Anmaßung - H. Peter Duhm - E-Book

Anmaßung E-Book

H.Peter Duhm

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Beschreibung

Es gilt als nahezu sicher, dass der Leichenfund im Eltener Berghang und der Fund der Frauenleichen in Kiel in einem gewissen Zusammenhang stehen. Die Mordkommissionen in Kleve und Kiel gehen davon aus, dass es nicht die einzigen Mordopfer bleiben werden. Ein vor zwei Jahren verstorbener auf St. Pauli bekannter Zuhälter und Bandenführer, steht laut Ermittlern im Zusammenhang mit mindestens fünf bis zehn weiteren Tötungsdelikten. Das Tatmuster dieser bislang ungelösten Fälle soll Parallelen mit dem der jetzt entdeckten toten Prostituierten aufweisen. Das gaben die Ermittler gestern bekannt. Und auch vier weitere Fälle in Hannover haben ihnen zufolge zumindest einzelne Ähnlichkeiten mit dem derzeitig untersuchten Fällen. Zu dem oder den Serientätern können wir noch nichts bekannt geben. Es handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Tätergruppe. Gesucht werden Dr. H. H. Trabes, die Staatsanwältin Dr. Krüss. Der oben genannte Mann aus Hamburg, derzeit am Niederrhein lebend, hat sich einer Festnahme entzogen. Er wird steckbrieflich gesucht. Wir fanden vier Frauen lebend in den unterirdischen Verließen am Eltener Berg. Diese Frauen konnten geborgen werden. Sie befinden sich in medizinischer Behandlung und in Sicherheit.

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Der Autor

H. Peter Duhm schreibt über sein aufregendes Leben und über Verbrechen aus der Nachkriegszeit. In seiner neuen Heimat, Elten, Ortsteil von Emmerich am Rhein schreibt und recherchiert er. Neue, interessante Themen lassen sich überall finden. Man muss sehen und hören können. Auch am Niederrhein, der ihn seit Jahren begeistert.

Sport und Arbeit haben ihn lebenslang motiviert, sich nicht unterkriegen zu lassen.

1942 in Hamburg geboren, überlebte er die Vernichtungsangriffe der britischen und amerikanischen Bombenangriffe. Das Trauma dieser Bombennächte blieb. Vielleicht ist er deshalb jahrzehntelang in der Modebranche tätig gewesen, weil er dort seine Kreativität und Reiselust, seinen Drang nach Neuem, insbesondere während der zahlreichen und ausgedehnten Auslandsreisen, die häufig zu asiatischen Bekleidungsherstellern führten, ausleben konnte. Der Hamburger Modemacher und Professor für Fashion-Management gab nie auf Neues zu entdecken.

Sein Schreibstil ist kurz und direkt, sein Auftreten überzeugend. In seinen weiteren Büchern vereint er sorgfältige Recherche und Tatsachen mit einem prägnanten Schreibstil.

Das zeichnet alle seine Bücher aus.

Er selbst bezeichnet diesen neuesten Roman als ein Feature, als eine Reportage.

Elten am Niederrhein im Juli 2020

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Die Jagd beginnt

Protokoll des Attentats im Hamburger Flughafen „Fuhlsbüttel“

Teil 5

Epilog

Teil 1

Endlich war es so weit, er konnte sich seinen lang gehegten Wunsch erfüllen. Schließlich wurde er im Dezember fünfundsechzig Jahre alt. Dieses Haus am Eltener Berg direkt an der Grenze zu den Niederlanden, seiner Meinung nach, eine der besten Adressen am gesamten Niederrhein, schenkte er sich selbst. Seinen Geburtstag, den Hauskauf, seine Freude über den Erwerb galt es zu feiern.

Aufwendig, mit außergewöhnlichem Buffet, erlesenen Getränken, einer Striptease-Liveshow, einer bekannten Rockband und einem Feuerwerk plante er dieses Event. Er würde es ausrichten lassen. Selbstverständlich mit Freunden und Bekannten, mit einiger Prominenz aus Emmerich und Kleve, aus dem nahen Ruhrgebiet und Köln, sowie aus den umliegenden kleineren Orten. Mit der bunten, immer für eine Überraschung guten Halbwelt aus den unterschiedlichen Rotlichtvierteln, mit den Berlinern vom dortigen Kiez, die durch immer jüngere Damen jeden Gast nervös machten. Den Wienern und ihren hellblonden, kurzberockten Madeln, mit den Bordellbesitzern aus Köln, Duisburg und Nimwegen in den Niederlanden. Mit all denjenigen aus der feinen Ruhrpott-Gesellschaft, die meinten, dazugehören zu müssen, wollte er an seinem Jahrestag und zur Hausfertigstellung feiern.

Er wollte sie bei sich versammeln, schockieren und provozieren. Nur vergessen durfte er niemanden, das konnte unerfreuliche Folgen haben. Diese Halbwelt und die feine Gesellschaft verhalfen ihm schließlich zu Wohlstand, wenn auch nicht zu Ansehen. Wie seine Freunde empfahlen, mietete er das Hotel am Markt in Elten. Ungestört, laut und freizügig, eben nach dem Geschmack der bunten Gesellschaft sollte diese Feier ablaufen. Auf der riesigen Terrasse über dem Tal, mit dem Blick über den gesamten Wald würden seine Gäste begeistert alle Konventionen vergessen. Sie würden standesgemäß feiern.

Nicht zuletzt deshalb ließ er diverse bunte Laternen, viele Palmen, Kübelpflanzen und die zu später Stunde beliebten Hollywoodschaukeln aufstellen. Seine Gäste würden die mit den jungen Damen zu nutzen wissen. Neunzehnhundertfünfundachtzig, nach zwölf Monaten Bauzeit strahlten Haus, Praxis und Gartenanlagen perfekt in neuem Glanz. Geld spielte für ihn keine Rolle. Seinen Rotlichtfreunden war er für jede Summe gut. Schließlich behandelte er jede, der für sie arbeitenden Damen zu jeder Tages- und Nachtzeit, klammerte oder nähte alle Wunden, linderte Hämatome, untersuchte und kurierte ansteckende Krankheiten oder setzte das eine oder andere Jungfernhäutchen bei den ganz jungen Teens wieder ein, wenn seine Freunde ihn darum baten.

Und, was sich besonders für ihn auszahlte, seine Verschwiegenheit, sein geschlossener Mund hatte ihm den Ruf des zuverlässigen Frauenarztes und Chirurgen eingebracht. Wie ein Schneeball, der zur Lawine wird, verbreitete sich sein Ansehen weit über Hamburg hinaus.

Endlich war er der riesigen Stadt entkommen. Der Niederrhein, der

Eltener Berg würde seine neue Heimat werden. Da war er sich ganz sicher.

Vorsichtige, nervöse Terminanfragen von Damen der feineren Gesellschaft beantworteten seine Sprechstundenhelferinnen stets diskret, überaus diskret. Ohne Fragen zu stellen. Diese Untersuchungstermine legten sie stets in die Abendstunden oder auf das Wochenende. Die Taxis der Damen warteten oft stundenlang einige Straßen abseits. Oft ließ er sie von einem privaten Fahrdienst chauffieren. Nur er wussten, woher und wohin die edlere Kundschaft kam und gebracht wurde.

Durch diese Besuche baute er sich ein Netzwerk von Namen und Beziehungen auf, von dem niemand wusste, dass irgendwann es für ihn von Nutzen sein konnte. Das war jedenfalls seine feste Überzeugung.

Sein Leben mit einem zweiten, dunklen, immer verborgenen Gesicht, wie er es selbst bezeichnete, begann damals, vor über zwanzig Jahren, als am Fischmarkt statt der Hure, dieser breitschultrige Mann, der seine Sonnenbrille nie abnahm, plötzlich aus der Dunkelheit des alten Kühlhauses, mit dem überstehenden Dach, hervortretend, die rechte Tür seines VW aufriss, in seinen alten nachtblauen Käfer stieg: „Fahr los Mann, geradeaus bis Teufelsbrück.“

Die sehr junge Prostituierte, die ihn bereits einige Nächte bedient hatte, wusste sehr genau, dass er donnerstags um diese Zeit vorbeikommen würde, sprang in ihren, über die Knie reichenden Stiefeln, zwei, drei Schritte zurück. Der Mann mit der Sonnenbrille hatte sie brutal an der Schulter zurück gezerrt, ihr noch einen kräftigen Stoß versetzt. Stolpernd verschwand sie in der Dunkelheit. Damals kroch Angst an ihm bis zum Haaransatz hoch, versammelte sich dort als glitzernde Schweißperlen. Seine Gedanken flogen wie Sturmwolken in die hintersten Winkel seines Hirns. Hatte er mit einer der Huren etwas falsch gemacht? Er bezahlte korrekt die geforderten paar Mark für deren Liebesdienst. Er hatte keine Idee warum dieser Mann, den er an seinem brutalen Gesicht als einen der Macher von St. Pauli erkannte, in seinen Wagen gestiegen war. Als sein unfreiwilliger Mitfahrer ihn in der Dunkelheit des Elbhanges halten ließ, ahnte er, dass es eng für ihn werden könnte.

Er drehte sich zu seinem Gast zur Beifahrerseite.

„Schalt das Licht aus und hör nur zu! Klar, halt dein Maul, nichts fragen, nichts antworten, klar? Du studierst doch Medizin. Ab sofort machst du, was ich sage, klar? Meine Kollegen und ich wissen alles von dir, Mann. Von den Trümmern, da wo du verschüttet warst. Den blöden Tick in deinem Kopp,“ er lachte durch die Zähne gepresst: „Das mit der Luft, nach der du nachts wie ein halbtoter, stinkender Fisch schnappst. Mann bist du fertig.“

Jetzt lachte er laut auf: „Das große Judenhaus am Weiher in Eimsbüttel kenn ich in und auswendig. Ab jetzt nutzt du das Behandlungszimmer deines Nazi-Opas.“

Er drehte sich zur Fahrerseite, schob seine Sonnenbrille hoch, griff zum Lichtschalter über dem Innenspiegel: „Für unsere Frauen. Klar, Kohle genug liegt nächsten Dienstag in deinem Briefkasten. Heute schreibst du auf, was du an Sachen zur Behandlung von Nutten brauchst.“ Wieder entstand eine winzige Pause, weil sich sein Fahrgast eine Zigarette aus der Jackentasche fummelte, anzündete und Heinrich-Hermann Trabes den Rauch des ersten tiefen Zuges direkt ins Gesicht blies: „Und du spezialisierst dich auf Weibermedizin. Klar?“

Wieder nahm er einen tiefen Lungenzug, blies den Rauch zur Fahrerseite. H. H. Trabes musste husten, beugte sich zum Seitenfenster, fasste zur Drehkurbel als sein Fahrgast ihn heftig an der Schulter herumriss. „Lass das Fenster zu, Mann! Bei mir hört niemand zu, kapiert? Eins kann ich dir sagen,“ drohend leise kam er ganz dicht an den jungen Mann heran. Der spürte den rauchigen Atem in seinem Gesicht: „Gehst du zur Polizei oder bist unvorsichtig, sabbelst zu viel, landest du wieder irgendwo als Verschütteter und schnappst wie damals als Fisch an Land nach Luft, bis du erstickt bist. Fahr zurück, du hörst von uns.“

Im nächtlichen Schatten des Kühlhauses am Hamburger Fischmarkt riss der unheimliche Fahrgast die Beifahrertür auf, zog die Handbremse des alten VW so schnell an, dass der alte Wagen stotternd stehen blieb. Der Motor blubberte noch einmal, dann herrschte völlige Stille, nur aus dem Hafen drangen leise Schiffsgeräusche wie Nebelhörner herüber.

Er stand wieder im pechschwarzen Schatten des Altonaer Kühlhauses. Genau dort, wo sie diese unheimliche Fahrt begonnen hatten. Er presste sich damals tief in den durchgesessenen Sitz seines alten Wagens, versuchte mit zittrigen Fingern den Motor zu starten. Erst beim dritten Mal gelang es ihm.

„Bloß weg von hier,“ schoss es ihm durch den Kopf: „Woher weiß der was von mir?“ Kurz vor dem alten Elbtunnel ließ er den Wagen ausrollen, reihte sich rechts vor der Kaimauer zur Elbseite hin in die parkenden Autos ein, sackte in sich zusammen. Schwer und tief die kalte, leicht fischige Hafenluft in sich hineinsaugend, kurbelte er das Fenster bis zum Anschlag herunter.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, wer sein Mitfahrer gewesen war. In den Zeitungen wurde im Zusammenhang mit St. Pauli, der Reeperbahn und der sich mehr und mehr ausufernden Prostitution von „Der Araber“ geschrieben. Er fragte sich, woher kannte dieser Mann, dieser Zuhälter, Einzelheiten aus seinem Leben, die Zusammenhänge zwischen seinem Großvater, den er Nazi-Opa genannt hatte, dem großen Wohnhaus mit den beiden Arztpraxen, das bis 1938 den sehr angesehenen jüdischen Ärzten Dror Adler und Isaak Morgentau gehört hatte? Sein Großvater und sein Vater arbeiteten vor 1933 im benachbarten Krankenhaus als Chirurg und Internist. Als sich die Gelegenheit damals bot, das Haus zu kaufen, weil die jüdischen Ärzte die Ausreisegenehmigung nach Amerika bekommen hatten, ließen Opa Willi und Vater Kurt ihre Verbindungen zur NS-Partei spielen, kauften das Haus, angeblich zu einem fairen Preis, übernahmen dort die voll eingerichteten Arztpraxen ganz offiziell und legal.

Schweißnass drückte er sich in den verschlissenen Autositz. Wie ein Film begann sich sein bisheriges Leben abzuspulen. In der Windschutzscheibe spiegelten sich, im fahlen Licht des nächtlichen Hafens, seine Kindheit und Jugend schemenhaft ab. Das Scheinwerferlicht vereinzelt vorbeifahrender Autos verursachte Blitze in seinem Kopf. Immer wieder zuckte er zusammen, versank tiefer und tiefer in seinem Sitz. Die langen Beine hinderten ihn daran, ganz in den schmalen dreckigen Fußraum zu kriechen.

Das war damals gewesen, damals als er in Hamburg wohnte und

Studierte. Auch den Krieg, die Nachkriegsjahre hatte er in der Hansestadt verbracht. Dort konnte er sich als Frauenarzt einen sehr guten Namen machen. Die Zeit war endgültig vorbei. Ganz bewusst hatte er sich an den Niederrhein, an die grenze zu den Niederlanden zurückgezogen. Er saß auf seiner neuen Terrasse in einem seiner bequemen Gartensessel, blickte ins Tal und versank wieder in Gedanken an die Vergangenheit. Nie war er aus diesen Traumata herausgekommen. Nie. Seine Kindheit holte ihn immer wieder ein. Das damalige Leben in seiner sehr angesehenen Familie. Das Leben mit seinen Großeltern. Das Streben der Eltern und Gro0eltern nach Höherem. Deren Streben nach Reinheit, nach neuen Idealen, die er damals nie verstanden hatte. Diese Erinnerungen quälten ihn. Sie waren allgegenwärtig.

Auch deshalb hatte er Hamburg verlassen. Ein radikaler Neubeginn würde ihn befreien. Meinte er. Davon war er überzeugt.

Das neue Privathaus, die neuen angeschlossenen Labore in den Katakomben des Berges. Und, nicht zu vergessen, die neue Praxis in Emmerich. Auf dem ehemaligen Kasernengelände entstand ein Ärztezentrum. Selbstverständlich bezog er dort große Praxisräume. Er war ein sehr bekannter Frauenarzt. Selbst am Niederrhein kannte man seinen Namen oder hatte sich über ihn erkundigt. Dr. H.H. Trabes galt im Ruhrgebiet, im Rheinland, selbst am Niederrhein als Kapazität auf seinem Gebiet.

„Knipst du noch einmal das Licht an, fällt die Feier für dich aus. Ich sage Opa Bescheid, es reicht jetzt. Es ist erst sechs Uhr“

Wütend drehte sich seine Mutter in ihrem Bett auf die andere Seite, zog die Bettdecke über ihre Ohren. Sie versuchte wieder einzuschlafen. Der zehnjährige Heinrich-Hermann Trabes drehte sich erschrocken zur anderen Seite in dem großen Bett, tat schlafend, wagte kaum, zu atmen. Gestern hatte Opa sie vom Zug abgeholt. In seiner schwarzen Uniform, der Mütze mit den Totenköpfen am Rand und die vielen Abzeichen wollte er später auch haben. Dafür würde er sich anstrengen, gut beim Jungvolk aufpassen und alles mitmachen, was die größeren Jungen von ihm verlangen würden. Ganz tief in seinen Träumen und Vorstellungen fühlte er sich zu Opa Trabes hingezogen.

Noch vor wenigen Minuten, bevor er das Licht immer wieder anknipste. Es musste doch bald Morgen sein. Die Zeit verging ihm viel zu langsam. Wenn seine Mutter endlich aufstehen würde. Wieder spielte er mit dem Schalter an der Nachttischlampe. Eine Stunde später standen beide vor dem Haus der Großeltern. Stolz nahm er die linke Hand seines Opas, der an der Gartenpforte auf Schwiegertochter und Enkel gewartet hatte, drückte sich an dessen Seite, sah immer wieder zu ihm auf, bis er vor Freude anfing zu hüpfen. Seine Oma stand in der weißen Haustür, breitete die Arme aus, als ihr Enkel die Stufen vom frisch geharkten Kiesweg zur Villa hinaufstürmte.

„Oma, Oma,“ schrie er: „Wir sind in Berlin.“ Sie wäre beinahe seitlich in die so wunderbar leuchtend gelb blühenden Teerosen gestürzt als er in ihre Arme sprang: „Junge, bist du groß geworden und schwer, willst wohl so wie dein Opa werden.“

Sie drehte sich mit ihrem Enkel im Arm einmal um die eigene Achse, setzte ihn auf den Treppenabsatz sanft zurück. Mit strahlendem Lächeln nahm sie ihre Schwiegertochter in die Arme: „Mein Mädchen, wie gut, euch wiederzusehen. Wie war die Fahrt, alles gut gegangen? Kommt erst mal rein. Kaffee und Schrippen warten schon auf euch.“ Die Großeltern freuten sich riesig, ihren Enkel und Elfi, die Frau ihres Sohnes, wieder zu sehen. In diesen Zeiten, immerhin, am 18. April 1943, war es nicht einfach, Reisegenehmigungen und Besuchserlaubnisse zu bekommen. Opa Trabes regelte das so wie immer, schließlich bekleidete er den Rang eines Generalobersten der Waffen-SS, als SS-Arzt. Morgen, wie jedes Jahr am 19. April, einen Tag vor Hitlers Geburtstag, sollte sein Enkel feierlich in das Jungvolk der Hitlerjugend aufgenommen werden. Monatelang las der Junge alles, was er darüber in die Finger bekam, befragte Lehrer und seinen Vater, wenn der nach Hause kam. Selten genug, weil der ja in Polen für Deutschland als Militärarzt arbeitete. Traurig schmiegte er sich beim Gedanken an seinen tollen Vater an seine Oma: „Was Papa wohl macht? Schade, dass er nicht kommen kann.“

„Ja, Junge, das ist schade. Aber Opa geht mit dir. Mama und ich warten auf euch hier, das, was ihr vorhabt, ist Männersache“, und die fünfzigjährige, sehr modern und aufwendig gekleidete Großmutter nahm ihren Enkel an die Hand. Ihr Alter sah man ihr nicht an:

„Wenn du mit Opa zurückkommst, dann schiebst du diese Tür zur guten Stube auf.“

„Was ist da denn?“ Fragend sah er erst seine Oma, dann Opa, schließlich seine Mutter an. „Was hat Oma gesagt?“

Streng aber mit einem Grinsen auf den Lippen zog sein Großvater ihn sanft am Ohr zu sich: „Wenn wir zurück sind, dann schiebst du die Tür auf. Hast du verstanden?“ Mit einer schnellen Handbewegung machte der Junge sich von der Hand an seinem Ohr los, lief zu seiner Mutter, setzte sich auf deren Schoß, drückte sie fest an sich. „Kannst du nicht mitgehen?“ fragend blickte er seiner Mutter in die Augen.

„Nee, Junge, das ist doch Männersache. Ich bin stolz auf dich, ab Morgen bist du richtig groß. Frag Opa.“ Er sah zu seinem Großvater hinüber ohne etwas zu sagen. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er seinen Großvater als düsteren, bedrohlichen Mann in beeindruckender schwarzer Uniform. Das harte Gesicht, die eisblauen Augen erschreckten ihn. Er musste sich bewegen. Lachend sprang er vom Schoß der Mutter, lief hinaus auf die große Terrasse, sprang hinunter in den als Park angelegten Garten und verschwand hinter den Büschen.

„Nicht ans Wasser!“, seine Mutter schrie ihrem Neunjährigen hinterher.

„Lass ihn man laufen“, ihr Schwiegervater sah sie lächelnd an. „Erwin und Karl sind im Garten, die wissen Bescheid. Die passen auf.“

„Wie viel Personal habt ihr eigentlich?“ Fragend blickte sie zur Schwiegermutter:

„Ach, heute diese beiden im Garten und Ella vom Land, sie macht Klarschiff im Haus. Und was ist mit den Praxen in Hamburg?“, fragend wandte sich Trabes Senior an die junge Frau: „Jetzt, wo dein Mann ständig in Polen ist. Wie klappt die Zusammenarbeit mit dem Krankenhaus von nebenan?“

Ulla Trabes wandte sich zu ihrem Schwiegervater hin, der wie sie durch das große Fenster in den Garten blickte: „Ach, weißt du, früher war es ruhiger bei uns im Haus. In unserer Wohnung kriege ich nicht sehr viel mit“, sie stand vom beige bezogenen Sofa auf, ging um den niedrigen, weißen Marmortisch herum, schob unbewusst den engen Rock über ihre Knie. Nach wenigen Schritten stand sie neben ihrem Schwiegervater:

„Man merkt den Krieg, sie haben zwei Operationsausstattungen in die beiden Praxen gebracht. Es kommen doch mehr Leute ins Haus als ich gedacht hatte.“

„Stört dich und den Jungen das?“

„Nee, Vater, das ist schon gut so. Wir haben die Räume, die andere dringend brauchen. Lass man alles so. Ich bin ganz froh, dass Leben im Haus ist.“

„Was hörst du von deinem Mann, ist alles gut?“

Auf diese Frage hatte sie lange gewartet, sie war auf der Hut. Von der Tätigkeit ihres Mannes in Polen durfte sie nichts wissen, nichts. Sie wusste auch nichts, nur düstere Ahnungen und Andeutungen drangen von Zeit zu Zeit bis zu ihr in die obere Etage im weißen Haus, mit der reich verzierten Stuckfassade, am Weiher in Hamburg Eimsbüttel durch.

„Er ist in Krakau, versorgt als Arzt Arbeiter in den Industrien und beschäftigt sich mit der Geschichte der Stadt.“

Sie winkte ihrem Sohn zu, der hoch auf der Schulter des einen Gärtners saß und den Mann antrieb, schneller zum Haus zu traben.

„Das hat er jedenfalls bei seinem letzten Urlaub erzählt.“ Sie sah ihren Schwiegervater von der Seite an: „Weißt du, ich bin dir dankbar, dass er nicht an die Front musste. Das hast du prima hingekriegt.“

„Ich, wieso ich?“ Grinsend drehte er sich in die andere Richtung, weil er seine Frau aus der Küche kommen hörte. Es duftete plötzlich wunderbar nach Bratkartoffeln mit Thymian. „Mensch habe ich Hunger, ruf den Jungen rein, Hände waschen. Morgen habt ihr einen langen Tag. Keine Widerworte. Jetzt wird gegessen.“ Oma Trabes bestimmte immer und überall, wann es Essen gab: „Und übrigens, ab heute schlaft ihr hier. Mein Mann, Opa, hat alles geregelt.“

Dr. Trabes erinnerte sich an den unerwarteten Beginn seiner seltsamen Karriere. Sein Leben verlief nicht wie von ihm und seiner Familie geplant. Die Nazis hatten alles verlören. Familie Trabes ebenfalls. Den krieg genauso wie alle persönlichen Vermögen. Sie waren nichts mehr. Von diesem Tag am nächtlichen Hamburger Fischmarkt an, änderte sich das Leben des Medizinstudenten Heinrich-Hermann Trabes grundlegend. Seine Geldsorgen lösten sich ebenso auf, wie seine Einstellung zu Menschlichkeit, Moral und Ethik.

In wenigen Jahren verschob sich sein Charakter ins Irreale. Im Umgang mit Freunden, Bekannten, ja selbst mit Studienkollegen. Besonders sein bisher liebenswerte, zuvorkommend distanzierte Verhältnis zu Frauen verschob sich ins Gegenteil. Gefährlich schleichend, für ihn selbst unbemerkt, verschwamm sein Denken hin zu einer totalen Ablehnung, später zu Hass auf alles Weibliche. Nur zeigen konnte er seine Neigungen nie. Der Frust fraß sich tiefer und tiefer in seine Seele.

Egoismus steuerte seine Handlungen, eine ihm bisher unbekannte Kälte bemächtigte sich seiner Gefühlswelt. Narzisstisch suchte er in jeder seiner Handlungen ausschließlich den Vorteil für sich selbst. Seine Professoren und Dozenten sahen in ihm den übereifrigen, ehrgeizigen Musterstudenten, der weit mehr Veranlagung für den Beruf des Mediziners hatte als andere Studenten. Sie förderten ihn. Besonders später, bei der Entscheidung für eine Fachrichtung, als er sich für die Gynäkologie entschied, zeigte er mehr Engagement und Kompetenz als alle anderen Studenten seines Jahrgangs zusammen. Wie ein Professor einmal anmerkte.

Niemand in seinem Umfeld bemerkte die Gier nach Geld und Anerkennung in seinen Augen. Dieser unbezwingbare Trieb nach mehr, immer mehr Macht drängte ihn in ein Leben als gierigen Emporkömmling, dem menschliche Empfindungen immer fremder wurden. Eugenik, Vererbungslehre, die Anwendung theoretischer Konzepte auf die Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik mit dem Ziel, den Anteil positiv bewerteter Erbanlagen zu vergrößern und den der negativ bewerteter Erbanlage zu verringern, wollte er in die Praxis umsetzen.

So gut wie nie besuchten ihn Freunde oder gar einzelne Freundinnen. Außergewöhnliches fiel den Nachbarn nie auf. Er lebte wie ein junger Mann eben lebt, nur dass er keine Partys gab, keine Familienfeiern abhielt, weil er keine Familie mehr hatte. Er galt als freundlicher, zurückhaltender Hausbesitzer, der viel für seine Mieter tat, der immer ein offenes Ohr für deren Belange hatte. Wieder und wieder betonte er, dass er Ruhe in seinem Haus wolle. Was sich hinter seinen Türen abspielte ging niemanden etwas an, so wie er sich nicht für das Leben der Mieter interessierte.

Wie von ihm erwartet verlief das Studium reibungslos, er bekam Anerkennungen von dem einen oder anderen Professor, wurde stillschweigend bevorzugt und durfte so manche kleine Operation bei Frauen beinahe selbstständig ausführen, viel früher als Studienkollegen. Seine unglaublich ruhigen, sicheren Hände galten als Gottesgabe. Die Fähigkeit richtige Diagnosen zu stellen, richtige Entscheidungen für eine schonende Behandlung der Patientinnen zu treffen, brachten ihm Bewunderung ein. In medizinischen Fachkreisen an der Uni galt er als Ausnahmestudent.

Nur manchmal, wenn er mit einem Bleistift ohne Pause auf seinen Schreibtisch oder an ein Bettgestell klopfte und begann, nach Luft zu schnappen, sprachen ihn die Kollegen oder Krankenschwestern an. Mit einem leichten Zittern seines ganzen Körpers schüttelte er jeden dieser Anfälle von sich ab. So als erwache er, so als käme er aus einer tiefen Trance zurück. Dass er seine vermeintliche Begabung verbotenerweise, heimlich an Prostituierten erlernte, ja praktizierte, ahnte niemand.

Auch, dass die eine oder andere Frau nie mehr richtig gesundwurde oder spurlos verschwand, blieb ein Geheimnis. Nur einmal, als er wieder vom Fischmarkt mit nach Teufelsbrück fahren musste, tat ihm die Frau auf dem Rücksitz leid. Er hatte Spritzen mitgenommen, um sie ruhig zu stellen. Sie verschwand für immer hinter einer dicken, luftdichten Kellertür im Elbhang. Kaum jemand in Hamburg kannte oder erinnerte sich an diese im Krieg gebauten Gänge und Räume unter den Villen an der Elbchaussee.

Das war Jahre her, die damalige Zeit hatte er verdrängt, seine Kunden, seine Patienten waren die gleichen geblieben. Er fühlte sich ungeheuer frei endlich sein Ziel erreicht zu haben. Das Haus am Eltener Berg, in der vornehmsten Gegend von Emmerich am Rhein, gehörte ihm. Der Alteigentümer, die Baubehörde und seine Hausbank hatten dem sorgfältig geplanten Projekt zugestimmt.

Die Pläne für den Umbau hatte er selbst entworfen, natürlich. Schließlich wusste nur er, was er wirklich wollte. Sein Freund und Architekt Werner von Stätten setzte lediglich die gesetzlichen Vorschriften um, ließ die Statik errechnen und hatte seinerzeit alle Pläne für dieses Privathaus mit Labor und Praxis, mit einem voll ausgestatteten Operationssaal, Schwesternzimmern und Zimmern für Belegbetten von Kollegen den Behörden eingereicht. So en Gesundheitszentrum für Frauen gab es in NRW nicht.

Das Projekt fand in Kreis Kleve so großes Interesse, dass sogar die Presse darüber berichtete. Er war sicher, dass niemand auch nur die leiseste Ahnung hatte, warum er dieses Grundstück, die Villa darauf und die Nebengebäude unbedingt kaufen wollte. Durch einen Zufall, bei seinen Recherchen zu seiner Doktorarbeit über medizinische Versuche der Nazi-Ärzte in Deutschland, stieß er Ende der fünfziger Jahre auf geheime Pläne der NS-Reichsärztekammer und Himmlers SS.

Hier unter seinem zukünftigen Grundstück am Eltener Berg bauten sie damals ein geheimes unterirdisches Lazarett für Offiziere der Waffen SS, in der sein Großvater einen sehr hohen Posten bekleidet hatte. Völlig unabhängig vom Militärhospital in Berlin und Hamburg. Niemand wusste etwas davon. Die Bauarbeiter verschwanden unauffällig zurück in den bei KZs.

Er fragte sich, warum gerade dieser Platz dafür ausgewählt worden war. Eines Tages, als er wieder einmal von einer Wanderung an den Rhein an den Fischerhäusern in Tollkamer zum Eltener Berg hinaufblickte, fasste er sich an die Stirn:

„Klar Mann,“ murmelte er zu sich selbst: „klar der Rhein. Der Fluss war der Schlüssel zu der Lage dieses Bauplatzes. Auf dem Fluss konnte jeder der Nazis und die Offiziere mit einem schnellen Boot aus Deutschland fliehen. Die Niederlande waren nur wenige Kilometer entfernt.“

Er lachte, schlug sich mit der rechten Faust in die linke Hand. Das war es, daher diese Geheimhaltung. Der unterirdische Teil wurde damals mit einer dicken Betonplatte verschlossen auf der man noch schnell einen schicken Pavillon errichtete. Ferner gab es von der einen, hangabwärts gerichteten Seite ein großes Tor zu dem nur der Hausbesitzer Zugang hatte. Ein Keller und die Einfahrt zu einer Garage.

Nach Kriegsende erinnerten, ahnten oder suchten weder die Stadt Emmerich noch die Niederländer nach versteckten Kellern oder Katakomben. Der neue Besitzer, Herr van Oye ließ diese Räume unbenutzt. Ließ sie mehr und mehr sich selbst überlassen. Lediglich die eigentliche Grage wurde seinerzeit,1963, als Zwischenlager für Schmuggelwaren aus den Niederlanden genutzt. Bei der Rückführung des Eltener Berges an die Bundesrepublik Deutschland wunderte man sich lediglich woher die vielen billigen Waren kamen. Über vierzig LKWS warteten auf Mitternacht, um dann unverzollte Waren, wie Butter und Kaffee, Tee und Alkohol an deutsche Händler günstig verkaufen zu können.

Auch die später neu gegründete Bundeswehr erinnerte sich nicht an diese Verstecke. Die unterirdische Anlage wurde vergessen. Niemand wusste davon.

Als er sich für den Erwerb dieses Hauses nebst Grundstück interessierte durchforstete er das Gelände sehr sorgfältig. Die riesigen, vier bis fünf Meter hohen, sehr dichten Rhododendren bildeten einen natürlichen Sichtschutz. Die verschlungenen, unheimlichen, fast schwarzen Krüppelkiefern ließen kaum Licht auf den Boden durchdringen. Es schien, als wehrten sich Bäume und Büsche gegen neugierige Blicke. Dort wo der Berghang etwas flacher, wie ein Treppenabsatz gestaltet worden war, nahmen diese Büsche eine feindliche Abwehrhaltung gegen Eindringlinge ein. Sie hatten sich von sehr dornigen wilden Brombeeren überwuchern lassen. Blutige Kratzer an seinen Armen und Beinen wertete er als Abwehrattacke des Gesamtgrundstücks, ja dessen Pflanzen. Wie er vermutet hatte, unter dem jahrzehntealten Laub der undurchdringlichen dichten Büsche fand er, unter stark bemoosten, verrosteten Eisengittern, Lüftungsschächte. Er triumphierte. In dieser Nacht fuhr er mehrfach am Haus vorbei bis er die für seinen Geschmack richtige Einstellung zum Ganzen entdeckte. In dieser Nacht besuchte er das erste Mal den Puff im Gewerbegebiet von Elten. Eine Woche später kam diese junge Prostituierte verzweifelt und tief verunsichert, an ihren Arbeitsplatz zurück. Mit viel Geld hatte er seine heftigen Attacken glattgebügelt. Außerdem kannte man seinen Namen in der Szene.

Die detaillierten, vergilbten Pläne fand Heinrich-Hermann Trabes bei seiner weiteren Recherche in den alten Plänen der Stadt Emmerich und und im niederländischen Arnheim.

Über seinen Großvater, den SS-Arzt Trabes, seinen Opa und seinen Vater, der in Polen, in der Nähe von Krakau von russischen Truppen erschossen worden war, sammelte er mehr und mehr Informationen in den unterschiedlichen Archiven in Hamburg und Berlin.

Als er Jahrzehnte später seinen Freunden aus der Hamburger Rotlichtszene vorsichtig davon berichtete, nickten die ihm gegenübersitzenden Männer mit den langen Haaren und Goldketten um den Hals lediglich:

„Wenn du das Haus brauchst, lass hören was du und wie viel du genau haben willst. Geld kannst du kriegen.Du weißt, machst du was falsch, bist du weg. Wie viel?“

Er nannte eine Summe, die er selbst für reichlich bemessen hielt. Die beiden Männer lachten:

„Nächste Woche hast du die Kohle, mach sie sauber. Was ist mit dem Besitzer?“

„Ich habe mehrfach mit ihm gesprochen. Er sucht nach einer Wohnung in Holland, dann will er raus.“

„Wir kümmern uns darum. Sag deinem Häuslebauer, sag deinem Freund von Stätten Bescheid, er soll planen. Ach, bevor wir es vergessen, der soll sich bei uns melden. Vergiss das nicht. In Bochum gibt es Arbeit für den Zementmischer!“

Damit war die Angelegenheit erledigt. Das Geld für den Kauf des Grundstückes mit Haus, Garage und Gartenpavillon fand er morgens in seiner Praxis in Hamburg-Eimsbüttel auf seinem Schreibtisch.

Seine Heinzelmännchen erledigten ihre Zusagen pünktlich und gewissenhaft. Dieses Mal genauso, wie sie damals die jetzige Praxis modern eingerichtet, alle Genehmigungen und Zulassungen beschafft hatten. Das funktionierte aber nur, weil er als begnadeter Frauenarzt und Chirurg sorgfältig arbeitete, beste Zeugnisse bekam und nach seinem Studium, nach der Regelzeit als Assistenzarzt, als Oberarzt den Krankenhausbetrieb verließ, um in seiner eigenen Hamburger Praxis tätig zu werden. Schließlich war sie die Praxis seines Großvaters gewesen.

Für das kleine Krankenhaus in der Nachbarschaft setzte er sich sehr ein. Niemand fragte ihn, woher die eine oder andere große Spende kam. Die frauenärztliche Abteilung verfügte immer über die neuesten Geräte und baute sich einen sehr guten Ruf in der Frauenheilkunde auf. „Geld macht glücklich, man muss nur wissen wie man es vermehrt.“ Seine Kollegen vermuteten, dass er im Kasino spielen würde oder mit Aktien spekuliere. Auf Fragen antwortete er lediglich mit einem verschmitzten Lächeln.

In den Spielkasinos von Hamburg, Hittfeld, Bremen, Travemünde, Bad Pyrmont, nach der Wende 1989 auch in Rostock, ließ er sich einmal monatlich, nach einem genauen Schema blicken, registrieren. An festgelegten Tagen, zu ganz bestimmten Zeiten, parkte sein Golf GTI vor der jeweiligen Spielbank. So wie er alles mit seinem „Araber“, wie er den schwarzhaarigen Mann seit ihrer ersten Begegnung am Hamburger Fischmarkt nach all den Jahren immer noch nannte, so hatten diesen Plan auch die Männerrunde um seinen Förderer und Sponsor ausgearbeitet. Den KFZ-Brief und die Reserveschlüssel zu seinem Auto bekam er nie zu sehen.

Nach dem ersten Besuch in der Hamburger Spielbank wusste er warum. Schon bald kannte man ihn mit Namen. Immer fuhr er nach diesen Besuchen mit größeren oder geringen Geldbeträgen zu seiner Bank. Abrechnungen des Kasinos ließ er bewusst in den Umschlägen liegen. Ungeöffnet schob er diese dem Bankmenschen über den Tresen.

„Bitte zählen sie nach, die Abrechnung liegt bei. Ich hoffe es stimmt.“ Lächelte er dem Bänker zu. Den Abrechnungsbeleg hakte der Schalterbeamte jeweils ab, reichte diesen zurück und heftete den Einzahlungsbeleg daran. Woher die Originalbelege der einzelnen Spielbanken stammten, wusste H.H. Trabes, der junge Arzt, nicht. Das interessierte ihn nicht im Geringsten. Seine Freunde brachten ihm bei, wie man Geld unauffällig vermehrte. Für sie war er nicht nur Arzt, sondern ebenso ihre Matratze, unter der sie Geld versteckten. Weder besaß er eine Bank-oder Kreditkarte für diese Konten. Auf die Umsätze dieses Kontos hatte er keinerlei Einfluss. Dagegen fand er oft Quittungen von Reisebüros. Partyservices, Möbelhäusern in seinem Briefkasten. Der ihm zugewiesene Steuerberater verbuchte alles ordnungsgemäß, auch von seinen Konten, die sein Mietshaus und die Praxis betrafen. Steuern bezahlte der regelmäßig. Auffälligkeiten in seinem Leben gab es nicht, jedenfalls nicht für Außenstehende.

Dr. Heinrich H. Trabes drehte sich in seinem Bett nach links, sah auf die bunte Wanduhr und bemerkte erschreckt, dass es bereits sieben Uhr war. Er sprang auf, schüttelte sich; fast rannte er ins Bad. Seinen seit Jahren für ihn selbst wichtigsten Termin wollte er auf keinen Fall versäumen, obwohl er immer, gerade zu vergleichbaren Anlässen, fünfzehn manchmal dreißig Minuten zu spät kam. Schließlich war er die Person, auf die alle zu warten hatten. Auch Heute, zur Besprechung mit den Baufirmen auf dem neuen Grundstück.

Fragend sah er in den ungewöhnlich großen, von der Decke bis zum gefliesten Fußboden reichenden Badezimmerspiegel. Mit der Zunge fuhr er sich über die gleichmäßigen, weißen, überkronten Zähne. Ganz nahe mit dem Gesicht am kreisrunden, vergrößernden Teil des Spiegels betrachtete er in seinem Gesicht jede Falte, jedes graue Haar an den Schläfen, am Haaransatz, über seiner hohen Stirn. In den nächsten Tagen würde er sich auf seine Sonnenbank legen müssen. Er kam sich selbst etwas blass vor. Mit seinen zweiundfünfzig Jahren fand er sich, auch in diesem Jahr, selbst attraktiv genug, um seine Patienten zu beeindrucken. Mit einem Sixpack in seiner Körpermitte konnte er zwar nicht mehr prahlen, und dennoch, anerkennenden Bemerkungen seiner Patientinnen und Mitarbeiterinnen wegen seiner Fitness und glatten Haut ließen ihn immer wieder innerlich lächeln. Als bekannter Arzt, der gut aussah, sich zu kleiden wusste, hatte er nie Probleme für die Nacht oder das Wochenende auf Sylt etwas Weibliches zu ergattern. Auch wenn seine heimliche Liebe den Prostituierten auf der von ihm erdachten untersten Stufe der weiblichen Selbstaufgabe, den Frauen auf dem Straßenstrich vom Hamburger Fischmarkt, vom Bremer Holzhafen oder der Lübecker Untertrave galt. Sie waren der menschliche Dreck, der nicht zu seinem Weltbild passte.

Bei verschiedenen Besuchen in den USA lernte er den Begriff White Trash, weißer Müll, für die Bewohner von Slums in Los Angeles und anderen Städten kennen.

„Weißt du Heinrich,“ meinten seine Freunde bei Diskussionsabenden immer wieder: „Weißt du, dass unser Glaube an die Eugenik uns die Berechtigung, ja die klare Aufgabe zugewiesen hat, die Zukunft von diesem menschlichen Müll zu säubern?“

„Ja, das haben wir oft besprochen. Wenn ihr hier in den USA keine neuen Methoden entwickelt diese unsere Aufgabe zu erfüllen, sind wir bald am Ende unserer Möglichkeiten angekommen.“

Diese Besuche bei Gleichgesinnten auf der anderen Seite des Atlantiks waren notwendig. Meinte er jedenfalls. Die geheimen Sitzungen, die Vorführungen, menschlichen Abfall zu entsorgen. Qualvoll als Strafe für ein verpfuschtes Leben. Inspirierten Dr. H.H. Trabes zu Taten in seiner Heimat, von denen niemand etwas ahnen konnte.

Den neuen Morgen begann er wie immer bedächtig und ruhig.

Er fasste sich ans Kinn, rasieren oder den dunklen Schimmer der wachsenden Barthaare stehen lassen? Er griff zu seinem Nivea Aftershave, schütte einige Tropfen in seine linke Hand, rieb sich das Gesicht damit ein, schüttelte sich und griff zur elektronischen Zahnbürste. Duschen wollte er heute Morgen nicht, den leichten Schweißgeruch wollte er für die kleine Thai-Hure in Hamburg-Eppendorf bewahren. Mittags musste er sie einmal mehr besuchen. Die wusste, wie sie ihn bis zur Erschöpfung bearbeiten würde. Jedes Mal schlich er sich nach dem Besuch bei dieser jungen Frau völlig fertig zu seinem Auto, um dort einige Minuten in Ruhe zu sich zu kommen. Die kleine Thai konnte manchmal eine ganze Woche nicht arbeiten, weil er sie so massiv geschlagen und gequält hatte.

„Mit reichlich Geld lässt sich jede Wunde heilen,“ prahlte er vor seinen Freunden, wenn sie sich beim Italiener zum Essen trafen. „Die kleinen Huren müssen die Männer ja nicht bedienen. Schon gar nicht wieder und wieder, wenn sie nicht genauso Spaß an harten Spielchen haben.“ Er lachte laut, wenn die Männer und Frauen mit ihm am Tisch ihn fragend ansahen. „Was meint ihr denn,“ er sah jedes Mal in die Runde: „Was meint ihr denn bekomme ich in meiner Praxis zu sehen. Stellt euch das lieber nicht vor. Menschliche Abgründe sind unendlich tief. Ein Ende der Grausamkeiten von Menschen an Menschen wird es nie geben. Dazu ist die Fantasie dieser Spezies Mensch viel zu kreativ.“

Von sich selbst gab er nie etwas preis. Er war der bekannte Frauenarzt und Chirurg, der von den verkommenen Huren bis zur Frau Senatorin, bekannten Künstlerinnen, Unternehmerinnen, Stars und Sternchen alles an weiblichen Unterleibern gesehen hatte. Von ihm persönlich

erfuhr niemand auch nur die kleinste Kleinigkeit. Aus seiner Praxis drang nichts an die Öffentlichkeit. Kein Sterbenswörtchen.

„Mein untadeliges Ansehen. Das Image, das ich mir über Jahrzehnte aufgebaut habe, setze ich doch nicht wegen eurer Neugier aufs Spiel.“ Er lachte in solchen Momenten übertrieben laut, lehnte sich auf seinem Stuhl weit zurück, den Kopf im Nacken. „Nee, meine Lieben, eure Lust auf Sensationen müsst ihr schon auf andere Weise befriedigen. Namen hört ihr von mir nicht“

Das weiße Levis-T-Shirt mit der kurzen Knopfleiste streifte er über. Seine nahtlosen, farbigen Retrounterhosen ließ er von seiner rumänischen Haushaltshilfe bei H&M kaufen. Er fand es witzig, sich von dieser Frau seine Unterwäsche mitbringen zu lassen.

An diesem Tag zog er die enge Röhrenjeans an, krempelte den Beinabschluss einmal um, die Ringelsocken passten gut dazu, schlüpfte in die braunen Schnürstiefel, stand auf, machte eine Kniebeuge und rekelte sich in seiner kurzen Lederjacke zurecht. Er grinste bei dem Gedanken, dass die Leute, die er auf seiner Baustelle treffen würde, herausgeputzt und gestylt auf ihn warten würden. Wie recht er hatte, sah er grinsend als er seinen dunkelgrünen Jaguar auf sein Grundstück an der Elbchaussee rollen ließ. Alle, die damit rechneten, Aufträge von ihm zu bekommen, standen dort in ihren Anzügen und Kostümen im Match. Schon ein wenig ungeduldig ging die kleine Gruppe auf seinen Wagen zu. Sein Architekt sah zu auffällig auf seine Uhr.

Dr. Trabes ließ das Fenster herunter surren: „Das brauchst du nicht mein Lieber, ich weiß, ich bin ein paar Minuten zu spät. Du kennst ja den

Autobahn-Verkehr.“ Er stieg aus, sah sich um, nickte in die Runde und stapfte durch Matsch und Pfützen zum Bauwagen der Firma >>Erd-u. Strassenbau van Kluten<<, die die Erdarbeiten ausführen sollte. Jedes Mal ärgerte er sich über deren Firmenlogo, weil er Straße nicht mit doppeltem S lesen wollte. Oft genug hatte er das niederländischem Chef persönlich gesagt. „Sie wollen doch die besten Preise, dann kann ich nicht jede Rechtschreibreform mitmachen,“ antwortete der dann lachend. „Kommen Sie meine Damen und Herren, wir haben einiges zu besprechen.“

Er sah sich zu der sich zögerlich in Bewegung setzenden Gruppe um. Die Pfützen und der Matsch gefielen den Anzug- und Kostümträgern offensichtlich nicht übermäßig. „Komm Werner,“ rief er seinem Architekten zu: „Dann machen wir eben alles alleine. Wenn die Damen und Herren Unternehmer Angst vor Dreck auf der Baustelle haben. Ich muss weiter zur neuen Praxis in Emmerich. Bitte alles schnell und kurz erklären.“

Im Bauwagen schlug ihnen eine Eiseskälte entgegen, jetzt im Oktober konnten die Nächte am Eltener Berg bereits sehr kalt werden. Lächelnd schlug er den Kragen seiner Lederjacke aus dickem Büffelleder hoch, zog den doppelten, groben Messingreißverschluss bis unters Kinn, setzt sich auf das einzige Kissen das auf der abgewetzten Holzbank lag und wartete.

Teil 2

Hauptkommissar Gunnar Hansen ließ sich in seinen Schreibtischsessel sinken. Dabei sah er durch die breite Glasscheibe zu seiner Mitarbeiterin hinüber. Stefanie Gentz, im Nebenzimmer, bemerkte ihn an diesem Morgen nicht. Sie kroch fast in den Bildschirm ihres neuen Computers hinein.

Erst als Hansen mit einem abgekauten Bleistift an die Scheibe klopfte, zuckte sie zusammen, sah sein Kopfnicken, stand auf, ging zur Tür.

Hansen rückte sich zurecht. Fuhr sich mit der linken Hand noch einmal über das Gesicht, durch das langsam grauer werdende Haar, zupfte an seinem Bart und stützte sich mit den Ellenbogen auf seine Schreibtischunterlage. Ihm war klar, dass in weniger als zwei Minuten Stefanie zu ihm ins Zimmer kommen würde. Nie kam sie jedoch zu ihm, ohne vorher einen kurzen Blick in den Spiegel auf der gegenüberliegenden Damentoilette zu werfen. Endlich hatten sich beide, die so viele Jahre in Hamburg zusammengearbeitet hatten, in Kleve am Niederrhein, eingearbeitet.

Als sich seine Bürotür öffnete, grinste er leicht verschmitzt.

„Na, wie fühlst du dich? Heute kommt Gerd Happel aus Wien zurück. Freust du dich? Mensch, wie schnell ist das eine Jahr vergangen.“

„Finde ich nicht, war lang genug. Ja, ich freue mich. Was liegt sonst an?“ Stefanie Gentz war zu aufgeregt ihren Lebensgefährten endlich wieder bei sich am Niederrhein zu haben, als dass sie sich auf lange Diskussionen mit ihrem Chef einlassen würde. „Ja, heute um 14.45 Uhr hole ich ihn vom Flugplatz in Düsseldorf ab. Ich nehme meine Mittagspause dafür. Ist das okay?“

„Klar, nimm dir Zeit. Ich will euch beide vor morgen früh hier nicht sehen. Klar?“ „Wieso das denn?“ „Weil ich das so will! Verstehst du das?“

Die junge Frau wusste aus den Jahren ihrer Zusammenarbeit, dass jede weitere Diskussion mit Gunnar Hansen, ihrem Chef, laut werden würde.

Natürlich freute sie sich einen Nachmittag und Abend mit ihrem Freund, der nach einem Jahr in Wien zur Schulung für den höheren Polizeidienst endlich nach Hause zurückkehrte. Was nutzen der Sommerurlaub im Burgenland, die zwei Wochen im Winter in Gerlos im Zillertal und die Ostertage im Hotel Europa mit seinem verblichenen Charme des neunzehnten Jahrhunderts im Semmering. Ein Teil von Stefanies Besuchen in Österreich galt dem Abschied und den konnte sie weder von ihrem Freund noch von Familienmitgliedern gut ertragen. Weder sie noch ihr Freund wussten, Hauptkommissar Hansen hatte sich für seinen sehr guten Ermittler Gerd Happel eingesetzt. In einigen Tagen würde dieser offiziell zum Hauptkommissar der Kriminalpolizei bei der Mordkommission Kleve ernannt werden. Mit der österreichischen Polizeidirektion hatten die Oberen der Kripo das so abgesprochen.

Beide sahen sich an: „Danke, das ist sehr nett von dir. Morgen früh sind wir pünktlich hier und wenn ich Gerd heranschleppen muss.“

„Lass es ruhig angehen, der Mann wird müde sein und schlafen wollen.“ Hansen grinste seine Mitarbeiterin an: „Schlafen konnte er in Wien, jetzt bin ich erst einmal dran. Er soll sich um mich und seinen Job kümmern. Mit Wiener Schmäh ist hier nichts. Wir sind in Kleve und Duisburg.“

Hansen lachte, griff zum Telefon, das schrill, aufdringlich läutete. Stefanie sah ihren Chef fragend an, zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf sich, aus ihren Lippenbewegungen konnte er erlesen: „Soll ich rangehen?“ Hansen schüttelte den Kopf.

„Kriminalpolizei, Kommissariat 1.“ Er meldete sich routiniert mit ruhiger Stimme.

„Einsatzzentrale Niederrhein,“ schnarrte ihm eine Stimme entgegen. „In Elten ist Ihre Anwesenheit erforderlich Hansen, scheint dringend zu sein. Kollegen der Polizei sind schon vor Ort. Der Erkennungsdienst rollt an. Genau in Hochelten, am alten Hotel, oberhalb der Treppe ins Tal.“

„Kenne ich, bin schon weg.“ Er legte den Hörer auf das Telefon. „Steffi, ich muss los, Grüße an Gerd. Kommt morgen beide heil hier ins Büro. Ich denke wir haben einen neuen Fall. Hochelten habe ich nicht in so guter Erinnerung. So, bleib bis Mittag hier und dann ab nach Düsseldorf zum Flughafen. Sag in der Zentrale Bescheid, sie sollen Anrufe auf mein Handy schalten. Ciao Bella.“

Grinsend rannte er aus seinem Büro. Sekunden später riss er die Tür wieder auf:

„Ruf bitte den Fotografen und den Doktor an. Die sollen nach Elten kommen. Ich fühle, dass ich beide gut gebrauchen kann. Beide erreichst du über Handy. Und,“ er sah Stefanie direkt an, „Und gib Gas!“

„Macho!“ Rief sie ihrem Chef hinterher. Der rannte bereits zum Fahrstuhl.

Erwin Kessel, Schutzpolizist aus Kleve führte den Hauptkommissar vom Parkplatz ganz oben in Hochelten den Hang hinunter. „Na, Chef? Heute ganz allein? Die Kollegen haben wohl keine Lust, oder?“ „Ne mein Lieber, die kommen schon. Mit so etwas Kann doch keiner rechnen. Hier in Elten. Der Fotograf ist unterwegs. Wenn der kommt, sag ihm Bescheid wo ich bin.“

„Klar, Chef, mach ich, geh gleich wieder auf den Parkpletz. Die von der Spurensicherung sind schon drin, die führen Sie weiter.“

„Gut so, und, Erwin, lass niemanden abhauen. Sag deinen Kollegen, sie sollen jeden, der weggehen will, festhalten. Ich will erst mit allen sprechen. Du nimmst schon mal die Personalien auf und mache bitte Fotos vom Hang und der Treppe, vom Platz hinter dem Hotel, einfach von allem, was dir auffällt.“

„Chef, den Fotografen haben wir im Präsidium benachrichtigt, der kommt.“ „Weiß ich, du Erwin machst andere Fotos als der. Die sind mir genauso wichtig, wenn nicht wichtiger. Übrigens, wenn der Forensiker kommt, schick den gleich rein. Er soll seinen Koffer nicht vergessen.“

Der Polizist grinste, riss die linke Hand an die Mütze, stiefelte den Berg wieder hinauf, rief seine Kollegen zusammen, instruierte sie weisungsgemäß. Er wusste zu genau, wenn jemand sich nicht an die Anweisungen des neuen Hauptkommissars aus Hamburg, Gunnar Hansen hielt, drohte massive Gefahr in Form von Schimpftiraden und Gebrülle. Wie hatte der in einer Schulung erklärt: Die Wahrheit finden wir im Detail, in der kleinsten Kleinigkeit. Erwin Kessel liebte es der Kripo, besonders der Mordkommission zuzuarbeiten. Seine Frau sah ihn jeden Abend, kaum stand er in der Haustür seines kleinen Reihenhauses in Wissel fragend an. „Na, Mann was war heute. Gibt's was Interessantes?“

Und er antwortete jeden Abend.

„Ja, mein Mädchen, ich berichte dir schon noch.“

Auch wenn er so manche Einzelheit hinzudichtete, seine Frau war zufrieden, wenn sie Neuigkeiten aus seinem Dienst erfuhr. Sie interessierte sich für all das, was in Büchern stand. Sie las unglaublich viel. Von Marco Polo bis Garcias, von Goethes Wahlverwandtschaft bis zu Schätzings Schwarm.

Die Berichte ihres Mannes stellten so etwas wie gesprochene Literatur für sie dar. Der Ehemann hatte an sich selbst bemerkt, dass er sich eine völlig andere, viel wortreichere, feinere Sprache angewöhnt hatte. Auf seiner Wache drängten die Kollegen ihn alle Reden zu Festlichkeiten, Jubiläen und Verabschiedungen zu halten. Seiner Frau verdankte er das, weil sie ihm aus Büchern vorlas, die er nie angefasst hätte, von denen er noch nie gehört hatte.

„Wisst ihr,“ hatte er einmal den Kollegen erzählt: „Wisst ihr, was die Gebrüder Grimm außer Märchen sonst noch geschrieben und gesammelt haben?“

Niemand wusste eine Antwort.

„Die haben damals siebzig Bände mit Worten der Deutschen Sprache aufgeschrieben, siebzig.“ „Unglaublich. Und die hast du alle gelesen?“

Die Kollegen lachten. Gottfried Schneider konnte es nicht lassen, über andere seine Witze zu machen, die niemand wirklich hören wollte.

„Nee, Gottfried, habe ich nicht. Dafür kannst du bestimmt alle Kirchenlieder auswendig.“

„Ich heiße wenigsten wie ein Bundesland, du wie eine Figur aus Max und Moritz von Wilhelm Busch. Den Schneider Wibbel wirst du doch kennen!“ Die Kollegen freuten sich über solche Neckereien. Sie verstanden sich gut, arbeiteten präzise und gewissenhaft.

„Erwin Holstein,“ hörte er seinen Namen vom Wendeplatz am Ende der Straße herüberschallen. Er drehte sich um, sah aus dem schwarzen Audi A6 Gerd Happel steigen. Gleichzeitig sah sich der neue Forensiker Piet van der Wal, neben der silberfarbenen Mercedes E-Klasse nach ihm um.

„Hier, hierher die Herren. Hier bin ich.“

Holstein winkte in die Richtung der Autos. Beide Männer begrüßten sich, winkten kurz zurück. Sie hatten den Polizisten Holstein gehört und aus den Augenwinkeln gesehen.

„Moin Piet. Moin Gerd,“ Hansen begrüßte seine Kollegen auf Art der Hamburger, kurz und bündig. „Hast du die Kamera dabei?“

„Mir sind deine Aufnahmen wichtig. Mein Fotograf ist ebenfalls im Anrollen. Der will deine Aufnahmen sicherlich ansehen. Du hast ein Auge für wichtige Kleinigkeiten.“

„Ja, habe ich.“ Happel hielt seinen Fotoapparat in die Höhe. „Na, dann lass uns anfangen, Holstein tut ganz aufgeregt.“

Die wenigen Stufen zur Terrasse des Hotels, auf der der Streifenpolizist wartete, rannten die beiden Hauptkommissare hoch. Das machte Eindruck, zeugte von Wichtigkeit. Die drei Männer gaben sich kurz die Hand. „Happel, geh du vor.“ Hansen wies mit dem linken Arm nach oben.

Polizisten, Männer in weißen Overalls standen vor dem Eingang zu einem in den Berg gegrabenen Gewölbe. „Wir müssen ganz weit durchgehen, hinter dem Bierkeller liegt ein Gang, der mit einer dicken Holztür verriegelt ist, dahinter geht es immer weiter in den Berg hinein. Bis vor eine Stalltür. Ihr werdet schon sehen was euch erwartet.“

Hansen drehte sich zu dem Polizisten um. „Du bist verantwortlich, Erwin, dass die Leute, die das hier entdeckt haben, nicht abhauen. Sag deinen Leuten nochmals Bescheid.“ „Ja, mache ich, hast du schon mal gesagt, meine Leute passen auf. Verlass dich darauf.“

Ein Mann aus der Gruppe der Spurensicherung zog die Stahltür auf, als er den Trupp Männer kommen hörte. Hansen und Gerd Happel hatten mittlerweile ihre Stirnleuchten über den Kopf gezogen, zogen sich im Gehen die blauen Gummihandschuhe über und stülpten sich Plastiküberzieher über ihre Schuhe.

„Herr van de Val warten Sie lieber hier, wegen der Spuren. Verstehen Sie? Besser ist besser. Ihre DNA brauchen wir hier nicht.“ Hansen grinste seinen Kollegen an.

„Ist doch klar Gunnar, ihr seid die Kripo, ihr bestimmt was Sache ist.“

Als der Strahl ihrer sehr hell leuchtenden LED-Kopflampen in den Raum hinein strahlte, senkten sie automatisch ihren Kopf, um das, was vor ihnen auf dem Boden lag, besser sehen zu können. Automatisch traten Hansen und Happel einen Schritt zurück.

Aus leeren Augenhöhlen schien ihnen eine Frauenleiche entgegen zu lachen. Die weiß schimmernden Zähne, umrandet von schwarzen, mumifizierten Lippen, schienen nach ihnen zu schnappen.

„Die Gesichtshaut schimmert wie altes Leder von Aktentaschen.“ Happel murmelte fast tonlos vor sich hin. Dieser Gedanke setzte sich sofort in Hansens Kopf fest. Sie standen vor einer mumifizierten, an Händen und Beinen mit verrostetem Eisendraht gefesselten Frauenleiche.

„Nicht weitergehen, stehen bleiben,“ brüllte er unnötig laut in den Gang hinein. „Ich will diesen verfluchten Raum einfrieren, ist das klar? Holstein soll sofort die 3D-Kamera und alles Zubehör holen. Mach zu, Mensch. Hier kommt niemand rein. Pass auf, lass auch Wärmebilder machen. Holstein soll mit Blaulicht losfahren. Sag bitte in der Zentrale Bescheid, dass alles vorbereitet wird und abholfertig an der Pforte beim Diensthabenden liegt. Bitte lauf los.“

„Nicht nötig Chef, hab alles gehört, du schreist ja laut genug.“

Gerd Happel zog den Polizisten Holstein aus dem Gang hinaus. „Ich bin gleich wieder zurück. Gunnar, mach die Tür von außen zu. Lass keine Luft rein. Wir treffen uns draußen.“

Er schubste seinen Kollegen von der Schutzpolizei fast hinaus auf den Hang. Holstein telefonierte.

„Gerd ich fahre selbst, Ihr bleibt ja hier.“ Holstein nickte ihm zu.

„Gut so, gib Gas, du weißt wie Gunnar drauf ist, wenn er warten muss.“

„Ich beeil mich. Ruf du auch noch mal in der Abteilung an, dass alles abholbereit beim Wachhabenden liegt.“

„Mach ich.“

„Los jetzt. Vergiss den Fotografen nicht. Der kennt sich mit den Geräten aus!“

Holstein drehte sich noch einmal zum Kripobeamten Happel um. „Darauf wäre ich nicht gekommen, Mann!“

Mit heulender Sirene raste der Peterwagen der Hamburger Polizei Sekunden später los.

Plötzlich kroch ein kalter Schauer Gunnar Hansen über den Rücken. Er sah sich um, seine Stirnlampe brannte noch immer. Sie warf lang gestreckte verzerrte Figuren auf die Wände des aus groben Klinkern gemauerten, wohl aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Ganges im Berg. Die Stahltür zu der Kammer mit der Toten schloss er vorsichtig, um auf keinen Fall Staub aufzuwirbeln. Als er sich umdrehte, um hinaus zu gehen, erschrak er furchtbar. Dicht vor ihm stand jemand:

„Kurt Kraft, Hauptkommissar. Revierleiter Holstein schickt mich.“

„Mann, können Sie sich nicht anders bemerkbar machen. Mensch, habe ich mich erschrocken.“ Tief atmend legte er seine rechte Hand auf sein Herz.

„Tut mir leid, was kann ich für Sie tun?“