Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein geheimnisvoller Koffer? Fünf rote Schuhe und ein leeres Buch? Was hat das zu bedeuten? Auf der Suche nach Antworten reist Anna durch fremde Welten und wilde Zeiten. Gemeinsam mit neu gewonnenen Freunden lernt sie fünf Prinzipien kennen, die für ein gutes Miteinander und ein erfülltes Leben stehen. Der kluge Schlawenskiwonsko, die Lügenbiene Sassi, Mut-Meister Hakomi, Wutbremser Zotto und andere Helfer begleiten Anna auf ihrer abenteuerlichen, spannenden und manchmal herausfordernden Reise, die am Ende ihren tieferen Sinn offenbart. "Anna und die roten Schuhe" ist ein Geschenk-Schatzbuch für Kinder, das durch seine inhaltliche Zeitlosigkeit ein wertvoller und lebenslanger Begleiter sein wird.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 284
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Anna und die roten Schuhe
© schlaumach-buchverlag
1. Ausgabe, 1. Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten. Die vollständige oder auszugsweise Speicherung, Vervielfältigung oder Übertragung dieses Werkes, ob elektronisch, mechanisch, durch Fotokopie oder Aufzeichnung, ist ohne vorherige Genehmigung des Verlags urheberrechtlich untersagt.
Text: Mario Hartmann
Illustrationen: Iryna Yakovlieva
Lektorat: Steffi Bieber-Geske
Korrektorat: Carola Jürchott
ISBN: 978-87-974818-6-8 [EPUB]
1. Copyright
2. Endlich Sommerferien
3. Die Ankunft
4. Frau Zillerman mit einem n
5. Omas Dachboden
6. Der Koffer mit dem roten Griff
7. Die Reise nach Schlimmland
8. Topson, Tobi und die Briefe
9. Ungesund geht in den Schlund
10. Der Vorzeit-Doppler
11. Das Lämpchen darf mit
12. Ein merkwürdiger Traum
13. Der erste Satz
14. Lachen macht glücklich und schön
15. Die Reise nach Gutenland
16. Lillesol und der Brief
17. Das Haus der Musik
18. Sassi die Lügenbiene
19. Stolper, stolper, polter
20. Mit Freundlichkeit ist alles schöner
21. Die rennende Zeit
22. Der zweite Satz
23. Die Herausforderung
24. Gestalten im Museum
25. Der Fahrgast
26. Gefangen in Dunkelland
27. Schlawenskiwonskos Idee
28. Sammlogrim und der Gedankendrucker
29. Tamusine und die Trinketinte
30. Hakomi der Mut-Meister
31. Die Schlaumach-Medizin
32. Jansons Geheimnis
33. Annas fast perfekter Plan
34. König Hausenius von Großgoldland
35. Auf nach Schlimmland
36. Der falsche Dreifachbrief und saure Gurken
37. Der Fehler im Plan
38. Rundkopf und die Post
39. Der Moment der Wahrheit
40. Rundkopf ist zurück
41. Der dritte Satz
42. Auch die Großen haben Angst
43. In Tristenland
44. Die kleine Pflanze
45. Die Schwarzhände
46. Zotto, Tröstus und das Jetzt
47. Die Überraschung
48. Der Übergangsbaum
49. In der Makasch
50. Furchtbar schöne Natur
51. Das Herz am falschen Fleck
52. Der vierte Satz
53. Die große Blumenwiese
54. Wie ist das mit dem Glück?
55. Das Zeitkatapult
56. Der Besuch
57. Das Versteck
58. Opas Reise
59. Der fünfte Satz
60. Kakao und Schokoflocken
Wie alles begann
Autor und Illustratorin
Unsere außergewöhnliche Geschichte beginnt in einem etwas rumpeligen Kinderzimmer, an einem ganz gewöhnlichen Ort, in einer gewöhnlichen Stadt. Durch einen Spalt in der Gardine wanderte die Morgensonne mit ihrem hellen Strahl durchs Zimmer. Sie schlich sich dabei ganz langsam die Wände entlang, unaufhaltsam in Richtung Bett.
In diesem Bett lag, tief und fest schlafend, ein kleines Mädchen. Na ja, so klein war sie nun auch nicht mehr. Sie hatte schon ihren eigenen Kopf und wirkte oft ziemlich erwachsen, viel erwachsener, als es ihren Eltern lieb war. Kinder sind ja bekanntlich nicht immer ganz einfach. Sie wollen ständig etwas wissen, Neues hinzulernen und jeden Tag Fantastisches erleben. Sie stellen viele Fragen – und das auch dann, wenn die Eltern abends eigentlich schon längst viel zu müde für kluge und vor allem richtige Antworten sind. Genau so war es auch bei diesem Mädchen, das dort noch so friedlich schlief. Wie gesagt, noch, denn der Sonnenstrahl wanderte langsam immer weiter, erreichte jetzt das Bett und kitzelte in diesem Augenblick die Nase von – Anna.
Anna spürte die Wärme und das intensive Licht durch die geschlossenen Augen, drehte sich um und zog sich die Decke über den Kopf. Die Sonne störte sie, wie schon so oft, beim Weiterschlafen. An Aufstehen aber wollte Anna überhaupt nicht denken. Gerade wieder am Einschlafen, hörte sie die Stimme ihrer Mama: „Anna aufstehen, wir fahren gleich zu Oma.“
Es dauerte ein paar Sekunden, bis das Gehörte in Annas Kopf angekommen war. Dann tippte ihr jemand auf die Schulter. Anna war plötzlich hellwach. Das konnte nicht sein, sie war doch allein im Zimmer. Trotzdem, sie hätte schwören können, dass ihr eben jemand auf die Schulter getippt hatte.
‚Seltsam‘, dachte sie, schob den Vorhang am Fenster beiseite und schaute hinaus.
Mama rief abermals, und jetzt fiel Anna etwas Wichtiges ein: Es war der erste Tag der Sommerferien, und sie würden zu Oma Otilia fahren. Bei ihr war es immer herrlich, weil sie nicht in der Stadt wohnte, sondern auf dem Land. Anna mochte Oma Otilia sehr, und sie mochte es ebenfalls, auf dem Lande zu sein.
Rasch sprang sie aus dem Bett und rannte die Treppe hinunter. Mama hatte bereits das Frühstück vorbereitet. Anna setzte sich und aß ihr Lieblingsfrühstücksessen, wie sie es immer nannte: Toast mit Butter und anderthalb Stück Salami. Zwei Stück Salami waren zu viel, und ein Stück Salami wäre für das Brot zu wenig gewesen, aber anderthalb Stück Salami waren genau richtig. Zu trinken gab es Tee mit etwas Zitrone und ein klein wenig Zucker. So mochte Anna ihn am liebsten.
„Weiß Oma, dass wir heute kommen?“, fragte Anna.
„Aber natürlich“, antwortete ihre Mama. „Wie sollte sie es denn nicht wissen? Du hast dich doch für die Sommerferien bei ihr angemeldet. Und heute ist der erste Ferientag. Oma freut sich schon sehr auf dich. Da du jetzt schon etwas älter bist, kannst du diesmal gern die ganzen Ferien dortbleiben. Versprich mir aber, dass du auf Oma Otilia hören wirst.“
Anna antwortete nicht. „Hörst du mich?“, fragte Mama jetzt etwas eindringlicher. „Ja“, sagte Anna, „aber natürlich.“
Mama nickte und schaute Anna dabei ernst an. „Hast du deine Sachen schon gepackt?“ „Oh, das habe ich komplett vergessen, habe ich denn noch Zeit?“ „Ja, aber beeil dich, wir wollen bald los.“
Anna lief hastig nach oben und suchte die wichtigsten Sachen zusammen. Ihr Malzeug, ihren Kompass, ein Fernglas und natürlich ihr Lieblingsspielzeug, das Kaleidoskop. Wenn man dort hindurchschaute und es gegen das Licht hielt, sah man kleine Glassteine in verschiedenen Formen und Farben, die alle wunderschön leuchteten. Drehte man das Kaleidoskop, dann veränderten sich die Formen und Muster immer wieder aufs Neue.
Immer dann, wenn sie eine besonders schöne Form gefunden hatte, legte Anna das Kaleidoskop ganz vorsichtig zur Seite und freute sich schon darauf, beim nächsten Mal gleich diese schöne Form sehen zu können.
Sie hatte deshalb jedem in der Familie die strikte Anweisung gegeben, das Kaleidoskop nicht anzufassen, falls es irgendwo herumliegen sollte. Alle hielten sich daran. Na ja, fast alle. Ihr Bruder Tomik leider nicht. Es schien ihm Spaß zu machen, das Kaleidoskop immer wieder absichtlich zu bewegen, um Anna zu ärgern.
„Wo ist denn nur mein Koffer?“, dachte sie laut. Die Dinge müssen ja schließlich eingepackt werden. Sie fand den Koffer im Kleiderschrank ganz hinten auf dem Boden.
‚Komisch‘, dachte Anna, als sie den Koffer sah. Ihr war nie aufgefallen, dass der Koffer einen roten Griff hatte. Da die Zeit drängte, entschied sie sich, nicht weiter darüber nachzudenken und lieber schnell zu packen. Sie fasste den roten Griff, zog den kleinen Koffer aus dem Schrank und legte alle Dinge hinein.
Natürlich musste Anna sich noch anziehen. Sie entschied sich für ihre Lieblings-Abenteuerhose. Diese Latzhose war bequem, angenehm bei warmem Wetter und hatte zwei praktische Taschen, eine auf der Brust und eine an der Seite. Anna musste noch schnell die Zähne putzen, ihre Haare zurechtmachen, in die Schuhe schlüpfen und eine Jacke überziehen. Mama verstaute schließlich eine große Tasche mit Annas Kleidung im Kofferraum des Autos. Anna lief zum Hausflur, um ihren Koffer zu holen.
‚Moment! Hatte der nicht eben noch einen roten Griff? Das kann doch nicht sein‘, dachte sie.
Jetzt war der Griff jedenfalls braun.
„Anna“, rief ihre Mama, „wo bleibst du?“ Anna schnappte den Koffer, schaute noch einmal auf den Griff in ihrer Hand und sagte leise: „Braun, der Griff ist eindeutig braun.“
Nachdem alles, was für Annas Aufenthalt bei Oma Otilia benötigt wurde, verstaut war, stiegen sie ins Auto und machten sich auf den Weg. Die ganze Familie war jetzt beisammen: Annas Mama, ihr älterer Bruder Tomik und Papa. Sie hatten Oma Otilia schon eine ganze Zeit nicht mehr gesehen und würden diesen Tag gemeinsam dort verbringen.
Anna freute sich sehr auf die bevorstehenden Wochen. Endlich Ferien, endlich bei Oma Otilia. Als sie in diesem Moment im Auto saß, hatte sie natürlich noch keine Idee davon, was die Vorzeit für sie bereithielt.
Als sie nach etwas über einer Stunde Fahrt endlich bei Oma Otilia ankamen, gab es wie immer erst einmal eine große Umarmungszeremonie. Oma Otilia umarmte Papa, Mama, Anna und Tomik und alle umarmten Oma Otilia. So ist das nun mal, wenn man sich lange nicht gesehen hat.
Der gemeinsame Nachmittag war eigentlich ganz schön, aber Anna freute sich schon darauf, irgendwann mit Oma Otilia allein zu sein. Sie wollte sie tausend Dinge fragen und hunderttausend Dinge mit ihr zusammen unternehmen.
Am frühen Abend fuhren die Eltern und Tomik wieder nach Hause, und Anna war endlich mit Oma Otilia allein.
Bei Oma war vieles irgendwie schöner als zu Hause. Omas Haus war zwar nicht sonderlich groß, dafür aber sehr gemütlich. Anna mochte das kleine Holzhaus, und wenn sie größer war, wollte sie ebenfalls nur ein Holzhaus haben.
Sie hatte sogar ein eigenes Zimmer bei Oma. Darin stand ein schönes Bett mit dicker Bettwäsche und echten Federn darin. Manchmal stach eine Feder durch den Stoff des Kissens, so als wolle sie sich befreien, und pikte Anna ins Gesicht. Sie zog die Feder dann meistens heraus und zeigte sie Oma. „Na, wenn du so weitermachst, ist das Kissen irgendwann ganz platt“, sagte Oma dann immer und lachte dabei.
Nach der langen Reise und dem Nachmittag mit der ganzen Familie wurde Anna plötzlich müde. Das konnte Oma gut verstehen. Eine solche Fahrt kostet immer Kraft, und sie hatten ja nun einige Wochen Zeit, um sich zu sehen. Deshalb war es auch überhaupt nicht schlimm, wenn Anna schon schlafen ging.
Doch es war immer dasselbe. Kaum hatte Anna sich ihren Schlafanzug angezogen, war sie plötzlich wieder hellwach. Oma lachte, denn das kannte sie natürlich schon.
Unten im Wohnzimmer schaute Anna sich in Omas Bibliothek um. Da sie lange nicht in diesem Raum gewesen war, hatte sie schon fast vergessen, wie viele Bücher dort in den Regalen standen. Sie hatte ein paar Lieblingsbücher, auf die sie sich immer wieder freute, wenn sie Oma besuchte. Ihr Lieblingsbuch aller Lieblingsbücher war der große alte Weltatlas. Sie zog ihn aus dem Bücherregal, setzte sich auf den Holzfußboden und begann, darin zu blättern.
Das Tolle war, dass sie sich beim Umblättern der Seiten daran erinnerte, wie sie das letzte Mal darin geblättert hatte. Sie freute sich schon auf einige Seiten, die sie ganz besonders schön fand. Da war eine Weltkarte, viele Landkarten und ein paar Seiten weiter Teile von Landkarten, aber in Großformat. Weiter hinten im Buch kamen dann die Sterne und Planeten. Anna blätterte Seite für Seite durch, bis sie zu ihrer absoluten Lieblingsseite kam. Das war die, auf der man den Mond sehen konnte.
Der Mond sah aus wie eine große leuchtende Kugel mit kleinen Beulen, und er strahlte so schön auf dem schwarzen Hintergrund der Seite. Man sah die vielen Krater, so nannte Oma die Einbuchtungen auf dem Mond, und Anna fand dieses Bild einfach toll. Sie strich mit der Hand darüber und war dabei immer etwas enttäuscht, weil sie die Krater nicht spüren konnte.
Natürlich hatte sie schon oft den echten Mond gesehen, aber der war immer so weit weg. Dieser hier war ganz nah und leuchtete fast genauso schön wie der richtige Mond in der Nacht.
Nachdem sie den halben Weltatlas durchgeschaut hatte, war Anna wirklich müde. Zum Glück hatte sie ihren Pyjama schon an, und so konnte sie einfach nach oben gehen, sich in ihr Bett legen und nach Oma Otilia rufen. Auf dem Weg in ihr Zimmer schaute sie auf die Bilder, die an der Treppenwand hingen. Dort waren Bilder von Oma und Opa, als sie wahrscheinlich irgendwo im Urlaub waren, und auf einem anderen Foto sah sie Opa auf einem Rennrad sitzen.
Dort hingen auch gezeichnete Bilder von Heilpflanzen. Auf dem ersten Bild las sie das Wort „Eisenkraut“ und auf dem nächsten Bild war eine „Ringelblume“ zu sehen. Anna wusste zwar nicht, wozu diese Pflanzen gut waren, Oma Otilia hingegen kannte sehr viele Heilpflanzen und hatte sogar einige davon in ihrem Garten. Anna fand die gezeichneten Bilder so schön, dass sie manchmal auf der Treppe stehenblieb, um sie sich dann in Ruhe anschauen zu können.
Oben angekommen, legte sie sich ins Bett und rief laut: „Oma, ich bin fertig!“ Oma Otilia schmunzelte, als sie Anna in die Bettwäsche eingekuschelt liegen sah. Sie gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte: „Schlaf gut, mein Schatz. Morgen machen wir etwas Schönes zusammen.“
Oma Otilia verließ das Zimmer, und alles war genauso, wie Anna es mochte. Es war nicht zu hell im Zimmer und auch nicht zu dunkel. Das Zimmer war nicht zu groß und nicht zu klein. Es fühlte sich gemütlich an, und sie konnte vom Bett aus sowohl das Fenster mit den bunten Gardinen sehen als auch den Kleiderschrank, den Tisch und die kleine Lampe, die darauf stand.
Anna genoss es, sich so rundum wohlzufühlen. ‚Ach, ist das schön‘, dachte sie zufrieden und schloss langsam die Augen.
Kurz, aber wirklich nur ganz kurz kam ihr noch einmal die merkwürdige Geschichte mit dem Koffer in den Sinn: ‚War der Griff nun rot oder braun?‘
Auf der Suche nach der richtigen Antwort schlief sie innerhalb weniger Augenblicke glücklich ein.
Als Anna am nächsten Morgen aufwachte, hörte sie es draußen regnen. „Oh nein“, rief sie, „das ist doch nicht möglich!“
Es waren schließlich Ferien, und in den Sommerferien durfte es einfach nicht regnen. Sie schaute zum Fenster hinaus und sah, wie der Regen auf die Pflastersteine des Hofs prasselte. ‚Zumindest bin ich bei Oma‘, dachte sie zufrieden, und ihre Enttäuschung verflog.
Dann schaute sie noch einmal auf den Hof. Dort stand ein Koffer mit einem roten Griff mitten im Regen.
„Das kann doch nicht sein“, sagte Anna erstaunt. Sie drehte sich um und sah ihren eigenen Koffer neben dem Bett stehen, und dieser hatte eindeutig einen braunen Griff. Sie blickte wieder nach draußen. Der Koffer dort war nicht mehr da. Weg, wie vom Erdboden verschluckt. „Ein Koffer verschwindet doch nicht einfach innerhalb einer Sekunde“, sagte Anna zu sich selbst.
Sie lief die Treppe hinunter in die Küche. Dort saß Oma Otilia am Küchentisch und las ein Buch.
„Na, meine kleine Maus, hast du gut geschlafen?“, fragte Oma.
„Ja, super“, antwortete Anna, rannte an ihrer Oma vorbei und schaute zum Fenster hinaus.
„Du, Oma“, fragte Anna, „stand da eben ein Koffer vor dem Haus?“
„Ein Koffer?“, fragte Oma Otilia. „Wer sollte denn bei so einem Wetter einen Koffer in den Hof stellen?“
„Das weiß ich auch nicht“, antwortete Anna mit einem erneuten Blick aus dem Fenster. „Da ist wirklich nichts. Ich dachte, ich hätte einen Koffer mit einem roten Griff gesehen. Aber da habe ich mich wohl geirrt. Was ist das eigentlich für ein Sommerwetter? Es regnet ja draußen. Das finde ich doof.“
„Ach“, erwiderte ihre Oma, „das macht nichts. Das Wetter können wir nicht ändern. Deswegen macht es auch gar keinen Sinn, sich nur eine einzige Sekunde darüber zu ärgern. Denn wenn man sich über etwas ärgert, das man nicht ändern kann, macht man es nur schlimmer.“
Da hatte Oma recht, und Anna wusste das natürlich längst. Trotzdem ärgerte sie sich ein wenig über den Regen. Mit Ärger umzugehen, war für Anna sowieso oft schwierig. Sie konnte ihn manchmal nicht so richtig kontrollieren und auch nicht einfach verschwinden lassen. Wenn sie dem Ärger sagte, er solle abhauen, tat er das meistens nicht. Und weil er das nicht tat, wurde sie noch ärgerlicher. Es war wirklich ein Ärger mit dem Ärger.
Da sie aber mit Oma zusammen war, war der Regen schnell vergessen, und sie fragte: „Du Oma, was machen wir denn heute?“ Oma Otilia hatte einige Vorschläge und sagte, sie könnten zusammen einen leckeren Kuchen backen oder etwas Tolles basteln.
Anna hatte nun aber erst einmal riesigen Hunger und stürzte sich auf ihr Frühstück. Danach würde ihr schon etwas einfallen, das sie gern mit Oma machen würde. Sie schaute noch einmal nach draußen zu der Stelle, wo der Koffer mit dem roten Griff gestanden hatte. Oder doch nicht? „So ein Koffer verschwindet nicht so einfach“, wiederholte sie leise.
Nach dem Frühstück, der Regen hatte inzwischen nachgelassen, fuhren Oma Otilia und Anna ins Dorf. Das mochte Anna sehr, denn es war ein kleines Dorf, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein schien. Viele der kleinen Häuser dort waren etwas schief geraten.
Eines mochte Anna ganz besonders: Wenn man an ihnen vorbeiging, konnte man durch die Fenster schauen und sehen, wie die Menschen es sich drinnen gemütlich gemacht hatten. Es waren oft kleine Räume. Irgendwo brannte ein Licht, und es sah immer so heimelig aus, wenn die Leute dort saßen und frühstückten oder zu Mittag aßen. Anna liebte es, an den Häusern vorbeizulaufen und in jedes Fenster zu sehen.
Oma war das immer ein wenig unangenehm, weil man ja eigentlich nicht in fremde Fenster schaut. Aber es war eben ein großer Unterschied, ob eine erwachsene Frau durch das Fenster schaute oder ein Kind. Wenn Anna durchs Fenster schaute und die Menschen drinnen sie sahen, winkten sie ihr meistens zu und freuten sich darüber, dass sie so fröhlich zu ihnen hereinschaute.
Weil Anna das den ganzen Weg tat, benötigten die beiden eine Weile, bis sie im Dorfzentrum angekommen waren. Sie gingen in den kleinen Krämerladen, den es dort tatsächlich noch gab und in dem man fast alles kaufen konnte. Anna und Oma Otilia brauchten zum Einkaufen nicht durch viele große Läden zu gehen, sondern kauften alles, was sie benötigten, in dem kleinen Laden bei Frau Zillerman. „Frau Zillerman, mit einem n“, sagte Oma Otilia immer. Bei Frau Zillerman mit einem n gab es Brötchen, Eier, Schinken, Butter, Kaffee und Kakao, den Anna besonders gern mochte. Gelegentlich verkaufte Frau Zillerman sogar Kuchen. Natürlich gab es auch Dinge wie Waschpulver, Seifen, Creme und Toilettenpapier.
Der Korb von Oma Otilia füllte sich schnell mit leckeren Dingen, einschließlich zweier Stückchen Kuchen. Oma Otilia und Frau Zillerman kannten sich schon lange. Und so war es natürlich unumgänglich, dass die beiden noch ein wenig schwatzten.
Anna sah sich in der Zwischenzeit um, ging an den gefüllten Regalen vorbei und schaute sich alte Bilder an, die an der Wand hingen. Sie alle waren schwarz-weiß, wodurch sie sehr alt aussahen. ‚Alt, aber schön‘, dachte Anna.
Auf einem Bild stand ein Mann in einer Gruppe, die sich anscheinend für das Foto vor einem Haus aufgestellt hatte. Neben ihm stand ein kleiner Koffer. Anna traute ihren Augen nicht. Der Koffer hatte einen roten Griff! Alles auf dem Bild war nur schwarz-weiß, dieser Griff aber war trotzdem rot.
„Oma!“, rief Anna aufgeregt. „Oma, komm mal schnell her!“
Oma Otilia und Frau Zillerman kamen angelaufen. „Was ist denn?“, fragte Oma Otilia.
„Oma, schau mal, dieser Mann hier hat einen Koffer, und der hat einen roten Griff.“
Oma und Frau Zillerman schauten sich kurz etwas geheimnisvoll an, und Frau Zillerman nickte ganz leicht mit einem Blick zu Oma Otilia. Anna war jedoch viel zu aufgeregt, um diesen Blick zu bemerken. „Immer dieser Koffer, das ist doch irgendwie komisch“, sagte sie.
Jetzt schauten alle auf das Bild. Da stand tatsächlich ein Mann mit einem Koffer in der Menschengruppe, der Griff des Koffers aber war schwarz.
„Deine Anna hat aber viel Fantasie“, sagte Frau Zillerman lachend zu Oma Otilia.
Diese schmunzelte und sagte: „Einen roten Griff sehe ich nicht, was meinst du denn?“
„Der war eben noch da“, erwiderte Anna. „Das kann doch nicht sein.“
Um Anna zu beruhigen, sagte ihre Oma: „Bestimmt war es nur eine Spiegelung von dieser roten Ketchupflasche hier.“ Dabei zeigte sie auf eine Ketchupflasche, die im Regal gegenüber stand.
Anna schaute noch einmal auf das Bild: Kein roter Griff! „Hm, wahrscheinlich hast du recht“, antwortete sie. Wirklich überzeugt klang sie aber nicht, und langsam kam ihr die Sache mit dem Koffer seltsam vor. Erst zu Hause, dann der Koffer im Regen und jetzt hier auf dem Bild. Was hatte das nur zu bedeuten?
Frau Zillerman mit einem n und Oma Otilia gingen zurück zur Kasse. Oma bezahlte, dann verließen sie das Geschäft.
Auf dem Rückweg durchs Dorf ging Anna nun, in Gedanken immer noch ein wenig bei dem Bild und dem Koffer, auf der anderen Straßenseite entlang. Auch dort standen kleine Häuser, und Anna schaute wieder hinein zu den Leuten.
Zu Hause angekommen, packten Anna und Oma Otilia die Einkäufe aus. Einiges kam in den Kühlschrank, anderes in die Abstellkammer neben der Küche. Die beiden Stückchen Kuchen, die sie gekauft hatten, aßen sie gleich auf.
‚Herrlich, so ein zweites Kuchen-Frühstück‘, dachte Anna. Zu Hause gab es in den Ferien nie ein zweites Frühstück, denn da war alles immer viel zu stressig. Entweder musste Anna mit ihrer Mutter irgendwohin, oder die Mutter war weg, und dann stritt sie sich meistens mit ihrem Bruder Tomik. An ein zweites Frühstück war da überhaupt nicht zu denken.
Wenn keine Ferien waren, war Anna natürlich in der Schule und da gab es ebenfalls kein gemütliches zweites Frühstück.
Sowieso war die Schule nicht gerade Annas Lieblingsort. Das hatte viele Gründe. Dort lernte man nur Dinge, die man überhaupt nicht brauchte, sagte Anna immer zu ihrer Mutter. Viel zu langes Stillsitzen und viel zu wenig Spaß, fand Anna.
„Die wirklich wichtigen Dinge lernt man nicht in der Schule, sondern nur im wahren Leben“, sagte Oma Otilia stets.
Und bis jetzt hatte Oma Otilia immer recht behalten. Aber sie sagte auch: „Wenn du eine Schule findest, in der dir das Lernen Spaß macht, dann hast du etwas ganz Besonderes gefunden. Dort lerne dann unbedingt so viel, wie du kannst.“
Nach dem Essen machten die beiden gemeinsam Schokoflocken. Anna liebte Schokoflocken ganz besonders. Beim Herumkleckern mit Mandeln, Schokolade und Cornflakes hörten sie schöne Musik, die Anna zwar nicht kannte, die ihre Oma aber schon sehr oft gehört hatte. Das sei alte Musik, hatte Oma ihr erzählt, in welcher Geigen, Celli und viele andere tolle Instrumente gemeinsam in einem Orchester spielten.
Anna kannte zwar nicht alle Orchesterinstrumente, einige, wie die Geige und das Cello, aber schon. Oma erklärte: „Das ist Musik von Johann Sebastian Bach.“ Anna kannte Herrn Bach nicht, seine Musik aber gefiel ihr. Sie plätscherte dahin wie ein Bach im Frühling und passte deswegen zum Herrn Bach.
Nach dem Mittagessen sagte Oma Otilia, dass sie an diesem Nachmittag noch Büroarbeit erledigen müsse und deshalb nicht so viel Zeit für Anna hätte. Es schien Anna fast ein wenig so, als ob Oma an diesem Nachmittag keine Zeit mit ihr verbringen wollte.
„Du kannst dich heute ja mal auf die Suche nach etwas Interessantem machen.“ Anna wusste zuerst nicht, was Oma damit meinte. „Schau doch mal auf dem Dachboden. Da liegen viele Dinge herum.
Ich selbst war schon einige Jahre nicht mehr dort oben. Vielleicht findest du ja etwas Schönes“, fuhr ihre Oma fort. Das hielt Anna für eine fantastische Idee. Sie mochte Dachböden. Auf Dachböden lagen manchmal Sachen, die die Menschen schon lange komplett vergessen hatten. Manchmal fand man dort Dinge, die Hunderte Jahre alt waren und von denen niemand mehr wusste, woher sie kamen. Vielleicht lag dort sogar ein echter Schatz.
Doch erst einmal würde sie lieber mit Oma Otilia auf dem Dachboden gehen, denn so ganz allein fühlte sie sich da oben bestimmt nicht wohl. Das verstand Oma Otilia natürlich, und sie versprach, gemeinsam mit Anna auf den Dachboden zu gehen, dort das Licht anzuschalten und ihr danach ein paar Schokoflocken und auch eine Tasse leckeren Kakao hochzubringen. Dann könne Anna sich erst einmal hinsetzen und in Ruhe ein wenig umschauen.
Anna freute sich schon auf die Schokoflocken, den Kakao und den Schatz.
Im ersten Stock, direkt neben Annas Zimmer, gab es eine Tür. Wenn man diese öffnete, konnte man über eine weitere Treppe zum Dachboden hinaufgehen. Oma Otilia schaltete am unteren Ende der Treppe das Licht an, und beide stiegen hinauf.
Anna staunte: „Oh, das ist aber groß hier oben. Bestimmt dreimal so groß wie mein Kinderzimmer.“ All die Dinge, die Anna sah, machten sie neugierig. Einiges war in Kartons verpackt, vieles lag lose herum, und es gab Koffer, die in einer Ecke des Dachbodens standen. Es würde ihr sicherlich Spaß machen, sich alles einmal ganz genau anzuschauen, und sie konnte es gar nicht erwarten, mit dem Stöbern anzufangen.
Oma Otilia und Anna stellten gemeinsam einen kleinen Tisch und einen alten Stuhl in die Mitte des Zimmers. Über dem Tisch hing eine Lampe, die zwar nicht besonders hell war, aber doch den ganzen Dachboden ausleuchtete.
„Ich gehe jetzt kurz nach unten, hole dir ein paar Schokoflocken und einen Kakao, in Ordnung?“
„Das ist prima, Oma, ich habe keine Angst hier oben. Du kannst ruhig runtergehen.“
Als Oma Otilia gegangen war, sah Anna sich um. Der Dachboden hatte ein kleines Fenster und eine Dachluke. Überall standen Kartons, alte Koffer, Lampen, Tische, Sessel und Stühle, ein großer Spiegel, ein paar alte Schlittschuhe, ein Besen und viele Bücher. Das meiste davon war ziemlich eingestaubt.
‚Vielleicht‘, dachte Anna, ‚räume ich hier oben einmal so richtig auf. Ich hab ja ein paar Wochen Zeit.‘
Sie stellte sich alles genau vor: Wo sie die Bücher in die Ecke stellen würde, die Stühle entweder alle zusammen – oder sollte sie vielleicht doch lieber zwei verschiedene kleine Zimmer einrichten, eine Bibliothek und ein Koffergeschäft?
Sie hatte plötzlich viele Ideen, was sie mit all den Dingen, die hier oben herumstanden, tun könnte. Auf alle Fälle, und darauf freute sie sich schon ungemein, würde sie in jeden Karton und jeden Koffer einmal hineinschauen. Das wäre die erste Aufgabe, die man hier zu erledigen hätte: einfach überall einmal hineinschauen, um so erst mal eine Art Inventur zu machen. Dieses Wort hatte sie von Oma Otilia gelernt. Inventur machen heißt: Alles aufschreiben, was da ist, damit man einen Überblick darüber bekommt, was man noch hat oder nicht mehr hat.
‚Vielleicht‘, dachte Anna, ‚kann man ja die eine oder andere Sache verkaufen und dann für dieses Geld wieder etwas Schönes kaufen oder jemandem ein Geschenk machen oder das Geld armen Kindern geben oder Menschen, die auf der Straße leben.‘ Irgendwas Tolles würde ihr schon einfallen.
So fing Anna an, die Kartons zu öffnen. Bei den ersten dreien stellte sie schnell fest, dass es sich um Weihnachtskisten handelte. Es gab Lichterketten, bunte Kugeln, Weihnachtsmänner aus Holz, weitere Kugeln, eine Spitze für den Weihnachtsbaum, den Weihnachtsbaumständer, Mehrfachsteckdosen und vieles mehr. Dann lagen da noch ein Vorderrad von einem Fahrrad und ein alter Sattel. Es wunderte Anna ein wenig, dass Oma diese Dinge auf den Dachboden gebracht hatte. ‚Eigentlich gehört so etwas doch in den Schuppen‘, dachte Anna.
Da kam Oma auch schon zurück, wie versprochen mit Kakao und Schokoflocken. Anna fragte: „Du, Oma, wie kommt denn dieses Vorderrad hierher? Und der Fahrradsattel? Was macht das hier oben auf dem Dachboden?“
„Das weiß ich auch nicht. Vielleicht hat Opa das einfach nach oben gebracht, damit es aus dem Weg war.“
Anna konnte sich kaum noch an Opa erinnern. Auf den Bildern, die sie von ihm kannte, sah er immer sehr nett aus. Sie fand es schade, dass sie keine Zeit mehr mit Opa hatte verbringen können. Aber dafür hatte sie jetzt noch ganz viel Zeit mit Oma Otilia.
„Oma, ich hab schon die Weihnachtskisten gefunden.“
„Ach ja, die wollte ich schon immer beschriften, damit ich sie zur Weihnachtszeit schneller finde, aber irgendwie habe ich es nie geschafft“, erwiderte Oma Otilia.
Anna versprach, dass sie alle Kisten beschriften würde, sobald sie wüsste, was drin sei. Hierzu müsste sie natürlich erst einmal alle öffnen.
Oma lachte: „Da hast du recht, das musst du unbedingt.“
Sie ging wieder nach unten, und Anna setzte sich in ihren Stuhl, nahm eine Schokoflocke in die Hand und biss hinein. Sie spürte die Schokolade in ihrem Mund schmelzen. Einen solchen Moment musste man unbedingt genießen.
Dann sah sie wieder die Kartons: ‚Genug Pause gemacht. Jetzt geht’s los mit dem Aufräumen‘, dachte sie, nachdem sie einen kleinen Schluck Kakao getrunken hatte.
Sie öffnete einen weiteren Karton. Es befand sich allerdings nur Gerümpel darin: ein alter Kerzenständer, ein paar Putzlappen, eine alte Glühbirne, ein Lineal, ein paar Kugelschreiber, ein Notizblock. Gut aber war, dass sich in dem Karton auch ein dicker Filzstift befand.
Anna klappte den Karton wieder zu und schrieb darauf: „Gerümpel“. Sie wusste nicht genau, wie man das schrieb, aber sie schrieb es so, dass Oma es bestimmt irgendwie lesen können würde.
Nach einiger Zeit hatte Anna alle Stühle zusammengestellt und alle Bücher in eine Ecke gelegt. Jetzt blieben noch die ganzen Koffer, die dort standen und lagen. ‚Was hat Oma bloß immer mit so vielen Koffern gemacht?‘, dachte sie.
Die Koffer waren kariert, grün, braun, aus Leder, Stoff oder Kunststoff. Anna öffnete den Ersten und fand nur alte Bettwäsche, die Oma anscheinend nicht wegwerfen wollte. Im zweiten Koffer befanden sich Kleidungsstücke. Auf dem Boden kniend, holte Anna ein Kleid, Hosen, Oberteile und Mützen aus dem Bauch des Koffers. Im nächsten befanden sich viele Wintersachen wie Mützen, Schals, Handschuhe, Ohrenwärmer und zwei dicke Wollpullover. Einiges davon probierte sie natürlich sofort an und betrachtete sich im Spiegel.
Anna wühlte sich von Koffer zu Koffer, bis sie an einen kleinen Koffer kam, der ziemlich weit hinten im Halbdunkel auf dem Boden lag. Dieser hatte wirklich und wahrhaftig einen roten Griff.
Anna erschrak und konnte sich einen kurzen Moment nicht bewegen. Da war er wieder, der Koffer mit dem roten Griff. Würde er auch hier gleich wieder verschwinden? Sie drehte bewusst den Kopf, schaute zum Tisch mit dem Teller und der Tasse Kakao darauf und dann wieder zurück. Der Koffer war immer noch da.
Jetzt wurde sie mutiger, packte den roten Griff und zog den Koffer aus der Dunkelheit ins Licht. Sie sah die beiden metallenen Schnallen am Kofferdeckel und öffnete diese. Dann klappte sie den Deckel hoch und blickte erstaunt auf das, was sie in dem Koffer sah: fünf rote Schuhe und ein Buch, das ebenfalls rot war.
Anna holte die Schuhe heraus, schaute sie an und stellte fest, dass es nur einzelne Schuhe waren und es keinen Schuh gab, der zu einem anderen passte. Mal war es ein linker und mal ein rechter Schuh. Warum aber lagen diese Schuhe hier im Koffer? Und was hatte es mit dem Buch auf sich?
Anna nahm das rote Buch in die Hand und öffnete es. Was sie sah, war wirklich seltsam. Alle Seiten waren leer. Vielleicht sollte das ein Notizbuch sein?
Sie blätterte das Buch von vorn bis hinten durch. Erst auf der allerletzten Seite des Buchs stand in der Mitte etwas in schwarzer Schrift geschrieben.
Anna las laut: „Hab Mut und zieh den Schuh dir an, entdecke tausend Dinge dann.“ Jetzt wurde das Ganze wirklich seltsam. Woher wusste das Buch denn über die Schuhe Bescheid? Denn wenn es wollte, dass sie in diese Schuhe schlüpfte, dann müsste es ja wissen, dass diese Schuhe in diesem Koffer lagen. Das alles fand Anna sehr merkwürdig.
„Oma fragen. Oma zu fragen, ist immer eine gute Idee“, dachte sie. Also legte Anna alles zurück in den Koffer, schloss den Deckel und rannte ganz aufgeregt die Treppe hinunter, vorbei an den Bildern direkt in Omas Büro. „Du, Oma, oben auf dem Dachboden, was ist denn das für ein komischer kleiner Koffer? Der mit dem roten Griff dran?“
Oma sagte: „Ein Koffer mit einem roten Griff? Davon weiß ich nichts. Ich war auch schon viele Jahre nicht mehr oben auf dem Dachboden. Wieso, was ist denn drin in dem Koffer?“, fragte Oma Otilia.
„Rote … ach gar nichts“, unterbrach Anna sich selbst, „nichts Besonderes. Ich hab nur so gefragt.“
Anna nahm sich schnell eine Schokoflocke aus der Küche und flitzte wieder hoch, auf den Dachboden. Oben angekommen, kniete sie sich wieder vor den Koffer, öffnete diesen und nahm die Schuhe heraus.
Es gab einen flachen Schuh, einen Halbschuh, einen Stiefel, einen, der ein wenig aussah wie ein Turnschuh und eine Art Sandale. Alle waren rot, es waren zwei linke und drei rechte Schuhe. Anna stellte sie in einer Reihe nebeneinander auf. Wie es aussah, hatten alle Schuhe genau ihre Größe.
Jetzt nahm sie noch einmal das rote Buch heraus. Anna blätterte zur letzten Seite und las abermals, was dort stand: „Hab Mut und zieh den Schuh dir an, entdecke tausend Dinge dann.“
Mutig war Anna ohne Zweifel. Einmal war sie im Schwimmbad vom Ein-Meter-Brett ins tiefe Wasser gesprungen, und ihre Mutter war ziemlich weit weg gewesen.
Ein anderes Mal hatte sie es geschafft, ganz allein eine riesige Sprossenwand hinauf- und auf der anderen Seite wieder herunterzuklettern.
Nur bei Hunden war Anna noch nicht ganz so mutig, denn einmal hatte ein Hund sie in die Hand gebissen. Ein wenig gezwickt jedenfalls. Aber erschrocken hatte sie sich schon, und deswegen war sie nun mit Hunden etwas vorsichtiger. Eigentlich mochte Anna Hunde gern, und sie hatte sich auch fest vorgenommen, immer weniger Angst vor ihnen zu haben. ‚Was bringt es denn, vor etwas Angst zu haben?‘, dachte Anna.
Wenn man immer ängstlich ist, dann traut man sich nicht mehr, etwas zu tun. Und weil man sich nicht traut, etwas zu tun, tut man halt auch nichts. Und wenn man nichts mehr tut, kann man nichts mehr dazulernen. Denn nur, wenn man etwas tut, kann man Dinge lernen, auch wenn es nicht gleich klappt. Schließlich lernt man aus Fehlern am meisten, hatte Oma Otilia ihr erklärt.
Kurzentschlossen zog Anna ihren rechten Schuh aus und einen der roten Schuhe an. Er passte ganz ausgezeichnet. Und was geschah? Gar nichts.
Sie machte ein paar Schritte und ging zu dem Spiegel, der hinten an einer Wand stand. Dann schaute sie sich an.
‚Na ja, so richtig schön sieht er nicht aus. Und was hat das jetzt mit dem Mut zu tun und damit, neue Dinge zu entdecken?‘, dachte Anna. Sie war etwas enttäuscht.
„Vielleicht will der Schuh ja, dass ich etwas mache“, sagte Anna. Sie stampfte mit dem Fuß auf, nichts geschah. Sie tippte mit der Fußspitze auf den Holzboden. Doch wieder geschah nichts.