Anne in Kingsport - Lucy Maud Montgomery - E-Book

Anne in Kingsport E-Book

Lucy Maud Montgomery

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Beschreibung

„Anne in Kingsport“ (Anne of the Island) von Lucy Maud Montgomery ist der dritte Band der beliebten Reihe rund um Anne Shirley. Die lebhafte Anne verlässt ihr geliebtes Avonlea, um am Redmond College in der charmanten Küstenstadt Kingsport zu studieren. Begleitet von Freundinnen wie Priscilla Grant und der humorvollen Philippa Gordon, bezieht Anne gemeinsam mit ihnen das idyllische „Patty’s Place“, ein gemütliches Haus, das zum Mittelpunkt ihrer Studienzeit und Freundschaften wird. Während ihrer Jahre am College erlebt Anne eine bewegende Zeit des Erwachsenwerdens, geprägt von intensiven Studien, ausgelassenen Erlebnissen und tiefgehenden Freundschaften. Dabei setzt sie sich nicht nur mit akademischen Herausforderungen auseinander, sondern entdeckt auch ihre Unabhängigkeit und wächst an Erfahrungen, die sie nachhaltig prägen. Besonders entscheidend für Anne ist die Begegnung mit verschiedenen Formen der Liebe. Ihr Jugendfreund Gilbert Blythe gesteht ihr seine Zuneigung, doch Anne zögert zunächst, weil sie sich eine romantischere Vorstellung von Liebe ausmalt. Nach einigen emotionalen Verwirrungen, Missverständnissen und Enttäuschungen erkennt Anne schließlich, was wahre Liebe bedeutet, und öffnet ihr Herz für Gilbert. „Anne in Kingsport“ beschreibt einfühlsam und humorvoll, wie Anne aus jugendlichen Träumen herauswächst, tiefe menschliche Bindungen aufbaut und dabei ihre eigenen Werte und Gefühle besser verstehen lernt. Die Geschichte erzählt warmherzig von Freundschaft, Romantik, Enttäuschungen und der mutigen Entscheidung, auf die Stimme des eigenen Herzens zu hören.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum:

Erschienen im kontrabande Verlag, Köln.

Landsbergstraße 24 . 50678 Köln

Ungekürzte Ausgabe © 2025 kontrabande Verlag

Erstmals 1915 erschienen im Verlag L. C. Page, Boston, Massachusetts,

unter dem Titel „Anne of the Island“

Umschlagbild & Umschlaggestaltung: kontrabande Verlag, Köln.

Übersetzung: Mac Conin, kontrabande Verlag, Köln.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkungen nicht erkennbar. E-Book-Herstellung im Verlag.

ISBN 978-3-911831-23-9 E-Book 

ISBN 978-3-911831-24-6 Print 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.kontrabande.de

Viel Spaß beim Lesen.

Über dieses Buch

Anne in Kingsport (Anne of the Island) 

ist der dritte Band der beliebten Reihe rund um Anne Shirley.

Die lebhafte Anne verlässt ihr geliebtes Avonlea, um am Redmond College in der charmanten Küstenstadt Kingsport zu studieren. Begleitet von Freundinnen wie Priscilla Grant und der humorvollen Philippa Gordon, bezieht Anne gemeinsam mit ihnen das idyllische „Patty’s Place“, ein gemütliches Haus, das zum Mittelpunkt ihrer Studienzeit und Freundschaften wird.

Während ihrer Jahre am College erlebt Anne eine bewegende Zeit des Erwachsenwerdens, geprägt von intensiven Studien, ausgelassenen Erlebnissen und tiefgehenden Freundschaften. Dabei setzt sie sich nicht nur mit akademischen Herausforderungen auseinander, sondern entdeckt auch ihre Unabhängigkeit und wächst an Erfahrungen, die sie nachhaltig prägen.

Besonders entscheidend für Anne ist die Begegnung mit verschiedenen Formen der Liebe. Ihr Jugendfreund Gilbert Blythe gesteht ihr seine Zuneigung, doch Anne zögert zunächst, weil sie sich eine romantischere Vorstellung von Liebe ausmalt. Nach einigen emotionalen Verwirrungen, Missverständnissen und Enttäuschungen erkennt Anne schließlich, was wahre Liebe bedeutet, und öffnet ihr Herz für Gilbert.

Was bisher geschah:

Im ersten Teil beschließen die Geschwister Marilla und Matthew Cuthbert einen Waisenjungen zur Unterstützung ihrer Farm Green Gables aufzunehmen. Sie ahnen nicht, dass stattdessen das lebhafte, rothaarige Mädchen Anne Shirley bei ihnen ankommt.

Mit ihrer unbändigen Fantasie, ihrem scharfen Verstand und ihrem großen Herzen stellt Anne das beschauliche Leben in Avonlea auf den Kopf. Sie kämpft gegen Vorurteile, entdeckt wahre Freundschaft und folgt ihrem Traum, eine gebildete und unabhängige Frau zu werden.

In ‚Anne in Avonlea‘ ist Anne Shirley, die unerschütterliche Träumerin aus Green Gables, ist inzwischen erwachsen geworden – zumindest ein wenig. Als frisch gebackene Lehrerin kehrt sie zurück nach Avonlea, dem idyllischen Dorf auf Prince Edward Island, um eine neue Generation junger Köpfe zu inspirieren.

Über die Autorin

Lucy Maud Montgomery (1874–1942) war eine kanadische Schriftstellerin, die mit ‚Anne auf Green Gables‘ einen der bekanntesten Jugendromane der Welt schuf. Aufgewachsen in der ländlichen Idylle von Prince Edward Island, ließ sie ihre Kindheitserfahrungen in ihre Werke einfließen. Ihre Geschichten zeichnen sich durch lebendige Charaktere, Naturbeschreibungen und eine starke weibliche Perspektive aus.

Sie verlor früh ihre Mutter und wurde von ihren Großeltern auf Prince Edward Island erzogen. Schon als Kind entdeckte sie ihre Liebe zum Schreiben und veröffentlichte ihre ersten Geschichten in lokalen Zeitungen. Nach einer Ausbildung zur Lehrerin arbeitete sie einige Jahre als Lehrerin und später als Redakteurin, bevor sie sich ganz der Schriftstellerei widmete.

1908 veröffentlichte sie ‚Anne auf Green Gables‘, das sofort ein großer Erfolg wurde. Sie schrieb insgesamt acht Bände über Anne Shirley und viele weitere Romane, darunter Emily of New Moon und The Blue Castle. Ihr Werk machte sie zu einer der bekanntesten kanadischen Autorinnen.

Einfluss von ‚Anne auf Green Gables‘ auf ihr Leben

Der Erfolg des Romans veränderte Montgomerys Leben nachhaltig. Sie wurde international berühmt und konnte vom Schreiben leben – eine Seltenheit für Frauen ihrer Zeit. Dennoch kämpfte sie mit persönlichen Herausforderungen, darunter Depressionen, familiäre Probleme und der Druck, immer neue Anne-Romane schreiben zu müssen, obwohl sie sich auch anderen Themen widmen wollte.

Trotz aller Schwierigkeiten blieb Montgomery eine der bedeutendsten Stimmen der kanadischen Literatur, und ‚Anne auf Green Gables‘ beeinflusst bis heute Leser weltweit. Ihr Werk inspirierte zahlreiche Verfilmungen, Theaterstücke und Adaptionen und machte Prince Edward Island zu einem literarischen Pilgerort.

Obwohl ‚Anne auf Green Gables‘ nicht explizit als feministischer Roman gedacht war, enthält er viele fortschrittliche Elemente. Anne Shirley, die Hauptfigur, ist eine willensstarke und kluge Waise, die sich in einer von Konventionen geprägten Gesellschaft behauptet. Sie strebt nach Bildung, hat ihren eigenen Kopf und hinterfragt Geschlechterrollen, was sie zu einer untypischen Heldin ihrer Zeit macht. Ihre Entwicklung zeigt, dass Frauen mehr sein können als nur Ehefrauen und Mütter – sie können selbstbestimmt ihre Zukunft gestalten.

Trotz der klassischen Erzählweise bleibt die Geschichte auch heute noch aktuell. Annes Beharrlichkeit, ihre Vorstellungskraft und ihr Wunsch nach Unabhängigkeit machen sie zu einer Figur, die über Generationen hinweg inspiriert. Zwar sind einige gesellschaftliche Vorstellungen des Romans aus heutiger Sicht überholt, doch die zentrale Botschaft – dass Träume, Bildung und Selbstvertrauen entscheidend sind – bleibt universell.

Inhaltsverzeichnis
Über dieses Buch
Über die Autorin
Der Schatten des Wandels
Herbstgirlanden
Begrüßung und Abschied
Die Dame des April
Briefe von zu Hause
Im Park
Wieder zu Hause
Annes erster Heiratsantrag
Ein unerwünschter Freier und ein willkommener Freund
Patty’s Place
Der Kreis des Lebens
„Averils Sühne
Der Weg der Verfehlenden
Die Berufung
Ein Traum steht Kopf
Neu geordnete Verhältnisse
Ein Brief von Davy
Miss Josephine erinnert sich an das Anne-Mädchen
Ein Zwischenspiel
Gilbert spricht
Rosen von gestern
Der Frühling und Anne kehren nach Green Gables zurück
Paul kann die Felsmenschen nicht finden
Jonas tritt auf
Prinz Charming erscheint
Christine tritt auf
Vertrauenssache
Ein Juniabend
Dianas Hochzeit
Mrs. Skinners Romanze
Anne schreibt Philippa
Tee bei Mrs. Douglas
„Er kam einfach immer wieder
John Douglas spricht endlich
Das letzte Jahr in Redmond beginnt
Der Besuch der Gardners
Vollwertige B.A.s
Falsche Morgenröte
Von Hochzeiten
Ein Buch der Offenbarung
Die Liebe hebt das Glas der Zeit
Hilf uns
Nirgendwann
Der Job
Himmelsstürmer
Stadt der Spiegel
Das Wrack der Grosvenor
Zwei Jahre vorm Mast

Für alle Mädchen

überall auf der Welt,

die mehr über 

ANNE wissen wollten

— Lucy Maud Montgomery —

Alle kostbaren Dinge werden spät entdeckt

Den Suchenden treten sie entgegen,

Denn Liebe wirkt im Einklang mit dem Schicksal

Und hebt den Schleier von verborgener Schönheit.

— Alfred Tennyson (1807–1892) —

Der Schatten des Wandels

„Die Ernte ist vorbei und der Sommer dahin“, zitierte Anne Shirley versonnen, während sie über die abgeernteten Felder blickte. Sie und Diana Barry hatten Äpfel im Obstgarten von Green Gables gepflückt. Jetzt ruhten sie sich in einer sonnigen Ecke aus, wo zarte Distelwolle auf dem Flügelschlag eines spätsommerlichen Windes dahinschwebte. Ein Wind, der noch immer den süßen Duft der Farne aus dem Verwunschenen Wald trug.

Doch ringsumher sprach alles vom Herbst. Das Meer rauschte dumpf in der Ferne, die Felder lagen kahl und trocken da, das Bachtal unterhalb von Green Gables quoll über vor zarten, violetten Astern. Und der See der leuchtenden Wasser war blau – blau – blau. Nicht das wechselhafte Blau des Frühlings, nicht das blasse Azur des Sommers, sondern ein klares, beständiges, gelassenes Blau. Als hätte das Wasser alle Stimmungen und Zeiten hinter sich gelassen und sei in eine Ruhe eingetreten, die nicht von flüchtigen Träumen gestört wurde.

„Es war ein schöner Sommer“, sagte Diana und drehte lächelnd den neuen Ring an ihrer linken Hand. „Und Miss Lavendars Hochzeit war irgendwie die Krönung davon. Ich nehme an, Mr. und Mrs. Irving sind jetzt an der Pazifikküste.“

„Es kommt mir vor, als wären sie schon lange genug weg, um einmal um die Welt zu reisen“, seufzte Anne. „Ich kann kaum glauben, dass es erst eine Woche her ist, seit sie geheiratet haben. Alles hat sich verändert. Miss Lavendar fort, und Mr. und Mrs. Allan auch. Das Pfarrhaus sieht so verlassen aus mit all den geschlossenen Fensterläden! Ich bin gestern Abend daran vorbeigegangen, und es kam mir vor, als wären alle darin gestorben.“

„Wir bekommen nie wieder einen so netten Pfarrer wie Mr. Allan“, sagte Diana mit düsterer Miene. „Wahrscheinlich haben wir im Winter nur Ersatzprediger, und an manchen Sonntagen gar keine Predigt. Und du und Gilbert seid dann auch weg – es wird furchtbar langweilig.“

„Fred bleibt doch hier“, warf Anne mit einem verschmitzten Lächeln ein.

„Wann zieht Mrs. Lynde eigentlich zu euch?“, fragte Diana, als hätte sie Annes Bemerkung gar nicht gehört.

„Morgen. Ich bin froh, dass sie kommt – aber es ist wieder eine Veränderung. Marilla und ich haben gestern das ganze Gästezimmer ausgeräumt. Weißt du, ich habe es gehasst. Natürlich war das albern – aber es fühlte sich an, als würden wir etwas Entweihendes tun. Dieses alte Gästezimmer war für mich immer wie ein Heiligtum. Als Kind hielt ich es für das wunderbarste Zimmer der Welt. Du erinnerst dich doch, wie sehr ich mir gewünscht habe, einmal in einem Gästezimmer zu schlafen – aber nicht im Green Gables Gästezimmer.

Oh nein, niemals dort! Das wäre zu aufregend gewesen. Ich hätte vor lauter Ehrfurcht kein Auge zugetan. Ich bin nie einfach durch dieses Zimmer gegangen, wenn Marilla mich hineinschickte. Nein, ich bin auf Zehenspitzen geschlichen und habe den Atem angehalten, als wäre ich in der Kirche, und war jedes Mal erleichtert, wenn ich wieder draußen war.

Die Bilder von George Whitefield und dem Herzog von Wellington hingen dort an der Wand. Links und rechts des Spiegels, und sie schauten mich die ganze Zeit immer so streng an. Besonders wenn ich es wagte, in den Spiegel zu blicken, der übrigens der einzige im Haus war, der mein Gesicht nicht verzerrte. Ich habe mich immer gefragt, wie Marilla es schaffte, dieses Zimmer zu putzen.

Und jetzt ist es nicht nur geputzt, sondern völlig leergeräumt. George Whitefield und der Herzog wurden in den oberen Flur verbannt. ‚So vergeht der Glanz dieser Welt‘“, zietierte Anne lachend, doch in ihrem Lachen lag ein Hauch von Wehmut. Es ist nie schön, wenn alte Heiligtümer entweiht werden. Selbst dann nicht, wenn wir längst aus ihnen herausgewachsen sind.

„Ich werde dich so vermissen, wenn du gehst“, klagte Diana zum hundertsten Mal. „Und dass es schon nächste Woche ist!“

„Aber wir sind ja noch zusammen“, sagte Anne munter. „Wir dürfen uns die Freude in dieser Woche nicht von der nächsten rauben lassen. Ich hasse selbst den Gedanken ans Fortgehen. Mein Zuhause und ich, wir verstehen uns einfach gut. Wenn hier jemand klagen sollte, dann müsste ich das sein! Du bleibst mit all deinen alten Freunden – und Fred! Und ich bin dann allein unter Fremden, ohne eine einzige bekannte Seele!“

„Außer Gilbert – und Charlie Sloane“, sagte Diana, und ahmte Annes Betonung und Tonfall nach.

„Charlie Sloane wird mir natürlich ein großer Trost sein“, stimmte Anne sarkastisch zu – woraufhin die beiden unverbesserlichen Mädchen in schallendes Gelächter ausbrachen.

Diana wusste ganz genau, was Anne von Charlie Sloane hielt; aber trotz zahlreicher vertraulicher Gespräche wusste sie nicht, was Anne eigentlich über Gilbert Blythe dachte. Und um ehrlich zu sein – Anne wusste es selbst auch nicht.

„Die Jungs wohnen am Ende von Kingsport – so viel weiß ich jedenfalls“, fuhr Anne fort. „Ich bin froh, dass ich nach Redmond gehe, und ich bin sicher, mit der Zeit wird es mir auch gefallen. Aber in den ersten Wochen bestimmt nicht. Nicht mal die Aussicht aufs Wochenende zu Hause wird mir Trost geben wie damals, als ich in Queen’s war. Weihnachten kommt mir jetzt schon vor, wie eine Ewigkeit entfernt.“

„Alles verändert sich – oder steht kurz davor“, sagte Diana traurig. „Ich habe das Gefühl, nichts wird je wieder so sein wie früher, Anne.“

„Wir sind wohl an eine Weggabelung gekommen“, meinte Anne nachdenklich. „Wir mussten früher oder später hier ankommen. Denkst du, Diana, dass es wirklich so schön ist, erwachsen zu sein, wie wir es uns als Kinder immer vorgestellt haben?“

„Ich weiß nicht – es gibt schon schöne Seiten“, antwortete Diana und spielte erneut mit einem Lächeln an ihrem Ring, das Anne jedes Mal das Gefühl gab, außen vor zu sein – und unerfahren. „Aber vieles ist auch verwirrend. Manchmal macht mir das Erwachsensein richtig Angst. Dann würde ich alles geben, um noch mal ein kleines Mädchen zu sein.“

„Vermutlich gewöhnt man sich mit der Zeit daran“, sagte Anne aufmunternd. „Irgendwann wird nicht mehr alles so überraschend sein. Obwohl ich fast glaube, dass es gerade die unerwarteten Dinge sind, die das Leben würzen. Wir sind achtzehn, Diana. In zwei Jahren sind wir zwanzig. Als ich zehn war, hielt ich zwanzig für ein biblisches Greisenalter. Ehe man sich’s versieht, bist du eine ehrbare, gesetzte Hausfrau, und ich werde die liebe alte Jungferntante Anne sein, die dich in den Ferien besucht. Du wirst mir doch immer ein Eckchen freihalten, nicht wahr, meine liebe Di? Nicht etwa das Gästezimmer – alte Jungfern haben keinen Anspruch auf Gästezimmer. Ich begnüge mich ganz demütig, wie der verlogene Uriah Heep aus David Copperfield, mit einer kleinen Kammer über der Veranda oder neben dem Salon.“

„Was du wieder für Unsinn redest, Anne“, lachte Diana. „Du wirst jemanden heiraten, der prächtig, gutaussehend und reich ist, und kein Gästezimmer in ganz Avonlea wird vornehm genug für dich sein – und all deine Jugendfreunde wirst du mit hochnäsig ansehen.“

„Das wäre schade; meine Nase ist nämlich eigentlich ganz hübsch, und ich fürchte, wenn ich über euch die Nase rümpfen würde, würde ich sie mir wohl ruinieren“, sagte Anne und tätschelte ebenjenes wohlgeformte Organ. „Ich habe nicht so viele schöne Merkmale, dass ich mir leisten könnte, die wenigen zu verderben, die ich habe. Also, selbst wenn ich den König der Kannibaleninseln heirate, verspreche ich dir, dass ich die Nase nicht über dich rümpfen werde, Diana.“

Mit einem weiteren fröhlichen Lachen trennten sich die beiden Mädchen. Diana kehrte nach Orchard Slope zurück, und Anne machte sich auf den Weg zum Postamt. Dort wartete ein Brief auf sie, und als Gilbert Blythe sie auf der Brücke über den See der leuchtenden Wasser einholte, sprühte sie geradezu vor Aufregung und Neuigkeiten.

„Priscilla Grant geht auch nach Redmond“, rief sie. „Ist das nicht großartig? Ich hatte es gehofft, aber sie dachte die ganze Zeit, ihr Vater würde es nicht erlauben. Doch er hat zugestimmt – und wir werden zusammen wohnen. Ich habe das Gefühl, ich könnte einer ganzen Armee gegenübertreten – oder sämtlichen Professoren von Redmond in einem einzigen, schrecklichen Block – wenn ich Priscilla an meiner Seite habe.“

„Ich glaube, wir werden Kingsport mögen“, sagte Gilbert. „Man sagt, es ist eine hübsche alte Stadt, und sie hat den schönsten Naturpark der Welt. Ich habe gehört, die Landschaft soll atemberaubend sein.“

„Ich frage mich, ob sie … ob sie überhaupt – noch schöner sein kann als das hier“, murmelte Anne und blickte mit den liebevollen, verzückten Augen derer um sich, für die ‚Zuhause‘ immer der schönste Ort der Welt bleiben wird, egal, wie hell fremde Sterne über fernen Ländern leuchten mögen.

Sie lehnten sich an das Geländer der alten Brücke über den Teich und sog das Zauberlicht der Dämmerung tief in sich auf. Genau an jener Stelle, an der Anne einst aus ihrem sinkenden Kahn gestiegen war, an dem Tag, als Elaine nach Camelot getrieben war.

Der feine Purpur des Sonnenuntergangs färbte noch den westlichen Himmel, aber der Mond war bereits aufgegangen, und das Wasser lag wie ein riesiger, silberner Traum in seinem Licht. Erinnerungen webten einen süßen, leisen Zauber um die beiden jungen Menschen.

„Du bist sehr still, Anne“, sagte Gilbert schließlich.

„Ich fürchte mich zu reden oder mich zu bewegen, aus Angst, all diese wundervolle Schönheit könnte mit einem gebrochenen Schweigen verschwinden“, hauchte Anne.

Plötzlich legte Gilbert seine Hand auf ihre schlanke, weiße Hand, die auf dem Brückengeländer ruhte.

Seine haselnussbraunen Augen verdunkelten sich, seine noch jungen Lippen öffneten sich, um etwas von dem Traum und der Hoffnung zu sagen, die seine Seele durchdrangen. Doch Anne riss ihre Hand weg und drehte sich schnell um. Der Zauber der Dämmerung war für sie gebrochen.

„Ich muss nach Hause“, rief sie mit etwas übertriebener Lässigkeit. „Marilla hatte heute Nachmittag Kopfschmerzen, und ich bin sicher, die Zwillinge haben inzwischen wieder irgendeinen fürchterlichen Unsinn angestellt. Ich hätte wirklich nicht so lange wegbleiben dürfen.“

Sie plapperte unaufhörlich und ohne Zusammenhang, bis sie den Weg zu Green Gables erreicht hatten. Armer Gilbert – er kam kaum zu Wort. Anne war fast erleichtert, als sie sich trennten. Seit jenem flüchtigen Moment der Erkenntnis im Garten von Echo Lodge hatte sich ein neues, heimliches Gefühl des Unbehagens in ihr Herz geschlichen, wenn es um Gilbert ging. Etwas Fremdes war in ihre einst so perfekte, unbeschwerte Schulfreundschaft eingedrungen. Etwas, das drohte, diese Freundschaft zu zerstören.

„Ich war noch nie froh, Gilbert gehen zu sehen“, dachte sie halb ärgerlich, halb traurig, als sie allein den Weg hinaufging. „Unsere Freundschaft wird ruiniert, wenn er mit diesem Unsinn weitermacht. Das darf nicht passieren – ich werde es nicht zulassen. Warum können Jungen nicht einfach vernünftig sein?“

Anne hatte ein mulmiges Gefühl, dass es nicht ganz ‚vernünftig‘ war, dass sie den warmen Druck von Gilberts Hand noch immer so deutlich auf ihrer Haut spürte, als läge sie noch immer dort, obwohl es nur ein flüchtiger Moment gewesen war. Und noch weniger vernünftig war es, dass diese Empfindung keineswegs unangenehm gewesen war. Ganz im Gegenteil zu dem, was sie bei einer ähnlichen Geste von Charlie Sloane empfunden hatte, als sie drei Abende zuvor bei einem Fest in White Sands mit ihm eine Tanzpause verbrachte. Anne schauderte bei der unangenehmen Erinnerung.

Doch all die Fragen rund um verliebte Jünglinge verflogen aus ihren Gedanken, sobald sie die heimelige, so gar nicht sentimentale Atmosphäre der Green Gables-Küche betrat, in der ein achtjähriger Junge lautstark auf dem Sofa weinte.

„Was ist denn los, Davy?“, fragte Anne und nahm ihn in die Arme. „Wo sind Marilla und Dora?“

„Marilla bringt Dora ins Bett“, schluchzte Davy, „und ich wein’ bloß, weil Dora die Kellertreppe draußen runtergefallen ist, Hals über Kopf, und sich die ganze Haut von der Nase abgeschürft hat, und …“

„Na, wein doch nicht, mein Lieber. Natürlich tut es dir leid, aber Weinen hilft ihr jetzt auch nicht weiter. Morgen geht’s ihr bestimmt wieder gut. Weinen hat noch nie jemandem geholfen, mein kleiner Davy.“

„Ich wein’ ja nicht, weil Dora die Treppe runtergefallen ist“, unterbrach Davy Annes gutgemeinte Predigt mit wachsender Bitterkeit. „Ich wein’, weil ich nicht dabei war, als sie gefallen ist. Ich verpass’ immer das ganze Vergnügen, kommt mir so vor.“

„Ach, Davy!“ Anne musste ein unheiliges Kichern mühsam unterdrücken. „Findest du das etwa lustig, wenn die arme kleine Dora die Treppe runterfällt und sich verletzt?“

„Sie hat sich ja kaum wehgetan“, sagte Davy trotzig. „Wenn sie tot gewesen wär, dann hätt’s mir wirklich leid getan, Anne. Aber wir Keiths sind nicht so leicht totzukriegen. Die sind wie die Blewetts, glaub ich. Herb Blewett ist letzten Mittwoch vom Heuboden gefallen, mitten durch den Rübenschacht runter in die Pferdebox, wo dieses fürchterlich wilde, bissige Pferd steht, und ist direkt unter seine Hufe gerollt. Und trotzdem ist er lebend rausgekommen. Nur drei gebrochenen Knochen. Mrs. Lynde sagt, es gibt Leute, die kann man nicht mal mit einem Fleischerbeil umbringen. Kommt Mrs. Lynde morgen her, Anne?“

„Ja, Davy, und ich hoffe, du bist immer sehr lieb und brav zu ihr.“

„Ich bin lieb und brav. Aber wird sie mich auch abends ins Bett bringen, Anne?“

„Vielleicht. Warum?“

„Weil“, sagte Davy mit großer Entschlossenheit, „wenn sie das tut, dann sag ich nicht mein Abendgebet vor ihr, so wie ich’s vor dir mach, Anne.“

„Warum denn nicht?“

„Weil ich’s nicht schön find, vor Fremden mit Gott zu reden, Anne. Dora kann ihres ruhig vor Mrs. Lynde sagen, wenn sie will, aber ich nicht. Ich wart, bis sie wieder weg ist, und dann sag ich’s. Das ist doch in Ordnung, oder, Anne?“

„Ja, wenn du sicher bist, dass du’s dann nicht vergisst, Davy-Boy.“

„Oh, ich vergess das bestimmt nicht, das kannst du mir glauben. Ich find Beten nämlich ganz toll. Aber allein macht’s nicht so viel Spaß wie mit dir. Ich wünschte, du würdest daheimbleiben, Anne. Ich versteh nicht, warum du überhaupt weg willst und uns verlässt.“

„Ich will eigentlich gar nicht wirklich weg, Davy, aber ich hab das Gefühl, ich sollte.“

„Wenn du nicht willst, musst du auch nicht. Du bist doch erwachsen. Wenn ich mal groß bin, mach ich kein einziges Ding, das ich nicht will, Anne.“

„Im Leben, Davy, wirst du ständig Dinge tun müssen, die du nicht willst.“

„Ich nicht“, sagte Davy bestimmt. „Wart’s nur ab! Ich muss jetzt Dinge tun, die ich nicht will, weil du und Marilla mich sonst ins Bett schickt“, erklärte Davy. „Aber wenn ich mal groß bin, könnt ihr das nicht mehr machen, und dann gibt’s niemanden, der mir sagt, was ich nicht darf. Was werde ich dann für eine klasse Zeit haben! Sag mal, Anne, Milty Boulter sagt, seine Mutter sagt, du gehst auf’s College, um dir einen Mann zu angeln. Stimmt das, Anne? Ich will’s ganz genau wissen.“

Einen Moment lang glühte Anne vor Empörung. Dann lachte sie, denn sie erinnerte sich daran, dass Mrs. Boulters plump-vulgäre Denkweise und Ausdrucksweise ihr nichts anhaben konnte.

„Nein, Davy, das stimmt nicht. Ich gehe dorthin, um zu lernen und zu wachsen und viele Dinge zu entdecken.“

„Was für Dinge?“

„‚Von Schuhen, Schiffen, Siegellack

Von Kohl und Königsmach‘“,

zitierte Anne.

„Aber wenn du dir doch einen Mann fangen willst – wie würdest du’s anstellen? Ne Falle?“, beharrte Davy, den das Thema offensichtlich sehr faszinierte.

„Frag doch Mrs. Boulter“, sagte Anne unüberlegt. „Ich glaube, sie kennt sich mit der Sache besser aus als ich.“

„Mach ich, beim nächsten Mal, wenn ich sie seh“, sagte Davy todernst.

„Davy! Wenn du das wagst!“, rief Anne erschrocken, als ihr der Fehler bewusst wurde.

„Aber du hast es mir doch gesagt“, protestierte Davy beleidigt.

„Es wird Zeit, dass du ins Bett gehst“, entschied Anne kurzerhand, um der Sache zu entkommen.

Nachdem Davy zu Bett gebracht war, schlenderte Anne hinunter zur Victoria-Insel und setzte sich dort allein nieder, umgeben von einem zarten, mondbeschienenen Dämmerlicht, während das Wasser ringsumher in einem Duett aus Bach und Wind leise lachte. Anne hatte diesen Bach schon immer geliebt. Unzählige Träume hatte sie einst an seinem glitzernden Lauf gesponnen.

Sie vergaß liebestrunkene Jungen, vergiftete Bemerkungen bösartiger Nachbarinnen und all die kleinen und großen Probleme ihres jungen Mädchendaseins. In ihrer Fantasie segelte sie über sagenumwobene Meere, die die fernen, glänzenden Küsten der ‚verlorenen Feenlande‘ umspülen, dorthin, wo Atlantis und Elysium liegen, mit dem Abendstern als Lotsen – in das Land der Herzenssehnsucht. Und sie war reicher in diesen Träumen als in der Wirklichkeit; denn die sichtbaren Dinge vergehen – aber die unsichtbaren sind ewig.

Herbstgirlanden

Die folgende Woche verging wie im Flug, gefüllt mit unzähligen ‚letzten Malen‘, wie Anne sie nannte. Abschiedsbesuche mussten gemacht und empfangen werden. Angenehm oder weniger angenehm, je nachdem, ob Besucher und Besuchte mit Annes Hoffnungen mitfühlten oder fanden, dass sie sich viel zu viel auf ihre Collegepläne einbildete und man sie mal wieder ‚auf den Boden der Tatsachen‘ holen müsse.

Der A.V.I.S. veranstaltete eines Abends eine Abschiedsfeier zu Ehren von Anne und Gilbert im Haus von Josie Pye. Teilweise, weil Mr. Pyes Haus groß und praktisch war, teilweise, weil man stark vermutete, dass die Pye-Mädchen schwer beleidigt gewesen wären, wenn man ihr Angebot, das Haus zur Verfügung zu stellen, ablehnte.

Es war ein sehr netter kleiner Abend, denn die Pye-Mädchen gaben sich ausnahmsweise freundlich und taten nichts, was die Harmonie der Veranstaltung hätte stören können – was bei ihnen keineswegs selbstverständlich war. Josie war ungewöhnlich liebenswürdig zu Anne – so sehr, dass sie sogar gönnerhaft bemerkte:

„Dein neues Kleid steht dir tatsächlich ganz gut, Anne. Wirklich, du siehst fast hübsch darin aus.“

„Wie lieb von dir, das zu sagen“, antwortete Anne mit blitzenden Augen. Ihr Humor hatte sich weiterentwickelt, und was sie mit vierzehn noch verletzt hätte, war nun bloß Stoff zur Belustigung. Josie hatte allerdings den Verdacht, dass Anne sich hinter diesen kecken Augen über sie lustig machte. Sie begnügte sich damit, Gertie auf dem Weg nach unten zuzuflüstern, dass Anne Shirley jetzt bestimmt noch hochnäsiger würde, da sie aufs College ging – man werde schon sehen!

Die ganze ‚alte Clique‘ war da, voller Heiterkeit, Schwung und jugendlicher Unbekümmertheit. Diana Barry, rosig und mit Grübchen, stets im Schatten des treuen Fred; Jane Andrews, ordentlich, vernünftig und unscheinbar; Ruby Gillis, in einer cremefarbenen Seidenbluse mit roten Geranien im goldenen Haar, so hübsch und strahlend wie nie; Gilbert Blythe und Charlie Sloane, beide bemüht, Anne möglichst nahe zu sein; Carrie Sloane, bleich und schwermütig, weil – so hieß es – ihr Vater dem armen Oliver Kimball verboten hatte, auch nur in die Nähe des Hauses zu kommen; Moody Spurgeon MacPherson, dessen rundes Gesicht und abstehende Ohren noch genauso rund und abstehend waren wie eh und je; und Billy Andrews, der den ganzen Abend in einer Ecke saß, jedes Mal kicherte, wenn ihn jemand ansprach, und Anne Shirley mit einem breiten, sommersprossigen Grinsen ansah.

Anne hatte zwar im Voraus von der Feier gewusst, aber nicht, dass sie und Gilbert als Gründer der Gesellschaft eine ausgesprochen ehrenvolle ‚Ansprache‘ sowie ‚Zeichen der Wertschätzung‘ erhalten würden. In ihrem Fall war das ein Band mit Shakespeares Werken, Gilbert bekam einen Füllfederhalter. Sie war so überrascht und gerührt von den schönen Worten, die Moody Spurgeon mit seiner feierlichsten, geradezu priesterlichen Stimme vortrug, dass ihr die Tränen den Glanz aus den großen grauen Augen schwemmten.

Sie hatte hart und mit Hingabe für den A.V.I.S. gearbeitet, und es rührte sie zutiefst, dass ihre Bemühungen von den Mitgliedern so ehrlich geschätzt wurden. Und alle waren so freundlich und fröhlich – selbst die Pye-Mädchen hatten manchmal ihre guten Seiten; in diesem Moment liebte Anne die ganze Welt.

Sie genoss den Abend in vollen Zügen – bis er schließlich doch einen kleinen Dämpfer bekam. Gilbert machte erneut den Fehler, etwas Gefühlvolles zu ihr zu sagen, während sie auf der mondbeschienenen Veranda ihr Abendessen einnahmen. Und Anne, um ihn zu bestrafen, zeigte sich Charlie Sloane gegenüber besonders zuvorkommend und ließ zu, dass er sie nach Hause begleitete.

Sie stellte jedoch bald fest, dass Rache niemandem so sehr wehtut wie dem, der sie ausübt. Gilbert spazierte munter mit Ruby Gillis davon, und Anne konnte ihr fröhliches Lachen und Plaudern hören, während sie in der stillen, klaren Herbstluft langsam davon schlenderten. Sie hatten offensichtlich großen Spaß – während sie selbst sich schrecklich langweilte mit Charlie Sloane. Dieser redete ununterbrochen, ohne auch nur ein einziges Mal – selbst aus Versehen – etwas Interessantes zu sagen.

Anne murmelte hin und wieder ein zerstreutes „Ja“ oder „Nein“ und dachte daran, wie schön Ruby an diesem Abend ausgesehen hatte. Und wie im Gegensatz dazu Charlies Augen im Mondlicht hervorquollen, noch schlimmer als bei Tageslicht. Und dass die Welt irgendwie doch nicht ganz so schön war, wie sie ihr ein paar Stunden zuvor erschienen war.

„Ich bin einfach erschöpft – das ist es“, redete sie sich ein, als sie endlich dankbar allein in ihrem Zimmer war. Und sie glaubte das tatsächlich.

Doch am nächsten Abend stieg ein kleiner, geheimer Freudenschimmer in ihr Herz, wie aus einer verborgenen, unbekannten Quelle, als sie Gilbert mit seinem festen, schnellen Schritt über die alte Holzbrücke durch den Verwunschenen Wald kommen sah. Also würde Gilbert diesen letzten Abend doch nicht mit Ruby Gillis verbringen!

„Du siehst müde aus, Anne“, sagte er.

„Ich bin auch müde, und was noch schlimmer ist: verstimmt. Ich bin müde, weil ich den ganzen Tag mit Kofferpacken und Nähen beschäftigt war. Aber verstimmt bin ich, weil heute sechs Frauen hier waren, um sich zu verabschieden. Und jede Einzelne hat es geschafft, etwas zu sagen, dass das Leben vollkommen grau und freudlos wirken ließ, wie ein trüber Novembermorgen.“

„Giftige alte Katzen!“, war Gilberts galanter Kommentar.

„Oh nein, das waren sie eben nicht“, sagte Anne ernst. „Und das ist ja gerade das Problem. Wären sie wirklich giftige Katzen gewesen, hätte ich es ihnen nicht übelgenommen. Aber es sind alles liebe, freundliche, mütterliche Seelen, die mich mögen und die ich auch mag, und gerade deshalb hatten ihre Worte so viel Gewicht für mich.

Sie haben mich deutlich spüren lassen, dass sie mich für verrückt halten, weil ich nach Redmond gehe und einen Bachelor machen will. Seitdem frage ich mich, ob ich es nicht wirklich bin. Mrs. Peter Sloane seufzte und sagte, sie hoffe, ich würde bis zum Ende durchhalten; und sofort sah ich mich als völlig erschöpfte Nervenkranke am Ende des dritten Studienjahres.

Mrs. Eben Wright sagte, es müsse ein Heidengeld kosten, vier Jahre in Redmond zu verbringen; und ich fühlte auf einmal, wie unverzeihlich es war, Marillas und mein eigenes Geld für so eine Torheit zu verschwenden.

Mrs. Jasper Bell meinte, sie hoffe, das College würde mich nicht verderben, wie es bei manchen Leuten der Fall sei; und ich spürte in jeder Faser, dass ich nach vier Jahren Redmond ein unausstehliches Wesen sein würde, das glaubt, alles zu wissen, und von oben auf Avonlea und seine Bewohner herabschaut.

Mrs. Elisha Wright sagte, sie habe gehört, dass die Mädchen in Redmond, vor allem die aus Kingsport, furchtbar herausgeputzt und eingebildet seien. Sie glaube nicht, dass ich mich unter ihnen wohlfühlen werde; und ich sah mich schon als schüchterne, schlecht gekleidete Landpomeranze, die mit hässlichen alten Stiefeletten beschämt durch die ehrwürdigen Hallen Redmonds schlurft.“

Anne endete mit einem tiefen Seufzer und einem Lachen zugleich.

Mit ihrer sensiblen Natur hatte jede Form der Missbilligung für sie Gewicht – selbst die von Menschen, deren Meinung sie eigentlich kaum schätzte. Für den Moment schien das Leben geschmacklos, und ihre Ambitionen erstarben wie eine ausgeblasene Kerze.

„Du glaubst doch nicht wirklich, was sie gesagt haben“, protestierte Gilbert. „Du weißt genau, wie eng ihr Blick auf die Welt ist – so vortreffliche Geschöpfe sie auch sein mögen. Alles, was sie selbst nie getan haben, ist für sie verflucht und verkommen. Du bist das erste Mädchen aus Avonlea, das je auf ein College geht – und du weißt, dass man alle Pioniere für ein bisschen mondsüchtig hält.“

„Oh, ich weiß das ja alles. Aber fühlen ist etwas ganz anderes als wissen. Mein gesunder Menschenverstand sagt mir all das, was du sagst – aber manchmal hat der keine Macht über mich. Dann übernimmt der Unsinn das Kommando über meine Seele. Wirklich, nachdem Mrs. Elisha gegangen war, hatte ich kaum noch den Mut, weiterzupacken.“

„Du bist einfach nur müde, Anne. Komm, vergiss das alles und mach einen Spaziergang mit mir – wir laufen einfach etwas durch den Wald, hinter dem Sumpf. Dort gibt es wahrscheinlich etwas, das ich dir zeigen will.“

„Etwas, das es geben sollte? Weißt du nicht, ob es da ist?“

„Nein. Ich weiß nur, dass es dort sein sollte, wegen etwas, das ich im Frühling dort gesehen habe. Komm schon. Wir tun so, als wären wir wieder zwei Kinder und gehen auf dem Weg des Windes.“

Sie brachen fröhlich auf. Anne, die sich noch an die Unannehmlichkeiten des Vorabends erinnerte, war besonders nett zu Gilbert; und Gilbert, der langsam klüger wurde, gab sich Mühe, nichts weiter als ein schuljungenhafter Kamerad zu sein.

Mrs. Lynde und Marilla beobachteten sie durchs Küchenfenster. „Das wird eines Tages ein Paar“, sagte Mrs. Lynde anerkennend.

Marilla zuckte leicht zusammen. In ihrem Herzen hoffte sie es, aber es widerstrebte ihr, die Sache in Mrs. Lyndes geschwätziger, sachlicher Art ausgesprochen zu hören. „Sie sind doch noch Kinder“, entgegnete sie knapp.

Mrs. Lynde lachte gutmütig. „Anne ist achtzehn; ich war in dem Alter schon verheiratet. Wir Alten, Marilla, wir meinen viel zu oft, Kinder würden nie erwachsen – das ist es. Anne ist eine junge Frau, und Gilbert ein junger Mann, und er vergöttert den Boden, auf dem sie geht – das sieht doch jeder Blinde. Er ist ein feiner Kerl, und Anne könnte es nicht besser treffen. Ich hoffe nur, sie kriegt an Redmond nicht lauter romantischen Unsinn in den Kopf. Ich halte nichts von diesen gemischten Colleges – hab ich noch nie. Ich glaube nämlich nicht“, schloss Mrs. Lynde feierlich, „dass die Studenten an solchen Hochschulen viel mehr tun als flirten.“

„Ein bisschen lernen werden sie schon auch noch“, sagte Marilla mit einem Lächeln.

„Wenn überhaupt“, schnaubte Mrs. Rachel. „Aber ich glaube, Anne wird lernen. Sie war nie ein liederliches Wesen. Aber sie weiß Gilbert nicht genug zu schätzen – das ist es. Ach, ich kenn die Mädchen! Charlie Sloane ist auch ganz verrückt nach ihr, aber ich würde ihr nie raten, einen Sloane zu heiraten. Die Sloanes sind natürlich gute, ehrliche, anständige Leute. Aber am Ende sind sie eben doch – Sloanes.“

Marilla nickte. Für Außenstehende mochte die Bemerkung, dass Sloanes eben Sloanes seien, nicht besonders aufschlussreich klingen – aber sie verstand. In jedem Dorf gibt es so eine Familie; gute, ehrliche, anständige Leute – aber Sloanes, die sie waren und immer bleiben würden, selbst wenn sie mit Engelszungen sprächen.

Gilbert und Anne, glücklich ahnungslos, dass Mrs. Rachel gerade ihre Zukunft plante, schlenderten durch die Schatten des Verwunschenen Waldes. Dahinter lagen die Hügel im goldenen Glanz des Sonnenuntergangs unter einem zarten, luftigen Himmel in Rosé und Blau. Die fernen Fichtengruppen glänzten wie bronzenes Metall, und ihre langen Schatten streiften die hochgelegenen Wiesen.

Um sie herum sang ein leiser Wind in den Tannennadeln, und in seinem Ton lag schon ein Hauch von Herbst.

„Dieser Wald ist jetzt wirklich verwunschen – von alten Erinnerungen“, sagte Anne, während sie einen Farnzweig aufhob, der vom Frost wachsweiß gebleicht war. „Mir ist, als würden die kleinen Mädchen, die Diana und ich einmal waren, immer noch hier spielen und in der Dämmerung bei der Quelle der Dryade sitzen und sich mit Geistern verabreden. Weißt du, ich kann diesen Pfad nie im Zwielicht entlanggehen, ohne einen Anflug von altem Grusel und Schaudern zu spüren? Es gab ein besonders schreckliches Gespenst, das wir uns ausgedacht hatten. Das Gespenst des ermordeten Kindes, das sich von hinten anschleicht und einem kalte Finger auf die Hand legt. Ich gestehe, dass ich bis heute unwillkürlich seine kleinen, schleichenden Schritte hinter mir höre, wenn ich hier nach Einbruch der Dunkelheit entlanggehe. Vor der Weißen Dame oder dem kopflosen Mann oder den Skeletten fürchte ich mich nicht – aber ich wünschte, ich hätte dieses Geisterbaby nie erfunden. Wie wütend Marilla und Mrs. Barry damals waren“, schloss Anne mit einem lachenden Rückblick.

Die Wälder rund um den Kopf des Sumpfes waren erfüllt von purpurnen Schatten, durchzogen von hauchdünnen Altweiberfäden. Hinter einer düsteren Fichtenschonung und einem von Ahorn gesäumten, noch sonnenwarmen Tal fanden sie schließlich das ‚Etwas‘, das Gilbert gesucht hatte.

„Ah, da ist er ja“, sagte Gilbert zufrieden.

„Ein Apfelbaum – und hier ganz hinten im Wald!“, rief Anne entzückt.

„Ja, und ein echter, tragender Apfelbaum – mitten zwischen Kiefern und Buchen, weit und breit kein Obstgarten in Sicht. Ich war im Frühling einmal hier und habe ihn entdeckt – er war über und über bedeckt von weißen Blüten. Da habe ich mir vorgenommen, im Herbst wiederzukommen und zu schauen, ob er auch wirklich Äpfel trägt. Sieh nur, er ist voll davon. Und sie sehen gut aus – goldbraun wie Renetten, aber mit einer dunklen roten Backe. Die meisten Wildlinge sind grün, wenig einladend und oft sauer.“

„Wahrscheinlich ist er vor Jahren aus einem zufällig hingeworfenen Kern gewachsen“, sagte Anne träumerisch. „Und wie er sich hier behauptet und gedeiht hat, ganz allein unter Fremden – ein tapferes, entschlossenes Ding!“

„Hier ist ein umgestürzter Baum mit einem Moospolster. Setz dich, Anne – das ist doch ein richtiger Thron für den Wald. Ich klettere und hole ein paar Äpfel. Sie hängen alle ziemlich hoch – der Baum musste sich wohl zum Licht hinaufstrecken.“

Die Äpfel erwiesen sich als köstlich. Unter der goldbraunen Schale verbarg sich weißes, schneeweißes Fleisch mit zarten, roten Adern; und neben ihrem vollen Apfelaroma hatten sie noch einen wilden, herrlichen Beigeschmack, den kein Apfel aus einem Obstgarten je besessen hatte.

„Der verhängnisvolle Apfel aus Eden konnte nicht besser geschmeckt haben“, bemerkte Anne. „Aber es wird Zeit, dass wir uns auf den Heimweg machen. Vor drei Minuten war noch Dämmerung, und jetzt ist schon Mondlicht. Wie schade, dass man den Moment dieser Verwandlung nie festhalten kann. Aber solche Augenblicke lassen sich wohl nie einfangen.“

„Lass uns zurück über den Sumpf gehen und durch die Liebesallee nach Hause. Fühlst du dich noch genauso verstimmt wie vorhin, Anne?“

„Keine Spur. Diese Äpfel waren wie Manna für eine hungrige Seele. Ich glaube jetzt, dass ich Redmond lieben werde und dort vier wunderbare Jahre verbringen kann.“

„Und danach?“

„Oh, dann kommt wieder eine Biegung auf dem Weg“, erwiderte Anne leicht. „Ich weiß nicht, was dahinter liegt – und ich will es gerade auch gar nicht wissen. Es ist viel schöner, es nicht zu wissen.“

Die Liebesallee war in dieser Nacht ein wundervoller Ort, still und geheimnisvoll schimmernd im blassen Licht des Mondes. Sie schlenderten schweigend hindurch, vertraut und friedlich, keiner verspürte das Bedürfnis zu sprechen.

„Wenn Gilbert immer so wäre wie heute Abend, wäre alles so einfach und schön“, dachte Anne.

Gilbert betrachtete Anne, wie sie neben ihm herging. In ihrem hellen Kleid, mit ihrer zarten Anmut, erinnerte sie ihn an eine zarte Irisblüte. „Ob ich sie je dazu bringen kann, mich zu lieben?“, fragte er sich mit einem schmerzlichen Anflug von Selbstzweifel.

Begrüßung und Abschied

Zusammen mit Charlie Sloane und Gilbert Blythe verließ Anne Avonlea am darauffolgenden Montagmorgen. Anne hatte sich schönes Wetter gewünscht. Diana wollte sie zur Bahnstation fahren, und sie hofften, dass diese letzte Fahrt eine fröhliche werden würde.

Doch als Anne am Sonntagabend ins Bett ging, heulte der Ostwind um Green Gables – ein unheilverkündendes Zeichen, das sich am nächsten Morgen bewahrheitete. Anne erwachte zu prasselnden Regentropfen an der Fensterscheibe, die die graue Oberfläche des Teichs mit immer größer werdenden Ringen übersäten; Hügel und Meer lagen im Nebel verborgen, und die ganze Welt wirkte trüb und trostlos.

Anne zog sich im grauen Morgendämmern an – ein früher Aufbruch war nötig, um den Zug zum Dampfer zu erreichen. Sie kämpfte gegen die Tränen an, die sich trotz aller Bemühungen in ihre Augen drängten.

Sie verließ das Zuhause, das ihr so unendlich viel bedeutete, und etwas sagte ihr, dass sie es für immer verließ – abgesehen von gelegentlichen Ferienbesuchen. Nichts würde je wieder so sein wie früher. Zu den Ferien heimkehren war nicht dasselbe wie dort zu leben. Und ach, wie lieb und teuer war ihr alles geworden. Das kleine Giebelzimmer, geheiligt durch die Träume ihrer Jugend, die alte Schneekönigin vorm Fenster. Oder Bach im Tal, die Quelle der Dryade, der Verwunschene Wald und die Liebesallee – all die tausend kleinen Orte, in denen die Erinnerungen vergangener Jahre wohnten. Konnte sie je irgendwo anders wirklich glücklich werden?

Das Frühstück in Green Gables war an diesem Morgen eine recht gedrückte Angelegenheit. Davy brachte – vermutlich zum ersten Mal in seinem Leben – keinen Bissen hinunter, sondern schluchzte hemmungslos in seinen Haferbrei.

Niemand schien großen Appetit zu haben – außer Dora, die ihr Frühstück mit stoischer Ruhe verdrückte. Dora, ganz wie die unsterbliche und höchst vernünftige Charlotte die Vierte, die weiter Butterbrote schneiden würde, selbst wenn der Leichnam ihres rasend Geliebten auf einer Bahre vorbeigetragen würde, war eine jener glücklichen Seelen, die kaum je etwas aus der Fassung bringt.

Selbst mit acht Jahren bedurfte es schon sehr viel, um Doras Gelassenheit ins Wanken zu bringen.

Natürlich war Dora traurig, dass Anne fortging – aber war das ein Grund, weshalb sie ein pochiertes Ei auf Toast nicht zu schätzen wusste? Keineswegs. Und da Davy seines nicht essen konnte, aß Dora es einfach für ihn mit.

Pünktlich erschien Diana mit Pferd und Kutsche, ihr rosiges Gesicht leuchtete unter dem Regenmantel. Nun mussten also die Abschiede irgendwie bewältigt werden. Mrs. Lynde kam aus ihrer Wohnung, um Anne herzlich zu umarmen und ihr einzuschärfen, auf ihre Gesundheit zu achten, ganz gleich, was sie tue.

Marilla, schroff und tränenlos, küsste Anne flüchtig auf die Wange und sagte, sie nehme an, man würde von ihr hören, sobald sie sich eingelebt habe. Ein unbeteiligter Beobachter hätte daraus schließen können, dass Marilla Annes Aufbruch kaum etwas bedeutete – es sei denn, er hätte einen genauen Blick in ihre Augen geworfen.

Dora küsste Anne mit tadelloser Haltung und presste zwei wohlgeordnete Tränchen heraus; doch Davy, der seit dem Frühstück weinend auf der hinteren Treppenstufe saß, weigerte sich rundweg, sich zu verabschieden. Als er sah, dass Anne auf ihn zukam, sprang er auf, flitzte die Hintertreppe hinauf und versteckte sich in einem Wäscheschrank, aus dem er sich nicht mehr hervorlocken ließ.

Sein gedämpftes Heulen war das Letzte, was Anne hörte, als sie Green Gables verließ.

Der Regen prasselte unaufhörlich während der gesamten Fahrt nach Bright River, zur Station, von der aus sie abreisten, da der Nebenbahnhof in Carmody keine Verbindung mit dem Zug zum Schiff hatte. Charlie und Gilbert standen bereits am Bahnsteig, als sie ankamen, und der Zug pfiff zur Abfahrt.

Anne blieb gerade genug Zeit, um sich Fahrkarte und Gepäckschein zu besorgen, Diana eilig Lebewohl zu sagen und sich an Bord zu begeben. Sie wünschte, sie könnte mit Diana nach Avonlea zurückfahren und war sich sicher, sie würde gleich an Heimweh zugrunde gehen.

Und ach, wenn nur dieser trostlose Regen aufhören würde, als weinte die ganze Welt um den dahingegangenen Sommer und die entschwundenen Freuden! Selbst Gilberts Anwesenheit tröstete sie nicht, denn Charlie Sloane war ja auch da – und Sloanishkeit ließ sich nur bei schönem Wetter ertragen. Im Regen war sie geradezu unerträglich.

Doch als das Schiff den Hafen von Charlottetown verließ, wurde alles ein wenig besser. Der Regen hörte auf, die Sonne begann gelegentlich golden durch die Risse in den Wolken zu brechen und färbte das graue Meer mit kupfernem Schimmer. Die Nebel über den roten Inselküsten leuchteten golden auf – ein Vorzeichen, dass der Tag doch noch schön werden würde.

Außerdem wurde Charlie Sloane so schnell seekrank, dass er unter Deck verschwinden musste. Anne und Gilbert blieben allein an Deck.

„Ich bin wirklich sehr froh, dass alle Sloanes seekrank werden, sobald sie ein Boot betreten“, dachte Anne gnadenlos. „Ich hätte keinen letzten Blick auf das ‚alte Land‘ werfen können, wenn Charlie daneben gestanden und so getan hätte, als ob er es auch sentimental betrachtete.“

„Na, jetzt geht’s los“, bemerkte Gilbert in diesem Moment ganz unsentimental.

„Ja – ich fühle mich wie Byrons ‚Childe Harold‘ – nur dass das hier nicht wirklich mein ‚Vaterland‘ ist, das ich betrachte“, sagte Anne und zwinkerte mit ihren grauen Augen. „Nova Scotia ist das wohl, streng genommen. Aber das Land, das man am meisten liebt, ist doch das wahre Vaterland – und das ist für mich das gute alte Prince Edward Island. Ich kann kaum glauben, dass ich nicht immer hier gelebt habe. Diese elf Jahre vor meiner Ankunft kommen mir wie ein böser Traum vor. Es ist sieben Jahre her, seit ich mit diesem Schiff hier angekommen bin – an dem Abend, als Mrs. Spencer mich von Hopetown herbrachte. Ich sehe mich noch in diesem schrecklichen alten Kittelkleid und dem ausgebleichten Matrosenhut über Deck und durch die Kabinen streifen, überwältigt von Neugier und Staunen. Es war ein wunderschöner Abend. Wie haben die roten Inselküsten in der Sonne geglänzt. Und jetzt fahre ich wieder über die Meerenge. Oh, Gilbert, ich hoffe wirklich, dass mir Redmond und Kingsport gefallen werden – aber ich bin mir sicher, sie werden es nicht.“

„Wo ist denn deine ganze Philosophie hin, Anne?“

„Sie ist untergegangen – von einer riesigen Woge aus Einsamkeit und Heimweh verschlungen. Ich habe drei Jahre lang davon geträumt, nach Redmond zu gehen – und jetzt, wo ich gehe, wünsche ich, ich täte es nicht. Aber egal! Ich werde wieder fröhlich und philosophisch sein – sobald ich einmal so richtig geweint habe. Das brauche ich, ‚als Ventil‘ – und ich werde warten müssen, bis ich heute Abend in meinem Zimmer in der Pension bin, wo auch immer das sein mag. Dann wird Anne wieder sie selbst sein. Ich frage mich, ob Davy inzwischen aus dem Schrank gekommen ist.“

Es war neun Uhr abends, als ihr Zug Kingsport erreichte, und sie fanden sich im bläulich-weißen Licht des überfüllten Bahnhofs wieder.

---ENDE DER LESEPROBE---