Anonyme Briefe - Edmund Crispin - E-Book

Anonyme Briefe E-Book

Edmund Crispin

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Beschreibung

Die Einwohner des kleinen englischen Ortes Cotton Abbas haben ein Problem: Immer mehr Neureiche zieht es in das florierende Dörfchen - und das gefällt bei Weitem nicht jedem. Bald nach ihrer Ankunft erhalten die Neuankömmlinge Anonyme Briefe, prall gefüllt mit dunklen Geheimnissen und dreckiger Wäsche. Unter den Einwohnern wachsen Hass und Niedertracht. Anonyme Nachrichten sind eine Sache, doch bald schon stören noch ernsthaftere Ereignisse den Frieden in Cotton Abbas: ein Mord, ein Selbstmord und ein mysteriöses Verschwinden. Höchste Zeit, dass Gervase Fen, Literaturprofessor und Detektiv aus Leidenschaft, heranzitiert wird, um sich des Falles anzunehmen. Getarnt als geheimnisvoller Mr. Datchery beginnt er mit den Ermittlungen ...

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Seitenzahl: 337

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Über Edmund Crispin

Edmund Crispin (eigentlich Bruce Montgomery) wurde 1921 geboren. Er studierte an der Merchant Taylors School und am St. Johns College Oxford moderne Sprachen und war dort zwei Jahre als Organist und Chorleiter tätig. Nach kurzer Lehrtätigkeit widmete sich Crispin ganz dem Komponieren - hauptsächlich von Filmmusik - und dem Schreiben. Einige Jahre war er Krimi-Kritiker bei der Sunday Times in London. Bis zu seinem Tod im Jahre 1978 lebte Crispin in Devon.

Informationen zum Buch

Kleine Geschenkeerhalten die Freundschaft ...

... besonders, wenn man einander ’was zu sagen hat. Die „Berliner Morgenpost“ hat immer etwas zu sagen. Und sie hat immer ein offenes Ohr für ihre Leser in Berlin, in Deutschland und in aller Welt. „Mit Berlin verbunden und in der weiten Welt zu Hause“ fühlt sich der weltoffene „Berliner Morgenpost“. Sie möchte sich heute mit einem englischem Kriminalroman bei Ihnen in Erinnerung bringen.

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Edmund Crispin

Anonyme Briefe

Kriminalroman

Aus dem Englischenvon E. und W.W. Elwenspoek

Für Pat und Colin Strang

Inhaltsübersicht

Über Edmund Crispin

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Impressum

1

Am Nachmittag des 2. Juni, einem Freitag, machte sich ein Mr. Datchery, nachdem er seinen Wochenendkoffer mit der Bitte, ihn freundlicherweise bei einem Gasthaus namens »The Marlborough Head« abzusetzen, auf einen Bus verladen hatte, auf den Viermeilen-Marsch, der den Marktflecken Twelford von dem Dorf Cotten Abbas trennte.

Er war ein großer und drahtiger Mann zwischen Vierzig und Fünfzig, mit einem hageren, roten, glattrasierten Gesicht. Sein braunes Haar, das er vergeblich mit Wasser zu glätten versucht hatte, stand in widerspenstigen Strähnen um seinen Kopf. Sein Verhalten war wohlwollend und freundlich. Vom Rathaus in Twelford, wo der Bus ihn von seinem Koffer erlöst hatte, wanderte er durch die Hauptstraße nach Westen, und gegen drei Uhr hatte er die vor der Stadt gelegenen Häuser hinter sich gelassen und das offene Land erreicht.

An diesem Freitag war die Sonne regenverhangen aufgestiegen, aber bis zum Frühstück hatten sich die Wolken verzogen, und um die Mittagszeit waren alle Anzeichen für Regen verschwunden, und der Boden begann Wärme zu absorbieren und aufzuspeichern. Zu einem Obligato von Vogelgezwitscher marschierte Mr. Datchery unter dem strahlenden Himmel auf Cotten Abbas zu. Während er dahinmarschierte, sang er zum Missvergnügen aller Lebewesen fröhlich vor sich hin.

»Ich putze die Küche«, sang Mr. Datchery, »und du fegst die Treppe, und weiß fließt der Fluss, und hell blüht der Besen.« Und das Vieh auf den Weiden hob die Köpfe, als er vorbeiwanderte. Klagend muhte es zu seinem Lied.

Der Weg war ihm in Twelford ausführlich beschrieben worden. Da er aber überzeugt war, einen unfehlbaren Ortssinn zu besitzen, fühlte er sich bald versucht, Abkürzungen einzuschlagen, und nach drei Meilen stellte er zu seiner großen Verärgerung fest, dass er sich verlaufen hatte. So sehen wir ihn denn zunächst deutlich, wie er bei dieser Entdeckung missmutig an einer Kreuzung von vier Feldwegen stehenbleibt, ähnlich dem Pilger der Legende. Die Landschaft erstreckt sich flach und ohne besondere Merkmale nach allen Seiten. Ein alter hölzerner Wegweiser ist nicht mehr zu entziffern, und das einzig sichtbare Anzeichen geselligen Lebens ist ein sehr kleines schwarzes Kätzchen, das genau in der Mitte eines sehr großen grünen Feldes, völlig davon in Ansprach genommen ist, ein unsichtbares Etwas anzuschleichen.

Das Kätzchen ist indessen ein Hinweis darauf, dass irgendwo in der Nachbarschaft Menschen leben müssen; denn Katzen begeben sich, selbst wenn sie hinter Feldmäusen her sind, nur selten sehr weit von ihrer Behausung fort. Mr. Datchery schlug also willkürlich einen der vier Wege ein und schritt rüstig fürbass. Schließlich wurde seine Wahl, dadurch belohnt, dass er in Hörweite eines Durcheinanders von Lauten kam, die zwar nicht ohne weiteres zu identifizieren waren, zweifellos aber von Menschen stammten. Nachdem Mr. Datchery um eine Kurve gebogen war, stand er vor einem überraschenden und unwahrscheinlichen Anblick.

Als erstes sah er einen Fußballplatz vor sich; einen Fußballplatz, der unerklärlicherweise von der Menschheit weit entfernt mitten zwischen Weizenfeldern und Wiesen lag. Als nächstes bemerkte er eine kleine, aber offensichtlich neue Tribüne auf der anderen Seite des Spielfeldes. Und was er zuletzt entdeckte, waren etwa hundert Schuljungen, die auf die Tribüne hinaufkletterten und wieder herunter sprangen und dabei einen Lärm vollführten, als stürze ein Haus zusammen.

Dieser unwahrscheinliche Anblick ließ Mr. Datchery zunächst anhalten. Zweifellos war von Schuljungen zu erwarten, dass sie auf einer Tribüne herum sprangen, wenn eine aufregende Fußballschlacht im Gange war. Aber in diesem Fall befanden sich auf dem Platz überhaupt keine Spieler. Mit offenem Mund sah und hörte Mr. Datchery, wie die Jungen sprangen und tobten und schrien und pfiffen. Nachdem sich seine erste Verblüffung gelegt hatte, wurde er sich bewusst, dass nicht er allein dieses Bild bewunderte.

Nahe der einen Seite der Tribüne standen ein Mann und ein Mädchen, die sich gegenseitig anschrien. Nicht im Zorn oder im Ärger etwa, sondern weil der Lärm der tobenden Jungen jede andere Verständigung unmöglich machte. Der Mann war älter und ein Angehöriger der Schicht, die im Allgemeinen als die Klasse der Handwerker bezeichnet wird, das Mädchen war etwa sechzehn. Etwas weiter entfernt war links von ihnen ein junger Mann zu erkennen, der ziellos hinter den Torpfosten des leeren Fußballtors umherwandelte. Doch Mr. Datchery lenkte seine Schritte auf das Paar zu, denn er wusste aus Erfahrung, dass man sich bei einem weiblichen Wesen, wie jung es auch sei, immer darauf verlassen konnte, eine vernünftigere und genauere Auskunft zu bekommen, wie man irgendwohin gelangte, als von einem Mann.

»Eins – zwei – drei!« schrie ein kleiner Knirps. Auf das letzte Kommando hin stürmten zweihundert, in kräftige Schuhe gekleidete Füße unter ohrenbetäubendem Lärm auf die Planken der Tribüne, sodass sie wie unter dem Anprall eines Orkans schwankte.

»Ha«, sagte der ältere Mann selbstbewusst zu dem Mädchen, »das hält sie aus. Ja, das hält sie tatsächlich’ aus.« Es war offensichtlich, dass er für die Errichtung der Tribüne verantwortlich war.

Mr. Datchery wurde ohne Neugierde empfangen, als er zu ihnen trat. »Da haben Sie mal gute Arbeit, Sir«, sagte der ältere Mann selbstgefällig. »Fest wie ein Felsen steht sie. Diese Burschen haben den Nachmittag schulfrei bekommen, um festzustellen, ob sie sicher ist. Und wenn die sie nicht kaputt kriegen, kriegt das keiner fertig.«

»Wo bin ich hier?« schrie Mr. Datchery ihm zu, während der Angriff auf die Tribüne wiederholt wurde.

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte der ältere Mann. »Sie finden weit und breit im ganzen Land keine bessere Arbeit als das da.«

»Ich will wissen, wo ich hier bin«, schrie Mr. Datchery gereizt.

»Teuer, Sir?« antwortete der ältere Mann. »Nicht ein bisschen. Ha, wenn Sie Phelps & Co. aus Twelford genommen hätten, hätte es das Doppelte gekostet.«

Mr. Datchery fixierte kühl das Mädchen, das in ein unkontrollierbares Gelächter ausgebrochen war.

»Sie alter Narr«, gellte er, »zum letzten Mal; wo bin ich hier?«

Der Funken Verständnis, der jetzt in den Augen des älteren Mannes aufleuchtete, wies darauf hin, dass er zum mindesten verstanden hatte, in welche Richtung Mr. Datchery zielte, aber er wurde durch das plötzliche bedrohliche Krachen von splitterndem Holz davon abgelenkt, dieser Entdeckung nachzugehen.

»He, ihr verdammten Bengels«, brüllte er, »passt doch auf, was ihr tut!«

»Fest wie ein Felsen«, meinte Mr. Datchery boshaft. Aber der ältere Mann war schon zu einer Strafexpedition davon gestürmt. »Gibt es hier denn niemand«, fragte Mr. Datchery verzweifelt, »der mir sagen kann, wo ich eigentlich bin?«

Der Lachanfall des Mädchens hatte sich inzwischen so ausgewachsen, dass sie nicht mehr stehen konnte, sondern auf dem Boden lag. Es war ein dünnes, langbeiniges Geschöpf, stellte Mr. Datchery fest, mit glattem, braunem Haar und Säureflecken an den Fingern. Ihr Kleid war zwar gut, aber ungepflegt und wurde nachlässig getragen. Trotz allem war sie hübsch in der Art eines Fohlens, und es erschien Mr. Datchery auch nicht unwahrscheinlich, dass sie intelligent war.

»Sie werden sich gleich erkälten«, sagte er. »Um Himmels willen, nehmen Sie sich zusammen, und sagen Sie mir, wie ich nach Cotten Abbas komme.«

»Cotten Abbas?« Das Mädchen setzte sich auf und antwortete atemlos unter einem nachträglichen Anfall von Gekicher: »Wo kommen Sie denn her?«

»Aus Twelford.«

»Wie haben Sie es dann fertiggebracht, hierher zu gelangen?«

»Was ist das hier?«

Das Mädchen brach erneut in Heiterkeit aus. »Ah«, stammelte sie krampfhaft, »so süß wie Nüsse ist der Wald hier. Sie finden keinen besseren, und wenn Sie von Landsend bis John o’Groats suchen.«

»Himmeldonnerwetter noch einmal«, sagte Mr. Datchery.

Das Mädchen wischte sich mit einem ziemlich schmuddeligen Taschentuch über die Augen.

»Lieber Himmel«, sagte sie mit erstickender Stimme, »Lachen macht mich so schwach … helfen Sie mir bitte auf. Es ist furchtbar.«

Mr. Datchery half ihr auf die Füße und wartete grimmig, während sie langsam ihr inneres Gleichgewicht wiedergewann.

»Es tut mir wirklich schrecklich leid«, sagte sie schließlich, »aber offen gesagt, ich habe in meinem Leben noch nichts so Komisches gehört … Was wollten Sie wissen? Ach ja, ich weiß schon … Nun, das ist hier eigentlich kein Ort, sondern nur ein Fußballplatz. Der nächste Ort ist Cotten.«

Mit äußerster Anstrengung unterdrückte sie ein letztes, aufflackerndes Kichern. »Ich will Ihnen was sagen. Ich gehe gleich selbst nach Cotten, dann können Sie mit mir kommen.«

»Ist es weit?«

»Nur zwei Meilen«, antwortete sie, zog ihren Rock zu Recht und klopfte mit der Hand Grashalme und Erde davon ab. »Wenn Sie es aber ganz schrecklich eilig haben, können Sie von hier zur Twelforder Straße gehen und einen Bus nehmen.«

Mr. Datcherys Begeisterung für körperliche Anstrengungen war nie sehr nachhaltig gewesen. »Wann fährt der nächste Bus?« forschte er.

Das Mädchen überlegte. »Etwa in einer Stunde«, antwortete sie.

»Dann ist es egal, ob ich in schrecklicher Eile bin oder nicht«, erklärte Mr. Datchery ziemlich kühl. »Wohnen Sie in Cotten Abbas?«

Aber seinen Fragen schien es heute bestimmt zu sein, ignoriert zu werden, denn in diesem Augenblick schloss sich ihnen der junge Mann an, den er hinter den Torpfosten umherwandern gesehen hatte, und von dem Mr. Datchery vermutete, dass er ein Lehrer sei, der vorgab, die Schuljungen zu beaufsichtigen. Er war sehr sauber, sehr mager und untermittelgroß, mit kleinen scharf geschnittenen Gesichtszügen, kurzsichtigen blassen Augen hinter einer eckigen, horngefassten Brille und straffem, gelbem Haar. Sein Hemd, untadelhaft und fleckenlos wie seine ganze Kleidung, stand am Hals offen. Die seiner Aufsicht unterstellten Jungen und den älteren Mann, der auf sie einschimpfte, betrachtete er mit der duldsamen Miene eines Mannes, der sich mit den Grundsätzen einer fortschrittlichen Erziehung vertraut gemacht und sie für gut befunden hatte. Und als er sprach, geschah es in dem sorgfältigen, pedantischen Englisch eines deutschen Intellektuellen.

»Ich fürchte, Peter« – das Mädchen wandte sich ihm bereitwillig zu, als er näher kam –, »ich fürchte, sie haben irgendetwas kaputt gemacht. Der Alte ist furchtbar wütend.«

Der Neuankömmling verriet bei dieser Mitteilung keine Überraschung, und unter den gegebenen Umständen wäre es erstaunlich gewesen, wenn er es getan hätte.

»Es tut Kindern manchmal gut«, bemerkte er wohlwollend, »etwas kaputt zu machen. Wenn man das zulässt, wachsen sie zu gesünderen Menschen heran.« Er sah Mr. Datchery fragend an und suchte nach einer Bestätigung für diese fragwürdige These. »Stimmt es nicht, Sir?«

»Nein«, entgegnete Mr. Datchery kurz und bündig.

Der junge Mann lächelte ihn mit großer Liebenswürdigkeit an. »Die Experimente Ihres Neill«, fuhr er unberührt fort, »haben es bewiesen. Und auch wir in der Schweiz haben derartige Schulen. Aber vielleicht langweile ich Sie.«

»Nein, bitte sprich weiter, Peter«, sagte das Mädchen und errötete dann, als sie Mr. Datcherys Blick bemerkte. »Man kann schließlich«, fügte sie trotzig hinzu, »wenn man einen Experten hört …«

Aber der Experte achtete nicht auf sie, und Mr. Datchery sah sie zusammenzucken, als sie es bemerkte. Nicht dass der Experte vorsätzlich unfreundlich war, fand Mr. Datchery, offenbar interessierte er sich einfach nicht im Geringsten für junge Mädchen. Er hatte eine Karte hervorgezogen und reichte sie jetzt Mr. Datchery mit einer steifen, knappen Verbeugung. Mr. Datchery las die sauber gedruckten Worte

Dr. phil. Peter Rubi

Zürich

Darunter stand handgeschrieben die Adresse: »Fiveways, Cotten Abbas, England«.

»Rubi«, sagte der junge Mann und streckte ihm die Hand entgegen.

»Datchery«, antwortete Mr. Datchery.

»Und ich bin Penelope Rolt«, sagte das Mädchen.

»Ich unterrichte für zwei Jahre in England, um Erfahrungen zu sammeln«, erklärte Rubi. »Mir gefällt England sehr. Die Engländer sind ein interessantes Volk.«

Mr. Datchery, der zufällig mit der Liste der Themen vertraut war, für die ausländische Intellektuelle die größte Vorliebe haben, sah eine Diskussion über Nationalcharakter am Horizont der Unterhaltung drohend auftauchen.

»Man könnte sagen, dass auch ich Lehrer bin«, sagte er schnell. »Universitätsangehörige werden irrigerweise häufig dafür gehalten.«

»Ah«, sagte Rubi, »Sie gehören einer Universität an. Und welches ist bitte Ihr Fach, Ihre Fakultät?«

»Englisch«, sagte Mr. Datchery.

»Ich lese viele Ihrer englischen Autoren«, sagte Rubi mit merklichem Eigenlob. »Ich glaube, dass ich von den Modernen Evelyn Waugh den Vorzug gebe, obwohl auch Ihr Graham Greene geistig anregend ist.«

»Das ist eine sehr gesunde Vorliebe«, sagte Mr. Datchery herzlich und hoffte, durch uneingeschränkte Zustimmung einer Debatte von vornherein aus dem Wege zu gehen, deren Wirbel und Untiefen er voraussah. »Wirklich eine sehr gesunde Vorliebe«, wiederholte er nachdrücklich.

Es funktionierte nicht. »Waugh ist vielleicht Ihr größter Symboliker«, begann Rubi und war glücklich, gründlich vorbereitete Ausführungen vom Stapel zu lassen. »Dieses Mädchen Runcible in Vile Bodies, sie ist vielleicht das bedeutendste zeitgenössische Symbol der Bewusstseinspaltung in unserer modernen Welt. Sie lenkt einen Wagen in einem Rennen, er kommt von der Bahn ab, sie stirbt … Ich habe darüber in dem Neuen Züricher Beobachter einen Artikel geschrieben, der von vielen der besten Kritiker gelobt wurde.«

Diesen frühen Zeitpunkt in seinen Ausführungen wählte – ebenso sehr zu seinem und des Mädchens Unmut wie zu Mr. Datcherys Erleichterung – der ältere Mann, um sich ihnen anzuschließen. Obwohl er von seinem unbefriedigenden Zusammenstoß mit den Bürgern von morgen erschöpft war (die jetzt genug davon hatten, die Tragfähigkeit der Tribüne zu erproben und sich in zwei Banden geteilt hatten, um eine blutige Schlacht auf Leben und Tod aufzunehmen), hatte sein Unwille noch beträchtliche Ausmaße.

»Diese jungen Schurken«, verkündete er vor Erschöpfung schwer atmend, »haben den halben Zaun in der Mitte eingerissen.« Dann wurde er von einem neuen Wutanfall ergriffen. »Schaffen Sie sie hier fort«, brüllte er »bringen Sie die Bengels hier weg, ehe sie mir alles zusammenschlagen.«

»Glauben Sie, dass das Experiment genügt?« fragte Rubi liebenswürdig. »Ist es richtig, dass ich sie jetzt zu ihrem Nachmittagstee zurückfuhren soll? Sehr gut, das werde ich tun.«

»Auch ich muss zurück«, sagte das Mädchen ziemlich hastig, und Mr. Datchery vermutete, dass sie nicht sonderlich begierig darauf war, Zeugin zu sein, wie die Versuche des bewunderten Rubis, seine Autorität über die wilde Schar auf dem Sportplatz und auf der Tribüne zu beweisen, unweigerlich scheitern mussten. »Werde ich Sie morgen sehen, Peter?«

Rubi schüttelte den Kopf. »Morgen werde ich allein auf eine lange Wanderung gehen«, erklärte er fest, »und werde erst sehr spät zurückkommen.«

»Und wie ist es Montag? Da haben Sie doch den ganzen Tag frei.«

»Montag«, antwortete Rubi voller Herablassung, »vielleicht.«

»Werden Sie mich abholen? Wir könnten ins Kino gehen. Im Regal läuft ›Der dritte Mann‹. Er ist nicht ein bisschen kommerziell und wird Ihnen gefallen.«

»Also gut«, räumte Rubi ungnädig ein. »Aber morgen bin ich beschäftigt. Denken Sie daran!«

»Ja, ich werde daran denken«, sagte sie ernsthaft. »Ich verspreche Ihnen, ich werde Sie nicht stören.« Dann fügte sie nach einer unsicheren Pause hinzu: »Also dann auf Wiedersehen … Kommen Sie mit mir, Mr. Datchery?«

Das tat Mr. Datchery, und es war offenkundig, dass Rubi die Trennung von ihm weit mehr bedauerte als die von dem Mädchen.

»Bleiben Sie in Cotten Abbas, Sir?« fragte er, und als Mr. Datchery zustimmte, sagte er: »Dann müssen wir uns Wiedersehen. Ich würde mich gern ausführlich mit Ihnen über Waugh unterhalten.«

Mr. Datchery hielt das für sehr wahrscheinlich und war der Ansieht, dass es dieser Aussicht als Argument zugunsten einer Erneuerung der Bekanntschaft in einziger Weise an Überzeugungskraft mangelte. Aber es gelang ihm, Begeisterung für den Plan zu heucheln, und gleich darauf gingen er und das Mädchen zusammen davon. Sie blickten noch einmal zurück, um die Szene zu betrachten. Sie sahen Rubi in der Mitte des Feldes stehen, schüchtern mit den Armen gestikulieren und »Jungens, Jungens« rufen, während der wutschnaubende Bauunternehmer gereizt hinter ihm auf- und abstampfte. Obwohl das Mädchen Rubi zuwinkte, achtete er nicht auf sie, was in ihrem Verhältnis üblich zu sein schien. Enttäuscht wandte sie sich ab, aber später, als sie ein Gatter überstiegen und den Weg zu einem Gehölz von Buchen und Birken eingeschlagen hatten, sagte sie sich verteidigend: »Er ist sehr klug, müssen Sie wissen.«

»Sehr«, antwortete Mr. Datchery ohne Begeisterung.

»Ich meine, er hat entsetzlich viele akademische Grade und hat in allen möglichen Ländern gelebt.«

»Das habe ich vermutet.«

Es folgte eine Pause. Dann: »Aber Sie hielten ihn nicht für klug oder doch?«

»Mein liebes Kind«, sagte Mr. Datchery milde, »ich kann nicht so schnell beurteilen, ob ein Mann klug ist oder nicht. Aber mir scheint, er verhielt sich Ihnen gegenüber unmöglich.«

»Oh, das macht nichts«, sagte de mit tonloser Stimme. »Ich nehme an, er hat es satt, dass sich ein – ein Kind dauernd an ihn anhängt.«

»Wenn Sie sich selbst meinen, dann halte ich den Ausdruck ›Kind‹ kaum für angemessen.«

Penelope, die mit gesenktem Kopf und mit ihren Schuhen im Gras schlürfend vor ihm hergegangen war, drehte sich um, um Mr. Datchery zum ersten Mal wirklich aufmerksam anzusehen.

»Sie sind wirklich sehr nett«, sagte sie nachdenklich.

»Nein, das bin ich nicht.« Mr. Datchery schien das Kompliment unverständlicherweise aufreizend zu finden.

»Doch, das sind Sie. Deshalb wünschte ich, Sie empfänden das gleiche für Peter wie ich.«

»Für das, was Sie für ihn empfinden«, sagte Mr. Datchery voller Offenheit, »gibt es gesunde biologische Gründe, die für mich zum Glück nicht zutreffen. Sie arbeiten doch wissenschaftlich, stimmt’s? Nun, dann betrachten Sie auch das wissenschaftlich.«

»Wissenschaftlich …?« Einen Augenblick lang war Penelope überrascht. Dann blickte sie auf ihre schlanken, verfärbten Finger und lächelte. »Oh, ich verstehe, wie Sherlock Holmes. Aber dass ich wissenschaftlich arbeite, ist alles Unsinn. Ich pfusche mit Chemikalien herum, nur um etwas zu tun zu haben, aber es taugt alles nichts. Peter ist viel wissenschaftlicher als ich.«

»Wieso ist er Wissenschaftler?« fragte Mr. Datchery verdrießlich.

»Er ist Psychologe.«

»Die Psychologie gehört zur Metaphysik.«

»Das sehe ich nicht ein.«

»Erstens«, begann Mr. Datchery, »kann sie nie ein kontrolliertes Experiment durchführen. Ferner …«

»Oh, schon gut«, unterbrach Penelope ziemlich mürrisch. »Ich hätte klüger sein sollen, als mit Ihnen einen Wortstreit anzufangen. Aber wie Sie es auch nennen wollen, Peter beherrscht sie mächtig gut … Ich gebe zu«, fügte sie vorsichtig hinzu, »dass manche seiner Gedanken über andere Gebiete etwas merkwürdig anmuten. Zum Beispiel das Buch, von dem er da sprach, Vile Bodies. Er sagte mir, ich müsse es lesen, und das tat ich, aber das einzige, was ich daran finden konnte, war, dass es komisch ist.« Sie schüttelte ratlos den Kopf. »Trotzdem, darauf kommt es nicht an. Worauf es ankommt, ist, dass er ein Hexenmeister in allem ist, was mit dem Verstand der Menschen zu tun hat.«

Und am Rande des Gehölzes blieb Penelope, die ihrem Begleiter ein paar Schritte vorausgegangen war, stehen, damit er sie einholen konnte.

»Da ist zum Beispiel«, sagte sie, »diese Geschichte mit den anonymen Briefen.«

2

»Anonyme Briefe?« fragte Mr. Datchery. »Was für anonyme Briefe?«

Sein Ton verriet nicht mehr als höfliches Interesse, wie es von jedem Fremden, der auf einen Fall dieser sporadischen Heimsuchung stieß, erwartet werden konnte. Aber wenn Penelope weniger darin vertieft gewesen wäre, Rubi zu rechtfertigen, hätte sie vielleicht bemerkt, dass seine blassblauen Augen sich bei diesen Worten verengten und er mit einer neuen Aufmerksamkeit dem zuhörte, was sie sagte. Sie wanderten weiter – sie immer noch in Führung – einen von Farnkraut gesäumten Pfad entlang in den Wald, wo Kaninchen im Unterholz hoppelten und raschelten und das Sonnenlicht durch das Gitter der Zweige gebrochen wurde.

Und Penelope antwortete: »Oh, wussten Sie nichts davon? Sie kommen jetzt schon seit zwei oder drei Wochen.«

»Was für eine Sorte Briefe sind das?«

»Obszöne«, antwortete Penelope mit einer Art Wohlbehagen. »Mindestens ein Teil von ihnen. Aber die obszönen sind nicht die schlimmsten.«

»Warum sind sie das nicht?«

»Weil alles reiner Unsinn ist. Die andere Sorte macht den ganzen Ärger.«

»Und was ist mit der anderen Sorte?«

»Sie enthalten Dinge über die Leute, die wahr sind.«

»Eine unbeliebte Praktik«, bemerkte Mr. Datchery trocken, »das gebe ich zu.«

»Nun ja, ich fürchte, ich erkläre es nicht sehr gut … aber – also da war zum Beispiel Mr. Mogridge.«

»Wer ist Mr. Mogridge?«

»Der Wirt von ›The Marlborough Head‹. Er hatte schon lange was mit Cora, verstehen Sie?«

»Ich verstehe überhaupt nichts«, beklagte sich Mr. Datchery.

»Nur Geduld.« Das Mädchen drehte den Kopf, um ihm aufmunternd zuzulächeln. »Das hat Miss Bowlby immer zu uns in der Schule gesagt, wenn wir etwas nicht verstanden … Wo war ich noch?«

»Sie erwähnten gerade jemand namens Cora.«

»Ah ja. Also, Cora ist – ich sollte sagen, war – Zimmermädchen in ›The Marlborough Head‹. Wissen Sie, eine von der gutgepolsterten Sorte.« Penelope blickte fast scheu zu Mr. Datchery zurück, um zu sehen, wie dieser schüchterne Versuch in Weitläufigkeit auf ihn wirkte. Beruhigt durch die völlige Ausdruckslosigkeit seines Gesichts fuhr sie fort: »Jedenfalls hatte Mr. Mogridge – ein Verhältnis mit ihr gehabt, schon seit Jahren. Jeder wusste es, außer natürlich Mrs. Mogridge. Aber dann bekam sie vor etwa vierzehn Tagen einen dieser Briefe, und der informierte sie, wo und wann Mr. Mogridge und Cora sich trafen. Dann gab es natürlich einen fürchterlichen Auftritt.«

»Ich verstehe.« Mr. Datchery war nachdenklich. »Ja, ich verstehe. Und hat es viele Briefe, dieser – dieser informierenden Art gegeben?«

Penelope nickte. »Eine Menge.«

»Und waren die Informationen zutreffend?«

»Ja, fast immer.«

»Aber ist es nicht recht seltsam, dass jemand über alle Skelette Bescheid weiß, die in anderer Leute Schränken versteckt sind?«

»Dass Sie so etwas sagen können«, antwortete Penelope weise, »beweist eindeutig, dass Sie nie in einem Dorf gelebt haben. Auf dem Dorf kennt jeder alle Skandalgeschichten von jedem anderen. Aber natürlich sehen sich die Leute schrecklich vor, dass sie nicht jemanden zu Ohren kommen, den sie kränken und verletzen.«

»Ich verstehe«, sagte Mr. Datchery wieder. Und er verstand tatsächlich, denn er wusste, dass kleine Gemeinden zwar zwangsläufig klatschen, aber rein instinktiv eine Technik entwickeln, die verhindert, dass der Klatsch den Falschen zu Ohren kommt, und sie vollkommen klar erkennen – wenn diese Erkenntnis vermutlich auch nie bewusst formuliert wird –, dass jeder grobe Verstoß gegen diese Technik ihnen das Dasein bald unerträglich machen würde.

»Aber wenn«, fügte er hinzu, »es zwei Sorten Briefe gibt – a) die schadenverursachenden und b) die nur obszönen – weist das nicht darauf hin, dass sie von zwei verschiedenen Personen geschrieben werden?«

»Peter glaubt das nicht«, sagte Penelope und schwang sich bereitwillig wieder auf ihr Steckenpferd. »Er sagt, beide Arten Briefe zeigten genau die gleiche Art von Paranoia, und es sei unwahrscheinlich, dass wir zwei Personen in Cotten haben, die so übergeschnappt sind. Er sagt, es müsse schrecklich interessant sein, sich mit der Frau zu unterhalten, die diese Briefe schreibt, und herauszufinden, wie sie als Kind war und so weiter.«

»Frau?« forschte Mr. Datchery.

»Peter sagt, es sind immer Frauen, die gemeine Briefe schreiben, weil sie unbefriedigt sind und so weiter, und er sagt, gewöhnlich seien es Jungfern aus der Mittelklasse.«

Mr. Datcherys Begeisterung für Rubi, die nie ausschweifend gewesen war, schrumpfte noch weiter zusammen. Es war wirklich unverzeihlich von ihm, diesem Mädchen den Kopf mit diesen verwirrenden, ungenauen und lüsternen Lehren vollzustopfen. Mr. Datchery beschloss jedoch, diese Ansicht zunächst für sich zu behalten. Darum war alles, was er darauf sagte: »Interessant. Ich nehme an, dass Sie durch keinen dieser Briefe behelligt wurden.«

»Nein, aber Pa. Doch schließlich wurde das jeder, der etwas ist.« Penelopes Gesicht bewölkte sich. »Ein Teil von Pas Brief war über mich und Peter. Er war wütend. Er kann Peter nicht besonders gut leiden. Er sagt, es sei gefährlich« – dieses Wort sprach sie mit großer Verachtung aus – »für mich, wenn ich mich mit ihm abgebe.«

Und diese Überzeugung, überlegte Mr. Datchery, scheint eindeutig ein Punkt zu Mr. Rolts Gunsten zu sein. Zweifellos traf zu, dass, nach dem zu urteilen, was Mr. Datchery von Rubi gesehen hatte, eine Frau, die nackt mit ihm auf eine einsame Insel verschlagen wurde, von ihm keine größere Bedrohung zu befürchten hatte, als die Gefahr, an Langeweile zu sterben. Aber vielleicht waren es nur Rubis Ansichten, die Mr. Rolt für zu gefährlich hielt, und in diesem Falle hatte Mr. Rolt viele gute Gründe auf seiner Seite …

»Und welche Form«, fragte Mr. Datchery, »haben diese Briefe?«

»Form …? Oh, ich verstehe, was Sie meinen. Also, tatsächlich habe ich selbst noch keinen gesehen, aber natürlich spricht jedermann von ihnen, und daher weiß ich, wie sie aussehen. Sie sind aus Wörtern und Buchstaben zusammengesetzt, die aus vielen verschiedenen Zeitungen ausgeschnitten und auf ein Stück Schreibpapier geklebt sind. Oh, und die Umschläge sind in Großbuchstaben adressiert. Das ist alles, glaube ich.«

»Sind sie überhaupt unterschrieben?«

»Sie meinen Pro Bono Publico oder so etwas Ähnliches. Nein, das sind sie nicht.«

»Und was wird dagegen unternommen?«

»Also natürlich ist die Polizei dahinter her. Und das sollte sie ja auch sein«, sagte Penelope mit kritischer Strenge, »wenn man bedenkt, dass zwei Polizeibeamte tatsächlich in dem Dorf wohnen. Colonel Babington bekam selbst einen Brief. Er war furchtbar wütend.«

»Wer ist Colonel Babington?«

»Er ist Polizeichef. Und der andere ist Inspektor Casby, der neben Dr. Downing wohnt. Er gehört zur Kriminalpolizei des Counties, deshalb leitet er die Ermittlungen.«

»Und gibt es irgendwelche Spuren?«

Penelope zuckte vielsagend mit den Schultern. »Weiß nicht, glaub’s auch nicht.«

»Halten Sie den Inspektor für unfähig?«

»N-nein, eigentlich nicht. Er ist in Ordnung. Aber wenn es ihm in drei Wochen nicht gelungen ist, weitere Briefe zu verhindern, dann sieht es nicht aus, als ob ihm das je gelänge, oder doch?«

»Mir scheint, dass Sie vielleicht ungerechtfertigt pessimistisch sind«, sagte Mr. Datchery und fügte nach einem Blick auf den seltsamen und unerwarteten Ausdruck auf dem Gesicht des Mädchens hinzu: »Oder sollte ich sagen optimistisch?«

»Das alles macht das Leben ein bisschen interessanter«, antwortete sie langsam und vorsichtig.

»Wirklich? Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihre Begeisterung dafür sehr weit geteilt wird. Auf die eine und die andere Weise muss das gesellschaftliche Leben des Ortes weitgehend aus den Gleisen geraten sein.«

Penelope lachte kurz und unfreundlich. »Aus den Gleisen geraten?« antwortete sie. »Das sagen Sie mir.« Und bekümmert sah Mr. Datchery, dass ihre Augen vor bösartiger Freude funkelten. »Es ist so weit gekommen, dass jeder jeden verdächtigt und sie kaum noch höflich zueinander sein können.«

»Und ganz offensichtlich«, sagte Mr. Datchery, »betrachten Sie selbst das als ganz wünschenswert.«

Sie waren inzwischen aus dem Wald herausgekommen und traten durch ein Gatter auf einen schmalen, von Bäumen gesäumten Feldweg. Penelope blieb unvermittelt stehen. »Es geschieht ihnen ganz recht«, sagte sie heftig, »es wird sie lehren, in Zukunft nicht so bestialisch überheblich zu sein.«

Mr. Datchery, der gleichfalls stehen blieb, fischte eine Zigarette aus seiner Tasche, steckte sie in den Mund und begann nach Streichhölzern zu wühlen. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte er, »fürchte aber, dass Sie wie die meisten Menschen die läuternde Kraft des Leidens überschätzen. Überheblichkeit, so bestialisch sie auch sein mag, übersteht Leiden häufig völlig unberührt.«

»Nun, dann haben sie wenigstens ihre Strafe.«

»Zweifellos.« Mr. Datchery entzündete seine Zigarette, wobei er die Streichholzflamme hinter der vorgehaltenen Hand vor der sanften Brise schützte. »Aber wofür sollten sie Ihrer Meinung nach bestraft werden?«

Sie wandte sich von dem festen Blick, mit dem er sie musterte, ab und starrte den leeren Feldweg entlang, auf dem es nichts zu sehen gab. »Wegen Pa«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte etwas. »Wegen der Art, wie sie Pa behandeln.«

»Wie behandeln sie ihn denn?«

»Sie – sie sind Snobs, verstehen Sie? Sie hassen ihn, weil er nicht kultiviert und gebildet ist, wie sie es sind. Also, vielleicht ist er es wirklich nicht, aber er ist jederzeit ebenso gut wie sie. Und sie sagen, die Mühle zerstöre die Reize des Dorfes. Und – und, nun, ich glaube schon, dass er manchmal etwas grob und schroff ist, aber er meint es nicht böse. Ich – ich …« Tränen traten ihr in die Augen.

»Unerfreulich«, sagte Mr. Datchery in heilsamer Weise munter. »Ich bedaure, das hören zu müssen.«

Penelope kämpfte heroisch, um ihre Selbstbeherrschung wieder Zugewinnen. »Ich – ich weiß nicht, warum ich Ihnen all das erzähle. Es muss für Sie sehr langweilig sein. Und wenn die Leute albern sein wollen, macht uns das natürlich nichts aus.« Ihr Stolz war gleichzeitig rührend und bewundernswert. »Ich – ich – mir ist gerade etwas eingefallen.«

»Ja?«

»Ich habe versprochen, Punkt fünf zu Hause zu sein, und wenn ich mich nicht beeile, komme ich zu spät. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie jetzt verlasse und vorlaufe? Sie können den Weg von hier leicht allein finden. Bei der nächsten Kreuzung gehen Sie links, dann kommen Sie direkt nach Cotten.«

Die Ausrede ist berechtigt, dachte Mr. Datchery. Wie die meisten Menschen, die sich impulsiv jemand anvertrauen, war das Mädchen begierig, so schnell wie möglich ihrem Beichtvater zu entkommen.

Er sagte deshalb: »Laufen Sie ruhig vor. Es war sehr freundlich von Ihnen, dass Sie mich so weit begleitet haben.«

»Danke.« Sie lief schon. »Wir werden uns bestimmt wiedersehen.« Sie blieb stehen, kämpfte mit einer Empfindung, die er nur erraten konnte. »Ich freue mich gar nicht wirklich über diese elenden Briefe«, platzte sie heraus, »aber – aber …«

Und dann drehte sie sich um und lief rasch davon.

Nachdenklich rauchend beobachtete Mr. Datchery ihre schmale Gestalt, bis sie außer Sicht war. Er ließ ihr einen weiten Vorsprung, ehe er in der gleichen Richtung weiterschlenderte. Ein einsames Kind, dachte er, dessen Einsamkeit durch die Verfemung ihres Vaters (die sie wahrscheinlich übertrieben hatte), erschwert wurde, und durch ihre Neigung für den unverantwortlichen Rubi und durch die normalen Probleme und Schwierigkeiten des Aufwachsens, die in der Rückschau unbedeutend sind, aber in der Zeit, in der man darunter zu leiden hat, beträchtlich auf einem lasten. Sie befand sich jetzt in dem Alter, in dem Kinder zum ersten Mal ihre Eltern nüchtern betrachten und infolgedessen leicht dazu neigen, sich ihrer aus ganz trivialen Gründen zu schämen und sich dieser Scham zu schämen …

Mr. Datchery seufzte. Wenn Penelope Rolt irgendetwas dringender brauchte als alles andere, dann waren es das Mitgefühl und die Anleitung, die sie nicht bekam.

Der Feldweg schlängelte sich zwischen Feldern mit reifendem Roggen und Gerste hindurch. An der Kreuzung wandte sich Mr. Datchery nach links und erreichte das, was er für eine Biegung der Straße von Twelford hielt. Schließlich kam er über einen langgestreckten, sanften Abhang in das Dorf Cotten Abbas.

3

Cotten Abbas liegt sechzig oder siebzig Meilen von London entfernt und ruft dunkel den Eindruck hervor, dass es sich aus einer Filmkulisse heraus dorthin verirrt habe. Wie bei den meisten Kulissen Dörfern überfällt einen bei seinem Anblick das Gefühl, dass irgendein unfassbarer Prozess der Einbalsamierung öder Tiefkühlung am Werk ist; ein vorbeugender Prozess gegen jede Änderung und jeden Verfall, der an sich zwar durchaus erfreulich ist, jedoch zu einem gewissen Grad der Stagnation führte. Doch trotz allem war sein Charme unbestreitbar. Unmittelbar hinter dem Armenhaus blieb Mr. Datchery stehen, um den Anblick ganz in sich aufzunehmen.

An diesem Nachmittag prangte Cotten Abbas im hellen Sonnenlicht wie eine Frau, die sich für einen Ball geschmückt hat. Vor Mr. Datchery, der das Dorf aus der Richtung Twelford her betrat, zog sich in einer sanften Kurve die breite und weitläufige Dorfstraße hin. Links lag eine unregelmäßige, aber anmutige Reihe kleiner Häuser im Stil King Georges und der Queen Anne, in der Mitte von der Fassade von »The Marlborough Head« unterbrochen, und rechts von ihm eine Reihe Landhäuser, zwischen die diskret und kaum wahrnehmbar ein oder zwei Läden eingestreut waren. Diese Seite brach an einer rechtwinkligen Kurve ab, und unmittelbar hinter der Kurve stand die Kirche, ein großer, aufstrebender, klotziger Bau, der an der Dorfstraße lag wie ein Schiff, das an einem Kai festgemacht hat. Anschließend kam das Pfarrhaus und danach, etwas zurückgesetzt und nur an dem herausragenden Zeichen zu erkennen, ein zweiter Gasthof. Schließlich folgte auf ein paar verstreute Häuser, die etwas moderner waren als die übrigen, wieder offenes Land.

Es sah alles wohlhabend aus, aber diese Wohlhabenheit, dachte Mr. Datchery, war weniger die eines arbeitsamen Dorfes als die eines Ortes, in dem sich gut verdienende Leute angesiedelt hatten. Bei einer Bevölkerung, die kaum mehr als zweihundert Seelen betragen konnte, war offensichtlich, dass die eingedrungene Mittelschicht vorherrschte, durch die Nachkriegsverhältnisse zwar stark geschwächt, aber immer noch vorhanden. Zweifellos musste ihr zugeschrieben werden, dass während ihrer großen Zeit zwischen den Kriegen die Schönheit des Dorfes erhalten geblieben war. Und ihre Häuser, die beredt von einer Zeit sprachen, die reichlicher mit Dienstboten versehen war als unsere heutige, waren zwischen Baumwipfeln und Dächern zu erkennen. Sie umgaben den Ort wie ein schützender Wall.

Zufrieden lag Cotten Abbas im Augenblick still und fast verlassen unter dem Junihimmel da. Ein Bäckerbursche pfiff vor sich hin, während er durch einen Lieferanteneingang trat, einen Korb am Arm und die Geldtasche von Kupfermünzen geschwollen. Ein Kind malte in frühreifem Vandalismus mit Kreide mühsam die Aufschrift »Jane libt Bob Watchet« an eine sich dazu anbietende Wand. Das ferne Dröhnen einer Sagemühle klang wie das sommerliche Summen von Bienen. Etwa eine Minute stand Mr. Datchery da, sammelte und sortierte seine ersten Eindrücke. Dann straffte er mit der entschlossenen Miene eines Mannes, der aus dem Dampfbad kommt und unter die kalte Dusche geht, die Schultern und schritt die Straße entlang auf die Tür des »Marlborough Head« zu.

»The Marlborough Head«, stellte er fest, war ein Gasthaus mit niedrigen Decken, unebenen Fußböden und massiven Kaminen. Seine Front aus unregelmäßigen Balken und Putz, von winzigen bleigefassten Fenstern durchlöchert, ging auf das Pfarrhaus. Wenn man eintrat, durchquerte man ein winziges, von Galoschen übersätes Vestibül und kam sofort in die Gaststube, einen langen, ziemlich überfüllten Raum, dunkel im Vergleich zum Sonnenschein draußen und mit Chintz und alter Eiche ausgestattet. Die Jagddrucke an den Wänden und die allgemein deutlich zur Schau getragene Ablehnung des Modernen gab ihm einen irgendwie verlegenen Ausdruck. Aber der Raum war trotzdem recht behaglich, und Mr. Datchery, der mit den erstaunlichen Unbequemlichkeiten der meisten ländlichen Gasthöfe Erfahrungen besaß, fühlte, wie seine Laune sich hob, als er ihn betrachtete.

Es schien, dass die Gasthäuser in Cotten Abbas im Sommer um fünf Uhr geöffnet wurden, denn »The Marlborough Head« hatte schon einen Gast, einen kleinen, ordentlichen, energisch aussehenden, älteren Mann mit einem gestutzten grauen Schnurrbart, der an einem Fensterplatz Guinness trank und den Wirt über den Rand seines Glases anschnauzte.

»Sie langweilen mich, Mogridge«, sagte er gerade, als Mr. Datchery eintrat, »wenn Sie immer und immer wieder mit Ihren öden Konferenzen, Resolutionen und Bestimmungen anfangen. Keiner, der bei Verstand ist, gibt nur einen Heller für die Sorgen von Gastwirten, außer dass er wünscht, sie wären noch zehnmal schlimmer. Wenn Sie mich fragen, dann ist es beinahe schon eine Katastrophe, dass Sie in dieses Komitee gewählt wurden. Sie sind ja schon unfähig, von etwas ariderem zu reden.«

Mogridge lachte gezwungen. Er war ein kleiner rundlicher Mann unbestimmbaren Alters, dessen leicht vorquellende Augen von geheimen Sorgen oder einem stillen Appetit feucht schimmerten. Und er hatte, möglicherweise infolge des häuslichen Aufruhrs, den Penelope Rolt angedeutet hatte, irgendwie das Aussehen eines Mannes, der sich ohne Hose in einem überfüllten U-Bahn-Zug befindet.

»Sie machen gern Ihre Witze, Colonel Babington«, sagte er. »Möchten Sie eine Zwanziger-Packung Players? Im Augenblick habe ich einen reichlichen Vorrat.«

Colonel Babington erstarrte. »Zum Teufel mit Ihnen, Mogridge«, sagte er erregt, »wie können Sie wagen, mir Zigaretten anzubieten? Sie wissen ganz genau, dass ich das Rauchen aufgegeben habe.«

»Ach ja, das haben Sie, Sir.« Mogridge war über den Erfolg seines Gegenschlages unverkennbar entzückt. »Ich hatte es vergessen. Und wie geht es Ihnen dabei?«

»Mir geht, Mogridge? Wie es mir dabei geht?«

»Ich meine, können Sie es durchhalten?«

»Natürlich kann ich das«, antwortete Colonel Babington scharf. »Wenn ich mich zu etwas entschließe, halte ich mich auch daran.«

»Man sagt immer, es sei etwas unangenehm, Sir. Zu Anfang jedenfalls.«

»Pah!« Colonel Babington wischte diese Unterstellung der Schwäche beiseite. »Willenskraft, das ist alles, was man braucht. Willenskraft!« Er nickte nachdrücklich. »Natürlich ist es mühsam, das bestreite ich nicht. Aber meine Ansicht ist, dass ein Mann, der sich von einem Rauschmittel beherrschen lässt und sich nicht davon frei machen kann, überhaupt kein Mann ist. Er ist eine Maus!«

»Ich habe nie gehört«, sagte Mogridge, »dass Mäuse süchtig …«

»Eine Maus, Mogridge«, schnarrte Colonel Babington mit plötzlicher Wut. »Eine Maus, eine Maus, eine Maus!« Mit einiger Anstrengung gelang es ihm, sich zu beherrschen. »Ich habe für diese Burschen, die behaupten, dass sie das Rauchen nicht aufgeben können, nichts übrig. Überhaupt nichts habe ich für sie übrig!«

»Nun, ich habe nie geraucht«, antwortete Mogridge selbstgefällig, »darum weiß ich nicht, wie das ist, das Rauchen aufzugeben. Aber Will Watchet versucht es, und er sagt, es sei höllisch.«

Colonel Babington grunzte. »Noch nie in meinem Leben derartigen Unsinn gehört … Es ist eine leichte Unbequemlichkeit, das ist alles. Eine leichte Unbequemlichkeit!«

»Und außerdem«, fuhr Mogridge hartnäckig fort, »sagt er, dass es einen Mann um seine Selbstbeherrschung bringt.«

»Selbstbeherrschung?« Colonel Babington bebte vor Wut. »Was sonst noch? Sie werden nie finden, dass ich meine Selbstbeherrschung verliere, nur weil ich aufhöre, meine Lungen mit Tabakrauch zu verseuchen.«

»Gewiss, Sir, aber Sie sind ja noch nicht lange dabei.«

»Ich bin fast sechsunddreißig Stunden dabei, verdammt noch mal, Mogridge, und die beiden ersten Tage sind immer die schlimmsten. Nachher ist es leichter.«

»Einmal«, sagte Mogridge und starrte nachdenklich an die Decke, »traf ich einen Mann in der Eisenbahn. Der sagte, er hätte das Rauchen vor fünf Jahren aufgegeben und sehne sich immer noch nach einer Zigarette.«

Darauf wusste Colonel Babington keine Antwort. Er sah zu Mr. Datchery hinüber, der zur Bar getreten war und sich verstohlen, wie mit schlechtem Gewissen, eine Zigarette anzündete. Schnell blickte er wieder von ihm fort.

»Aber ich möchte meinen, dass er ein ungewöhnlicher Fall war«, verkündete Mogridge, der begierig seinen Vorteil wahrnahm. »Die meisten verlieren das Bedürfnis nach« – er gab vor, nachzudenken – »oh, sechs Monaten etwa.«

»Nun, ich kann nur sagen« – im Augenblick war Colonel Babington eindeutig geschlagen –, »dass ich mich schon besser fühle. Mein Appetit ist gestiegen; ich habe mehr Energie. Merken Sie sich meine Worte, Mogridge. Dieses ganze Rauchen frisst an den Nerven.« Voller Hass sah er auf Mr. Datchery und griff automatisch in seine Tasche nach dem nicht vorhandenen Zigarettenetui. Dann erkannte er abrupt die Vergeblichkeit dieses Tuns, seufzte schwer und ließ davon ab. »’n Tag, Sir«, sagte er mit unerwarteter Milde zu Mr. Datchery.

Nachdem Mr. Datchery den Gruß erwidert hatte, fragte er Mogridge, ob er ihm für ein paar Tage ein Zimmer geben könne.

»Gewiss, das geht, Sir«, antwortete Mogridge mit wässeriger Freundlichkeit. »Dann war das wohl Ihr Koffer, der mit dem Bus gekommen ist?«

Mr. Datchery bestätigte, dass er es wahrscheinlich sei. »Aber ehe ich hinaufgehe«, fügte er hinzu, »möchte ich ein oder zwei Glas Bier trinken.« Er sah Colonel Babington an. »Was nehmen Sie, Sir?«

»Sehr freundlich von Ihnen«, sagte Colonel Babington brummig, »ich trinke Guinness. Ich bin froh, dass ich das nicht aufzugeben brauche.«

»Trinken ist manchmal schädlicher als rauchen«, sagte Mr. Datchery herzlos, »von den beiden …«

»Ich muss schon sagen …« Der Colonel war offensichtlich nicht bereit, noch weitere Angriffe auf sein Selbstgefühl hinzunehmen. »Ich muss schon sagen …!«

»Also dann einen Halben Bitters«, bestellte Mr. Datchery, »und ein Guinness. Ich bin von Twelford hergewandert und habe Durst. Das hier ist ein bemerkenswert hübsches Dorf, nicht wahr?«