Antipädagogik - Ekkehard von Braunmühl - E-Book

Antipädagogik E-Book

Ekkehard von Braunmühl

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Beschreibung

Als das Buch "Antipädagogik" erschien, löste es gleichermaßen Entrüstung und Begeisterung aus. Ekkehard von Braunmühl hatte pädagogisches Denken, die Erziehung der Kinder nach vorgegebenen Zielen und erzieherischen Ehrgeiz als Ursache für den allgegenwärtigen Erziehungskrieg zwischen Erwachsenen und Kindern entlarvt. Jüngste Forderungen nach "endlich Disziplin in der Erziehung" als gesellschaftliche Notwendigkeit und der Streit um "Grenzen und Konsequenzen" zeigen, daß antipädagogische Aufklärung nichts von ihrer Bedeutung verloren hat.

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ANTIPÄDAGOGIK

Studien zur Abschaffung der Erziehung

Ekkehard von Braunmühl

Einleitung

Die Zeitschrift »Kinder« veröffentlichte im Januar 1975 (Nr. 1/75, S. 6-7) eine private Umfrage von Dina Frank zum Thema: »Eine gute Mutter, wie ist die eigentlich?«

Die Kinder, deren Alter nicht genannt und deren Namen geändert wurden (»um sie vor ihren Müttern zu schützen«), gaben vorsichtige, einsichtige, nachsichtige Antworten.

»Niemand verlangte, sie müsse jedes Versprechen halten und immer nett sein.« ~ »Keins der Kinder erwartete, daß eine gute Mutter niemals wütend wird. ›Sie muß‹, meint Thomas, ›sonst platzt sie.‹« ~ »›Sie muß verbieten‹, erklärte Peter, ›das Leben ist gefährlich.‹« ~ (Nachdem ein Kind Angst vor Tigern äußerte:) »›Eine gute Mutter schützt also ihr Kind vor Tigern‹, fragte ich. ›Wie macht sie das denn?‹›Wenn man im Zoo ist, verbietet sie, daß man in den Käfig springt.‹« ~ »Selbst das Gebot, ›wasch dir die Hände und das Gesicht‹ findet Verständnis. ›Gute Mütter‹, meint Tim mit frommem Blick, ›gute Mütter halten ihre Kinder sauber.‹ Ich war erschlagen. ›Meinst du‹, fragte ich und beäugte zweifelnd den Milch-Schnurrbart unter seiner Nase, ›soll das heißen, du wünschst dir, daß deine Mutter verlangt, daß du dich wäscht?‹ Die Ant­wort kam sehr heftig: ›Nein. Wünschen würde ich, daß sie möchte, daß ich mich nie wasche. Aber dann wäre sie eine nette Mutter, nicht eine gute.‹ Gebote gehören zu einer guten Mutter ...«

Um den Unterschied zwischen einer netten und einer guten Mutter, einem netten und einem guten Vater, Lehrer, Erwachsenen, geht es in diesem Buch. Wodurch wird dieser Unterschied gerechtfertigt? Halten sich Kinder von netten Müttern nicht sauber? Springen sie in den Tigerkäfig?

Die These dieses Buches ist, daß der Unterschied zwischen einer netten und einer guten Mutter abgeschafft, überwunden werden kann und muß. Tims scharfsinnige Differenzierung zwischen dem Erwachsenen als Mitmenschen und dem Erwachsenen als Erzieher beinhaltet eine prägnante Definition der Erziehungsideologie, die vielleicht in vergangenen Zeiten einen Sinn hatte, heute aber nicht mehr aufrecht erhalten werden kann.

Die allseits respektierte Anthropologin Margaret Mead hat (zuerst 1961) drei Kulturformen analysiert:

Die postfigurative Kultur »bezieht ihre Kontinuität aus den Erwartungen der Alten und dem Umstand, daß diese Erwartungen den Jungen fast unauslöschlich eingeprägt werden« (144, S. 27).Die kofigurative Kultur »ist eine Kultur, in der die Mitglieder der Gesellschaft ihr Verhalten nach dem Vorbild der Zeitgenossen ausrichten« (144, S. 52).Die präfigurative Kultur: »Wie ich meine, sehen die heutigen Kinder einer Zukunft entgegen, die so weitgehend unbekannt ist, daß man sie nicht, wie wir es gegenwärtig zu tun versuchen, als einen Wandel auf Generationsbasis mit Kofiguration innerhalb einer stabilen, von den Älteren kontrollierten und nach elterlichem Vorbild geformten Kultur unter Einschluß zahlreicher postfigurativer Elemente behandeln kann« (144, S. 80). »Nunmehr müssen wir offene Systeme schaffen, die sich auf die Zukunft konzentrieren ~ und damit auf die Kinder, auf diejenigen, über deren Fähigkeiten wir noch am wenigsten unterrichtet sind und deren Entscheidungsfreiheit nicht vorgegriffen werden darf. Damit anerkennen wir ausdrücklich, daß die Wege, die uns in die Gegenwart geführt haben, nicht mehr gangbar sind und nie wieder begehbar sein werden« (144, S. 108 f.).

»Erziehung« als Funktion guter, verantwortungsbewußter Erwach­sener konzentrierte sich auch früher »auf die Zukunft« und »auf die Kinder«. Der fundamentale Wandel aber, den Mead diagnostiziert, besteht darin, daß in einer präfigurativen Kultur die Erwachsenen nicht mehr wissen können, wie die Zukunft sein wird, demgemäß auch nicht mehr bestimmen können (»bestimmen« weder im beschreibenden noch im befehlenden Sinne), wie die Kinder sein sollen. Nur so viel ist klar: Der Entscheidungsfreiheit der Kinder, ihrer Selbstbestimmung darf nicht mehr vorgegriffen, die »Irreversibilität« des »Phänomens Generationslücke« (Mead, 144, S. 84) nicht länger ignoriert werden. Zwar »müssen wir erkennen, daß wir keine Nachkommen haben ~ wie unsere Kinder keine Vorfahren haben« (144, S. 96). »Aber da wir wissen, was wir nicht wissen und was sich der Prognose entzieht, können wir eine Umwelt schaffen, in der ein jetzt noch unbekanntes Kind in Geborgenheit aufwachsen und sich und die Welt entdecken kann« (144, S. 105). Während es nach Meads Typologie früher legitim war, Kinder um ihrer Zukunft willen gemäß den Vorstellungen der Erwachsenen gezielt zu beeinflussen, zu führen, ihnen Fremdbestimmung aufzuerlegen, kann heute Zukunft nur noch werden, wenn »die Jungen Eigeninitiative in vollem Umfang entfalten und den Älteren den Weg ins Unbekannte weisen können« (144, S. 110). Daraus folgt, daß in Zukunft ein Kind nicht mehr als jemand gesehen werden darf, der auf sein späteres Leben vorbereitet werden muß, sondern als jemand, der hier und heute selbstverständlich und selbstbestimmt lebt und lernt. Punktum. Margaret Meads Buch »Der Konflikt der Generationen« endet mit dem Satz: »Die Zukunft ist jetzt« (144, S. 113).

Aus einer solchen Behauptung ergeben sich einige schwerwiegende Fragen. Welche Funktion verbliebe dem Begriff »Erziehung«? Wie müßten Erwachsene sich konkret gegenüber Säuglingen und Kleinkindern verhalten? Wie wären Erwachsene zu dem geforderten Verhalten zu befähigen?

Um diese Fragen wird es im folgenden gehen. Die Behauptung, daß in Zukunft nur noch eine nette Mutter auch eine gute Mutter ist, wird begründet, die Hindernisse, die dieser Erkenntnis theoretisch und praktisch entgegenstehen, werden untersucht, ein Ansatz zu ihrer Überwindung (bzw. zur Vorbeugung) wird dargestellt. Damit dieser Versuch überhaupt sinnvoll sein kann, mit anderen Worten: damit der Anspruch dieses Buches realistische Dimensionen nicht sprengt, ist eine strikte Begrenzung der Thematik erforderlich.

Wer etwa mit der Lupe die Feinstruktur eines Kleiderstoffes untersucht und dort Fehler entdeckt und nachzuweisen trachtet, die bei geringer Belastung zur Auflösung des ganzen Gewebes führen müssen, der wird schwerlich zur gleichen Zeit ein Organ haben für die Schwärmereien eines Couturiers oder auch für die Klagen einer Kundin beispielsweise darüber, daß das Kleid ihr nicht paßt. Ihn interessieren in diesem Augenblick nicht Farbe, Muster, Preis des Stoffes, nicht Paßform, Schönheit, Originalität des Kleides.

Damit soll gesagt sein, daß dieses Buch nicht von soziologischen und auch nicht von ökonomischen Bedingungen handelt, die für Erwach­sene wie für Kinder zunächst einmal gleichermaßen Wirklichkeit sind. Ohne Zweifel haben sozialschichtenspezifische Unterschiede zwischen den Familien für die Sozialisation der Kinder allergrößte Bedeutung und ebenso sicher sind Einflüsse gesellschaftlicher Arrangements für das Leben und Lernen der Kinder von der Pädagogik lange Zeit unterschätzt worden, aber dieser »Grobstrukturen« hat sich die Sozialisationsforschung inzwischen angenommen ~ ohne an der Wirklichkeit des Umgangs zwischen den Generationen Nennenswertes ändern zu können. Gelänge aber der Nachweis, daß nur nette Eltern in einem höheren Sinne auch gute Eltern sind, daß also »Erziehung« (Fremdbestimmung) in jedem Falle in Zukunft nicht mehr vertretbar ist, wäre ein erster Schritt dahin getan, innerhalb jedweder »Grobstruktur« ~ deren Änderung logischerweise dann nicht Aufgabe der »Erziehung« sein kann ~ Kinder in einer relativ gedeihlicheren Atmosphäre aufwachsen zu lassen. (Definitiv böse oder lieblose sowie stark sozial-geschädigte Erwachsene bleiben in diesem Buch außer Betracht: sie lesen es nicht, und über Abwesende soll man nicht verhandeln.) Das objektive Unrecht, das Kindern durch den Status ihrer Eltern angetan wird, zu analysieren und zu bekämpfen, ist eine außerordentlich wichtige Sache. In diesem Buch aber geht es darum, das subjektive Unrecht, das Kindern aller Schich­ten im Namen der »Erziehung« und »Pädagogik« angetan wird, nicht unerkannt zu lassen. Der soziologischen Perspektive wird nichts von ihrer Wichtigkeit abgesprochen, wenn der individuell-psychologische Spielraum des »Erziehungsfeldes« ~ wie klein er objektiv sein mag ~ von einzelnen Subjekten in konkretem Verhalten gegenüber Kin­dern qualitativ anders genutzt würde.

Die Vermischung der Perspektiven zeugte von einem unsauberen Denken, dem man sich unter keiner von beiden anvertrauen dürfte, auch wenn man weiß, daß die Trennung der Perspektiven niemals eine absolute sein kann, weil Verhältnisse im Makrosystem immer auch das Mikrosystem betreffen, ebenso wie Veränderungen in Mikrosystemen (Stichwort: Basisarbeit) proportional zu deren Anzahl Rückwirkungen auf das Makrosystem haben, die sich bei wirklich qualitativen Veränderungen obendrein nicht in bloßen Gegenwirkungen, also Abwehrmechanismen, manifestieren können.

Obwohl diese Arbeit einen Beitrag zur Sozialisationsforschung darstellt, beschränkt sie sich auf einen kleinen Sektor der Sozialwissen­schaften (die anderen Sektoren vernachlässigend, aber nicht dis­kreditierend). Dieser Sektor umgreift im wesentlichen Systeme von Grundsatzaussagen der Fachpädagogik, der Tiefenpsychologie und der Anthropologie. Aus praktischen Gründen werden dabei die erheblichen, teils historisch, teils politisch-weltanschaulich, teils wissenschaftstheoretisch begründeten Positionsunterschiede der ein­zelnen Autoren ignoriert: Diese Unterschiede sind, so wichtig man sie auf ihrer Ebene nehmen muß, solche des Überbaus, während sich das vorliegende Buch mit Basisphänomenen befaßt, damit, was da in der Wirklichkeit mit Kindern geschieht, besonders während ihrer ersten Lebensjahre. Selbst die Erziehungsideologie ist insofern als Basisphänomen anzusehen, als sie Fundament jeder Erziehungs­konzeption ist. (Eine bestimmte Erziehungsideologie oder -konzep­tion wäre dagegen dem Überbau zuzurechnen und auf dieser Ebene zu diskutieren.) Der Pädagogikprofessor Heinrich Kupffer verwendet das Basis-Überbau-Modell in ähnlichem Sinne:

»Als pädagogischer Uberbau ließe sich das verstehen, was sich in Gestalt von formulierten Programmen, Zielen, Wesensbestimmungen, allgemei­nen Weisheiten und Begründungen für Maßnahmen - kurz: im Spre­chen überErziehung - niederschlägt, während die Basis durch die zwischenmenschliche Konstellation gebildet würde, in der sich die fak­tisch wirksame gegenseitige Einschätzung der Erziehungspartner aus­drückt« (55, S. 27).

Wie diese gegenseitige Einschätzung heute noch in aller Regel aus­sieht, ist kein Geheimnis. Nur notorische Heuchler können die fol­gende Charakterisierung bestreiten:

»Es ist blanke, naturwüchsige Anarchie, was heute um und mit und gegen Kinder vor sich geht« (H. Saussure/O. F. Gmelin in der Zeit­schrift »vorgänge«, Nr. 3/1973, S. 83).

Sogar die eingangs zitierten schönfärberischen Antworten der Kinder bestätigen diese Diagnose. Obwohl Peter weiß, daß das Leben ge­fährlich ist, traut er sich eigene Konsequenzen aus diesem Wissen nicht zu und akzeptiert die Dompteursrolle der Mutter. Die Mutter ihrerseits war offenbar nicht nur nett (indem sie das Kind auf Gefah­ren aufmerksam machte, es notfalls rettete), sondern sie war gut, sie schützte, ebenso wie Tims Mutter, durch Verbote, d. h. sie schätzte das Kind als Dressurobjekt ein. Und die gedemütigten Kinder müs­sen diese Einschätzung übernehmen, sie müssen, um nicht alles zu verlieren, Sklavenseelen entwickeln. (Tim kommt nicht auf die Idee, sich zu wünschen, daß seine Sauberkeit seine Sache wäre, er wünscht sich, daß seine Mutter möchte, daß er sich nie wäscht.)

Dies ist die Basis, die zwischenmenschliche Konstellation. Über dieser Basis mögen, als Überbau, mehr oder weniger sinnvolle Be­gründungen oder Vorwände stehen, natürlich auch wohlmeinende Absichten. In diesem Buch aber soll gezeigt werden, was hinter dieser Basis steht (teils bewußt, teils unbewußt) und durch seine All­gegenwart selbst wieder basalen Charakter angenommen hat, unabhängig davon, ob es mit dieser oder jener pädagogischen, tiefen­psychologischen, anthropologischen Begründung überbaut wird. Eine andere Frage, die im folgenden stark vernachlässigt wird, ist die der Altersunterschiede von Kindern. Pädagogische Bücher, besonders solche mit detaillierten Ratschlägen, müssen dem Alter der Kinder (also Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie) naturgemäß größte Beachtung schenken. Unternimmt man aber ~ mit Heinrich Kupffer: »einen Angriff auf eines der letzten Tabus, die sich der moderne Mensch noch bewahrt hat: das Tabu, einen anderen erziehen zu dürfen« (130, S. 29), so ist es nur logisch, wenn man der Altersfrage wenig Beachtung schenkt. (Entsprechend wenig beachtet die Antipsychiatrie Unterschiede der »Krankheits«-Bilder ihrer Patienten ~ ich verweise hier nur auf David Coopers Buch »Psy­chiatrie und Antipsychiatrie«, 46.) Es gibt aber einen Anlaß, bei ihr dennoch zu verweilen. Während Kupffer in seinen Schriften ohnehin stets von »Jugend« spricht ~ »Dieses Buch will zeigen, daß die Jugend kein ›Gegenstand‹ der Pädagogik sein kann« (130, S. 8) ~ und sich auf Altersdifferenzierungen an keiner Stelle einläßt, hat sein Kollege Hartmut v. Hentig in einem Vortrag »Jugend ~ Oder: Die Unzuständigkeit der Pädagogik« (abgedruckt in der Zeitschrift »Neue Sammlung«, Heft 6, November/Dezember 1974, S. 492 bis 517) die Meinung vertreten, Jugend sei »nicht mehr Objekt von Pädagogik« (S. 493), wobei das »mehr« nicht heißt, sie könne es heute nicht mehr sein (obwohl v. Hentig sich auch auf Mead beruft; S. 499, 504), sondern sich auf das individuelle Alter bezieht:

»Der Pädagoge weiß, daß er das Kind spätestens mit dem 14. Lebensjahr in seiner Selbständigkeit nicht mehr fördern kann, wenn er ihm nicht auch Selbständigkeit gewährt. Er kann es zwar weiter belehren, beraten, disziplinieren, anregen, darf es aber nicht durch ›pädagogische Maßnahmen‹ um der Selbständigkeit willen von der Selbständigkeit ausschließen. Seine spezifische Funktion endet hier: sie hebt sich selbst auf« (S. 493).

Diese Ansicht ist unter Pädagogen, unter allen Erwachsenen, heute noch weit verbreitet. Sie bleibt jedoch an der Oberfläche, schränkt den Begriff »Selbständigkeit« auf seine Handlungskomponente ein (ignoriert seine Motivkomponente: das Ideal pädagogischen Denkens ist der Zögling, der selbständig tut, was andere wollen), übersieht, was in diesen 14 Jahren in der Seele des Kindes angerichtet wurde. Der Vorsatz, Kinder irgendwann in die Selbständigkeit zu entlassen,hebt sich tatsächlich, aber ganz anders als v. Hentig es meinte, selbst auf: Wer den Status als Objekt von Fremdbestimmung zu Beginn seines Lebens hinnehmen, verinnerlichen mußte, kann später zwar Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben, Entscheidungen treffen und eine respektierte Persönlichkeit werden, aber immer zahlt er einen hohen Preis dafür: Er muß »sich zusammennehmen«, um »sich nicht zu vergessen«, er muß »sich beherrschen«, um nicht »aus der Haut zu fahren«, er muß »um Haltung ringen«, um nicht »den Kopf zu verlieren«, er muß versuchen, »zu sich selbst zu finden«, um zu erfahren, »was er eigentlich will« er muß »sich selbst in der Hand behalten«, um nicht »die Kontrolle über sich zu verlieren«, umgekehrt muß er zum Beispiel Alkohol trinken, um »sich gehenlassen zu können«, »sich zu entspannen«, einmal »aus sich herauszugehen«, insgesamt muß er sein Leben so einrichten, daß ihm Ventile und Objekte zur Verfügung stehen, mit deren Hilfe und auf deren Kosten er »sich abreagieren« kann.

In allen diesen Redensarten drückt sich das Problem des »Selbst« aus, für das es keine endgültigen Formulierungen gibt, weil der Mensch ~ objektiv ~ immer auch als bloße Summe aller seiner Bedingungen definiert werden kann, als »Produkt« von Anlage und Umwelt. Solcher Definition ist jede Subjektivität nur Schein oder Erkenntnisschwäche ~ eine Problematik, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch völlig ungelöst ist, deshalb hier nicht verfolgt werden kann. (Einen vielversprechenden Ansatz zur Durchbrechung monadologischer Zirkelargumentationen bieten Laing/Phillipson/Lee, 136; zum »subjektiven Faktor« wichtig besonders: Klaus Horn, 116.) Wiederum aus praktischen Gründen, schon weil auch die »erziehenden« Erwachsenen gleichermaßen nur als »Produkte« angesehen werden können, wenn sie, objektivistisch (fatalistisch) die Kinder als solche betrachten, verbleibt dieses Buch weitgehend im klassischen Rahmen der Trennung von Selbst und Anderen (ego und alter), legt freilich auf die Beziehungen zwischen ihnen entscheidenden Wert. Eine Untersuchung dieser Beziehungen zeigt, daß die Versuche des Einzelnen, sein psychisches Gleichgewicht mit Hilfe und auf Kosten anderer zu stabilisieren, zunehmend scheitern: psychosomatische Krankheiten wüten wie eine Seuche. Und in der Tat ist die Seuche ansteckend, denn jedes Kind, das in diese Atmosphäre geboren, zum Objekt erzieherischer Ansprüche degradiert und sich selbst entfremdet ~ genauer gesagt: entselbstet ~ wird, findet sich gezwungen, das übliche Spiel des Sichterrorisierenlassens und seinerseits Terrorisierens (sogar sich selbst) mitzuspielen und neigt später dazu, in berechtigter Unschuld seine ebenso berechtigte Unzufriedenheit auf äußere Gründe (die Zustände, das System, die anderen, die Natur des Menschen, das Schicksal) zurückzuführen. Je vollständiger ein Mensch entselbstet (depersonalisiert) wurde, desto aussichtsloser sucht er in sich selbst nach etwas Eigenem, desto schwerer fällt es ihm, auch vor sich selbst die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, desto konsequenter mißtraut er sich selbst und allen anderen, desto intoleranter, pädagogischer, totalitärer ist sein Denken. Sogar das Spiel mit Utopien wird ihm blutiger, unfruchtbarer Ernst. In der präfigurativen Kultur ist er, unabhängig von seinem sozialen Status, zur existentiellen Hilflosigkeit, zur Rolle des Opfers ver­dammt.

Der Soziologe George Duveau hat einmal die Frage gestellt:

»Kann die Geschichte nicht als das Psychodrama anmuten, mit dessen Hilfe viele Individuen ihre Neurosen heilen zum großen Schaden einer Gesellschaft, die durch ein derartiges Spiel aus den Fugen gerät?« (161, S. 417).

Aber die Neurosen sind hartnäckiger, das Spiel bleibt Ernst, nicht nur im jeweils privaten Bereich. Wir Deutschen können noch nicht vergessen haben, wie schwer es ansonsten ehrenwerten Menschen in bestimmten Situationen fällt, Widerstand gegen den irrationalen Appell an die verinnerlichten Instanzen von Vater und Mutter (durch Führer und Partei) zu leisten, auch wenn alles Ehrenwerte ohne die­sen Widerstand verloren ist. Je unvorhersehbarer die Zukunft wird, desto vorhersehbarer werden Katastrophen großen Stils, wenn es nicht gelingt, Menschen aufwachsen zu lassen, die nicht vor jeder Schwierigkeit kapitulieren, nicht zu infantiler Hilflosigkeit oder infantilem Größenwahn regredieren, deren Identität nicht so labil, weil im Kern gebrochen ist, deren Selbstachtung nicht so total von den Launen der Umgebung abhängig ist, deren Vernunft und Menschlichkeit nicht aus äußerlicher Tünche besteht, die nach jedem kleinen Regenguß mühsam ausgebessert werden muß (und in einem großen Regen ganz verschwindet), sondern deren Vernunft und Menschlichkeit organisch von innen wachsen konnten. Mit der entsprechenden Intention hat George Duveau seine Schlußfolgerung formuliert:

»Es muß eine Pädagogik geschaffen werden, die dem Menschen ermöglicht, sich der Geschichte zu widersetzen« (161, S. 424).

Es wird zu zeigen sein, daß eben dies unmöglich ist. H. v. Hentig definiert in dem oben genannten Vortrag (S. 493):

»Pädagogiksoll heißen: Maßnahmen, die unselbständigen Menschen helfen, selbständig zu werden, wobei Selbständigkeit nicht absolute Unabhängigkeit bedeuten kann, sondern immer nur die in dieser Gesellschaft mögliche Autonomie. Sie kann auf verschiedenen Gebieten in verschiedenem Alter erreicht werden.«

Wenn diese Definition gültig ist (anerkannt ist sie fast durchgängig), dann gilt es, Duveaus Forderung anders zu formulieren. Es muß nicht irgendeine Pädagogik geschaffen werden (die unselbständigen Menschen hilft, selbständig zu werden, und sie gerade durch diesen Vorsatz unablässig demütigt), damit der Mensch sich der Geschichte widersetzen kann, sondern es muß die überholte, die gestrige, die pädagogische Interpretation von »Selbständigkeit« und »Selbst« zurückgewiesen werden. Wenn man sich schon in die geschichtliche Dimension begibt, darf man in pädagogischen Vorurteilen (die von der Geschichte hinreichend widerlegt sind) nicht steckenbleiben. Eher wäre aus der Geschichte ein Auftrag herauszulesen, der heute, spätestens heute, dahin lauten muß, sich der Pädagogik, der Erzie­hungsideologie zu widersetzen. H. v. Hentig sagte:

»Die These dieses Referats war: daß die Pädagogik für den Konflikt der Generationen nicht zuständig ist, ihn nicht nur nicht heilen kann, son­dern geradezu produziert. Die Pädagogik verführt die Erwachsenen, an den Jugendlichen fortzusetzen, was sie an den Kindern getan haben: eine Lenkung des Willens, wie man es neutral, eine pädagogische Manipulation, wie man es häßlich bezeichnen kann. Setzen die Erwachsenen dies fort, versäumen sie ihre jetzt fällige pädagogische Rolle: nicht päd­agogisch, sondern sie selbst zu sein, ihre Sache zu tun und darin ein glaubwürdiges Vor- oder Gegenbild zu geben; sie begegnen dem Jugend­lichen nicht als selbständiger Person ~ wonach er in diesem Stadium doch am meisten verlangt« (S. 512).

In dieser Aussage ~ und in v. Hentigs Schriften überhaupt ~ bleibt ungefragt, warum die Pädagogik, die den Konflikt der Generationen »geradezu produziert«, gegenüber jüngeren Kindern (das heißt konsequenterweise immer auch: gegenüber Säuglingen) irgendeine Berechtigung hat, warum Erwachsene gegenüber jüngeren Kindern nicht »sie selbst«, nicht glaubwürdig sein sollen. (Sieht man von v. Hentigs Altersdifferenzierung ab, drückt sich das Dilemma eines Pädagogen, der seine antipädagogische Einstellung noch glaubt verbergen zu sollen, sehr hübsch aus in der Formulierung der »pädago­gischen Rolle: nicht pädagogisch ... zu sein«.) Die Vorstellung, die irreversible Generationslücke (Mead) beginne erst in irgendeinem Alter zu klaffen, kann nicht aufrecht erhalten werden. Es widerspricht jeder Psycho-Logik, relativ wehrlose Kleinkinder mit pädagogischen Manipulationen zu terrorisieren, dadurch Selbständigkeit zu verneinen und ein Selbst, das da stehen könnte, unmöglich zu machen, sich anschließend aber aus der Affäre zu ziehen, weil Jugendliche sich pädagogische Manipulationen nicht mehr gefallen lassen. Be­fragt man diese Einstellung (die Hartmut v. Hentig persönlich gar nicht hat, nur aus pädagogischer Tradition theoretisch vertritt) auf ihre Motive, so kommt, wie zu zeigen sein wird, als ein wesentliches die Feigheit zum Vorschein. Aus welchem anderen Grunde gilt es in weiten Erzieherkreisen als unschicklich, Jugendliche noch zu schlagen, während Kleinkinder weiterhin mindestens mit Klapsen dressiert werden?

Konsequenter denkt Margaret Mead, wenn sie fordert:

»Statt des aufrechten Alten im Silberhaar, der in der postfigurativen Kultur Vergangenheit und Zukunft in all ihrer Größe und Kontinuität vertrat, muß das ungeborene, das bereits empfangene, aber noch im Mutterleib ruhende Kind zum Symbol des zukünftigen Lebens werden« (144, S. 104).

Nimmt man diese Forderung ernst, dann darf pädagogisches Denken (das, mit v. Hentig »neutral« gesagt, »eine Lenkung des Willens« ~ konkret also Gehirnwäsche ~ anzielt) in einer präfigurativen Kultur zu keiner Zeit eine Rolle spielen. Allerdings, dieses Postulat stößt auf erhebliche Widerstände. Ihnen wird nachzugehen sein. Ausgangspunkt ist die generalisierte Annahme v. Hentigs: »die Ein­passung der Jugendlichen (bereits der Säuglinge; EvB) in das System ist nicht die Lösung, sondern das Problem« (a. a. O., S. 512).

Paul Watzlawick, John H. Weakland und Richard Fisch sagen über das »moderne Pseudoproblem der Generationenlücke« :

»Die unangenehmen und oft entmutigenden Reibungen zwischen der älteren und der jüngeren Generation bestehen seit längster Zeit und sind immer wieder der Gegenstand erstaunlich stereotyper Klagen. (Anmerkung: Auf einer babylonischen Tontafel, deren Alter auf mindestens 3000 Jahre geschätzt wird, steht zu lesen: ›Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein, wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten.‹) Wenn es der Menschheit aber im Laufe der Jahrtausende nicht gelungen ist, dieses ewig aktuelle Problem zu lösen, so muß angenommen werden, daß es wahrscheinlich keine Lösung hat. Heutzutage aber hat sich eine genügend große Anzahl von Personen davon überzeugt, daß die Generationenlücke geschlossen werden kann und muß. Diese Überzeugung, und nicht die Generationenlücke selbst, ist nun für eine Unzahl von Problemen verantwortlich, vor allem durch die Verursachung einer verschärften Polarisierung zwischen den Generationen, während vorher nur eine lästige Schwierigkeit bestand, mit der man anscheinend zu leben gelernt hatte. Da die Polarisierung nun aber einmal in Gang gebracht ist, ›überzeugen‹ sich mehr und mehr Menschen davon, daß mehr zu ihrer Lösung getan werden muß. ›Mehr desselben‹ ist ihr Rezept für diese erwünschte Veränderung, und damit wird die ›Lösung‹ zum Problem« (211, S. 53 f.).

Wenn »Erziehung« und »Pädagogik« (es gibt zu viele verschiedene Definitionen dieser Begriffe, als daß es praktisch wäre, sich für eine zu entscheiden. Im üblichen Sprachgebrauch gilt »Pädagogik« als Handlungslehre im Dienste von »Erziehung« als einem Prozeß. Wichtig sind nur zwei Abgrenzungen: Seit sich der Begriff »Sozialisation« für das Gesamt der bewußten und unbewußten, »intentionalen« und »funktionalen« Lern- und Lehrvorgänge weitgehend durchgesetzt hat ~ eine Ausnahme bildet Heinrich Kupffer ~, wird der Begriff »Erziehung« von fast allen Erziehungswissenschaftlern für die geplante, zielgerichtete, letztlich fremdbestimmte Veranstaltung von Erwachsenen reserviert. Damit hebt er sich ab vom Lernen der Kinder als deren Aktivität, der gegenüber sich Erwachsene rein mitmenschlich ~ nett ~ einstellen können) ~ wenn »Erziehung« und »Pädagogik« nicht die Lösung für das Generationenproblem sind, sondern dessen Ursache, läßt sich das Problem nicht auf der pädagogischen Ebene überwinden. Mit Watzlawick u.a. muß man sich »gegen die versuchte Lösung und nicht gegen die Schwierigkeit selbst« (211, S. 103) richten, um zu einer »Lösung zweiter Ordnung« zu kommen:

»1. Lösungen zweiter Ordnung werden auf Lösungen erster Ordnung angewandt, wo diese nicht nur keine Lösung herbeiführen, sondern selbst das zu lösende Problem sind.

2. Während Lösungen erster Ordnung sich meist auf ›gesunden Men­schenverstand‹ gründen (zum Beispiel auf das ›mehr desselben‹-Rezept), scheinen Lösungen zweiter Ordnung häufig absurd, unerwartet und vernunftswidrig; sie sind ihrem Wesen nach überraschend und paradox.

3. Daß Lösungen zweiter Ordnung sich auf problemerzeugende Pseudolösungen beziehen, bedeutet ferner, daß damit die zu lösenden Probleme jetztund hier angegangen werden. Was dabei verändert wird, sind die Wirkungen und nicht die vermeintlichen Ursachen der betreffenden Situation: die entscheidende Frage ist daher was? und nicht warum?

4. Lösungen zweiter Ordnung heben die zu lösende Situation aus dem paradoxen, selbstrückbezüglichen Teufelskreis heraus, in den sie die bisherigen Lösungsversuche geführt haben, und stellen sie in einen neuen, weiteren Rahmen« (211, S. 105).

Bisher hat sich unter den Fachpädagogen in Deutschland am konse­quentesten Heinrich Kupffer in diesen neuen, weiteren Rahmen gestellt und über »Pädagogik« und »Erziehung« »auf einer anderen Ebene«, »auf der Metastufe« (Kupffer, 55, S. 18) reflektiert, hält allerdings am Terminus »Erziehung« fest und hat erst spät die Analogie von »Antipsychiatrie und Antipädagogik« (so der Titel seines Aufsatzes in der Zeitschrift »Die Deutsche Schule«, Nr. 9/1974, S. 591-604) vollzogen. Aber Kupffer ist unabhängig von der Be­griffswahl tatsächlich aus der Ebene des erzieherischen Denkens ausgebrochen und argumentiert auf der Meta-Ebene antipädagogisch. Beispielsweise nennt er die Frage des Erziehers »Was soll ich tun?« »falsch gestellt« (129, S. 91), bestreitet der Erziehung »die Aufgabe, junge Menschen zu verändern« (55, S. 19); die ~ durch und durch pädagogische ~ Frage: »Wie beeinflusse ich den anderen am wirksamsten?« nennt er »unpädagogisch«, löst sie durch seine Frage: »Wer ist der andere, wo befindet er sich, in welcher basalen Konstellation tritt er mir gegenüber?« ab, die er freilich als »pädagogisch« bezeichnet (55, S. 28 f.), obwohl sie sich immer stellt, nicht speziell nur im »Erziehungsfeld«. Weiterhin erklärt Kupffer: »Kritische Pädagogik« (heute würde er sicher »Antipädagogik« sagen) »würde das gesamte Problem der Erziehungsziele, Erziehungsmittel und Erziehungsmaßnahmen nicht lösen, sondern auflösen« (55, S. 37). »Ein Umgang zwischen Älteren und Jüngeren dürfte vielleicht künftig nur auf der Basis einer völligen Entpädagogisierung möglich sein« (130, S. 177).

Diese wenigen Beispiele zeigen deutlich genug, daß Antipädagogik nicht eine Alternativlösung auf der Ebene des Anspruchs Erwach­sener, Kinder irgendwohin zu erziehen (also auf der Ebene der Erziehungsideologie) sein kann, sie wendet sich folgerichtig auch gegen die »antiautoritäre« Variante dieser Ideologie:

»Antipädagogik heißt nicht Befürwortung einer antiautoritären Erziehung, weil sie erkennt, daß diese die Machtstrukturen selbst im Grunde nicht aufhebt« (Kupffer, »Antipsychiatrie und Antipädagogik« , a. a. O., S. 604).

(»Keine Aussage, die innerhalb eines Bezugssystems gemacht wird, kann gleichzeitig sozusagen aus diesem System heraustreten und sich selbst negieren. ... denn nichts innerhalb eines bestimmten Rahmens hat die Macht, den Rahmen selbst zu verneinen.« Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don D. Jackson, 210, S. 188)

In der heutigen Zeit, in der die Pädagogik wie ein Krebsgeschwür in immer neue Lebensbereiche hineinwuchert, entstehen natürlich komplizierte Verständigungsprobleme, wenn man sich dergestalt zwischen alle pädagogischen Stühle setzt. Die folgenden Kapitel bleiben mit Sicherheit unfruchtbar, wenn der Leser z. B. Rat und Hilfe sucht, aber den Anspruch, gegenüber Kindern und Schülern doch seinen Kopf durchzusetzen, nicht aufgibt. Innerhalb des durch diesen Anspruch ausgefüllten Rahmens bleibt das pädagogische Tun im Sinne von Watzlawick u. a. ein »Spiel ohne Ende«: Druck erzeugt Gegendruck, der Druck wird verstärkt, und so fort. Ebenso erzeugt Fremdbestimmung Abhängigkeit, rechtfertigt Abhängigkeit, zirkelschlüssig, Fremdbestimmung, und so fort ~ und die dann in die sogenannte Selbständigkeit entlassenen Jugendlichen binden sich an Rauschmittel aller Art: folgerichtig macht die Andragogik (vgl. z. B. Brim/Wheeler: »Erwachsenen-Sozialisation«, 39) rasche Fort­schritte. Nur die Menschen nicht. Ein Spiel ohne Ende.

»Spiele ohne Ende ... sind genau das, was der Ausdruck besagt: sie sind in dem Sinne endlos, als sie keine Vorkehrungen für ihr Aufhören enthalten. Aufhören, wie Erwachen aus einem Traum, ist nicht Teil des Spiels selbst, ist nicht ein Element dieser Gruppe; Aufhören ist meta zum Spiel, es hat einen anderen, höheren, logischen Abstraktionsgrad als irgendein regelbedingtes Ereignis innerhalb des Spiels« (Watz­lawick u.a., 211, S. 41 f.).

Mit dem Erziehen aufzuhören, aus diesem Alptraum aufzuwachen, dieses Spiel ohne Ende von außen zu betrachten und zu beenden, ist deswegen eine so schwierige Aufgabe, weil es in unserem Kulturkreis kaum Menschen gibt, die sich mit den Regeln dieses Spiels nicht anfreunden mußten, die diesen Traum nicht mit dem Leben verwechseln, die nicht felsenfest davon überzeugt sind, es wäre nicht gut, einfach nett zu sein. Deswegen kann sich dieses Buch nur an Menschen wenden, die unter diesem Spiel wenigstens noch zu leiden vermögen, nicht an die, wie man sagen könnte: total erfolgreich Erzogenen, welche diese Not in der Regel als Tugend ausgeben. »Im Letzten können Bücher sowieso nur ins Bewußtsein heben, was man insgeheim ohnehin schon weiß ~ und sich nur nicht getraut hat, es selber zu denken« (Saß, 186, S. 32). Denn »wir verstehen nur das, was in seiner Grundstruktur uns bereits ~ das heißt: auf Grund unserer eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen ~ vertraut ist« (Wellendorf, 212, S. 52). Der Unterschied zwischen Lernen und Erziehung, zwischen netten und guten Menschen, zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung ist jedermann vertraut. Aber die allgemeine Unsicherheit zu Beginn einer absolut neuen Kulturform erlaubt nur dem Mutigen, selber zu denken, was er insgeheim schon weiß.

Daß sich weniger Menschen als bisher von sogenannten Fachleuten den Schneid abkaufen lassen, ist die Hoffnung dieses Buches. Sie richtet sich einerseits auf die noch ungeborenen Kinder, andererseits auf die Eltern, die noch keine sind. Vielen von ihnen ist eine heute noch utopisch erscheinende Qualität des Lebens und Zusammenlebens zu ermöglichen, wenn es gelingt, ihnen erkennbar zu machen, daß kein rationaler Grund sie zwingt, in das Erziehungsspiel ihrerseits aktiv einzutreten.

Dieser ~ prophylaktischen ~ Absicht dienen die folgenden Kapitel. Zunächst wird ein Alternativvorschlag zu den gegenwärtigen Programmen der »Erziehung zur Erziehung« unterbreitet. Im Zentrum stehen Analysen der (objektiven) Kinderfeindlichkeit und des Kinderwunschmotivs Jugendlicher. In den Kapiteln 2 und 3 werden die »pädagogische« und die »therapeutische« als konträre Einstellungen analysiert und definiert. Das wichtigste Resultat liegt in der ver­blüffenden Feststellung, daß Psychotherapeuten der bereits erkrankten Seele entschieden mehr Kraft zutrauen und Eigeninitiative zubilligen als Pädagogen der noch nicht erkrankten. Kapitel 4 versucht zu klären, warum die gestrige Erziehungsideologie ihre menschen­feindliche Herrschaft so ungebrochen ausüben kann, obwohl die Sozialwissenschaften in den letzten Jahren massenhaft (wenn auch untereinander noch wenig verbunden) Erkenntnisse und Theorien geliefert haben, die das pädagogische Denken ad absurdum führen. Kapitel 5 untersucht die andere Seite der Medaille, den Gegenpol der pädagogischen Ambition Erwachsener, und postuliert einen Autonomieanspruch der Kinder (von Anfang an). Das 6. Kapitel dürfte für Vollblutpädagogen am schockierendsten sein. Mit Hilfe bestimmter Differenzierungen moderner kommunikationstheoretischer Aussagen wird der Nachweis erbracht, daß spezifisch pädago­gische Akte (für sich genommen) stets das Gegenteil des Beabsichtigten erreichen. In den letzten drei Kapiteln werden die wichtigsten bis dahin aufgetauchten Fragen ansatzweise beantwortet, soweit sie nicht Handlungsanweisungen gelten, sondern Konsequenzen der antipädagogischen Einstellung betreffen. Dabei steht im letzten Kapitel der Vorschlag des ersten noch einmal im Vordergrund, Jugendlichen Informationen über die Konsequenzen ihrer Einstellung gegenüber Kindern nicht länger vorzuenthalten. Aber Handlungsanweisungen werden auch hier nicht gegeben. Die antipädago­gische Einstellung ist unteilbar. Sie riskiert es, einerseits aus Prinzip, andererseits (bezüglich dieses Buches) weil der Autor erst seit zehn Jahren konkrete Erfahrungen mit ihr sammelt, viele Fragen offenzulassen. Es hat sich aber immer wieder gezeigt, daß, wer die antipädagogische Einstellung verstanden hat, solche Fragen selbst beantwortet. Fremde Antworten (nicht Informationen und Ideen) auf existentiell bedeutsame Fragen sind letztlich immer schlechter als gar keine. Die eigentlichen Studien, nach den folgenden Vorar­beiten, müssen dem Leser anheimgestellt bleiben ~ schon weil er die Verantwortung für grundgesetzwidriges Tun (Erziehungsrecht und -pflicht der Eltern sind z. B. in Art. 6, Abs. 2 GG verankert) nur selber tragen kann.

»Erziehung zur Erziehung«?

Notwendigkeit, Probleme, Chancen eines schulischen Beitrags zur Vorbereitung auf die Elternschaft

Bestandsaufnahme

Schon lange ist es kein Geheimnis mehr, daß mit der Elternrolle gewisse Probleme verbunden sind. Wilhelm Buschs Stoßseufzer aus dem »Julchen«, 1877: »Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr«, entsprang sicher schon damals nicht einer neuen Erfahrung, und wenn auch das Mutterwerden um einiges schwerer ist, so wird doch dadurch das Muttersein um nichts leichter. Trotzdem gilt es bis in unsere Tage hinein weithin als schiere Selbst­verständlichkeit, daß die Elternrolle nicht eigens erlernt zu werden braucht. Dadurch werden den Heranwachsenden objektive Krite­rien, mit denen sie ihre Eignung zur Elternschaft prüfen könnten, vorenthalten. In den zahllosen, auch den diskutablen Schriften zur Sexualaufklärung wird die ~ dann natürlich erwünschte ~ Schwangerschaft zur Grenze der Information, wie die Unterhaltung in einem Hollywoodfilm mit der Hochzeit endet. Durchgängig gibt es keine Hilfestellung bei der Entscheidung, ob eine Schwangerschaft ge­wünscht wird oder nicht. Der Kinderwunsch ist eine tabuähnlich respektierte Privatangelegenheit.

Exemplarisch sei dies dargestellt anhand der Broschüre »Jedes Kind hat ein Recht erwünscht zu sein«, die 1973/4 im Auftrag des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit von der Bundeszentrale für gesund­heitliche Aufklärung in Köln herausgegeben wurde. Diese 24 Seiten starke, großformatige, aufwendig gedruckte Broschüre, die in einer Auflage von 4 Millionen Exemplaren verteilt wurde, gibt Auskunft über Verhütungsmittel, die Entstehung einer Schwangerschaft usw. Es werden sogar Gründe erwähnt, »die dafür sprechen, mit einem Kind zu warten«: Ausbildung, Berufstätigkeit und Karrierestreben, sowie »Ziele« und »Wünsche« seien solche Gründe. Dann folgt:

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