Excel. Ein solcher Plan ist sehr viel umfangreicher als das, was wir in unserer Alltagswelt als Plan ansehen, denn eine Strategie enthält Anweisungen für alle denkbaren Situationen, in die ein Spieler kommen kann. Eine Strategie ist nur dann vollständig, wenn sie für alle Fälle Eventualpläne enthält. Sie ist so vollständig, dass die Spieler ihre Strategie festlegen können und ab da nicht mehr einzugreifen brauchen, sondern die Strategien einfach gegeneinander spielen lassen können. Eine Strategie ist ein wenig so, wie wenn man einen Roboter programmiert, der dann das Spiel genau so spielt, wie man es ihm vorher gesagt hat, und der auch in jeder Situation exakt weiß, was er tun soll.

Wenn ein Spiel auf diese Weise analysiert wird, liegt das sogenannte zentralistische Spielerkonzept vor: Jeder Spieler sieht aus der Vogelperspektive auf das Spiel und wählt aus dieser Sicht seine Strategie. Jeder dieser zentralistischen Spieler wählt eine Strategie, die ab da unveränderlich gilt und die er nicht mehr ändern kann. Die Art, wie der Spieler auf mögliche Züge des Gegenspielers reagieren will, ist bereits vollständig in der von ihm gewählten Strategie festgelegt. Das scheint keine wesentliche Einschränkung zu sein, weil die Strategie ja alle denkbaren Eventualpläne umfasst. Sie werden aber gleich sehen, wieso dies sehr wohl einen dramatischen Einfluss auf den Spielausgang haben kann und was dies mit unserer Direktorin und den Agenten zu tun hat.

Sehen wir uns nun an, zu welchem Ergebnis dieses zentralistische Spielerkonzept führt. Hierfür müssen wir uns überlegen, welche Strategien die beiden Spieler haben.

Bei der Oma ist es einfach, denn sie kann nur einen einzigen Zug machen: Sie kann die Kaffeemühle entweder hergeben oder behalten. Daher hat sie nur zwei Strategien, die jeweils aus genau einem Zug bestehen:

Omas Strategien

hergeben

behalten

Allerdings ist eine Strategie im Allgemeinen deutlich umfangreicher als ein Zug. Das sehen wir bei dem anderen Spieler, Hotzenplotz. Eine seiner Strategien enthält den Zug ignorieren, womit das Spiel bereits endet. Zusätzlich hat er aber noch den Zug Mühle verlangen; sollte er diesen wählen, dann muss er nach Omas Zug jeweils entscheiden, ob er seine Pfeffergranate zündet oder nicht zündet. Diese Züge kann er in allen möglichen Kombinationen zu Strategien verbinden. Seine Strategien sind somit:

Strategien des Hotzenplotz

Strategie1: ignorieren

Strategie2: Mühle verlangen;

falls er Mühle bekommt: Granate nicht zünden

falls er Mühle nicht bekommt: Granate zünden

Strategie3: Mühle verlangen;

falls er Mühle bekommt: Granate zünden

falls er Mühle nicht bekommt: Granate nicht zünden

Strategie4: Mühle verlangen;

falls er Mühle bekommt: Granate nicht zünden

falls er Mühle nicht bekommt: Granate nicht zünden

Strategie5: Mühle verlangen;

falls er Mühle bekommt: Granate zünden

falls er Mühle nicht bekommt: Granate zünden

Vielleicht sind Sie erstaunt über die Vielzahl der Strategien, die sich bereits hier ergeben. Das liegt daran, dass alle Eventualitäten berücksichtigt werden müssen, die auftreten können, und alle Möglichkeiten, die man selbst hat. Auf diese Weise entstehen auch paradoxe Strategien, zum Beispiel die Granate nur dann zu zünden, wenn die Oma die Kaffeemühle hergegeben hat. Diese Strategie ist offensichtlich unsinnig (»irrational«), weil sie erkennbar gegen die Interessen des Räubers verstößt. Aber das muss nicht immer so sein. Oft kommt man durch die systematische Analyse einer Situation bereits auf neue Möglichkeiten, die man zuvor voreilig übersehen hat. Das ist der Vorteil einer mathematischen Beschreibung.9

Welche Verhaltensweise der beiden Spieler ist jetzt rational? Die vermeintlich einzige Logik dieser Situation ist die: Hotzenplotz weiß, dass die Oma keinesfalls die Granate abbekommen will. Deshalb verlangt er die Mühle, sie gibt sie ihm; Hotzenplotz geht glücklich mit nicht gezündeter Granate und erbeuteter Mühle weg; Oma bleibt traurig ohne Mühle zurück. Wir sehen hier die gleiche Situation, die wir aus zahlreichen Filmen kennen: Person A hält der Person B eine Waffe vor die Nase und verlangt etwas. Person B macht, was A will. Kein Schuss fällt, Szene zu Ende.

Im Spielbaum sieht die eben beschriebene Strategie des Hotzenplotz so aus, wie in der folgenden Abbildung eingezeichnet.

Eingezeichnet ist die Strategie2, die aus Sicht des zentralistischen Hotzenplotz optimal ist, weil sie die Oma zwingt, die Kaffeemühle herauszugeben.

Erinnern Sie sich daran, dass beim zentralistischen Spieler alle Züge zu Beginn des Spiels festgelegt werden und sich der Spieler danach nicht mehr umentscheiden kann. Die Oma weiß daher, dass sie zwar die Kaffeemühle behalten könnte, dann aber die Ladung Pfeffer abbekommt. Das vermeidet sie lieber.

Aber ist das so in der echten Welt? Natürlich nicht. Denn dort sagt der Räuber zwar zu Beginn des Spiels: »Liebe Oma, ich spiele Strategie2«, aber die Oma antwortet: »Lieber Räuber, ich weiß, dass du Strategie2 spielen willst, aber wenn es so weit ist, dass du deine Pfeffergranate zünden müsstest, wirst du es nicht tun, weil du den Pfeffer genauso abbekommen würdest wie ich.«

Der zentralistische Spieler, der eine durchgehende Strategie spielen kann, ist eine reine Fiktion. Umgesetzt wird die Strategie immer von den Agenten, die jeden einzelnen Zug verwalten. Und der Agent des Räubers Hotzenplotz unten rechts hat gar kein Interesse daran, die Granate zu zünden. Denn er vergleicht seine Auszahlung von –9 (übles Augentränen, trotzdem keine Kaffeemühle) mit der Auszahlung von 0 (den Tatort ohne Augentränen und ohne Kaffeemühle verlassen) und kommt zu dem Schluss, dass er lieber 0 als –9 hat. Folglich wird er den Tatort unverrichteter Dinge verlassen.

Der zentralistische Spieler kann die Oma zu etwas bringen, was die Agenten nicht können. Weil in der Strategie ein Automatismus eingebaut ist, kann der zentralistische Hotzenplotz nach Omas Weigerung nur noch die Granate zünden. (Sie erinnern sich: In einer Strategie ist vorher festgelegt, wie man wann reagiert; man kann sich danach nicht mehr umentscheiden; dies ist der Unterschied zu der Situation, in der der Spieler in seine Agenten zerfällt). Ohne diesen Automatismus ist es jedoch eine unglaubwürdige Drohung.

Bitte beachten Sie, dass zwischen dem Hotzenplotz zu Beginn des Spiels und seinem zweiten Ich im unteren Entscheidungsknoten keinerlei neue Information hinzukommt. Es ist also nicht etwa so, dass er ein neuer Hotzenplotz wird, der mehr weiß als der alte. Sondern es ist so, dass es zu keinem Zeitpunkt den einen Hotzenplotz gab, sondern immer mehrere Hotzenplotz-Agenten – bei jedem Zug10 einen. Während der Hotzenplotz-Agent zu Spielbeginn ein Großmaul ist und hofft, die Oma einschüchtern zu können, ist sein anderer Agent unten rechts realistisch und lässt die Sache mit der Pfeffergranate lieber bleiben.

Der Name für diese Situation ist Zeitinkonsistenz.

Zeitinkonsistenz bedeutet, dass eine zukünftige Handlung, die Teil eines heute optimal erscheinenden Plans ist, vom Blickwinkel eines späteren Zeitpunkts aus nicht mehr optimal ist, obwohl zwischenzeitlich keine neuen Informationen hinzugekommen sind.11

Damit haben wir unsere beiden Spieler aus der Einleitung wieder:

Der zentralistische Spieler ist die Direktorin.

Die Entscheider jedes Zuges sind die Agenten.

Sie sehen hier, dass die beiden nicht immer die gleichen Ansichten haben. Während es der Direktorin des Spielers Hotzenplotz wichtig ist, zu Beginn glaubhaft machen zu können, dass sie die Pfeffergranate einsetzen wird, sieht das der Agent ganz anders, der den Pfeffer abbekommen würde.

Hotzenplotz besteht hier aus drei Agenten: dem am Startknoten; einem Agenten, der nach dem möglichen Empfang der Kaffeemühle entscheidet; und einem weiteren Agenten, der nach der Weigerung der Herausgabe der Kaffeemühle entscheidet. Es ist wichtig, sich noch einmal klarzumachen, dass Hotzenplotz als Entscheidungsinstanz nie in seiner Gesamtheit existiert, sondern immer aus mehreren Agenten besteht, im vorliegenden Spiel aus drei Agenten.

Verwechseln Sie das nicht mit der Situation, dass ein Spieler im Laufe des Lebens neue Informationen erhält oder seine Präferenzen ändert. Hotzenplotz bleibt das gesamte Spiel lang derselbe, aber der eine Agent will etwas anderes als der andere. Überdies will der zentralistische Spieler, dass ein Agent etwas anderes will als das, was dieser wirklich will. Dies alles, obwohl keinerlei Informationszuwachs oder Präferenzänderungen aufgetreten sind.

Dass Informationen hinzukommen, kann natürlich zusätzlich passieren. Vielleicht erfährt Hotzenplotz, dass die Kaffeemühle von Aldi stammt und gar nicht das Familienerbstück ist, das er vermutet hatte. Es kann auch sein, dass er in ein paar Jahren gar keinen Kaffee mehr trinkt, weil er Vater geworden ist und Bluthochdruck hat. Aber das ist etwas anderes. Hier ist es derselbe Hotzenplotz, in dessen Brust, ach!, zwei Seelen wohnen. Gleichzeitig.

Beginnen Sie zu erahnen, wieso Sie manchmal nicht das tun, was Sie »eigentlich« tun wollen? Das ist keine Sache, die sich auf abstrakte Hotzenplotze beschränkt, sondern solche Situationen durchziehen unseren Alltag wie lange Haare die Suppen.

»Okay, ich kaufe dir ein Eis, aber du bekommst nur dann noch eines, wenn du dieses aufgegessen hast!« Diese (ohnehin schon verdächtig schwache) Drohung, ausgesprochen von einer Mutter, die ein paar Minuten Ruhe haben will, um sich mit einer Bekannten zu unterhalten, fällt ins gleiche Muster. Nach kurzer Zeit wird der Tisch mit zerlaufenen Eiskugeln unterschiedlicher Geschmacksrichtungen und angenagten Eiswaffeln bedeckt sein. Die Mutter wird die Granate des »kein weiteres Eis kaufen« nicht zünden, weil der dann regierende Agent ebenfalls seine Ruhe haben will.

»Wenn du mich noch einmal betrügst, verlasse ich dich!« Netter Versuch. Aber offensichtlich war es beim letzten Mal auch schon nicht so schlimm, dass es zum Zünden der Granate des Verlassens gereicht hätte. Wieso sollte der jetzige Agent also anders entscheiden?

Gefährlich wird es erst dann, wenn der Spieler von der Agentensicht zur Direktorinnensicht umschaltet. Denn die Direktorin macht Schluss, auch wenn der dann regierende Agent sich noch so sehr die Augen aus dem Kopf weint; die Direktorin kauft auch kein weiteres Eis, selbst wenn der dann regierende Agent noch so viel Gebrüll des sich auf dem Boden wälzenden Kleinkinds ertragen muss.

Aber denken Sie jetzt nicht, diese Verhaltensweise sei immer die anzuratende. Erinnern Sie sich an unseren Veranstalter, der die Granate gezündet hat, indem er dem Referenten das Mikrofon abgestellt hat. Dort hat sich zwar die Direktorin durchgesetzt, aber es wäre besser gewesen, wenn sich der Agent des Vortragsendes durchgesetzt hätte.

Vielleicht ist es ein Augenöffner, dass von den zwei Seelen in Ihrer Brust die eine immer schreit, sie habe etwas ganz anderes gewollt als das, was Sie gerade wirklich gemacht haben. Zumal es viel mehr als nur zwei Seelen sind, sondern zahlreiche Agenten und noch die zentralistische Instanz der Direktorin. Irgendwer wird immer schreien. Stören Sie sich nicht daran, sondern lernen Sie, den Schrei des einen gegen den des anderen abzuwägen.

Bevor wir in dieses Thema einsteigen, sehen wir uns noch einen anderen Fall an, der für den Selbstüberlister noch wichtiger ist als der eben genannte: den Agentenkonflikt ohne externen Gegenspieler.

Marshmallows und der innere Konflikt

Im Fall des Räubers Hotzenplotz entstand der innere Konflikt dadurch, dass Hotzenplotz Einfluss auf das Verhalten eines anderen Spielers nehmen wollte, nämlich das Verhalten der Oma. Das Problem kann aber auch ganz ohne die Beteiligung anderer Spieler auftreten.12

Nehmen wir als Beispiel den berühmten Marshmallow-Test. Falls Sie diesen Test nicht kennen: Es handelt sich dabei um ein psychologisches Experiment, bei dem Kindern als Versuchspersonen ein Marshmallow vor die Nase gehalten wurde mit dem Hinweis, dass das Kind das Marshmallow entweder sofort essen kann oder einige Minuten warten soll, in denen die Versuchsleiterin ein zweites Marshmallow holen geht. Das bekommt das Kind aber nur dann, wenn es das erste nicht aufgegessen hat. (Wenn Sie sich mal wieder richtig amüsieren wollen, dann schauen Sie sich das Experiment auf YouTube an. Zum Beispiel »The Marshmallow Test«.)

Vordergründig ist dies ein extrem lohnenswertes Investitionsprojekt: 100 Prozent Rendite in wenigen Minuten. Stellen Sie sich vor, dies ließe sich eine Stunde lang in 5-Minuten-Schritten wiederholen, dann wären es schon 4096 Marshmallows. Aber übertreiben wir es nicht und tun so, als gäbe es maximal zwei Verdoppelungsschritte, also als ginge die Versuchsleiterin zweimal für fünf Minuten weg, um die Marshmallow-Zahl jeweils zu verdoppeln. Betrachten wir die Situation nun als Spiel eines Spielers, der in drei Agenten zerfällt: zwei, die warten sollen – ob sie es auch tun, wird sich herausstellen –, und einen anderen, der die Marshmallows essen darf.

Marshmallow-Test. Agent 1 kann das Marshmallow essen und seine Auszahlung von 1 genießen. Oder er kann das Marshmallow an Agent 2 weitergeben, der seinerseits die Auszahlung von 2 genießen könnte. Es sei denn, er verzichtet und gibt die zwei Marshmallows an Agent 3 weiter, der sich dann den Mund mit inzwischen vier Marshmallows vollstopfen kann.

Aus Sicht des zentralistischen Spielers ist dies das geniale Investitionsprojekt, von dem wir oben gesprochen haben: zwei Verdoppelungsschritte in zehn Minuten, eine Gesamtrendite von 300 Prozent, ein Endwert von 400 Prozent. Aber befragen Sie Agent 1 zu dem Thema. Wenn er das Marshmallow großherzig weitergibt, dann ist er derjenige, der arm bleibt. Dito für Agent 2. Erst Agent 3 kann genüsslich kauen. Deshalb wird ein rationaler Agent das Marshmallow in der Zeit essen, in der er regiert (bitte auf jedes Wort achten: Ich habe nicht Spieler geschrieben, sondern Agent).

Es gibt, wie gesagt, Videos über das Experiment mit den Kindern. In einem warten die Kinder zwar ungeduldig, aber sie warten. Ein kleines Mädchen stopft das Marshmallow aber sofort in den Mund, sobald ihm die Versuchsleiterin beim Verlassen des Raums den Rücken zudreht. In der Folge, wenn die Versuchsleiterin mit dem zweiten Marshmallow wieder zur Tür hereinkommt, wird Agent 3 herumheulen, wie dumm Agent 1 war, das Marshmallow zu essen. Natürlich wird die Direktorin alles tun, damit die Agenten 1 und 2 ihre Finger und besonders den Mund von den Marshmallows lassen. Aber machen wir uns nichts vor: Jeder Agent, der sich darauf einlässt, ist schön dumm. Deshalb muss die Direktorin sie überlisten.

Ohne ihre Agenten zu überlisten, bleibt die Direktorin arm.

Große Teile unseres Lebens sind von ihrer Struktur her ein andauernder Marshmallow-Test. Manchmal haben unsere Agenten das Verlangen, etwas Positives vorzuziehen, und manchmal, etwas Negatives nach hinten zu verschieben, um es einem unserer zukünftigen Agenten unterzujubeln. Nehmen Sie das Beispiel von Franz, der ständig mehrere Verabredungen für denselben Zeitpunkt trifft, wohl wissend, dass das ohne Hermines Zeitzauber nicht möglich sein wird. Er sagt seiner Familie zu, mit ihnen Kaffee zu trinken, und gleichzeitig einem Freund, zu dessen Geburtstagsfeier zu kommen, obwohl sich beides zu großen Teilen überschneidet.

Wieso tut er das? Weil er es beiden recht machen möchte. Der Agent, der beiden zusagt, ist das Problem los, die schlechte Nachricht zu überbringen. Aber natürlich hat dann ein zukünftiger Agent ein noch größeres Problem, weil er erklären muss, wieso er trotz Zusage nicht oder viel zu spät gekommen ist. Wir greifen dieses Phänomen noch einmal auf im Kapitel 16, »Schulden: zugleich besser und schlechter als ihr Ruf«, ab Seite 319 und besonders im Abschnitt über den Schuldzyklus ab Seite 354.

Mir ist klar, dass Ihr gerade aktiver Agent endlich wissen will, wie das mit dem Überlisten geht. Aber immer der Reihe nach. Wir sind noch am Anfang des Buches und es gibt noch einiges über die Spieler in uns zu lernen. Zum Beispiel hängt Ihre Ungeduld mit der Frage zusammen, wie lange der zuständige Agent an der Reihe ist.

Wie lange lebt ein Agent?

Also gut, Sie haben mich breitgeschlagen, schließlich will ich nicht den Fehler des armen Veranstalters vom Anfang dieses Abschnitts wiederholen. Ich sage Ihnen jetzt schon mal ein Element der Selbstüberlistung, das er hätte kennen und anwenden sollen.

Sein Problem bestand darin, dass er sich theoretisch noch hätte umentscheiden können. Genau deshalb war sein Agent am Ende des Vortrags des honorigen Herrn ja ein anderer als der am Anfang. Der Redner wusste das natürlich und hat deshalb überzogen.

Um das zu vermeiden, hätte der Veranstalter einen Automatismus in Gang setzen sollen, der es technisch unmöglich macht, den Vortrag zu verlängern. Nicht er hätte den Lichtschalter betätigen dürfen, sondern sein Agent von vor dem Vortrag hätte die Selbstzündgranate in Gang setzen müssen, die am Ende der Redezeit automatisch das Licht an- und das Mikrofon abstellt, und zwar so, dass man technisch nicht mehr eingreifen kann. (Darüber hätten natürlich die Referenten informiert werden müssen.) Damit hätte er faktisch die Lebenszeit seines Agenten verlängert und aus zwei Agenten einen gemacht. Der Veranstalter selbst hätte seine Hände in Unschuld waschen können, denn eine Planänderung war ja nicht mehr möglich.

(Vermutlich hätte unter diesen Bedingungen der Redner allerdings gar nicht erst überzogen, sodass das automatisch angehende Licht den Vortrag nicht unterbrochen hätte.)

Ich hoffe, Sie sind jetzt genügend motiviert, sich die Hintergründe hierzu anzusehen.

So, wie wir die Agenten bisher kennengelernt haben, sind sie ein Stück unseres Selbst, das für einen kurzen Zeitabschnitt unseres Lebens zuständig ist. Um die Agenten zu verstehen, hilft es, sich vorzustellen, wir würden nach jeweils einer Stunde an vollständigem Gedächtnisschwund leiden. Unser Gedächtnisfenster wäre dann wie ein Videoband, das immer im Kreis läuft und bei dem nach jeweils 60 Minuten der Anfang wieder überspielt wird. Alles, was vor dieser Schleife aufgenommen wurde, bleibt dauerhaft da, aber es kommt nichts hinzu. Das ist die Welt, in der die Agenten leben. Sie haben daher eine aus Sicht der Direktorin übersteigert starke Gegenwartspräferenz.

Dieser Zustand ist übrigens nicht so absurd, wie es auf den ersten Blick scheint. Der Neurologe Oliver Sacks beschreibt den Zustand eines Mannes mit Gedächtnisschwund, der gewissermaßen nur noch aus Agenten besteht und keine Direktorin mehr hat:13

Clive und Deborah lieben sich immer noch sehr, trotz seines Gedächtnisschwunds. […] Er grüßte sie mehrfach, so als wäre sie gerade erst angekommen. Es muss eine außergewöhnliche Situation sein, dachte ich, sowohl zum Verrücktwerden als auch schmeichelnd, immer wieder als etwas Neues gesehen zu werden, immer wieder als ein Geschenk des Himmels.

Nehmen Sie diese 60-Minuten-Intervalle bitte nicht zu ernst. Es handelt sich nicht um eine experimentalpsychologisch gemessene Größe, sondern um ein theoretisches Konstrukt. Werfen Sie dafür noch einmal einen Blick auf das Spiel zwischen Hotzenplotz und der Oma. Die Abfolge der Spielzüge ist eine logische, die nicht auf eine bestimmte kalendarische Zeit festgelegt ist. In der Geschichte war es naheliegend, dass die Entscheidungen »Zug um Zug« erfolgen, also ohne großen zeitlichen Abstand. Aber es würde an der strategischen Situation nichts ändern, wenn Hotzenplotz der Oma eine Stunde oder sogar einen Tag Bedenkzeit gäbe (natürlich nur, wenn sie in dieser Zeit nicht etwas ganz anderes tun kann, wie zum Beispiel den Wachtmeister Dimpfelmoser zu verständigen).

Wie lang das virtuelle Videoband im Einzelfall ist, hängt von der speziellen Situation ab, und es ist Teil der gekonnten Selbstüberlistung, diese Zeit geschickt zu steuern.

In der Spieltheorie nennt man dieses Konzept ein Grid (Raster), das man über das Spiel legt. Dies ist die mathematische Umsetzung der philosophischen Diskussion, ob die Zeit stetig verläuft oder in endlichen Schritten. Man kann sich dieses Raster genauso vorstellen wie bei einem Zeitungsdruck, bei dem ein Bild nicht in Grautönen dargestellt wird, sondern aus voneinander getrennten Punkten zusammengesetzt ist. Je nach Aufgabe gibt es auch dort sehr unterschiedlich feine oder grobe Raster.

Ein gerastertes Bild ist wie ein strategisches Spiel mit Grid (Gitter bzw. Raster).

Wäre die Zeit stetig (auf Englisch continuous time), dann wäre jeder einzelne Zeitabschnitt unendlich klein und jeder Agent hätte eine Lebensdauer von genau null. Das hieße aber zugleich, dass es für uns keine Gegenwart gäbe, da wir Ereignisse mit einer Zeitdauer von null schwerlich erfassen könnten. Es muss daher ein kleines, aber endliches Zeitintervall geben, das wir als Gegenwart wahrnehmen. Dieses kleine Körnchen Gegenwart ist das Äquivalent zu einem Rasterpunkt in dem Bild von oben.

Jedes Körnchen Gegenwart wird von einem Agenten regiert. Wie lang diese Gegenwart ist, hängt von der Situation ab. Bei einem Fußballspieler kann sich die Gegenwart auf die reine Zeitspanne seines Kurzzeitgedächtnisses beschränken, also auf weniger als 30 Sekunden; danach wird das virtuelle Band überschrieben und ein neuer Agent ist an der Reihe. Beim konzentrierten Abarbeiten gleichartiger Aufgaben kann der Agent für die Dauer einer Stunde aktiv sein. Und es kann andere Situationen geben, in denen für eine bestimmte Aufgabenstellung der Agent auch viel länger aktiv ist und sich sogar zeitlich mit anderen überlappt.

Wie das gehen kann, sehen wir uns jetzt an.

Die Agenten sind mehr als Zeitgestalten: mentale Konten

Wir haben unsere Agenten bisher als reine Zeitgestalten kennengelernt, deren Existenz durch den Zeitablauf entsteht.14 Das ist zwar oft korrekt, aber das Konzept der Agenten ist streng genommen ein logisches, kein zeitliches: Ein Agent verwaltet eine Entscheidungssituation.

Diese Entscheidungssituation wird oft durch den zeitlichen Ablauf definiert, aber die Zeit ist nicht das einzige Kriterium, sondern die Agenten setzen die Entscheidungssituation in einen bestimmten Kontext. Dieser Kontext ist dann die gesamte Welt, in der dieser Agent lebt – auch wenn es eine winzige Welt ist im Vergleich zur Welt der Direktorin (oder gar der Menschheit, aber übertreiben wir es nicht gleich). Wir können hier ganz schnell in eine philosophische Diskussion abdriften, aber lassen wir das einfach. Wer sich für derartige Themen interessiert, kann sich gern mein Lehrbuch Spieltheorie – eine Einführung ansehen. Aber seien Sie gewarnt: Einfach ist das alles nicht.

Diese Welt eines Agenten wird oft als »mentales Konto« (mental account) bezeichnet. Der Begriff des Kontos ist entstanden, weil diese Art, in gekapselten Kontexten zu denken, bei Entscheidungen zu Geld entdeckt wurde. Ich nenne Ihnen deshalb auch gleich Beispiele aus diesem Bereich, aber wir sollten uns klarmachen, dass dahinter ein allgemeineres Prinzip steht und unsere Agenten die mentalen Konten auch dann anwenden, wenn es nicht um Geld geht. Zum Beispiel, wenn es um unseren Tagesablauf oder um die Lebensplanung geht. Aber eines nach dem anderen.

Sehen wir uns das klassische Beispiel zu den mentalen Konten an.

Die verlorene Theaterkarte

Situation 1: Sie gehen ins Theater und haben dafür eine Theaterkarte für 50 Euro gekauft. Als Sie am Theater ankommen, bemerken Sie, dass Sie Ihre Karte verloren haben. Kaufen Sie nun eine neue oder akzeptieren Sie, dass Sie eben keine Karte mehr haben, und schlendern Sie stattdessen noch eine Zeit lang durch die Stadt, bevor Sie wieder nach Hause fahren?

Situation 2: Es ist die gleiche Situation wie eben, aber Sie hatten noch keine Karte gekauft, sondern wollten sie sowieso erst an der Abendkasse kaufen. Auf dem Weg zum Theater verlieren Sie aber 50 Euro. Kaufen Sie sich nun trotzdem eine Karte oder schlendern Sie durch die Stadt?

Probanden entscheiden sich in der ersten Situation oft dafür, keine weitere Karte zu kaufen. In der zweiten Situation hingegen antwortet die große Mehrheit der Probanden, sich natürlich trotzdem eine Theaterkarte zu kaufen.