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Auf die Heimkehr seiner pubertierenden Tochter wartend, erinnert sich ein Mann an die Zeit, als er selbst zwischen Elternhaus, Schule, gesellschaftlichem und sexuellem Erwachen seinen individuellen Lebensweg suchte und dabei frühzeitig zum Mann heranreifte. Freiheitsdrang, Entdeckergeist und Popmusik prägen diese erlebnisreiche Zeit, von der liebevoll im Rahmen des kleinen Dorfes Apen und seiner Einwohner erzählt wird und die unmittelbar an die in "Roggenmoor" geschilderten Ereignisse anschließt.
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Seitenzahl: 408
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Für Heidede
1.Tag
Es werde Licht Orts- und Hormonwechsel – Manni – Bekakeln und Trampen – Tour d’Aper Marsch – Bindungsprobleme – Apener Clique – Apen und seine Bewohner – Erste große Liebe – Vollrausch
2. Tag
Er schuf den Himmel Flower Power – summer of love – Trampentour nach Dänemark – Herbertstraße – Homo – Jugendknast – Tod eines Klassenkameraden – Realschüler – Feste Freundin
3. Tag
Er schuf das Land und die Pflanzen 1968 – Helga und Westerstede – Apener Originale (Hilde, Albert, Kalli, Pastor Stöver) – Die goldene Schöpfkelle – Das neue Schrotgewehr – Heinis großer Tag
4. Tag
Er schuf Sonne, Mond und Sterne Tramptour nach Schweden: Kurt – Lysekil – Rockerbraut – tollwütiger Fuchs – Harakirifahrer – Tramptour nach Bayern: Göttingen – Friedland – Bad Sooden-Allendorf – München – Schlawiner – Oberau – Omas Weltsicht – Garmisch – Zugspitze – Tante Eva – Bayerische Katholiken – Eishockey – Kloster Ettal – Oberammergau – Schloss Linderhof – Spontansex – Natur pur
5. Tag
Er schuf die Tiere Klassenfahrt nach Lorch – Weltkulturerbe – Rheinburgen – Rüdesheim – Niederwalddenkmal – Loreley – Evelyn – Sexskandal – Auswertung – Hansi – Ferienjob – 3 Eier – Arbeitswut – Weltgeschehen – Chronik Apens – Handel und Verkehr – Dauerfeind Ostfriesland – Freesenkarkhoff – Schiffbruch – Gräfin von Weißenwolf – Niedergang – Napoleon
6. Tag
Er schuf den Menschen Hauptschulschluss – Handelsschulprüfung – Finalgefechte mit dem Rektor – Kommissar und ZDF Hitparade – Liedermacherszene – Jaques Brel und George Brassens – Joan Baez und Bob Dylan – Donovan – Trennung der Beatles
7. Tag
Es ist vollbracht
Danksagung
Anhang Charlotte Krause alias Lotti Zucker
Gedichte
SO IS DATT LÄBEN ÄBEN …
KUUM BÜST DU DOOR,
SPÖLST, LIERST UND LACHST,
BÜST FRÜND VON ANNER KINNER –
SCHON BÜST DU GROOT,
SCHEEST, PEEST, MARACHST,
WILLST HÜRN TAU DE GEWINNER –
RASCH LÖPPT DIES TIED
AN DIE VÖRBIE!
BÜST TAUKIEKER MEIST WORDEN!
UND GEIH’T TAU END,
SO WÜNSCHST DU DIE,
DATT’T RASCH GEIHT, AHNE SORGEN.
SO IS DATT LÄBEN ÄBEN!
CHARLOTTE KRAUSE ALIAS LOTTI ZUCKER*
*
* Mehr über Charlotte Krause im Anhang
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.
*
Ein Glas Rotwein vor mir auf dem rustikalen Holztisch sitze ich zweifach behütet in meinem kleinen Pavillon unter den ausladenden Ästen der mächtigen Kiefer, die wie ein überdimensionierter Schirm aus meinem kleinen idyllischen Brieselanger Gärtchen herausragen. Zum Tagesausklang ruhe ich mich ein wenig von der anstrengenden Gartenarbeit aus und genieße entspannt die von Westen her wie grelle horizontale Lichtdome eindringenden Sonnenbündel, die sich ihren Weg durch die lückenhaften Kronen der Nadelbäume bis zu mir herüber bahnen. Meine Berner Sennenhündin Julchen liegt ruhig zu meinen Füßen im Schatten. Scheinbar schlafend, nur gelegentlich schnaufend, registriert sie in Wahrheit aufmerksam jede kleinste meiner Bewegungen. Meine zwei Siamkatzen, Minka und Bruno, genießen hingegen lang ausgestreckt im Tiefschlaf die prallen Sonnenstrahlen auf ihrem kurzen weißen Fell. Mein Amselpärchen nutzt den festen Schlaf der Katzen und höhlt nach und nach den halbierten Apfel aus, den ich ihm wie jeden Tag an immer die gleiche Stelle gelegt habe.
Mein, meine, meinen, meinem! Wie das klingt. Meine kleine überschaubare Welt, die ich so liebe. Mit mir begann sie und mit mir wird sie enden, selbst wenn meine Tochter Heidede sie fortführen sollte. Einen Lidschlag lang rotiere ich als unbedeutendes Atomteilchen, vergeblich bemüht, den täglichen Abläufen des Lebens nicht unbedingt im Wege zu stehen. Zwischen dem Meer der Zeit der Finsternis, die war, und der unendlichen Zeit, die da kommen wird, lebe ich jetzt, nur jetzt. Ein nicht wahrnehmbares Lichtfünkchen zwischen dem Ursprung und der Ewigkeit, alljährlich unwissend und desinteressiert den Tag verbringend, der einst als zweiter auf meinem Grabstein eingemeißelt sein wird, sofern jemand einen Stein für mich errichten lässt. Noch herrscht Licht und wohlige Wärme, bald beengte Dunkelheit und erdige kalte Nässe. Hoffentlich gibt Er mir noch die Zeit, bis Heidede ihren eigenen Lebensweg gefunden hat! In sieben Tagen wird sie mich erstmals im Leben für eine längere Zeit verlassen, irgendwann ganz, so wie ich einst meine Eltern verließ.
»Komm, gieß’ mein Glas noch einmal ein. Mit jenem bill’gen roten Wein, in dem ist jene Zeit noch wach. Heut’ trink ich meinen Freunden nach.« Diesen Reinhard Mey Song habe ich lange nicht mehr gespielt. Immer nur »Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein …« Dabei passt er eindeutig besser zu meinem gegenwärtigen Lebensabschnitt. Ich sollte meine unaufhaltsam verrinnende Restzeit besser nutzen. Schade, dass Heidede jetzt nicht daheim ist. Ich hätte ausgesprochen Lust, ihr aus meinen Jugendaufzeichnungen vorzulesen, da auch sie vor einschneidenden Veränderungen steht.Vielleicht würde sie einige Verhaltensweisen wiedererkennen und Lehren für ihr eigenes Leben daraus ziehen können. Vermutlich würde sie aber ohnehin ihren Laptop bevorzugen. Facebook. Vermeintliche Freunde. Erst einmal einen Schluck trinken. »Prost, Julchen, mein lieber Hund! Mit dir trinke ich am liebsten. Soll ich dir vorlesen, Julchen? Du verbringst ohnehin die meiste Zeit mit mir und bekommst alles mit, auch wenn du vorgibst zu schlafen. Ich hole schnell die Unterlagen. Bleib schön liegen!«
Gut, dass ich bereits alles aufgeschrieben habe, was ich als junger Mensch fühlte, als ich meinen persönlichen und den gesellschaftlichen Aufbruch in den Sixties erlebte. Als ich eingezwängt zwischen dem »Heim und Herd sind Goldes wert« der Altvorderen und dem »Freedom’s just another word for nothing left to lose« der aufbegehrenden Flower Power Bewegung versuchte, meinen eigenen Weg zu finden. Als ich fremdbestimmt meinen Platz in der »Freiheitlich Demokratischen Grundordnung« und der »Sozialen Marktwirtschaft« der Bundesrepublik Deutschland suchte und hormongesteuert einem Pfad durch das undurchschaubare Regeldickicht des Geschlechterkampfes nachspürte, dabei Goethes wegweisenden Ratschlägen folgend: »Euch gibt es zwei Dinge So herrlich und groß: Das glänzende Gold Und der weibliche Schoß. Das eine verschaffet, Das andre verschlingt; Drum glücklich, wer beide Zusammen erringt!« Deftiger noch die weibliche Variante: »Für euch sind zwei Dinge Von köstlichem Glanz: Das leuchtende Gold Und ein glänzender Schwanz. Drum wißt euch, ihr Weiber Am Gold zu ergetzen Um mehr als das Gold Noch die Schwänze zu schätzen!« Ganz schön heftig und grad heraus, unser Genie. Diese derbe Seite von ihm haben wir in der Schule nicht kennen gelernt, obwohl sie viel lehrreicher für uns gewesen wäre. So, jetzt bin ich soweit. Noch ein Schlückchen Rotwein, um die Stimme zu ölen. »Also, Julchen, schön aufgepasst! Manchmal musst du allerdings ein wenig weghören, weil einiges zeitbedingt recht deftig werden dürfte. Nicht, dass ich hinterher Ärger mit dem Tierschutzverein bekomme!«
Vor der Erringung von Gold und weiblichem Schoß galt es für mich als Teenager zunächst, einen zwar geographisch nahegelegenen, inhaltlich hingegen Welten voneinander entfernten Ortswechsel ertragen und die hemmungslos in mir herumschwirrenden Hormone bändigen zu lernen. Drei Kilometer Ortswechsel können ein bisheriges Leben grundlegend verändern – Hormone hebeln es schlichtweg aus! Mit dem sicheren Gefühl, von den Engländern mit dem Wembleytor so richtig verladen worden zu sein, erwartete ich von meinem weiteren Leben aufgrund des anstehenden Umzugs von Roggenmoor nach Apen einen qualitativ gleichwertigen Betrug, als unsere Familie in Roggenmoor ihr Gerümpel einpackte und in das neue Geschäftshaus in die Ringstraße 2 zog. Dabei hätte eigentlich bei uns allen Aufbruchsstimmung herrschen müssen. Nach Jahren größter finanzieller Not und räumlicher Begrenztheit gab es auf einmal individuellen Lebensraum und eine realistische Zukunftsperspektive. Davon war aber zumindest bei uns drei Brüdern nichts zu spüren. Hansi und Fidi waren entwicklungsmäßig soweit, bald eigene Wege zu gehen, ich hatte mich emotional seit längerem von der Familie gelöst und lebte in meiner eigenen, auf Freiheit in jeder Form gerichteten Gedankenwelt, die mit den althergebrachten Werten der Elterngeneration nur noch wenig gemein hatte. Deshalb kann ich mich auch weder an das Ausräumen des Hauses in Roggenmoor, noch an das Einrichten des neuen Hauses in Apen erinnern. Absolut nicht! Hinzu kam unser über Jahre hinweg gewachsenes kindlich waches Misstrauen gegenüber den Eltern, aus einer sich bietenden Chance wirklich etwas Nachhaltiges erschaffen zu können. Die Zukunft sollte uns Recht geben. Da ich altersmäßig jedoch keine andere Wahl hatte, folgte ich dem Umzugstross widerwillig, innerlich darauf programmiert, sowohl Apen als auch das neue Haus nur als aufoktroyierte Zwischenlösung in meinem Leben anzusehen, der ich so bald und oft wie möglich entfliehen wollte, bis ich eines nicht allzu fernen Tages all das endgültig würde abstreifen können, um meinen eigenen Weg zu gehen.
Unser neues Geschäftshaus war objektiv betrachtet schlicht, aber geräumig. Ein einstöckiges Walmdachhaus, gleich dem meiner Urgroßeltern in Brünn, wie es sich meine Mutter stets gewünscht hatte. Es bot unserer siebenköpfigen Familie sowohl ausreichende Geschäfts- als auch Wohnräume. Im Keller befand sich ein großer Heizungsraum, in dem anfangs Koks gelagert, dann ein Öltank installiert wurde. Auf dem Dachboden waren reichlich Abstellmöglichkeiten vorhanden. Die direkt an das Haus gebaute Garage erlaubte es meinem Vater, seinen Verkaufswagen unter Dach ein und auszuräumen, was er besonders bei Regenwetter und Eiseskälte zu schätzen wusste. Das Erdgeschoss bildeten Laden, Lager, Wohn/Fernsehzimmer, Küche, Waschküche, Garderobe und Gästetoilette. Die mittig gegenläufige Holztreppe mit einem kleinen Podest auf halber Höhe führte in den ersten Stock, wo sich das Elternschlafzimmer, die drei Zimmer von Hansi, Fidi und mir, ein kleines Büro, ein Badezimmer und – ein weiteres Wohnzimmer befanden. Damit fing der Schlamassel gleich wieder an.
Während sich der Rest der Familie einig darin war, sämtlich vorhandene Ressourcen in den Aufbau des Ladens zu stecken, hielt es meine Mutter für notwendiger, nicht unerhebliche Mittel für den Kauf von Wohnzimmermöbeln für dieses zweite Wohnzimmer zu investieren. Möbel, die keiner brauchte, da dieses Wohnzimmer vorhersehbar, wie schon in Roggenmoor, mit Ausnahme von Heilig Abend ungenutzt bleiben würde. Gleichzeitig fehlte dadurch der Raum für das benötigte Kinderzimmer für meine zwei kleinen Schwestern, die deshalb weiterhin bei den Eltern im Raum schlafen mussten. Einheitliches Handeln zum Wohle aller war einfach nicht unsere Familienstärke, die richtigen Entscheidungen zu treffen offensichtlich auch nicht. Einer aus der Familie schoss garantiert immer quer. Manchmal denke ich darüber nach, ob der Entschluss meines Vaters, weiterhin den Überlandhandel zu betreiben, richtig war. Er brachte zwar zusätzliche Einnahmen, die beim Aufbau des Ladens mangels Rücklagen dringend erforderlich erschienen, dagegen war meine Mutter jedoch keine Kauffrau, geschweige denn eine nette Verkäuferin. So ebbte das anfängliche Interesse der Kundschaft rasch spürbar ab. Man kaufte bei uns nur noch am Abend, am Wochenende oder wenn man bei Harms oder anderenorts Teile vergessen hatte. Mit meinem Vater im Laden hätte dieser ein anderes Bild geboten und die Kunden wären zuvorkommender und freundlicher bedient worden. Grundsätzlich spielen solche Überlegungen hingegen keine große Rolle, da unsere Familie in sich weder homogen noch streng hierarchisch geordnet war. Eines von beiden wäre indessen unabdingbare Voraussetzung für ein gemeinsames erfolgreiches Handeln gewesen.
Die Eltern lebten mehr gegen- als füreinander, Fidi war als ältester Bruder eine Fehlbesetzung und die kleinen Schwestern altersmäßig einfach zu weit entfernt. Hansi schuftete zu der Zeit schwer auf dem Bau, leistete viele Überstunden und zeigte wenig Interesse an familiären Dingen, zumal ihm die Damenwelt kaum Erholungspausen gönnte. Als kritischer Geist hatte ich schnell die Mali der Familiensituation erkannt, keine Ansätze für nachhaltige Verbesserungen entdeckt und mich nach anfänglichem Interesse für die neue Konstellation innerlich gleich wieder verabschiedet. Einmal gegen die Struktur zerknittertes Papier kann man nicht mehr glätten. Wir waren solch ein mehrfach zerknittertes irreparables Blatt Papier. Wie die schwedische Vasa versank unser Projekt wenige Minuten nach dem Stapellauf. Mein weiteres familiäres Engagement beschränkte sich deshalb fortan ausschließlich auf die Arbeiten und die Termine, denen ich definitiv nicht ausweichen konnte. Folglich werde ich diesem Kapitel meines Lebens auch nur so viel Raum widmen, wie er für den Fortgang der Geschichte als unbedingt notwendig erscheint. Es gab Spannenderes! »Hast du das verstanden, Julchen?« Sie wedelt kurz mit dem Schwanz, was wohl »Ja« bedeuten soll.
Nach wie vor spielte der Konflikt mit der katholischen Kirche für mich eine gewichtige Rolle. Als gläubiger Mensch hätte ich gern einer christlichen Vereinigung angehört, fand hingegen nirgends den rechten Zugang. Auch ein zaghafter Versuch mit den Protestanten brachte nicht die erhoffte Wirkung, obwohl Pastor Henoch eine integere Persönlichkeit war, vor der ich durchaus Hochachtung empfand. Vor diesem Hintergrund war ich dankbar für die Einladung meines Klassenkameraden Wolfgang, an einer christlichen Freizeit der Baptisten teilzunehmen. Ich erkannte darin sofort eine passende Möglichkeit, mich kirchlich wieder einbringen und gleichzeitig dem neuen Haus und dem Dorf Apen kurzzeitig entfliehen zu können, wie ich es mir fest vorgenommen hatte. Lange Zeit glaubte ich, wir seien während dieser Freizeit weit von Daheim entfernt gewesen und war umso erstaunter, als ich in späteren Jahren kurzzeitig bei Gotano Fußball spielte und eines Tages auf der Fahrt durch Godensholt den mir vertrauten Hof entdeckte, auf dem wir diese Freizeit verlebt hatten. Entfernung ist so subjektiv wie der Grund, weshalb man sie emotionsgeladen sucht oder duldend erleiden muss.
Wir, etwa zwanzig Kinder zwischen acht und sechzehn Jahren, schliefen, Jungs und Mädchen sittsam getrennt, teilweise im ehemaligen Stall des Hofes, teilweise in dem im Garten aufgebauten Zelt und wurden von Erwachsenen der Augustfehner Baptistengemeinde liebevoll betreut. Im Mittelpunkt standen die Auseinandersetzung mit Glaubensfragen, stille Zeiten, Gebete und christliche Lieder. Daneben gestalteten wir unterhaltsame Freizeitspiele. Im Camp herrschte ein guter fröhlicher Geist. Die ein oder zwei Wochen, die wir dort verbrachten, vergingen wie im Fluge. Ich fühlte mich wohl und schien gefunden zu haben, wonach ich gesucht hatte. Gegen Ende des Aufenthalts entdeckte eine der Betreuerinnen zufällig meine silberne Halskette mit einem Marienanhänger daran und erkundigte sich, was sie zu bedeuten habe. Unbekümmert antwortete ich ihr, ich hätte die Kette von meiner Oma Reich aus Bayern und sie solle mich beschützen. Das war der Anfang vom Ende meiner Beziehung zu den Baptisten! Die Betreuerin ereiferte sich dermaßen über diese Kette und den Aberglauben, der damit verbunden sei und griff mich dabei vor den anderen Kindern so heftig an, dass ich richtiggehend darüber erschrak. Eine ähnliche Szene hatte ich auf meiner Freizeit mit der Katholischen Kirche am Dümmer See erlebt, als alle ach so christlichen Kinder unter der Aufsicht christlicher Erzieher ein anderes an einen Pfahl gebundenes Kind mit Modderpampe bewarfen und voller Hass beschimpften, nur weil es sich angeblich nicht oft genug oder gründlich genug wusch.
Da war es wieder, dieses starre Verhaltensmuster, welches so vielen Gemeinschaften unterschiedlichster Art zueigen ist, gegen das es keine Verstöße geben darf und mit dem ich einfach nicht zurecht komme. Hätte man die Situation nicht anders auffangen können? »Schöne Kette. Eine liebe Oma hast du, die dich beschützt wissen möchte. Aber weißt du, ein bisschen Metall um den Hals kann dich nicht wirklich beschützen. Wenn du aber an Gott glaubst, gibt es dir Kraft, und aus dem Glauben heraus wirst du bei schwierigen Entscheidungen, die dein Leben betreffen, die richtigen Antworten auf deine Fragen bei ihm finden.« Das hätte mir geholfen. So konnte ich mich nur wieder abwenden. Damit war auch diese Chance vertan, mich als funktionierendes Mitglied in eine kirchliche Gemeinschaft einzugliedern. Derzeit bemühe ich mich erneut, trotz aller kritischen Bedenken, einen Zugang zur Katholischen Kirche zu finden. Die Brieselanger Gemeinde wird offensichtlich von einem fest und freudig im Glauben stehenden Pfarrer geleitet, was mir Zuversicht und Hoffnung gibt. Mit dem Teil des Glaubensbekenntnisses, in dem ich meinen Glauben an die »Heilige Katholische Kirche« bekunden soll, habe ich nach wie vor Probleme, seitdem eine calvinistische Exfreundin von mir an dieser Stelle empört die Katholische Kirche verließ, in der wir uns gerade anlässlich einer Taufe befanden. »Wie kann man an eine Kirche glauben? Seid ihr eine Sekte?« An der Stelle schweige ich seither. Der Leib Christi bleibt mir aufgrund meines etwas unsteten Lebenswandels dauerhaft verwehrt, womit ich aber leben kann. Bei der Endabrechnung, hoffe ich zumindest, wird der Herr mir aufrichtig reuigem Sünder vergeben.
Besser als mit den christlichen Gemeinschaften lief es damals in der Schule, wenngleich zwischen dem Rektor und mir eine gegenseitige tiefgehende herzliche Abneigung bestand, deren Grundstein bereits meine zwei älteren Brüder gelegt hatten. Schon als wir noch in Roggenmoor wohnten, unser bevorstehender Umzug nach Apen indessen bereits feststand, versuchte er, mich auf die dortige Hauptschule abzuschieben. Dies wollte ich als Herzens-Augustfehner und damit zwangsläufig Apen-Verachter natürlich unbedingt vermeiden. Die Situation spitzte sich zu, die Abschiebung schien kaum mehr abwendbar. Da konnte nur noch der Schulrat als höhere Instanz helfen. Ergo raffte ich eines Tages all meinen Mut zusammen, trampte nach Westerstede und suchte den Schulrat im dortigen Kreisamt auf. Mit klopfendem Herzen saß ich fast eine Stunde wartend vor seinem Büro, da ich mir vorher natürlich keinen Termin hatte geben lassen. Überrascht, mich dreizehnjährigen Knaben ohne elterliche Begleitung vorzufinden, bat er mich dennoch zu sich herein und unterhielt sich etwa eine Stunde recht angeregt und freundlich mit mir. Bei unserer Verabschiedung wies er mich an, meine Eltern zu bitten, den notwendigen Antrag auf Verbleib an der Volksschule Augustfehn I schriftlich einzureichen, da er sonst nichts für mich unternehmen könne. Ich war ja noch nicht geschäftsfähig.
Kein Problem – dachte ich zumindest! Nachdem ich für das Versprechen meiner Mutter, mir schnell die paar Zeilen auf der Maschine zu tippen, diverse Extraarbeiten geleistet hatte, stand ich weiterhin ohne dieses Schreiben da. Die Zeit drängte. Also, wandte ich mich an Fidi, der auch Schreibmaschine schreiben und einen fehlerfreien Satz hinbekommen konnte. Ich weiß nicht mehr, wie viele Hemden und Hosen ich gebügelt, wie viele Schuhe ich geputzt hatte, um letztlich wiederum ohne das benötigte Schreiben dazustehen. In diesem Punkt glichen sich die Zwei. In der Not sprangen sie einem Hilfesuchenden nicht selbstlos zur Seite, sondern versuchten, aus der Notlage anderer Kapital für sich zu schlagen. Hansi und mein Vater waren da anders, konnten aber leider beide nicht Schreibmaschine schreiben.
Um nicht den letztmöglichen Termin zu versäumen, setzte ich mich in höchster Not schließlich selbst hin und tippte den Brief fehlerhaft im Adlersystem auf unserer Olympia Koffermaschine. Als ich fertig war, erhielt ich wenigstens die erforderliche Unterschrift von meiner Mutter, allerdings nicht, ohne vorher in Windeseile erneut diverse Zusatzarbeiten erledigt zu haben. Danach raste ich mit einem bei den Nachbarn geliehenen Fahrrad nach Apen zur Post, kaufte von meinem Taschengeld eine Briefmarke und gab den Brief in letzter Minute auf. Ein paar Tage später besuchte der Schulrat unsere Schule, sprach längere Zeit mit meinem Klassenlehrer Wolff und ließ mich dann zu sich kommen, um mir mitzuteilen, dass ich an der Schule bleiben könne. Ich bedankte mich herzlich bei ihm, nicht ohne freudig den hochroten Kopf des innerlich wutschnaubenden Rektors zur Kenntnis zu nehmen und ihm noch ein überhebliches Siegergrinsen zukommen zu lassen. Diese kleine Genugtuung konnte ich mir leisten, da unser Verhältnis seit Jahren ohnehin so getrübt war, dass ich einmal sogar einen Eintrag erhielt, als ich gar nicht in der Schule war. Scheinbar gehörte mein Eintrag gefühlt zu den täglichen Pflichten des Rektors. Gelernt habe ich aus dem Erlebten in Kirche und Schule, dass man Dinge, an denen einem wirklich etwas liegt, durchaus wieder aufnehmen sollte, auch wenn sie wiederholt scheitern, man sich letztlich nur auf die eigene Leistungskraft verlassen kann und zur Erreichung von Zielen auch schon mal vermeintliche Autoritäten auf die Seite schieben muss.
Nun hockte ich also physisch in Apen, während meine gefühlte Lebensmitte dessen ungeachtet weiterhin im drei Kilometer entfernten Augustfehn verharrte. Ähnlich war es mir vorher mit Roggenmoor und Augustfehn ergangen, wobei sich in Roggenmoor aber auch meine überwiegende Lebensmitte befunden hatte. Nun hieß es wochentags Schule in Augustfehn, samstags Fußball spielen beim TuS Vorwärts Augustfehn und sonntags Augustfehner Hof mit Kino oder dem jeweiligen Ortsfest. Meine Freunde kamen anfangs ausschließlich aus Augustfehn, und keiner von ihnen zeigte Bereitschaft, ohne zwingenden Grund freiwillig nach Apen zu kommen. Zwischen beiden Orten stand eine unsichtbare, aber kaum überwindbare Mauer. Nürnberger und Fürther, Kölner und Düsseldorfer und Böblinger und Sindelfinger wissen, wovon ich spreche. Abends dann Familie und Fernsehen in Apen. So weit, so schlecht!
Auch Hansi fühlte sich daheim nicht mehr wohl. Eines Tages gab es eine heftige, am Ende auch körperliche Auseinandersetzung zwischen ihm und unserem Vater, wobei dieser wohl den Kürzeren zog. Den Grund des Streites habe ich nie erfahren, sehe aber noch heute unseren Vater vor mir, wie er nach dem Generationskampf erschöpft, am ganzen Körper zitternd und mit starrem leeren Blick auf einem Stuhl sitzend zur eigenen Beruhigung eine Juno rauchte. Was mag in ihm vorgegangen sein? Zwanzig Jahre lang hatte er, wenngleich nicht fehlerfrei, so doch verantwortungsvoll, für diesen Sohn gesorgt, ihn des Öfteren auch mit ausrutschender Hand gezüchtigt und jetzt? Wie konnte sein Ältester das tun? Die Hand gegen ihn erheben, gegen den eigenen leiblichen Vater? »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren« heißt es doch ganz eindeutig im vierten Gebot. »Wer seine Hand gegen Vater oder Mutter erhebt, dem wächst sie aus dem Grab!« pflegte meine Mutter zu sagen. Wer oder was hatte da versagt? Er als Vater? Hansi als Sohn? Hatte alles mit den langen Haaren und dem schrecklichen Gejauel der Beatmusik zu tun? Waren wir bereits auf dem Weg zur Anarchie? Meines Vaters Weltordnung geriet spürbar ins Wanken. Hansi ging daraufhin nach Oldenburg, wo er eine kurze Zeit in der dortigen Glashütte arbeitete. An einem Samstag tauchte er plötzlich mit schulterlangen Haaren und einem gewissen Edek bei uns auf, woran ich mich vor allem deshalb erinnere, weil Edek und ich gebannt vor dem Fernseher saßen und das Schlagzeugspiel von Keith Moon von »The Who« verfolgten, die gerade ihren Hit »Happy Jack« im Beatclub vorstellten. Edek wirkte nett, war als Charakter allerdings nicht ganz koscher, wie sich bald herausstellen sollte.
Nachhaltig blieb mir auch der Auftritt des Polizisten in Uniform und seiner Gattin in Erinnerung, die bei uns an diesem Tage Sturm klingelten und barsch die Herausgabe ihrer minderjährigen Töchter forderten. Nun stellte sich heraus, dass Hansi und Edek die beiden minderjährigen Töchter des Ehepaares, eine seine Tochter, die andere ihre Tochter, im Schlepptau hatten. Die beiden Mädchen hockten wartend unserem Haus gegenüber in dem Rohbau des Hauses der Familie Henken, bis besagter Polizist nebst Gattin beide dort schimpfend und schlagend aufscheuchten und in den wartenden PKW hineintrieben, wie Schweneker und Hinrichs das Schlachtvieh auf der Viehrampe beim Bahnhof. Schon damals wollte dieses Ehepaar unserer Familie den schwarzen Peter für diese unschöne Geschichte zuschieben, obwohl doch sie es waren, die ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt hatten. Immerhin hatte Hansi die Mädel in einer damals sehr berüchtigten Disco in der Pistolenstraße in Oldenburg kennengelernt, in die sie altersbedingt gar nicht hineingedurft hätten. Wir sollten dieses Ehepaar in den nächsten Jahren noch näher kennen lernen, da Hansi bald darauf eines der beiden Mädchen, Karin, heiraten sollte.
Bei diesem Besuch muss noch etwas zwischen Hansi und den Eltern vorgefallen sein, weshalb er bei uns hinausflog und sich auch vornahm, nie mehr wieder heim zu kommen, selbst wenn es ihm schlecht ergehen sollte. Dies war ein grober Fehler. Als er kurz darauf wirklich in eine missliche Lage geriet, bat er nicht daheim um Hilfe, sondern geriet durch schlechten Umgang vorübergehend auf die schiefe Bahn, was ihm auch ernsthaften Ärger mit dem Gericht einbrachte. In dieser Situation setzte sich erstaunlicherweise meine Mutter vehement für ihn ein, während mein Vater überraschend passiv blieb. Ganz anders, als damals in meiner schwärzesten Stunde, als er es war, der mir neuen Mut gab. Das Band zwischen Hansi und ihm war offensichtlich mit ihrer Schlägerei zerrissen worden und sollte auch nie wieder neu geknüpft werden. Bei meiner Mutter bin ich mir nicht sicher, ob sie wirklich Hansi helfen, oder nur den Imageschaden beheben wollte, der durch seine Taten vorübergehend entstanden war. Weihnachten war Hansi zumindest physisch wieder da und blieb, innerlich latent absprungbereit, noch für gut ein halbes Jahr bei uns wohnen, bevor er endgültig auszog.
Mein tägliches Problem stellte alsbald der Schulweg dar. Von Roggenmoor aus hatte ich noch laufen können, von unserem neuen Domizil aus wäre der Weg zweifellos zu weit gewesen. Ein Fahrrad besaß ich anfangs nicht, und der Bus war auf die Realschüler getaktet, die aus Westerstede und Westerloy kamen, aber erst um 8.15 Uhr antreten mussten. Blieb als ultima Ratio noch, per Anhalter zu fahren, was nur bedingt funktionierte und zwei unmittelbare Auswirkungen hatte: Erstens lernte ich den Realschüler Manni kennen, zweitens Strafarbeiten ausüben. Manni war der erste Junge in unserer Gegend mit einer richtigen Matte auf dem Kopf. Ein hübscher Kerl mit einem bereits guten Schlag in der heimischen Damenwelt. Er war groß und schlank, hatte schulterlanges, glattes dunkles Haar, braune Augen, ein längliches, fein geschnittenes Gesicht und lachte viel. In den Ferien trampte er durch die Gegend, war dabei schon mal in Schweden gewesen und hatte mit einigen Clochards in Paris unter den Seinebrücken genächtigt. Das beeindruckte mich in etwa so wie Huckleberry Finn Tom Sawyer. Es waren immer gute Gespräche, wenn wir uns frühmorgens ganz verschlafen vor Orths Laden an der Ecke Streichen- und Hauptstraße trafen, uns eine Zigarette drehten, vor uns hin qualmten und hofften, dass Pastor Stöver in seinem VW Variant vorbeigefahren käme, weil der uns in der Regel mitnahm. In der Regel hieß konkret: Gemeinsam mit Manni: Ja! Den hatte er schließlich konfirmiert. Ich allein: Nein! Schließlich war ein evangelischer Pastor doch kein kostenloses Katholikentaxi! Fahrten mit ihm waren freilich nicht ungefährlich, da er als ziemlich zerstreuter Geist an dies und jenes dachte, nur nicht daran, was er gerade im Moment tat. Dies traf auch beim Autofahren zu.
Manchmal ließen wir auch einen bereits haltenden Wagen wieder weiterfahren, weil wir uns gerade eine angesteckt hatten und noch eben in Ruhe zu Ende rauchen wollten oder ein Thema noch nicht zu Ende bekakelt hatten. Vorwiegend ging es um Musik, die nicht nur als Tanzmucke oder Assi- und Gewaltverherrlichung diente wie heutzutage, sondern tiefgehende weltanschauliche Veränderungen begleitete, unterstützte oder hervorrief. Die Zeit war spürbar reif, verkrustete gesellschaftliche Normen der Adenauerära aufzubrechen, wobei die Musik kein unwesentliches Element darstellte. Herausragende LP’s des Jahres und zum Teil Meilensteine der Musikentwicklung waren »Blonde on Blonde« von Bob Dylan, »Aftermath« von den Rolling Stones, »Pet Sounds« von den Beach Boys und natürlich »Revolver« von den Beatles, die erste LP, die ich mir selbst kaufte und zum Leidwesen meiner Mutter auf unserer alten Grundig Musikanlage platt spielte. Meine erste Single war »Hello Goodbye«, ebenfalls von den Beatles. Die Bands begannen ausgeflippt zu experimentieren, was wohl vorrangig mit dem Konsum diverser Drogen zusammenhing. So nannte John Lennon »Rubber Soul« sein Pot-Album, »Revolver« sein Acid-Album, also LSD beeinflusst. Die Auswirkungen der Drogenerfahrungen führten auf »Revolver« zu Elementen, die heute als Vorreiter des Psychedelic Rock gesehen werden.
Diskutiert wurden die Hits, die bei Alwin Brüggemann in der Jukebox, bei Freunden auf dem Plattenteller oder daheim auf dem Cassettenspieler pausenlos dudelten, so die Mamas & Papas mit »Monday, Monday«, Esther & Abi Ofarim mit »Morning of my Life«, die Stones mit »Get off of my cloud«, »19th Nervous Breakdown« und »Paint it black«. Nicht klein zu kriegen waren Titel wie »Hang on Sloopy« von den McCoys, den ich noch in den neunziger Jahren zu Kerwazeiten in Erlangen auflegen sollte, »Barbara Anne« von den Beach Boys, »Wild Thing« von den Troggs, »Black is Black« von den Los Bravos, »Yesterday«, »Nowhere Man« und »Paperback Writer« von den Beatles, um nur einige zu nennen. Auf dem deutschen Markt interessierte uns lediglich Drafi Deutscher, zumal wir ihn live in Augustfehn erlebt hatten. Bei den Filmen lieferten »Tanz der Vampire«, »Hitze der Nacht«, »Django« und vor allem Antonionis »Blow up« Gesprächsstoff, dieses Porträt der Beat Generation mit seinen mannigfachen Zeitzitaten und überlangen Cabriofahrten durch London, der gefühlten und gelebten Hauptstadt der »Swinging Sixties«.
Einmal lachten wir uns halb tot, weil irgend so ein Witzbold in Frankfurt ein Theaterstück aufgeführt hatte, in dem er einfach das Publikum beschimpfte, das es sich auch noch gefallen ließ. »Nach den Beschimpfungen wird dem Publikum von den Darstellern eine gute Nacht gewünscht und lauter Beifall geklatscht«, hieß es in einer Besprechung. Wir stellten uns vor, was passiert wäre, hätte es diese Aufführung bei Alwin Brüggemann im Saal oder gar bei Georg Thyen in Apen gegeben. Wir sahen Theo Ripken leibhaftig vor uns, wie er langsam und bedrohlich seinen kolossalen Körper in die Höhe stemmte, gemessenen Schrittes zur Bühnenrampe schritt und die Hansel auf der Bühne mit seinem Gebrüll fast hinwegfegte: »Maokt, dat ji van de Bühne koamt, ji Halfmallen, anners givt dat watt upt Mul!« Dies wäre mit Sicherheit kein leeres Versprechen geblieben! In Frankfurt konnte man solch einen Unsinn mit den Leuten freilich machen. Die hatten einfach keine verwurzelte Kultur. Es gab zu viele Banker in der Stadt, die sich nicht durch harte ehrliche Arbeit im Schweiße ihres Angesichtes ihr Brot, sondern bequem mit Scheingeschäften dumm und dämlich verdienten. Dieser Umstand wirkte sich dann auch negativ auf das Kulturleben aus.
Beim Dortmunder 2:1 Sieg nach Verlängerung gegen den FC Liverpool im Finale des Europapokals der Pokalsieger hatten wir gemischte Gefühle. Einerseits freuten wir uns für die deutsche Mannschaft, andererseits waren wir natürlich Fans der Beatles-Stadt Liverpool. Der richtungsweisende Merseybeat war uns halt emotional näher als der karnevalistische Ruhrpott mit seinem »Humpta Täterä«. Einigkeit bestand hingegen in der Einschätzung, dass die Starfighter F 104 Piloten und deren Angehörige aufrichtig zu bedauern waren, da pausenlos Maschinen dieses Typs abstürzten und die Piloten dabei in der Regel tödlich verunglückten. Die ursprünglich dank Befreiung vom Hitlerfaschismus, Care Paketen und Luftbrücke bei uns sehr positiv gesehenen Amerikaner mutierten durch ihre Vorgehensweise im Vietnamkrieg und gegen die eigene schwarze Bevölkerung nach und nach zum Feindbild, und die Große Koalition erschien uns als ein erster Schritt in Richtung Machtwechsel hin zur SPD. Willy Brandts Zeit würde kommen – und ich höchstpersönlich hatte ihn auf dem Viehmarktplatz in Apen berührt. Amen!
Daneben waren Mädel ein Standardthema, zumal ich auf dem Feuerwehrfest in Vreschen-Bokel den ersten weiblichen Busen meines Lebens in der Hand gehalten hatte und Manni bereits über Beischlaferfahrungen verfügte. Interessant erschienen auch die Bands der Gegend, vor allem die, in der Raimund aus unserer bald entstandenen Apener Clique Bass spielte und die von Mike, einem Schönling aus Westerstede, der die Mädel als Sänger begeisterte. Sie wären aber auch von ihm begeistert gewesen, wenn er nicht gesungen hätte! In Augustfehn gründete sich auch eine Band, in der u.a. Eberhard Thiel und Kalle Lanzerath mitspielten. Wenn die Band bei Georg Töbermann in Hengstforde in der Garage übte, hörte ich sie noch in unserem Haus in Roggenmoor:»Das sind die einsamen Ja-ah-re, wenn dich niemand verste-eht …« Die Karriere endete nach nur wenigen lokalen Auftritten, wie bei Regionalbands üblich. Drogen, mit denen sich zu der Zeit zunehmend mehr Zeitgenossen in höhere Sphären katapultierten, wurden kontrovers diskutiert, und Holland galt schon damals hinlänglich als Bezugsquelle Nummer eins. Abgerundet wurden unsere Palaver durch tages- oder ortsaktuelles Getratsche und hin und wieder ein paar gute Jokes oberhalb der Gürtellinie und meines bisherigen Horizonts: Frage an Mao Tse Tung: »How often do you have elections?« Freudig erregte Antwort des großen Vorsitzenden: »Evely molning!«
Der Haken an der ganzen Tramperei: Als ob sich die Autofahrer mit dem Bus abgesprochen hätten, hielt auch meist erst einer an, wenn es für mich bereits zu spät war, noch rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn zu erscheinen. Dieser Umstand führte stante pede zu zweitens: Wiederholte Ermahnungen in der Schule, dann heftigere Ermahnungen, Strafarbeiten und Einträge ins Klassenbuch. Als ich weiterhin zu spät kam, hatte man die glorreiche Idee, mich für jede Minute des zu spät Kommens samstags eine Stunde die Schule putzen zu lassen: Mein ganz individuelles postnationalsozialistisches Arbeitslager. Arbeit machte ja angeblich frei. Mich aber nicht. An manchen schulfreien Samstagen putzte ich bis 13 Uhr, und der arme Hausmeister Wiesner wusste gar nicht mehr, welche Türklinke er mich noch putzen lassen sollte. Eventuell argwöhnte er gar, ich könne ihm schleichend seinen Job streitig machen. Kinderarbeit war damals weder im allgemeinen Bewusstsein noch in der veröffentlichten Meinung ein Tabu, zumal sie auf den Bauernhöfen und in den Gewerbebetrieben der Region Alltag war. Auch sonst galt es für fast alle Kinder, daheim kräftig mit anzupacken, sei es, um die kleineren Geschwister oder diverse Haustiere zu versorgen, einkaufen zu gehen oder den Gemüsegarten in Schuss zu halten, in dem vor allem das Unkraut wuchs. Arbeit allgemein genoss einen sehr hohen Stellenwert, auch in der Bewertung von heiratsfähigen Frauen. Da hieß es nicht, die ist intelligent, ehrlich, lieb, schön oder sexy, sondern: »De hett ne moje Frou, de kann arbeiten!« Vermutlich aus diesem Grunde heißt es auch »um die Hand einer Frau anhalten«, was korrekt »um die arbeitende Hand einer Frau anhalten« heißen müsste. Neben der Strafarbeit als Erziehungsmittel stand den Lehrkräften zu dieser Zeit sogar noch körperliche Züchtigung als legitimes Mittel bei der pädagogischen Formung des Nachwuchses zur Verfügung, wenngleich sie faktisch kaum mehr zur Anwendung kam.
Eines Tages, nachdem mein Lehrer Wolff ob dieses andauernden Missstandes des zu spät Kommens bei uns daheim vorstellig geworden war, schickte mich mein Vater mit den Worten zu Georg Röben: »Da kannste dir ein neues Fahrrad aussuchen!« »Heh? Wie das auf einmal? Dein Vater hat doch nie großen Wert darauf gelegt, was Lehrer und Schule an lebensfernen Wertvorstellungen hinter sich her schleiften?« Egal, Fahrrad machte frei, freier jedenfalls als Samstagsarbeit! Also, auf zu Georg Röben, ein Modell zwischen Budgetvorgabe und eigenen Ansprüchen ausgesucht und, juhu, ab ging die Post! Einmal um den Pudding. Hauptstraße bis Leuchtturm vor, Kehrtwende, bei Jennebachs in die Streichenstraße, vor bis zur Molkerei, wieder Hauptstraße bis zur Polizeistation, links abbiegen und dann Am Esch vor bis zur Ringstraße. Tolles Fahrrad! Budgetüberschreitung voll gerechtfertigt! Beim Abendbrot kam dann die Ernüchterung für mich. Mein Vater war nicht wegen des Lehrerbesuches einsichtig geworden, sondern verfolgte ganz andere, eigene Ziele. »Sag mal Günter, jetzt wo du so ein schönes neues Fahrrad hast, könntest du doch donnerstags für mich in Apermarsch die Bestellungen einsammeln und anschließend zusammenstellen. Dann muss ich sie abends nur noch ausfahren. Ich würde auch dein Taschengeld erhöhen.« Daher wehte also der Wind, und ich Blödmann war voll darauf hereingefallen. Das Fahrrad machte mich nicht frei, sondern führte mich schnurstracks in die nächste Arbeit. So begann, ungedopt, meine wöchentliche »Tour d’Apermarsch«. »Das wäre was für dich gewesen, Julchen! Mindestens eineinhalb Stunden Gassi gehen, und bei den Leuten hättest du sicherlich Leckerli bekommen, bei den Bauern vielleicht sogar hin und wieder einen großen Knochen. Interessiert dich im Moment nicht? Auch gut. Ich lese dennoch weiter.«
Es beginnt in der Ringstraße, dann links Osterende vorbei an Reinhards, Kettwigs, dem Zeitungsausträger Heini mit seinem stinkenden, weil nicht kastrierten Ziegenbock und den zwitschernden Wellensittichen, den Bußkohls. Von allen wird noch zu reden sein. Weiter in die Marschstraße, über die große Süderbäke, wo ich später öfter mit meinem Nachbarsjungen Herrmann zum Angeln ging. Beim Bahnübergang links bleiben, Hoher Weg folgend, dann rechts in den Birkhuhnweg, wo ich links auf das kleine Häuschen der Familie Kaper treffe, meine ersten Kunden. Es kostet mich anfangs schon einiges an Überwindung, zu klingeln und dann einzutreten. Die Familie ist mir bis dato völlig fremd. Die Frau sieht dauerhaft etwas müde und krank aus, wie ich bei meinen wöchentlichen Besuchen registriere, wird aber von ihren Kindern heiß geliebt, weshalb ich lange Zeit ungebremst Heintjes »Mama« zu hören bekomme. Jede Woche!
Hier, wie fast überall, begrüßt man mich mit einem freundlichen »Moin« und dem Satz »Is all wedder Dönnerdag?« Dies soll im Klartext heißen, erst einmal das Bestellbüchlein suchen und einen schreibfähigen Stift dazu, was sich auf dem Lande mitunter als schwierig und zeitraubend erweist. Danach wird sich erst einmal hingesetzt und nachgedacht: »So, watt brüekt wie denn disse week?« Nach ein paar Besuchen könnte ich es ihnen diktieren, weil sie eh immer dasselbe bestellen, hülle mich aber diskret in Schweigen und warte geduldig und freundlich lächelnd ab. »Papa, brüekst Du watt disse week?« Natürlich braucht der was! Seinen Tabak, wie immer! Der raucht doch wie ein Schlot! »Ik weet nich, Mauder. Viellicht een bäeeten Tabak.« Sag ich doch. Jetzt kommt noch die Sorte: Schwarzer Krauser half en half. »Wecke Sort nimmst Du denn?« »Och, dat is mi egens egaol. Giff mi man den schwatten krusen, half un half.« »Is good, Vaoder, so maokt wie dat.« Dann noch die Wünsche der Kinder nach Chips und Süßigkeiten, damit dem Übergewicht genüge getan und Zahnarzt Zimmermann in Apen nicht arbeitslos gemacht wird.
Nach der Familie Kaper geht es weiter, wobei ich heute nicht mehr genau sagen kann, wie, weil sich in Apermarsch seit einer Flubereinigung einige Wege völlig verändert haben bzw. für immer verschwunden sind. Mehrmals habe ich versucht, die alte Strecke mit dem Auto abzufahren und meinen damaligen Weg zu rekonstruieren, es fehlen aber einfach Teile, so z.B. der Horrorsandweg, der damals zur Familie Mösker und einem weiteren Haus führte. Dort musste ich mein Fahrrad nahezu ständig hindurchschieben, weil der Weg entweder zu trocken und sandig war oder zu feucht und matschig, um hindurchfahren zu können. Die beiden Möskers sind wirklich nette alte Leute, die ich auf Anhieb sehr gern mag. Er ist, glaube ich, gebürtiger Holländer und spricht nur gebrochen Deutsch. Eventuell ist er auch nur einfach mundfaul. Den Eingang ihres Gartens ziert ein kleines grünes Holztor und ein mit wunderschönen vollen roten Kletterrosen bewachsener Rundbogen. Im Garten gedeihen Erdbeeren und eine Felsenbirne oder Korinthe, wie wir sie nennen. Von beiden darf ich immer naschen, wenn ich im Sommer zu ihnen komme. In Gedenken an dieses Ehepaar habe ich in meinem Garten in Brieselang zwei Korinthen gepflanzt, eine für sie, eine für ihn. Oft sehe ich Frau Mösker mit ihrem großen, länglichen Gesicht, den langen Zähnen und ihrem freundlichen Lachen vor mir, wenn ich vor den Sträuchern stehe, mir einige Korinthen herunterpflücke und sie direkt in den Mund stecke. Bei den Möskers gibt es stets eine Tasse Tee, ein paar Kekse und ein nettes Gespräch, was mir sehr entgegen kommt, da ich es schon als Kind geliebt hatte, mich mit alten Menschen zu unterhalten. »Kumm man eben rinn, ik moak uus gau een Tass Tee!«
Nebenan in dem Haus wohnen zwei Familien, deren Namen ich aber vergessen habe. Rechts wohnt ein Ehepaar mit Kindern, links die Mutter von einem der beiden Elternteile. Erinnern kann ich mich an ein Gespräch mit der alten Dame anlässlich der Bundestagswahl 1969, als Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt die Spitzenkandidaten ihrer jeweiligen Partei waren. Sie hat von beiden Porträtaufnahmen, schwärmt von der aufrechten, ehrlichen Ausstrahlung Kiesingers und von ihrer Antipathie gegenüber Brandt. Damit stand sie als Frau in Deutschland vermutlich recht allein auf weiter Flur. Selbst Hannelore Kohl soll Brandt als attraktiv empfunden haben und die Nazijägerin Beate Klarsfeld wusste am 7.11.68 genau, weshalb sie Bundeskanzler Kiesinger mit Recht eine schallende Ohrfeige erteilte und nicht Außenminister Brandt. Als ehemaliger »Willy-Anfasser« versuche ich natürlich, sie eines Besseren zu belehren, gebe den Versuch jedoch bald resigniert auf, zumal ich ja meine Runde drehen und die Bestellungen rechtzeitig zusammenstellen muss, damit sie mein Vater später noch ausfahren kann.
Zwischen den Kapers und den Möskers gelange ich zu den Meinens, dort, wo heute die Kiefernstraße ist, vielleicht auch erst zu den Meinens und dann zu den Möskers. Die Meinens, Vater, Mutter und zwei Söhne, sind korrekte und aufrichtige Leute, sehr fleißig, stets gastfreundlich, aber unglaublich voluminös. Seit unserer ersten Begegnung beschäftigt mich die quälende Frage: »Wie um alles in der Welt haben die ihre Kinder gezeugt?« Von den Meinens geht es dann über den Birkenweg auf die Apener Straße zu einem ebenfalls älteren Ehepaar, welches in einem kleinen Bungalow wohnt. Bei den beiden läuft es stets reibungslos. Er ist immer für einen kleinen Gedankenaustausch offen, dem ich mich in der Regel auch nicht verweigere. Dabei lacht er herzhaft und weiß geschickt, einen kleinen zweideutigen Scherz unterzubringen, was seiner Gattin sichtlich peinlich ist. »Kannst du denn ollen Schwinskraom nich laoten?«
Das nächste Haus, ein alter Bauernhof, betritt man über die Stallungen, die standesgemäß kräftig nach solchen riechen und nur durch eine glasdurchbrochene Holzwand vom Wohnteil getrennt sind, so wie es in Ammerländer Bauernhäusern seit Jahrhunderten Brauch ist. Die Bäuerin treffe ich meist in der Küche an, manchmal muss ich sie im Garten hinterm Haus suchen, wo sie gerade sät, jätet oder erntet. Sie ist mit einer Art Jutesack gekleidet, darüber eine Kittelschürze. Sie besitzt kaum noch Zähne im Mund und schlurft mit ihren halb zerfallenen Holzschuhen über den mit Klinkersteinen gepflasterten Fußboden zum Küchentisch. Dort nimmt sie das Bestellbüchlein und einen Stift von einem hölzernen Wandbord, fegt erst einmal mit dem einen Arm die Hühner vom Küchentisch hinunter, befreit selbigen mit dem Ärmel des anderen Armes vom reichlich vorhandenen Hühnerkot, legt ihr Büchlein darauf wie der Pfarrer sein Messbuch auf die Kanzel und ritzt ihre Bestellung mühevoll ein. »Da hättest du dich nützlich machen können, Julchen. Bei deinem Anblick wären die Hühner wahrscheinlich freiwillig aus der Küche geflattert.« Schreiben fällt der augenscheinlich schlecht sehenden Bäuerin erkennbar schwer, befriedigt sie aber auch, wie ich ihrem angestrengten aber gleichzeitig zufriedenen Gesichtsausdruck entnehme. Bis auf das Vorhandensein von Papier und Bleistift und der Fähigkeit des Umgangs mit beiden fühle ich mich voll im Geschichtsunterricht live. Titel: So lebten unsere Vorfahren vor mehr als einhundert Jahren!
Zuletzt geht es auf zwei weitere Höfe in der Marschstraße, deren Namen mir auch entfallen sind. Heute haben sich die Gebäudeanordnungen dort derart verändert, dass ich kaum etwas wiedererkenne. Der größere der beiden Höfe, ein stattliches und sehr gepflegtes Anwesen, beschäftigt damals noch einen Knecht, der in einer eingebauten Schlafkoje im Stall bei den Tieren schläft, wie man sie sonst nur noch aus dem Museumsdorf Cloppenburg kennt. Abschließend fahre ich über die Bahn, wieder über die große Süderbäke und dann heim, die eingesammelten Bestellungen für die Verteilung durch den Vater in Pappkartons bereit zu stellen. Für das Einholen der Bestellungen hätte man normalerweise maximal eineinhalb Stunden gebraucht, ich benötigte dafür zwei bis drei, weil ich mich stets auf Gespräche einließ, die offenkundig gesucht wurden. Für einige Kunden war ich, abgesehen vielleicht vom Postboten, die einzige Abwechslung in der Woche. Dabei überwand ich auch einige meiner Vorurteile, die ich gegenüber der konservativen Apener Bauernschaft hegte. Durch die Bank weg hatte ich es hier mit aufrechten und hart arbeitenden Menschen zu tun, die einen freundlich aufnahmen und korrekt behandelten. Eine Erfahrung, die ich im arbeitergeprägten Augustfehn nicht immer mit allen gemacht hatte.
Ansonsten musste ich in aller Herrgottsfrühe vor der Schule die Brötchen für unseren Laden von Bäcker Lamken holen, meine Mutter nachmittags im Laden vertreten, wenn sie einen längeren Mittagsschlaf hielt, freitags die vom Großhändler Meins aus Oldenburg angelieferte Ware auspacken und auszeichnen und einmal im Jahr die vielstündige Inventur durchführen. Kaufmännisch tätig zu sein, war mir nicht wesensfremd, allerdings verhagelte mir meine Mutter mit ihrer ungerechten und destruktiven Art regelmäßig jeden Ansatz, mich mit dem elterlichen Geschäft anzufreunden. Im Garten hatte ich den Rasen zu mähen, Unkraut zu jäten, bei Bedarf Schnee zu schippen oder Koks in den Keller zu schaufeln. Alles zusammen genommen blieb mir aber noch genügend Zeit, meinen eigenen Interessen zu fröhnen, die nun überwiegend der heranwachsenden Damenwelt galten. Vor ein paar Jahren hatte ich mit meiner damals neunjährigen Tochter Heidede folgenden Dialog im Auto. »Papa, wann hattest du deine erste Freundin?« Ich dachte kurz nach und antwortete: »Ich meine, es war mit 12 oder 13 Jahren.« Kurze Pause. Dann: »Da bin ich aber schneller als Du!« »So, wieso denn?« »Na, ich hab jetzt schon einen Freund!« Schluck! »Aha!?« Wieder Pause. Dann: »Eigentlich erzählt man so was seinem Vater ja nicht.« »Und warum tust du es dann?« »Weil ich so viel Vertrauen zu dir habe!« Da habe ich mich gefreut, trotz des etwas verfrühten Freundes. Vielleicht habe ich ja bisher doch einiges in der Erziehung richtig gemacht, und wir zwei kommen relativ unbeschadet durch ihre bevorstehende Pubertät. Wo bleibt sie übrigens? Sie müsste doch schon daheim sein! Sicherlich sind sie und ihre Freundin so mit Reisevorbereitungen beschäftigt, dass sie die Zeit völlig vergessen haben.
Ich habe meinen Eltern nie ein Sterbenswörtchen über meine sexuellen Erlebnisse verraten, es hätte sie vermutlich auch gar nicht interessiert. Dabei hatte sich bei mir seit der Inaugenscheinnahme eines halb entkleideten Dorfmädchens in Roggenmoor bereits einiges in Richtung Mädchen bewegt. Irmtraud, eigentlich meine erste Freundin nach zwei Kindheitsfreundinnen, ein hübsches schwarzhaariges Mädchen mit großen dunklen Augen und einer hübschen Figur aus der Klasse unter mir, konnte man schon richtig küssen, genau wie Karin, mit der ich kurze Zeit danach mehr oder weniger ging. Karin hatte schulterlanges glattes mittelblondes Haar und war fast ein wenig burschikos. Eigentlich war sie mehr der Kumpeltyp. Unter der Bluse oder unterhalb der Gürtellinie ging aber bei beiden nichts, wobei man bei beiden damals oben auch noch nicht wirklich etwas verpasste. Wichtiger als das dauernd angepeilte Busengegrapsche war mir allerdings die Erfahrung, für diese Mädchen etwas zu empfinden, was ich sonst für keinen anderen Menschen empfunden hatte. Ich freute mich einfach, wenn ich sie sah, aber anders, als wenn ich mich freute, meinen besten Freund Friedhelm zu treffen.
Relativ früh setzte bei mir schon eine gewisse Rotation ein, was u.a. damit zusammenhing, dass die Mädels, mit denen man gerade mehr oder weniger ging, oft keine Zeit hatten, weil sie auf kleinere Geschwister aufpassen, mit zu Verwandtenbesuchen fahren oder einfach nur Hausarrest absitzen mussten. Viele durften schlicht nicht ins Nachbardorf zum Feuerwehrfest, weil es angeblich zu weit entfernt und gefährlich war. Da ich mein Betätigungsfeld kontinuierlich ausbaute und neben Apen und Augustfehn I nun auch Festivitäten in Augustfehn II, Godensholt, Vreschen-Bokel und Ocholt besuchte, ergaben sich zwangsläufig auch körperliche Kontakte zu den jeweils dort ansässigen bereiten Mädeln, die in der Regel immer für ein bisschen Fummeln und Knutschen zu begeistern waren. Danach war es dann auch gut. Große Verabredungen oder Adressen auzustauschen, gab es nicht. Knutschen, fummeln und Tschüß. Dies hatten wir uns vermutlich bei Alwin Brüggemann im Kino so angewöhnt. Für den goldenen Schuß reichte es sowieso noch nicht. Selbst meine dritte, diesmal aber wirklich feste Freundin, Rosi, war nicht zu mehr bereit. Trotz deutlich tiefer gehender Gefühle als bei den beiden vorher genannten schwappte auch diese Beziehung an der Oberfläche herum und hielt nur kurze Zeit.
Ursache dieser sexuellen Zurückhaltung war vor allem die panische Angst der meisten Mädel, schwanger zu werden. Davor warnte man sie, befürchte ich, seitdem sie aus dem Kinderwagen geklettert waren. »Dass du mir ja nicht mit einem Balg nach Hause kommst!« Diese Drohung kam bezeichnenderweise aus dem Munde einer Elterngeneration, bei der Siebenmonatskinder an der Tagesordnung waren. Meine Eltern hatten sogar erst zwei Tage vor Hansis Geburt geheiratet. Die meisten Mädel waren genauso scharf auf das erste Mal wie wir Jungs, hatten sich jedoch besser im Griff oder zumindest deutlich mehr Furcht vor möglichen unliebsamen Folgen, als Lust am zu erwarteten sexuellen Geschehen. Deshalb schielten wir Jungs auch immer mit einem Auge auf etwas ältere Mädel, von denen wir annahmen oder vereinzelt auch wussten, dass sie »es« schon taten: »Die trifft sich immer heimlich mit älteren Jungs hinterm Denkmal!« Irmtraud hatte z.B. eine total scharfe ältere Schwester, so ein Dunja Rajter Typ, die mir super gefallen hätte, aber leider war ich viel zu jung und deshalb völlig uninteressant für sie.
So ging das Dilemma los. Die, die du willst, kriegst du nicht, und die, die du kriegst, willst du nicht! »Ihr« geht es genauso. Daneben gab es das Problem des Überangebots. Hatte ich mich gerade mal für eine entschieden, lief mir auch schon eine andere über den Weg, die hübscher, netter, klüger, lustiger, williger oder einfach nur schärfer als die gegenwärtige Freundin war. Um das Fiasko zu vervollständigen, kam noch das Problem der relativ raschen Erschlaffung der bis dato oberflächlichen Gefühle hinzu. Sogar die Sexikone Pamela Anderson würde auf Dauer gegen den Reiz einer Neuen verlieren, selbst wenn diese objektiv nicht so attraktiv wäre wie sie. Es sei denn, die Beziehung beruht nicht primär auf körperlicher, sondern auf menschlicher oder intellektueller Attraktivität. Langsam verstand ich die Zwickmühle, in der sich mein Vater offensichtlich Zeit seines Lebens befunden hatte. Nicht nur er, wie die hohen Scheidungsraten, Fremdgehereien, die hohe Anzahl von Kuckuckskindern, die Umsätze von Prostituierten, Pornofilmen und Pornoheftchen belegen. Die Ehe ist schon ein unergründliches Mysterium. Martina, eine Irin, bei der ich in späteren Jahren einen Konversationskurs in Englisch an der VHS in Nürnberg besuchte, erzählte uns einmal, ihre Mutter habe sie bezüglich der Ehe dahingehend instruiert: »You have to learn to play the game!« Manche beherrschen dieses Spiel und führen, zumindest nach außen hin, eine glückliche und harmonische Ehe. Was sie hinter den Kulissen treiben, erfährt keiner, wenn sie Glück haben. Die Ehepartner schon gleich gar nicht. Manche arrangieren sich auch einfach. Der 2009 verstorbene Edward Kennedy formulierte es so: »Zu heiraten heißt ja nicht zwangsläufig, treu sein zu müssen.« Dabei sind die Kennedys Katholiken, denen die Ehe heilig sein sollte!