Der heimliche Generationenvertrag - Ekkehard von Braunmühl - E-Book

Der heimliche Generationenvertrag E-Book

Ekkehard von Braunmühl

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Beschreibung

Über nichts machen sich Erwachsene mehr Illusionen als über Kinder. Dabei haben sie selber an Leib und Seele erfahren, was es bedeutet, ein Kind zu sein. In Bezug auf Kinder sind sie Experten und Betroffene zugleich. Darum geraten sie fast zwangsläufig in Unsicherheit, häufig sogar in Streit miteinander, wenn es um die richtige Behandlung von Kindern geht. Dieses Buch zeigt aus einer distanzierten Position, welche Funktion Kinder für Erwachsene tatsächlich haben. Es lüftet den Schleier, den die vielen "offiziellen" Willensbekundungen über die wirkliche Rolle der Kinder gelegt haben. Es enthüllt den Heimlichen Generationenvertrag. Dieser verhindert, solange er nicht durchschaut ist, wirksamer als alle Irrtümer oder "Erziehungsfehler", dass Erwachsene und Kinder zu einem fairen "Vertrags"verhältnis finden und sich wirklich gut: vertrag-en.

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Seitenzahl: 449

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Der heimliche Generationenvertrag

Jenseits von Pädagogik und Antipädagogik

Ekkehard von Braunmühl

Zu diesem Buch

Während noch die Pädagogen und mit ihnen viele Eltern an der althergebrachten Meinung festhalten, daß Kinder grundsätzlich erziehungsbedürftig sind, mehren sich die Stimmen, die davon ausgehen, daß Kinder wie Erwachsene weder Zucht noch Zwang und Gehorsam, noch Lenkung oder »Lektionen fürs Leben« benötigen.

Der Autor dieses Buches, Ekkehard von Braunmühl, ist aus diesem Streit ausgestiegen und dabei ganz woanders angekommen. Der Frage nachspürend, aus welchen Gründen das aufgeregte Für und Wider so unentschieden hin- und herwogt, machte er eine Entdeckung, die er in diesem Buch darstellt: Jenseits von Pädagogik und Antipädagogik, aber gleichwohl ständig präsent, Alltag sozusagen, alltäglich und überall vorhanden, wirkt der heimliche Generationenvertrag.

Gegenstand dieses Vertrags sind die besonderen, oft nicht durchschauten Spielregeln im Umgang zwischen den Generationen. Ekkehard von Braunmühl geht es ums Verstehen und Verständigung. In einer Revision der gängigen Argumente in der bisherigen Konfrontation setzt er seine Diskussionserfahrungen gegen verbreitete Mißverständnisse, die sich, auf oft erstaunliche Weise, auflösen.

Überhaupt ist diese Entdeckungsreise durch das unbekannte Terrain des Generationenvertrags voller Überraschungen.

Ekkehard von Braunmühl, Jahrgang 1940, ist Freier Publizist. Er veröffentlichte u. a. die Bücher »Antipädagogik« und »Zeit für Kinder – Theorie und Praxis von Kinderfeindlichkeit, Kinderfreundlichkeit, Kinderschutz«.

Vorwort

Dieses Buch handelt vom Verhältnis zwischen den Generationen, genauer: von den Beziehungen zwischen sogenannten Volljährigen (»Erwachsenen«) und sogenannten Minderjährigen (»Kindern«). Es stellt, hochtrabend gesagt, eine sozialwissenschaftliche Entdeckung dar. Bescheidener ausgedrückt weist es auf einige Tatsachen hin, die für das Zusammenleben von Erwachsenen und Kindern – privat/persönlich ebenso wie gesellschaftlich/politisch – von Bedeutung sind, ohne die dieser Bedeutung angemessene Beachtung zu finden.

Um dieses Buch verstehen zu können, ist es nicht nötig, in der Auseinandersetzung zwischen »Pädagogik« und »Antipädagogik« auf dem Laufenden zu sein. Vielleicht sind sogar diejenigen Leserinnen und Leser im Vorteil, die von diesem Streit noch nichts gehört haben. Denn sie können noch nicht Partei ergriffen, d. h. sich bewußt auf die eine oder die andere Meinung festgelegt haben, so daß ihnen ein möglichst unvoreingenommener Blick auf die im Folgenden zu »enthüllenden« Tatsachen und Zusammenhänge erleichtert werden dürfte.

Entdeckungen oder Enthüllungen sind immer mit einem Moment der Überraschung verbunden. Und dies muß nicht unbedingt angenehm sein. Es kommt auf die Situation an: Wer in eine Gletscherspalte eingebrochen ist, wird sicherlich gerne entdeckt, anders dagegen, wer in eine Bank eingebrochen ist.

Damit alle Leser/innen beurteilen können, welche Art von Überraschung sie in diesem Buch erwartet (um sich gegebenenfalls vor Unangenehmem zu schützen, d. h. die Lektüre rechtzeitig abbrechen zu können), soll hier kurz geschildert werden, was der Zweck dieses Buches ist. In der Einleitung wird dann gezeigt, wie es zu diesem Zwecke vorgeht.

Zweck dieses Buches ist es, den Gegensatz zwischen »Pädagogik« und »Antipädagogik« überwindbar zu machen, der spätestens seit dem Publikumserfolg der »antipädagogischen« Schriften der Schweizer Psychoanalytikerin Alice Miller aufgebrochen ist (siehe vor allem Miller 1980). Wer die entsprechende Diskussion einigermaßen überblickt, muß feststellen, daß sie trotz einiger versöhnlicher Klärungsversuche (siehe z. B. Prior 1984 und v. Schoenebeck 1985 a) in eine Sackgasse geraten ist.

»Der Mensch hat heute seinen Weg in den Ideologien verloren.« Dieser Satz des Gehirnforschers John C. Eccles (Nobelpreis 1963) aus dem Buch »Das Wunder des Menschseins« (Eccles/Robinson 1985, S. 230) kennzeichnet nicht nur die allgemeine Lage; auf die Auseinandersetzungen um das Streitobjekt Kind trifft er augenscheinlich in besonderem Maße zu. Alle Eltern meinen es gut mit ihren Kindern, alle Lehrer/innen meinen es gut mit ihren Schülerinnen und Schülern, alle Politiker/innen meinen es gut mit der Jugend, alle Wissenschaftler/innen ebenso. Gerade deswegen wird der Streit um die richtige Behandlung von Kindern so heftig geführt. Es genügt nicht, daß man tut, was man jeweils selbst für angemessen hält, es soll auch objektiv »das Beste« sein, das Beste für das Kind, selbstverständlich. »Das Wohl des Kindes« ist die anerkannte Leit- und Leerformel, über deren Inhalt die Erwachsenen mit Eifer – und nicht selten eifernd – debattieren. Ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß eine Art publizistischer Glaubenskrieg um die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern geführt wird, der hoch emotionalisiert, ideologisiert und polarisiert ist. Eine Einigung erscheint unmöglich. Oder auf welche Weise könnte wohl zwischen dem fordernden »Zum Teufel mit der Kindheit« (J. Holt) und dem bedauernden »Das Verschwinden der Kindheit« (N. Postman), zwischen »Mut zur Erziehung« (Bonner Forum 1978) und »Abschaffung der Erziehung« (z. B. A. Miller) vermittelt werden? Zwar erzwingt der konkrete Alltag auf allen Seiten die üblichen (oft »faulen«) Kompromisse, doch stellen diese ein Ende des Meinungsstreites nicht in Aussicht. Viele Bemühungen um Verständnis und Verständigung ersticken in Konfrontation und Wortklauberei.

In dieser Lage bietet die Entdeckung des »Heimlichen Generationenvertrages« (HGV) die Chance, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden. Eine fruchtbare Diskussion ist auf der bisherigen Basis (Stichwort: Glaubenskrieg) kaum denkbar. Der Autor hat sich deshalb seit seinem letzten Buch (1978) darum bemüht, eine neue Basis zu erkunden, deren Weiterentwicklung (es handelt sich hier fraglos um langfristige Prozesse) wieder eine Verständigung zwischen Menschen unterschiedlicher Grundüberzeugungen möglich zu machen verspricht.

Dieses Buch will also der Verständigung dienen. Dazu war es erforderlich, eine Reihe von Illusionen zu überwinden, die nicht nur von den beiden genannten »Parteien« genährt werden, sondern denen sich offenbar die meisten Erwachsenen hingeben, wenn sie sich praktisch mit Kindern bzw. gedanklich oder publizistisch mit der »Kinderfrage« (analog zu: »Frauenfrage«) beschäftigen.

Allerdings entstehen Illusionen – ebenso wie Ideologien, Vorurteile und dergleichen – nicht von ungefähr. Sie haben bestimmte Gründe und bestimmte Funktionen. Psychologisch gesehen haben Illusionen häufig den Sinn, Menschen vor allzu schmerzlichen Erkenntnissen zu schützen. In solchen Fällen verfehlt jede »Aufklärung« ihr Ziel, wenn sie davon ausgeht, die Menschen seien vorher »blind« gewesen und hätten nur auf sie gewartet. Gerade in der Kinderfrage – das wird im Laufe dieses Buches erkennbar und verständlich – gibt es eine Reihe vor Tatsachen, vor denen viele Menschen aus (subjektiv) guten Gründen aktiv die Augen verschließen. Ihnen, wie oft gesagt wird, die Augen »öffnen« zu wollen, würde letztlich einen Vergewaltigungsversuch bedeuten.

Andererseits gibt es aber auch Menschen, die neu-gierig genug sind, um für Erkenntnisgewinne sogar den einen oder anderen »Schock« in Kauf zu nehmen, den sie dann als »heilsamen« ansehen. Und es gibt die Erwägung, daß das Erkennen und Anerkennen von zunächst »unliebsam« erscheinenden Tatsachen über kurz oder lang oft zu besonders »liebsamen« Konsequenzen führt, nämlich in und von der Realität belohnt wird: Täuschungen hinsichtlich der Wirklichkeit haben ja besonders im zwischenmenschlichen Umgang die Neigung, Ent-täuschungen nach sich zu ziehen …

Drei Gruppen von (erwachsenen) Menschen könnten diesem Buch begegnen. 1. solche, die – immer: privat wie gesellschaftlich – die Beziehungen zwischen den Generationen für prinzipiell optimal ansehen; 2. solche, die an grundsätzlichen Verbesserungen der intergenerationellen Beziehungen interessiert, aber im Unklaren darüber sind, wie solche Verbesserungen konkret aussehen und erreicht werden könnten; 3. solche, die das heute übliche Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern für vollständig verfehlt, falsch, unakzeptabel usw. halten und deshalb für eine umfassende Neuorientierung der Erwachsenenwelt eintreten, wie sie etwa der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) unter dem Stichwort »Gleichberechtigung« der Generationen fordert.

Mit Hilfe dieser groben Unterteilung läßt sich der Zweck dieses Buches differenzierter beschreiben. Für die 2. Gruppe bedeutet die Entdeckung des HGV ein Angebot, das zu prüfen sich sicher lohnt. Für die 3. Gruppe ist der HGV eine Antwort auf einige bisher offengebliebene zentrale Fragen. Für die 1. Gruppe ist dieses Buch ungeeignet, weshalb in Hinblick auf sie hier eine deutliche Warnung ausgesprochen werden muß.

Ein Beispiel für die 1. Gruppe kann eine Bundestagsabgeordnete sein, die auf den sogenannten »Kinder-Doppelbeschluß« (s. S. 113 und S. 232) antwortete, sie sei »mit den Ergebnissen der selbst erlebten und dann weitervermittelten Erziehung … voll zufrieden«, weshalb sie dieser Initiative »nicht beitreten« könne. Als die Initiatoren dieser Politikerin ihre Glückwünsche aussprachen, jedoch darauf aufmerksam machten, daß sie als im praktischen Kinderschutz Aktive es tagtäglich mit Opfern, also höchst Unzufriedenen zu tun hätten, in deren Interesse sie tätig geworden seien, kam keine Antwort mehr. – Eine solche Haltung »verantwortlicher« Politiker/innen wird von der 3. Gruppe sicherlich beklagt, doch gehört sie eben zu den Tatsachen, die zu ignorieren selbst wieder ein illusionärer Akt wäre.

Ein entgegengesetztes Beispiel lieferte ein Rezensent des Buches von Alice Miller »Am Anfang war Erziehung«, der meinte: »Man kann sich mit theoretischen Einwänden abpanzern gegen den Schock, den Alice Miller uns zumutet. Ich finde es fruchtbarer, sich erschüttern zu lassen« (Hans Krieger in »Die Zeit«, 22.5.1981).

Weil es kaum möglich sein dürfte, sich gegen die in dem vorliegenden Buch zur Sprache kommenden Tatsachen »mit theoretischen Einwänden ab(zu)panzern«, droht der 1. Gruppe von Leser/inne/n eine Erschütterung, die der Autor ihnen nicht zumuten möchte. Sie mögen diese Warnung nicht als Koketterie auffassen, sondern ernst nehmen – und sorgfältig prüfen, ob ihre Neugierde groß genug ist, sich auf das Abenteuer dieser Lektüre einzulassen. (Auch wer sich überlegt, dieses Buch zu verleihen oder zu verschenken, sei entsprechend gewarnt: Was ihnen selbst als hilfreiche Information erscheint, kann von anderen Menschen als brutaler Eingriff in ihre Intimsphäre aufgefaßt werden.)

Diese Warnung will selbstverständlich keinen Menschen (der bekanntlich ein lernfähiges Wesen ist) auf eine bestimmte Gruppe »festlegen«. Es ging nur darum, ein Kriterium zur Selbstprüfung zur Verfügung zu stellen, damit niemand mit falschen Erwartungen an dieses Buch herangeht, sich gewissermaßen zum Lesen »verführen« läßt, obwohl er/sie es eigentlich so genau gar nicht wissen wollte (Motto etwa: »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß«). Dieses Buch bricht ein Tabu, das für eine wahrscheinlich größere Anzahl von heutigen Erwachsenen eine sinnvolle Funktion besitzt. Da dieses Tabu für viele andere Menschen jedoch längst brüchig geworden ist, besteht die Schwierigkeit darin, einerseits einen in Gang befindlichen historischen Prozeß voranzubringen (d. h. ihn aus der augenblicklichen Sackgasse zu befreien), andererseits den Menschen, die an diesem Prozeß (noch) nicht teilhaben wollen, den Respekt nicht zu versagen, sie insbesondere nicht mit Informationen zu »überrumpeln«, denen sie sich bei rechtzeitiger Warnung nicht ausgesetzt hätten.

Dieses Buch will die Überwindung von Illusionen (auch solchen der Gruppe) möglich machen, jedoch niemandem aufdrängen. Es ergreift nicht Partei. Es achtet alle möglichen heute vorfindlichen Standpunkte, akzeptiert insbesondere jede mögliche Einstellung Erwachsener gegenüber Kindern als subjektiv wohlbegründet. Deshalb richtet es sich nicht an (und schon gar nicht gegen) Menschen direkt, die es von irgend etwas zu überzeugen gelte. Es zielt vielmehr auf publizierte Ideologien. Deren Hintergründe gilt es aufzudecken. Denn nur so wird der Ausweg aus der Sackgasse sichtbar.

Um der Versuchung zu entgehen, der Leserschaft doch nahelegen zu wollen, diesen Ausweg in bestimmter Weise zu benutzen, betrachtet der Autor sie nicht als Adressaten dieses Buches, sondern als (gerngesehene) Zaungäste seiner Darstellung und Diskussion verschiedener Standpunkte, Meinungen usw., die er mittels zahlreicher Zitate belegt.

Die Idee dabei ist, daß nicht nur in einseitigen (ideologischen) Veröffentlichungen unleugbare Tatsachen übersehen oder verschwiegen oder sogar verschleiert werden, sondern daß sich auch in den Köpfen »einfacher« Erwachsener (Eltern, Lehrer/innen usw.) manche in sich widersprüchliche Vorstellungen zu einem – wie der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1981, S. 52) formuliert – »Knoten in unserem Denken« verschlungen haben. Die Sackgasse wäre dann eine Folge »unseres verknoteten Verstandes« (Wittgenstein), und der Ausweg bestünde darin, nicht an dem einen oder anderen Ende des Knotens energischer zu ziehen, sondern sich einen Überblick zu verschaffen (über das Woher, Wohin, Warum usw.), der realistische Entwirrungen und Entscheidungen erst möglich macht.

Der Psychotherapeut Paul Watzlawick schreibt: »Ein tiefsitzender Aberglaube kann seine eigenen ›Wirklichkeitsbeweise‹ erschaffen, besonders wenn er von vielen Menschen geteilt wird.« Und er betont, »daß, sobald eine Täuschung für wahr gehalten wird, sich zugleich auch weitgehende Blindheit für die Gegenbeweise einstellt« (Watzlawick 1976, S. 87 und 138 f).

Um solcher Blindheit zu entgehen, handelt dieses Buch weder von Beweisen noch von Gegenbeweisen. Es gibt zwar eine Fülle jeweils einseitiger Aussagen wieder, doch nicht zum Zwecke der Parteinahme, sondern weil aus diesem größeren Blickwinkel die Sicht frei wird auf unbezweifelbare Tatsachen, die die Beziehungen zwischen den Generationen wirksamer prägen als offizielle Willensbekundungen, vordergründig plausible wissenschaftliche Theorien und alle noch so wohlmeinenden Gefühle.

Dieses Buch hat also mehrere Zwecke. An erster Stelle steht der praktische Nutzen für die konkrete Gestaltung persönlicher Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern, der sich aus dem Überblick, den es bietet, ziehen läßt. Es will also das Verständnis für die tatsächlichen Vorgänge zwischen den Generationen verbessern helfen, ohne allerdings Einverständnis anzustreben.

Gleichzeitig will es der zwischenmenschlichen Verständigung dienen, und zwar sowohl der privaten wie der öffentlichen (und politischen), aber auch der wissenschaftlichen. Es ist insofern ein »Zwitterwesen«. Einerseits erscheint es in einer populären Taschenbuchreihe und setzt keine Fachkenntnisse voraus – wohl aber echtes Interesse; und das heißt auch: die Bereitschaft zu teilweise anstrengender Lese- und Denk-Arbeit. Es ist ein Sachbuch, kein Unterhaltungswerk für bequeme Konsument/inn/en.

Andererseits soll es die Mindestanforderungen erfüllen, die an ein wissenschaftliches Fachbuch gestellt werden, um sich auch für die Zwecke von Student/inn/en und Professor/inn/en der einschlägigen Wissenschaften zu eignen. Aus diesem Grunde waren z. B. exakte Quellenangaben und einige »Exkurse« erforderlich, welche die berühmte »Lesbarkeit« für »normale« Zaungäste nicht gerade erhöhen. Sie können »überlesen« werden, ohne daß der Kern der Aussagen verfehlt würde.

Von beiden »Seiten« verlangt dieses Buch Zugeständnisse an die jeweils andere und an den Autor: Der hat sich, in Übereinstimmung mit dem Herausgeber dieser Buchreihe, Dr. Horst Speichert – dem er an dieser Stelle für die sachlich und menschlich fruchtbare Zusammenarbeit danken will –, dazu entschieden, den »Heimlichen Generationenvertrag« in der vorliegenden Kurzform in die Weltweisheit einzuführen, obwohl das Thema und das zur Aufarbeitung anstehende Material für viele tausend Buchseiten »gut« wäre. Der Grund: Der HGV sollte so schnell wie möglich der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Manche Schwächen der gewählten Form könnten sich als Stärken auswirken: die unsystematische Darstellung gibt Gelegenheit, sich das Material nach eigenen Bedürfnissen weitgehend selbst zu erarbeiten; eine »geschlossene Theorie« dient oft nur zur Begründung neuer »Schulrichtungen«, die »Anhänger« und »Gegner« findet, also wiederum in Sackgassen mündet.

Wenn man den HGV überhaupt eine »Entdeckung« nennen will – viele der Tatsachen, die er »enthüllt«, sind ja allgemein bekannt –, handelt es sich bei diesem Buch jedenfalls um einen provisorischen Bericht, einen ersten Erkundungsgang, einen (jeweils im doppelten Sinne des Wortes) »anstößigen«, »anfängerhaften« und »vorläufigen« Überblick. Die eigentliche Arbeit, wenn sie denn in Angriff genommen werden soll, kann nur Sache der Zaungäste sein.

Aber, selbstverständlich, über den rechten Gebrauch dieses Buches kann nicht sein Autor entscheiden. Der legt nur Wert auf die Feststellung, daß jeder Leser, jede Leserin, der bzw. die sich von ihm schockieren oder gar ins Unglück stürzen läßt, sich dies (nach obiger Warnung) selbst zuzuschreiben hat.

Und wer aus diesem Buch einen Nutzen zu ziehen vermag, ist ebenfalls ausschließlich selbst daran schuld.

Einleitung

Das Thema dieses Buches betrifft jeden Menschen, weil die Biographie jedes Menschen auch das enthält, was man »Kindheit« nennt.

Der Inhalt dieses Buches betrifft jeden Menschen deshalb viel »hautnäher« als der Inhalt manch anderer Bücher. Eine völkerkundliche Studie oder ein Lehrbuch der höheren Mathematik etwa richtet sich an eine bestimmte Leserschaft und kann besondere Vorlieben und auch Vorkenntnisse voraussetzen.

Beides, die Vorlieben und die Vorkenntnisse, sind bezüglich des Generationenverhältnisses nun keineswegs zuwenig, sondern eher im Übermaß vorhanden. »Im Übermaß«, insofern sie einer Zeit entstammen, in welcher viele heute schon weitverbreitete Kenntnisse noch nicht zur Verfügung standen. Je »bestimmter« sie also sind, desto schwerer wird ihre Neubestimmung im Lichte des HGV fallen. Und zusätzlich sind es jeweils so »besondere«, daß es ein hoffnungsloses Unterfangen wäre, sie alle im Einzelnen berücksichtigen zu wollen.

In dieser Lage greifen viele Autoren, die etwas Allgemeingültiges aussagen wollen, zu einem Kunst-Griff: zur Kunst. Sie schreiben Romane, Theaterstücke, Filme, Gedichte, in denen sie selbst oder ihre Helden das Publikum durch ihre Subjektivität (auch im Sinne von: Einmaligkeit) »gefangennehmen«, »faszinieren«, zur »Identifikation« verführen wollen. Sie »verpacken« die Wahrheiten, die sie für vermittelnswert halten, in künstlerisch gestaltete Texte, d. h., sie sagen nicht einfach, was sie wissen, denken und fühlen, sondern sie »bereiten« das »auf«, sicherlich in der Hoffnung, ihre »Botschaft« in dieser Form wirkungsvoller »an den Mann (bzw. die Frau) zu bringen«.

Kein Wort gegen diese oft sehr eindrucksvollen und auch erfolgreichen Versuche! Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen, daß ein Roman oder sogar ein Film im Hollywoodstil politisch mehr Wirkung zeigte – bis hin zu wesentlichen Gesetzesänderungen – als viele gelehrte Abhandlungen. Trotzdem beschreitet dieses Buch den anderen Weg, Allgemeingültiges mitzuteilen. Also nicht den Weg der Kunst, sondern den der (allgemein verständlichen) Wissenschaft – mit welchem Wort hier einfach das Erforschen dessen, was ist, und das dann folgende Weitersagen dessen, was man weiß, gemeint ist.

Im Zeitalter der »Psychotrips«, der »Betroffenenliteratur« und

der Skepsis gegenüber den Möglichkeiten des rationalen Verstandes (Stichwort: »Kopflastigkeit«) bedarf es einer – rationalen – Begründung, warum ein so hautnahes, intimes und emotionales Thema wie das des HGV auf rein intellektuelle Weise behandelt wird.

Die Begründung ist folgende: Die übliche und berechtigte Kritik am menschlichen Verstand zielt nicht eigentlich auf diesen selbst, also auf bestimmte Fähigkeiten des menschlichen Gehirns, sondern auf deren Überbewertung. Wenn man einmal die grobe Unterscheidung zwischen Verstand und Gefühl akzeptiert, gilt die heute oft geäußerte Kritik der Tatsache, daß viele Menschen dem Verstand eine dominante Rolle einräumen. Dies führt zur Unterdrückung und/oder Verdrängung der Gefühle, denen lediglich ein untergeordneter Stellenwert zugebilligt wird. Der Verstand als Herrscher und Beherrscher (Stichwort: Selbstbeherrschung – auf Kosten des Gefühls, der organismischen Weisheit und vieler anderer nichtbewußter, gleichwohl höchst vernünftiger, nämlich natürlicher und sinnvoller Vorgänge im Menschen), der Verstand als Regisseur und »Chef« ist es, der zu zahlreichen Fehlentwicklungen geführt hat, so daß manche Kritiker fordern, sich völlig von ihm zu befreien.

Immer weniger Menschen glauben heute, ihr Intellekt sei der legitime Dirigent ihrer Lebensgestaltung, und ihre Gefühle spielten nur eine Art Begleitmusik. Immer mehr Menschen akzeptieren – um ein ähnlich einfaches Bild zu gebrauchen – ihr Gefühl als den »Chef«. Sie versuchen, mit den Worten von Jean Liedloff (1980, S. 60), »den Intellekt zu einem fähigen Sklaven zu machen, statt zu einem unfähigen Herrn. Richtig eingesetzt, kann der Verstand von unschätzbarem Wert sein.«

Da nur der Verstand selbst in der Lage ist, eine bewußte und begründete Neuverteilung der Rollen vorzunehmen, erscheint dem Autor die diskreditierende Bezeichnung »Sklave« unangemessen. In einer Rolle als »Diener« oder »Butler« wird dem Stolz und Selbstbewußtsein des menschlichen Verstandes wohl besser Rechnung getragen. Jedenfalls wird dem Intellekt in diesem Buch nicht die Funktion des Herrschers zugebilligt, sondern die des Dieners und Beraters. Der »Chef« ist das Gefühl.

Diese »Rangordnung« ist nicht unumstritten. Zwar »sitzen« in vielen Lebensbereichen die Gefühle unbestreitbar »am längeren Hebel«, bestrafen z. B. ihre Unterdrückung bzw. Vernachlässigung durch »psychosomatische« Krankheiten usw., doch gibt es auch die Meinung, daß auch solche Erscheinungen im Wesentlichen auf »falschem Denken« beruhen. Diese Frage kann hier offenbleiben: Wer dem Verstand die Hauptrolle im menschlichen Leben zuspricht, wird an der Vorgehensweise dieses Buches ohnehin keinen Anstoß nehmen. Hier war gegenüber Kritikern des rationalen Denkens auf die Möglichkeit hinzuweisen, dieses in einer dienenden Funktion zu sehen.

Unter dieser Voraussetzung darf auf die enge Verbindung zwischen »Verständnis«, »Verständigung« und »Verstand« hingewiesen werden. Diese Voraussetzung erlaubt auch, den die Gedankengänge dieses Buches beobachtenden Zaungästen zu empfehlen, zunächst einmal in erster Linie mit- und weiterzudenken. Alternativen zum Mitdenken wären a) das Mitfühlen, b) das Gegendenken.

Zu a): Gegen das unmittelbare »Mitfühlen« spricht, daß der Verstand flexibler ist als das Gefühl. Wie im Laufe dieses Buches an vielen Beispielen gezeigt wird, ist der Verstand (z. B. das spezifisch menschliche Abstraktionsvermögen, die Fähigkeit, Begriffe zu bilden und Ideen zu formulieren) tatsächlich »von unschätzbarem Wert« (Liedloff), eben im Dienste des Gefühls und des inneren Wachstums (vgl. 11. Kap.), während das distanzlose Mitfühlen den Menschen der Chance beraubt, durch eine intelligente Beratung emotionalen »Wiederholungszwängen« und mancherlei »Teufelskreisen« zu entkommen.

Zu b): Auch das unmittelbare »Gegendenken« verbaut bestimmte Chancen. Wer immer nur darauf lauert, wann sie/er auf eine Formulierung trifft, an der sich Kritik einhaken kann, verschenkt die Möglichkeit, zunächst einmal kennenzulernen, was da eigentlich insgesamt mitgeteilt werden soll. Dann geht es leicht statt um besseres Wissen nur noch um Besserwisserei (statt um »das Richtige finden« um »Rechthaberei«). Ein/e halbwegs selbstbewußte/r Kritiker/in braucht kaum zu befürchten, nicht auch im Nachhinein noch zur Kritik fähig zu sein.

Die obigen Empfehlungen, insbesondere die, mitzudenken statt mitzufühlen, hängen einerseits mit der direkten Betroffenheit aller Menschen (insofern sie selbst Kinder waren) zusammen. Diese erschwert eine distanzierte Betrachtung der objektiven Realität. Hier kann der »Diener« Verstand seine besonderen Fähigkeiten einsetzen, kann prüfen und auswählen, was er seinem »Chef« Gefühl schließlich zumuten will.

Andererseits folgte diese Empfehlung aus der Pflicht eines Entdeckers, den Standpunkt anzugeben, von dem aus seine Entdeckung gemacht wurde und von dem aus diese Entdeckung nun also auch entweder »falsifiziert« (widerlegt) oder nachvollzogen werden kann. Im vorliegenden Fall war die Entdeckung nur möglich (und kann nur verstanden, überprüft, nutzbar werden) mit Hilfe eines rein intellektuellen Gedankenexperiments, bei welchem der gewöhnliche Standpunkt verlassen und eine »höhere Warte« eingenommen wird.

Der so gewonnene »größere Blickwinkel« verpflichtet nun seinerseits den Autor auf die Rolle des neutralen Berichterstatters. Es ist dem Menschen zwar nicht ohne weiteres möglich, von den je eigenen subjektiven Erfahrungen, Vorlieben, Denkgewohnheiten, Wertentscheidungen usw. vollständig abzusehen, aber er kann per Gedankenexperiment vorübergehend einen gewissen Abstand gewinnen, wenn er all dies in einen größeren Zusammenhang gestellt sieht. Dadurch wird entscheidend klarer, was tatsächlich (objektiv) geschieht. Und mit dieser Klarheit wird auch die intersubjektive Verständigung (das gemeinsame Interesse an ihr vorausgesetzt) wieder möglich, ohne Vorwürfe, Rechtfertigungs- und Überzeugungsversuche, Schuldgefühle, Besserwisserei und dergleichen.

Der einzige »gewöhnliche« Standpunkt, der für dieses Buch unauf- gebbar ist, ist gleichzeitig seine Existenzgrundlage: die Meinung, daß es gut und richtig sei, den HGV öffentlich zur Sprache zu bringen, weil dies letztlich »über kurz oder lang« allen Menschen zum Nutzen und Vorteil gereicht.

Das ist die Meinung des Autors. Sie widerspricht nicht der Warnung aus dem Vorwort: Diese richtete sich an Menschen, die – subjektiv respektable – Gründe haben, anderer Meinung zu sein.

Die Kompliziertheit der gegenwärtigen Situation in der Kinderfrage und die Absicht, ein praxisnahes Buch von möglichst hohem Gebrauchswert nicht nur für eine bestimmte Gruppe von Leser/inne/n vorzulegen, führte zu folgender Vorgehensweise:

Das Buch besteht aus zwei Teilen, die aus unterschiedlichen Perspektiven geschrieben sind. Im ersten Teil (»Zum Kennenlemen«) wird zunächst der Begriff (Name) »Heimlicher Generationenvertrag« erläutert (1. und 2. Kapitel), sodann wird – beginnend von Adam und Eva – untersucht, wie die Beziehungen zwischen den Generationen in Wirklichkeit, also ohne Scheuklappen betrachtet, organisiert sind und welche Entwicklung sich andeutet bzw. in Gang ist (3. bis 8. Kapitel).

In diesem Teil stellt der Autor lediglich Tatsachen und Meinungen dar, an deren Existenz im Grunde nicht gezweifelt werden kann. Die Idee dabei ist, daß prinzipiell jeder (an der Wirklichkeit interessierte) Zaungast, unabhängig von allen persönlichen Wertungen, Wünschen, Ängsten usw., diesen Teil annehmen können sollte. Viele der heute üblichen Streitigkeiten sind schlicht gegenstandslos, wenn die Informationen dieses Teils zur Kenntnis genommen werden.

Der zweite Teil beansprucht keine Allgemeingültigkeit. In ihm wird eine bestimmte Entscheidung hinsichtlich des HGV vorausgesetzt, so daß die Berichterstattung aus einer etwas anderen Perspektive erfolgen muß. Dies begründet und erläutert eine eigene Einleitung an Ort und Stelle (S. 145). Inhaltlich geht dieser Teil (»Zum Verstehen und Verständlichmachen«) ausschnittweise auf die Hintergründe der heutigen Situation ein (9. und 10. Kapitel) und schildert dann, wie der im Vorwort erwähnte »Ausweg aus der Sackgasse« persönlich (11. Kapitel), argumentativ (12. Kapitel) und politisch (13. Kapitel) erfahrungsgemäß am besten gefunden werden kann.

Insgesamt geht es darum, einigen zentralen Illusionen sowohl von »pädagogischer« wie von »antipädagogischer« Seite auf die Spur zu kommen. Zugleich wird damit eine Fülle von mehr oder weniger naiven »Alltagstheorien« hinfällig, denen die meisten Erwachsenen aus verständlichen (jedoch nicht immer verstandenen) Gründen anhängen – auch wenn sie sowohl von »pädagogischen« wie von »antipädagogischen« Büchern wenig oder nichts halten bzw. wissen.

Diese Bemerkung führt noch einmal auf die Frage zurück, warum dieses Buch ein so emotionsträchtiges Thema rein intellektuell (von »Kopf« zu »Kopf« statt von »Bauch« zu »Bauch«) behandelt. Der Autor glaubt die Beobachtung gemacht zu haben, daß es zur Kinderfrage bereits eine ganze Reihe von Büchern und auch Filmen gibt, die wichtige Teilbereiche des Themas in künstlerischer Form sehr eindrucksvoll darstellen (erwähnt seien nur die – auch mehrfach im Fernsehen gezeigten – Spielfilme »Die letzten Jahre der Kindheit« und »Echt tu matsch«), ohne daß die entsprechenden emotionalen Wirkungen zu nennenswerten Konsequenzen geführt hätten. Es scheint, als fehlte in der Kinderfrage noch das gedankliche Instrumentarium, das nötig ist, damit künstlerische Werke nicht nur vorübergehend gefühlsmäßig beeindrucken, sondern auch in voller Tragweite verstanden werden. Wenn dieses Buch nichts anderes wäre als eine Vorarbeit, die den »Boden« bereitet für emotional ansprechende Ausarbeitungen, würde es bereits eine wichtige Funktion erfüllen. Denn selbstverständlich kann ein Buch wie dieses nur relativ wenige Menschen »erreichen«: Menschen, die nicht nur überhaupt Bücher lesen, sondern die darüber hinaus bereit und in der Lage sind, sich aus den wenigen Bruchstücken, die der nun folgende Text anbietet, das Gesamtbild (wie ein lückenhaftes Mosaik) selbsttätig zu erarbeiten.

Es geht in diesem Buch lediglich um einige wenige Grundlagen des Generationenverhältnisses. Daß diese Grundlagen, Erscheinungen auf der Tatsachenebene, häufig nicht ausreichend beachtet werden, wenn auf der Meinungsebene über »Kindheit« und »Erwachsenheit« nachgedacht, diskutiert und publiziert wird, hat kaum überschätzbare Konsequenzen zum Nachteil letztlich aller. Dennoch gibt es für dieses Buch nur bescheidene Möglichkeiten, langfristige gesellschaftliche Entwicklungen effektiv zu beschleunigen, auch wenn einzelne Menschen noch so eindrucksvolle und nützliche »Aha-Erlebnisse« haben. Der Autor möchte deshalb diese Einleitung mit der Empfehlung abschließen, sich auf eine möglichst unaufgeregte und beschauliche Lektüre einzurichten und zunächst einmal getrost nur auf persönlichen Erkenntnisgewinn zu spekulieren. Das Thema HGV eignet sich nicht für hektische Betriebsamkeit, weder für äußere, noch für innere. Geduld und Nachsicht sind angesagt: mit der Welt, mit dem Autor und – vor allem – mit sich selbst.

Kapitel 2 – Der Name des »Kindes«

Nach dem im 1. Kapitel Gesagten fällt das Eingeständnis nicht schwer, daß der Heimliche Generationenvertrag von ziemlich schlechten Eltern ist – was seine sprachliche Gestalt, die Worthülse, angeht. Doch kann man dies für relativ belanglos halten. Der Wert einer Entdeckung bemißt sich zuallerletzt an ihrem Namen, falls dieser nur einigermaßen ihrem Inhalt gerecht wird. Für die Geschichtsschreibung sei deshalb vermerkt:

Der Begriff »Heimlicher Generationenvertrag« (und ebenso die Abkürzung »HGV«, die jede Verwandtschaft mit dem viel sympathischeren »Häufigen Geschlechtsverkehr« energisch abstreitet) stammt sowohl aus dem Jahr 1984 als auch von EvB und wird, von unbedeutenden Erwähnungen abgesehen, in diesem Buch erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. (Also stammt er aus dem Jahr 1986.) Er ist zusammengesetzt aus dem »heimlich« des von Schulkritiken bzw. Unterrichtsforschern geprägten Begriffs »heimlicher Lehrplan« und einer erweiterten Auslegung des zur Rechtfertigung der modernen Rentenversicherungsphilosophie erfundenen Begriffs »Generationenvertrag«.

Auf eine einfache und präzise Definition des Begriffs HGV muß verzichtet werden. Denn nichts kann darüber hinwegtäuschen, daß einerseits das Wort »heimlich« keinen klar umrissenen Sachverhalt bezeichnet (viele der Inhalte des HGV sind allgemein bekannte Tatbestände), daß andererseits das Wort »Generationenvertrag« zwar etwas mit Generationen zu tun hat, nicht aber wirklich einen Vertrag meint: Das Vertragsrecht setzt im allgemeinen gleichberechtigte Partner und beiderseitige Freiwilligkeit voraus, aber auch Geschäftsfähigkeit, die kleinen Kindern rechtlich ja abgeht.

Daß wir auf eine handliche (kurze und zugleich exakte) Definition des Namens HGV verzichten müssen, ist kein Nachteil oder Mangel. Das »Kind« teilt mit seinen »Eltern« das Schicksal aller abstrakten Begriffe. Laut Keysers Fremdwörterlexikon (1963) bedeutet »Abstraktion«: »Lösung v. Dinglichen u. Besonderen, um das Allgemeine, Wesentliche zu fassen.« Eben dies ist der Sinn des Wortes HGV: das Allgemeine und Wesentliche, das die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern heute tatsächlich prägt, zu fassen, faßbar zu machen, ihm einen begrifflichen Rahmen zu geben.

Kennzeichen: abstrakt

Zur Sicherheit vor Mißverständnissen bzw. falschen Erwartungen/Befürchtungen: Der Umstand, daß »Heimlicher Generationenvertrag« ein hochabstrakter Begriff ist, hat nicht zur Folge, daß dieses Buch sich nun ausschließlich oder auch nur vorwiegend in abstrakten (»abgehobenen«) Gefilden bewegt. Wie angekündigt, soll es ja gerade darum gehen, das Augenmerk auf Tatsachen zu richten. Der Inhalt des HGV ist konkret (laut Lexikon: »gegenständlich greifbar«). Weil aber in vielen Diskussionen das Wort »abstrakt« fast wie ein Schimpfwort gebraucht wird (erinnert sei nur an den üblichen Appell von z. B. Moderatoren, »endlich konkret zu werden«), könnte es nützlich sein, dem konkreten Sinn abstrakter Überlegungen und Begriffe einmal nachzuspüren.

Das gleiche gilt für die Begriffe »Theorie/theoretisch« und »Praxis/praktisch«. Hier kann schon ein Blick ins Fremdwörterlexikon manche Sprachverwirrung (er)klären. Steht doch dort unter »Theorie«: »1. reine Erkenntnis ohne Rücksicht auf Anwendbarkeit; 2. wissenschaftl. Lehre, die zu einheitl. Erklärung, Ableitung bestimmter Gegebenheiten aufgestellt wird; 3. bloß erdachte Gedankenbildung im Gegens. zur Erfahrung.« Das Wort »theoretisieren« wird nur mit »Theorie treiben« verdolmetscht. Bei »Theoretiker« steht aber außerdem »weltfremder Mensch«. Zu »theoretisch« lesen wir: »In der wissenschaftl. Anschauung bestehend, erkannt; außerdem: 1. betrachtend (Gegens. zu praktisch); 2. lehrmäßig; 3. gedanklich, nur erdacht.«

Es leuchtet ein, daß ein Mensch, der aktuell dringend eine (praktische) Hilfestellung braucht, mit theoretischen Erwägungen nichts anfangen kann. In solchen Fällen wären sie wirklich »weltfremd«. Aber ebenfalls weltfremd wäre es, z. B. in ein Architekturbüro hineinzuplatzen und zu fordern, die Leute dort sollten gefälligst mit ihren Berechnungen über Statik aufhören und etwas Praktisches tun, also etwa Backsteine aufeinandersetzen, »damit man endlich was sieht«.

»Praktisch« bedeutet (lt. demselben Lexikon): »1. das Handeln betreffend; ausübend; im Handeln geübt, erfahren; 2. sich in die Tat umsetzend; 3. brauchbar, zweckmäßig.« Und »Praxis« heißt: »Handlung, Verrichtung; Brauch, Erfahrung (als Gegens. zur Theorie); Tätigkeit, Berufsausübung e. Arztes, Anwalts usw.«

Wenn diese Wortbedeutungen, die hier präzise unterschieden sind, durcheinandergeraten, kann plötzlich der sorgfältig Planende als »weltfremd« und die hektische Fehlreaktion als »zweckmäßig« erscheinen. »Da passiert wenigstens etwas Praktisches«, heißt es dann, und wer sich vorher überlegt, welche Lösung eines Problems tatsächlich »brauchbar« und »zweckmäßig« sein könnte, gerät vielleicht in »Gegensatz zur Erfahrung«.

Über dieses Thema kann man fast unbegrenzt verhandeln, doch soll hier nur dem »abstrakt« das »theoretisch« im Sinne von »betrachtend« und dem »konkret« das »praktisch« im Sinne von »das Handeln betreffend« an die Seite gestellt werden. (Die anderen Bedeutungen passen in andere Zusammenhänge.) Beim Thema HGV gibt es keinen Gegensatz zwischen »theoretisch« und »praktisch« bzw. »Theorie« und »Praxis«, sondern die beiden Kategorien sind aufeinander bezogen: »Betrachtend« wird eine »Erklärung bestimmter Gegebenheiten« gesucht, die »das Handeln (die Handlung, Verrichtung) betreffen«. Dies muß berücksichtigt werden. Sonst könnte es als Widerspruch erscheinen, daß in einem Buch, dessen Hauptzweck »der praktische Nutzen für die konkrete Gestaltung …« (vgl. Vorwort) ist, auf bestimmte Vorurteile gegenüber theoretischen/abstrakten Begriffen und Erwägungen keine Rücksicht genommen wird. Schon gar nicht im Hinblick auf seinen zentralen Begriff.