Lieschens Wald - Günter F. Janßen - E-Book

Lieschens Wald E-Book

Günter F. Janßen

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Beschreibung

Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Licht im Brieselanger Wald stößt der Autor ungewollt auf das Schicksal der 1767 im Havelländischen Buchow wegen Kindsmord hingerichteten Magd Anna Elisabeth Thönßen. Sie besetzt fortan seine Gedankenwelt und bringt ihn dazu, ihren Fall nach 250 Jahren neu aufzurollen. Daneben führt ihn die Beschäftigung mit der Legendenbildung rund um das mysteriöse Licht immer wieder zu Elisabeth Wieja aus Altbrieselang, die als Zwölfjährige in dem Wald vergewaltigt und ermordet wurde. Haben die zwei gewaltsam gestorbenen Frauen etwas mit dem geheimnisvollen Licht zu tun?

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Seitenzahl: 478

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Für Heidede

Arbeitsjournal

Der Brieselang

Blatt 1: Das Brieselanger Licht und Anna Treffen Wulkows, Brand Bredow, Kindsmörderin Anna

Blatt 2: Bericht der Wulkows Lichterlebnisse der Frau, die des Mannes, Annas Vita

Blatt 3: Auswertung Zeitungsartikel Scheinwerfertheorie, Phosphoreszenz

Blatt 4: Ortsbegehung bei Tag I Bericht Wilske, Waldkarte, Gang Leuchterweg

Blatt 5: Lieschens Spur Besuch Wilske, Lieschens Mord, Zeugensuche

Blatt 6: Ortsbegehung bei Tag II Wegbeschreibung mit Schrittmessung

Blatt 7: Naturphänomene Havelländer Luch, Irrlichter, Limbus

Blatt 8: Forstamt Brieselang Hiebschläge, Wege, Zeitzeugen

Blatt 9: Ortsbegehung bei Tag III Vergleich der Beobachtungen

Blatt 10: Richtstätte Schöne, Feldküche, Stellberg, Hinrichtung

Blatt 11: Dienstmädchen und Mägde Gespräch Fitzner, Ortsbesichtigung Karpzow

Blatt 12: Ortsbegehung bei Tag IV Leuchter- und Luchweg, Sitzgruppe, Bunker, Panzerlöcher

Blatt 13: Recherche Mord Lieschen LKA, Gericht, Schubert, Losensky, Luchweg

Blatt 14: Markau und Lietzow St. Nikolai Kirche, Semmelfrau, Schlösschen

Blatt 15: Beschluss Nachtgang Nachtgang, Wolles Galarie

Blatt 16: Annas Wesen Religion, Sternzeichen, Fahrland

Blatt 17: Leuchterweg bei Nacht I Augenzeugenbericht, Treffen im Wald

Blatt 18: Berichte I Leuchterweg, Annas erstes Kind

Blatt 19: Berichte II Dr. Serjoscha, Annas zweites Kind

Blatt 20: Berichte III Anonym, Gabriel, Janeke

Blatt 21: Anna und Lieschen Anna, Lieschen, Losensky

Blatt 22: Nachtgang allein Nachtgang, Pastorin, Polzin

Blatt 23: Legendenbildung Der Hexer, Bahnwärter, kleines Mädchen

Blatt 24: Mord Lieschen Trauerarbeit, Bestand, Übernatürliches

Blatt 25: Kindsmord Anna? Ursachenforschung, Nachtgang II

Blatt 26: Gerichtsprotokolle Archivarbeit, Nachtgang III

Blatt 27: Auswertung Gerichtsprotokolle

Brief

Danksagung

Anhang

DER BRIESELANG

SIEH DORT, IM MÄCHT’GEN URSTROMTAL,

WO EW’GE EISE SCHMOLZEN

UND KRAFTVOLL REISSEND WILDE STRÖM’

INS NORDSEEBECKEN FLOSSEN,

WUCHS LANGE ZEIT AUS NEBELGRAU,

NUR BIRKES STAMM INS HIMMELBLAU.

DORT, WO DER LUCHWEG KREUZT’ DAS NASS

BESCHWERT MIT PFERD UND WAGEN,

MAN SEEGEFELDS GESPANNE SAH

MIT HEU HOCH AUFGELADEN,

DA STACH DER SPATEN GROSSE ZAHL

TIEF IN DEN SUMPF’GEN BODEN,

BEREITET’ WASSERSTRÄNGEN LAUF

ZU MEERES RAUSCHEND’ WOGEN.

DER BODEN FEST UND TROCKEN NUN

TRÄGT MANCH GAR STATTLICH EICH’

VON FINKENKRUG BIS NACH PAUSIN

ERSTAND IHR BLÄTTERREICH,

IN DEM IN EINER SOMMERNACHT

EIN MÄDCHEN WURDE UMGEBRACHT.

DER VATER FAND DIE KINDLICH’ LEICH,

GESCHÄNDET UND SCHON TOTENBLEICH.

SEITHER WIRD MANCHEM HEISS UND KALT

GEHT ABENDS ER IN DIESEN WALD.

UNHEIMLICH’ LICHTLEIN FLACKERN DORT

UND KEINER WEISS, VON WELCHEM ORT.

»DAS LIESCHEN IST’S!« SAGT VOLKESMUND,

» SIE SUCHT IN DIESEM WALDESGRUND,

DIE UNGESTRAFTEN MÖRDERHÄNDE,

DIE IHREM LEBEN OHNE GRUND

SETZTEN DIES GRAUSAM’ ENDE.

Blatt 1: Das Brieselanger Licht und Anna

»Donnerstag. 4. August 1859. Die sengende Mittagssonne steht noch immer fast senkrecht über dem beschaulichen Dorf Bredow und lässt das sonst geschäftige Treiben der Dorfbewohner fast erlahmen. Dankbar nehmen die Bauern, Handwerker und Tagelöhner die Mittagspause wahr, während der sie sich in die kühleren Häuser zurückziehen, stärken und ausruhen können. Eben hat die 1-Uhr-Glocke vom Kirchturm geschlagen, die die Männer nach der Kräftigung und der Muße der Mittagszeit an ihre Arbeitsplätze zurückruft, während die Frauen im Hause für Ordnung sorgen und ihren sonstigen hausfraulichen Pflichten nachgehen. Noch hallt der Glockenschlag ganz leis durch die flimmernd aufsteigende Mittagshitze der von Altbrieselang nach Nauen führenden Dorfstraße, als urplötzlich am Schornstein des Ebel’schen Wohnhauses, direkt rechts neben der Pfarrei und vis-à-vis der Kirche, eine kräftige Stichflamme wie ein gewaltiger Schwerthieb aus dem feuerliebenden Strohdach hervorbricht.

Sich fächerartig ausbreitend und gierig alles Brennbare verschlingend, züngelt die Flamme im Nu über das gesamte mit Stroh gedeckte Gehöft. Es springt behände auf die angrenzenden Gebäude des Büdners Carl Höhne und des Bauern Carl Sommerfeld über und wirft vereinzelte Unheil bringende Funken auf weiter entlegene Strohdächer, die ebenfalls augenblicklich wie Zunder brennen. Innerhalb einer knappen Stunde steht fast das gesamte Dorf unbeherrschbar lichterloh in Flammen. Bredow gleicht einem Flammeninferno! Auf der Suche nach Nahrung und Sauerstoff schlägt die gewaltige Lohe himmelwärts, sodass der mit leicht brennbaren Schindeln gedeckte Kirchturm an seiner Spitze zuerst zu brennen beginnt. Niemand kann dort oben hinauf, um die Flammen zu löschen, aber auch die vielen Großbrände entlang der Dorfstraße sind längst menschlicher Kontrolle entglitten, trotz der nach und nach heranrückenden Spritzen und Löschmannschaften aus Nah und Fern. Selbst die Berliner Feuerwehr rüstet sich, so gewaltig steigt die unheilverkündende Rauchsäule an diesem Schicksalstag der Bredower in den Himmel dieses glühend heißen Sommertages und heizt ihn zusätzlich auf. Als die Sonne an diesem Tag wie gewohnt langsam und glutrot am Horizont zwischen Nauen und Markee versinkt, kann man sie in Bredow aufgrund der immer noch in den Abendhimmel aufsteigenden Rauchschwaden kaum noch wahrnehmen. Die vereinzelt durchdringenden Sonnenstrahlen werfen nur noch sehr kurze Schatten von den Trümmern der niedergebrannten Gebäude auf die zentimeterhoch mit Ruß bedeckten freien Flächen des ehemals beschaulichen Dorfes. Eine unermessliche Habe an Gebäuden, Erntevorräten und Mobilien liegt an diesem Abend vor den blutleeren und rußgeschwärzten Augen der erschütterten Dorfbewohner in Schutt und Asche. Wehklagen und Stoßgebete erfüllen die von Brandgeruch durchsetzte verrußte Luft. Das Werk vieler Generationen, Familien und Jahre ist innerhalb weniger Stunden fast restlos vernichtet.

Kirche und Kirchturm, ein Teil des von einer festen Steinmauer umgebenen herrschaftlichen Rittergutes derer von Bredow auf Bredow, sechs stattliche Bauernbesitzungen, acht Kossätengüter und etwa achtzig Büdner und Tagelöhner Wohnungen werden Raub der an diesem Tage schier unersättlichen Flammen. Auch ein Menschenleben ist zu beklagen. Der allgemein sehr beliebte Dorfschulze Krüger überanstrengt sich bei seinem Bemühen, die schweren Koffer mit den Dorfakten in der Gluthitze aus Feuerbällen und sengender Sonne aus seinem brennenden Gehöft an der Ecke Nauener Landweg und Dammstraße zu bergen und sie bis an die herrschaftliche Mauer zwischen Dorfpfuhl und Wasserwagenhaus in Sicherheit zu schleppen. Nach mit letzter körperlicher Kraft vollbrachter Tat erleidet er einen Lungenschlag und stirbt an Ort und Stelle. Seinen zwischen den geretteten Aktenkoffern liegenden erstarrten Leichnam findet man erst am folgenden Morgen, als der Rauch aus den noch immer glimmenden Trümmern nachlässt und nur noch einige mit Ziegeln gedeckte Gebäude aus der großen Brandstätte hervorragen.«

So, oder zumindest so ähnlich, habe ich jenes Ereignis in der Dorfchronik nachgelesen, die Klaus-Peter Fitzner mit Fleiß und Akribie fortwährend vervollständigt. Nach diesem verheerenden Brand veränderte Bredow sein Aussehen völlig. Da bei dieser Feuersbrunst fast das gesamte Dorf in Schutt und Asche gelegt worden war, wurden beim Wiederaufbau die Straßen neu geregelt, die Grenzen zwischen den einzelnen Besitzungen gerade gelegt und die Häuser in eine einheitliche Front gebracht. Dadurch ergab sich die Dorfstruktur, die man heute noch sieht, wenn man, so wie ich jetzt, von Brieselang kommend den Ort in Richtung Nauen durchfährt. Rechts habe ich soeben mein Lieblingslokal »Grünefeld« passiert. Es besteht bereits seit 1835 und erinnert mich von seiner Inneneinrichtung her wehmütig an den Dorfkrug meines Heimatortes Roggenmoor am Ende der fünfziger Jahre.

Angrenzend beginnt die ehemals vollständig ummauerte Fläche des ehemaligen Rittergutes, welches sich, zwischen Oranienburger und Dammstraße gelegen, bis zur evangelischen Kirche vorzog. Gleich hier, gegenüber vom ehemaligen Rittergut, erkennt man die u-förmig errichteten Häuser der ehemaligen Tagelöhner, die jüngst aufwendig renoviert wurden. Gleich im Anschluss die ehemaligen Stallungen und Scheunen, die nach und nach verfallen und gern bei Dreharbeiten als Kulissen genutzt werden, zuletzt für einen Tatort mit dem jüngst verstorbenen Otto Sander.

Das ehemalige Schloss derer von Bredow auf Bredow ist heutzutage nur noch schwer als solches zu erkennen, da man den imposanten Mittelteil mit seinen großen Fenstern, dem großen Eingangsportal und dem Türmchen auf dem Dach nach dem Zweiten Weltkrieg entfernte. Ein Schlossgebäude passte nicht zum real existierenden Sozialismus. Neben dem ehemals rechten Seitenflügel erkennt man einen Teil der vormaligen Ringmauer. Innerhalb des Geländes befindet sich noch heute ein großer Teich, einst gab es mindestens zwei davon. Die Bredows hielten dort früher zahlreiche Wildtiere und Wasservögel. Eine Generation versuchte sich gar als Züchter von Blutegeln, allerdings ohne durchschlagenden wirtschaftlichen Erfolg.

Nach dem Gelände des Rittergutes umfährt man in einer S-Kurve rechts und gleich wieder links die evangelische Kirche und gelangt weiter in Richtung Nauen oder Markee. Ich lasse die Kirche links liegen, vor der ein Gedenkstein an den Ritter Gerhard von Bredow erinnert, der sich nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee am 23. April 1945 in seinem Keller erschoss und fahre geradeaus in den Nauener Landweg. Dabei passiere ich rechter Hand den Festplatz mit der uralten Platane und linker Hand das ehemals Ebel’sche Wohnhaus, Ausgangsort der damaligen Brandkatastrophe. Beim Abzweig Dammstraße treffe ich auf das Gelände des ehemaligen Gehöfts des Schulzen Krüger. Dessen Erben veräußerten damals ihr Grundstück, auf dem sich, wie übrigens auch heute nach einem Gasthausbrand, nur noch Trümmer befanden und erwarben die Vogler’sche Hofstelle. Auf ihrem ehemaligen Grundstück etablierte sich der Bäcker und Gastwirt Nickel. Einen Teil des hinteren Schulzengehöfts erwarb der Schmied Wulkow und erbaute darauf sein Wohnhaus und seine Wirtschaftsgebäude, während er die Schmiede selbst wieder dort errichtete, wo sie auch vor dem großen Brand seit Generationen gestanden hatte. Heute befindet sich an der Stelle der ehemaligen Schmiede eine unbebaute Grünfläche, auf der ich mein Fahrzeug parke.

Zu den Wulkows will ich, denn mit ihnen bin ich verabredet, aber erst um 15 Uhr. Ich bin etwas zu früh dran. Da die Gedanken an den verheerenden Brand mich nicht loslassen, bleibe ich im Auto sitzen und gehe ihnen noch ein wenig nach. 1859. Großbrand. Dabei hatte dieses Jahr für die Bredower so positiv begonnen. Einem günstigen Frühling folgte ein fruchtbarer und heißer Sommer, so dass das Getreide vorzüglich auf den das Dorf umgebenden Feldern geriet. Alles war gut und trocken in die Scheunen gebracht, nur auf dem Luch, dem mittlerweile kultivierten ehemaligen Sumpfgebiet, stand in Mandeln aufgereiht noch etwas Hafer zum Trocknen. Dann, urplötzlich aus dem Nichts hervorbrechend, diese entsetzliche Brandkatastrophe. Sie war aber nicht die einzige Heimsuchung der Bredower in ihrer mehr als achthundertjährigen Geschichte.

Zeigten sich die ersten Jahrhunderte als »in ungewöhnlichem Maße geordnet und ertragreich«, so begannen mit dem Dreißigjährigen Krieg die Zeiten der Verwüstungen und Heimsuchungen. 1625 zerstörten die Truppen des Grafen von Mansfeld Bredow fast vollständig, 1638 die »Jenaischen Reiter«. 1806/07, im Rahmen der napoleonischen Kriege, plünderten und ruinierten die Franzosen den Ort insgesamt dreimal. 1867 zerstörte erneut ein Großfeuer Teile des Ortes, und zwar ausgerechnet den Teil der Schulstraße, der 1859 verschont geblieben worden war, 1895 wiederum fast das ganze Dorf. Unabhängig vom jeweiligen Ausmaß der Zerstörung gelang es den Bredowern stets, ihr Dorf mit Hilfe der Gutsbesitzer, Spenden aus Nachbardörfern und großem persönlichem Einsatz und Idealismus erneut aufzubauen. Dabei entwickelte sich das Rittergut samt Dorf im Laufe der Zeit zu einer überregional anerkannten Musterwirtschaft.

Es berührt und erstaunt mich immer wieder zutiefst, wie es den Menschen stets aufs neue gelingt, nach völliger Zerstörung der über Jahrhunderte gewachsenen Infrastruktur alles erneut und oftmals noch schöner als zuvor auferstehen zu lassen. Wer hätte beispielsweise 1945 beim Anblick der Trümmerlandschaft Berlins je geglaubt, dass aus diesem riesigen Schutthaufen jemals wieder eine pulsierende Metropole entstehen könnte, die Frauenkirche in Dresden herrlicher erstrahlt als je zuvor und die Anna Amalia Bibliothek in Weimar aussieht, als habe es das schreckliche Großfeuer in ihr nie gegeben? Auch mein Heimatdorf Apen wurde mehrmals von den Ostfriesen heimgesucht, niedergebrannt und danach relativ schnell wieder neu errichtet. Material lässt sich offensichtlich unendlich erneuern oder ersetzen.

Verletzungen der menschlichen Seele können hingegen mitunter ein Leben lang nicht mehr geheilt werden. Manch verletzte Seele wirkt selbst über den physischen Tod der sie innehabenden Person hinaus, weil sie aufgrund der erlittenen Verletzungen keine Ruhe mehr findet. Dann beginnt, zumindest für die hierfür empfänglichen Menschen, die Erfahrung des Übersinnlichen und Geheimnisvollen.

Hierbei muss ich sofort an die 1735 in Bredow geborene Anna Elisabeth Thönßen denken. Sie hat mich unerklärlich tief berührt, seitdem ich zufällig in der Bredower Dorfchronik auf sie stieß. Ihr trauriges Schicksal entnahm ich einerseits den in der Chronik enthaltenen Aufzeichnungen des Pfarrers Hollmann, andererseits einem Zeitungsartikel aus jener Zeit. Seither lässt sie mich nicht mehr los. In Pfarrer Hollmanns Aufzeichnungen heißt es: »1767, den 14. April, ist in Buchow in des Bauern Lichterfeldts Hause – ach Bruder! – ein grausamer Kindermord geschehen, da eine ledige, aber grundböse und in christlicher Lehre ganz unwissende Weibsperson, die bei obigem Bauern vor als Magd diente, und schon vorher an anderen Orten zwei Hurenkinder gehabt, namens Anna Elisabeth Thönßen, 32 Jahre alt, aus Bredow gebürtig, ihr in Unehren erzeugtes, neugeborenes Knäblein gleich nach der Geburt lebendig in Lichterfeldts Brunnen geworfen. Die ihr nachher abgehende Nachgeburt hat den Mord entdeckt.«

Was veranlasst eine Mutter, ihr eigenes Kind zu töten? Die durch die Schwangerschaft entstandene Problematik lässt sich aus dem Vermerk Hollmanns erahnen, »auf sie acht zu geben«. Man befürchtete also offensichtlich auch an offizieller Stelle bereits im Vorfeld, dass sie sich oder dem Kind aufgrund der entstehenden ausweglosen Situation etwas antun könne. Anna war kein Einzelfall in jener Zeit, die abzusehenden Folgen hinlänglich bekannt. Welches Leid muss diese Frau, aber nicht nur diese, erfahren haben, um so zu handeln? Welcher Druck muss auf ihr gelastet haben, eine solche Tat zu begehen? Oder gibt es eine andere Erklärung für ihre Tat?

Was war so stark, dass die sicherlich auch in ihr vorhandenen Mutterinstinkte für einen kurzen Augenblick ausgeschaltet wurden? Kindsmorde waren keine Seltenheit, zu Beginn des 18. Jahrhunderts stiegen sie sogar zahlenmäßig an. Täterinnen waren häufig Dienstmägde wie Anna, alleinstehende Frauen und Witwen. In meiner ehemaligen Heimat wurde 1599 auf dem Gälberg bei Godensholt die Magd Grete Ratken als Kindesmörderin geköpft, 1601 die Magd Jütte Cathrine aus demselben Grunde. Zwei Fälle innerhalb von nur zwei Jahren bei vielleicht dreihundert Einwohnern sprechen eine deutliche Sprache.

Wie bin ich nur auf die Anna gekommen? Hat es etwas damit zu tun, dass sie hier in Bredow geboren wurde? Vielleicht ist sie als Kind gerade an dieser Stelle vorbeigekommen, an der ich hier parke. Vielleicht hat sie dem alten Wulkow und seinen Gehilfen in der Schmiede zugeschaut, wie sie unter Mühen ein Hufeisen formten, damit ein Pferd beschlugen oder einen großen Eisenring um ein Holzrad legten. Vielleicht hat sie auch nur hungrig und mit großen traurigen Augen um ein Stückchen Brot gebettelt, sich am Schmiedefeuer gewärmt oder sich an den aufsprühenden Funken erfreut, wenn der Schmied kraftvoll mit dem schweren Schmiedehammer auf das goldrot glühende heiße Eisen einschlug. Warum geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf? Es geht mir doch eigentlich um die geheimnisvollen Lichter von Brieselang, nicht um sie. Deshalb bin ich doch heute hier in Bredow. Den Zusammenhang kann ich noch nicht erkennen. Etwas Unerklärliches bindet mich an Anna und fasziniert mich am Brieselanger Licht. Vielleicht erschließt es sich mir später, wenn ich von beiden mehr weiß. Jetzt ist es 15 Uhr, wie vereinbart, und ich kann zu den Wulkows hineingehen.

Ich klingele erst einmal. Keine Reaktion. Ich klingele noch einmal. Jetzt höre ich Schritte. Eine Dame kommt um die Hausecke, vermutlich Frau Wulkow. »Grüß Gott! Frau Wulkow?« »Ja.« »Janßen. Wir hatten miteinander telefoniert wegen der geheimnisvollen Lichter im Brieselanger Wald.« »Ich weiß, ich hab sie schon erwartet. Dann kommen sie mal rein.« »Gern!« »Wir könn’ uns hier draußen hinsetzen, wenn se möchten.« »Ist mir recht. So oft werden wir es in diesem Jahr wohl nicht mehr können. Da sollte man jede sich bietende Gelegenheit nutzen. Sie haben ein schönes Anwesen hier. Betreiben sie ein Gartenlokal?« »Wegen der Leuchtreklame? Nee, nee! Dit is nur een Andenken an een Lokal, dit et heute nicht mehr jibt.« »Es stehen auch ungewöhnlich viele Tische und Stühle im Garten.« »Dit is die Macht der Jewohnheit. Wat man in Jahrzehnten praktiziert hat, kann man nich in een paar Jahren so einfach abstreifen.« »Haben sie eine große Familie?« »Dit ooch, aber vor der Wende hatten wir immer viel Besuch, wissen se. Jetzt vereinsamen die Menschen zusehends. Besuch ist selten jeworden.« »Das kenne ich. Ich stamme aus einem kleinen Dorf im Ammerland, das liegt westlich von Oldenburg. Ich erinnere mich noch gut daran, dass in den fünfziger Jahren vor fast jedem Haus eine Holzbank stand, auf der sommertags auch immer einige Nachbarn zusammen saßen, eine rauchten, etwas tranken, vor allem aber miteinander sprachen. Dabei wurde viel und herzhaft gelacht, obwohl es den Leuten wirtschaftlich nicht so gut ging. Erst bei Dunkelheit verzog man sich ins Haus oder wenn man müde wurde und ins Bett gehen wollte.« »Sind sie Wessi?« »Ja, ist das ein Problem für sie?« »Nee, nee Unsinn! War nur so ne Frage.«

»Bei uns im Westen begann die Vereinsamung erinnerlich mit dem Einzug der Fernsehgeräte in die Privathaushalte. Das war so Anfang bis Mitte der sechziger Jahre. Während damals aber zumindest noch die Familien im Halbkreis vor der Glotze saßen, oftmals auch Nachbarn oder Verwandte eingeladen wurden, hat der Zweit- und Drittfernseher diese vermeintliche Idylle mittlerweile auch schon zerschlagen. Die sich permanent verlängernden Öffnungszeiten der Geschäfte geben der Familie derzeit den Rest, weil die Mütter oftmals bis spät abends arbeiten müssen, sogar samstags, und somit der Familie fehlen. Mit der Auflösung der Familie wird sich dann irgendwann die Gesellschaft auflösen, da nur intakte Familien die Grundlage geordneten gesellschaftlichen Lebens sind.«

»Bei uns war dit der plötzliche Wohlstand nach der Wende. Vor der Wende stellte et oft ein großes Problem dar, benötigte Materialien zu erhalten. Sei et een Nagel, een Brett, Farbe, Steine und wer weeß, wat sonst noch. Da war man zwangsläufich druff anjewiesen Kontakte zu haben und zu pflegen, weil jeder irgendwann jemanden brauchte, von dem er wat beziehen konnte.« »Davon habe ich gehört. Wolf Biermann hat sich einmal darüber ausgelassen, dass alles seinen sozialistischen Gang ging. Bei irgendwelchen staatlichen Großprojekten wuchsen die Datschen in der Umgebung rasant und der eigentliche Großbau nur schleppend, weil ständig Materialien verschwanden.«

»Wollen se Erich ooch noch zitieren?« »Was meinen sie?« »Na, ja, der hat doch jesacht, das aus den DDR-Betrieben noch viel mehr rauszuholen is und die Leut ham ihn beim Wort jenommen!« »Den Spruch kannte ich noch nicht, aber eigentlich wollte ich mich mit ihnen ja über das Phänomen des Brieselanger Lichts unterhalten.« »Richtich! Aber ik gloobe, dazu jehen wir doch besser rin. Hier draußen zieht dit doch een wenich um die Ecke.« »Gern, obwohl es hier draußen sehr schön ist. Ich bin fast geneigt, von einem stattlichen Anwesen zu sprechen, dass sie hier haben. War in den Rückgebäuden früher irgendeine Produktionsstätte untergebracht?« »Dit nich, aber die Familie meines Mannes hat über Generationen die älteste und auch letzte Schmiede des Ortes betrieben. Die stand aber drüben, uff der anderen Straßenseite, da, wo se jeparkt ham.« »Natürlich, als ich herfuhr, habe ich noch darüber nachgedacht. Wir befinden uns hier auf einem Teil des Gehöfts des ehemaligen Schulzen Krüger, der damals beim Großbrand umkam.« »Wie kommen se daruff?« »Angelesen!« »Am Ende wissen se noch mehr über Bredow und meine Familie als ik, die ik hier seit Jahrzehnten ansässich bin.« »Sicherlich nicht. Ich kenne nur einige herausragende Ereignisse wie den Großbrand von 1859.« »Damit hätte ik jetzt nicht jerechnet. Sie scheinen voller Überraschungen zu sein.« »Ich hoffe, sie können mich mit ihrem Wissen über das Brieselanger Licht noch mehr überraschen, vor allem »erleuchten«, wenn ich das auf unser Thema bezogen mal so sagen darf!« »Wir werden sehen. Jetzt jehen wa erst eenmal rin!« »Soll ich die Schuhe ausziehen?« »Nee, nee, dit is nich notwendich. Wie se sehn, renovieren wir grade und so schmutzich is et derzeit draußen ja ooch nich. Folgen se mir einfach. Wir jehen die Treppe rauf nach oben!«

Blatt 2: Bericht der Wulkows

»Möchten se een Kaffee?« »Ehrlich gesagt, ja, gern!« »Mit Zucker un Milch?« »Ja, bitte!« »Setzen se sich ruhich!« »Wo soll ich mich hinsetzen? Gibt es Festplätze?« »Ditt is eijentlich ejal, aber vielleicht nehm se den Stuhl da.« Ich setze mich auf den angewiesenen Platz, während Frau Wulkow in die Küche geht und Kaffee brüht. Stand hier früher das Gehöft des Schulzen Krüger, aus dem er mit letzter Kraft die Aktenkoffer barg und sie dadurch den Flammen entriss oder war hier nur ein Teil des Hofes, Stallungen oder Scheunen? Ich werde bei Gelegenheit nachfragen. Anna kommt mir wieder in den Sinn. Die Todesstrafe für sie überrascht mich. Auch sie hatte gehofft, den Worten Pfarrer Hollmanns folgend, »mit dem Spinnhause in Spandau gleich vielen anderen loszukommen«, also nur eine Gefängnisstrafe zu erhalten. Warum bei ihr diese Härte? Der Frage muss ich bei Gelegenheit einmal nachgehen. Jetzt bin ich ganz gespannt, was mir Frau Wulkow über das Brieselanger Licht erzählen kann.

»Mein Mann stößt später ooch noch zu uns. Er hat die Lichter ooch jesehen und kann ihnen watt dazu erzählen.« »Das freut mich. Je mehr Zeugen, desto besser! Sonst heißt es später vielleicht, der hat nur so ein paar esoterische Spinner aufgegabelt oder bekiffte oder volltrunkene junge Leute, die völlig zugedröhnt durch den Wald gezogen sind und in ihrem Rausch etwas gesehen haben wollen.« »Hier hab ik watt für sie. Dit sind allet Zeitungsartikel, die ich im Laufe der Jahre zu dem Thema jesammelt hab.« Mit diesen Worten legt sie einen Schnellhefter mit etlichen Zeitungsartikeln vor mich auf den Tisch. »Das ist ja super! Darf ich da einmal hineinschauen?« »Die könn se sich sogar mitnehm und in Ruhe lesen oder kopieren. Ik möchte se aber unbedingt wiederham!« »Natürlich, das ist doch selbstverständlich. Ich habe einen Kopierer daheim. Sie können die Unterlagen bereits morgen zurück haben.« »So schnell schießen die Preuß’n ja nu ooch wieder nich. Et kommt uff’n Tach nich so jenau druff an, nur wiederham möchte ik de Sachen.« »Ich ruf einfach durch und wir können dann ja kurzfristig einen Termin ausmachen, wann ich sie zurückbringe.« »Jenau, so machen wir dit! Jetzt hol ik nur noch schnell den Kaffee, und dann können wir loslejen.«

Ich blättere in dem Schnellhefter. Der Lokalreporter Jürgen Krumnow scheint sich intensiver mit dem Thema befasst zu haben, ebenso der Ufologe T. A. Günter aus Rathenow, der auch die Internetseite »Der Leuchter Report« betreut und Thomas Gitzel aus Brieselang. Die Aussagen scheinen widersprüchlich zu sein. Als Frau Wulkow mit dem Kaffee zurückkommt, stellt sie ihn und ein paar Kekse auf den Tisch und setzt sich mir gegenüber. »Bedienen se sich ruhich. Zum Kieken hab ich die Sachen nich herjestellt!« »Vielen Dank!« Während ich den Kaffee trinke und einen Keks esse, kommen wir ins Gespräch. Wir scheinen einen Draht füreinander zu haben. Das ist gut. So erfährt man in der Regel mehr, als wenn man mit seinem Gesprächspartner nicht warm wird.

Sie erzählt von Ihrer Familie und ihrem Leben. Drei Kinder haben die Wulkows großgezogen, die jüngste Tochter hat einen Sohn, der im Moment Omas Lebensinhalt zu sein scheint. Stolz berichtet sie von den jüngsten gemeinsamen Aktionen. Derzeit besucht sie täglich einen Schwimmkurs mit dem Kleinen, was beiden viel Freude bereitet. »Wissen se, früher, als die eigenen Kinder kleen war’n, da hatt man so viel arbeiten müssen, dass die Kleenen oft zu kurz jekommen sind.« Bei ihrem Mann hat die jahrelange harte Arbeit nach ihren Worten ihre Spuren hinterlassen. Er hat mit erheblichen Rückenproblemen zu kämpfen und ist auch schon operiert worden. Die Wulkows sind eine bodenständige, offensichtlich seit Jahrhunderten mit dem Ort Bredow verwachsene Familie, denke ich bei mir, ähnlich wie die Familie meines Vaters in Barßel und die meiner Mutter in Brünn. Auch Frau Wulkow macht auf mich den Eindruck, als ob sie mit beiden Beinen fest im Leben steht und nicht irgend so eine abgedrehte Spinnerin ist, die sich mit unhaltbaren Geistergeschichten nur hervortun will. Somit darf ich ernstzunehmende Informationen erwarten, was mich beruhigt und erfreut.

»Wann haben sie erstmals von diesem mysteriösen Licht im Brieselanger Wald erfahren?« »Dit muss so Mitte der neunziger Jahre gewesen sein. Ik weeß ehrlich jesacht nich mehr, von wem ik it jenau jehört habe. Uff einmal war dit een Thema. Zuerst hab ik ja ooch jedacht: Na, ja, wieder so ne Spinnerei, wenn die Leute sich eigentlich nix zu erzählen ham. Aber dann, als ik ooch von seriösen Leuten verschiedene Berichte über die Lichter im Wald jehört hatte, da bin ik neujierich jeworden, wie dit eben so is.« »Haben sie etwas darüber erfahren, seit wann es dieses Phänomen gibt?« »Nee, nich wirklich. Manche bringen dit janze mit de Russen in Zusammenhang, andere erzähln wat von einem ermordeten Mädchen oder eenem Bahnwärter, der seine Tochter sucht. Dit muss aber schon im 18. oder 19. Jahrhundert jewesen sein.« »Das ist im Moment auch nicht so wichtig, da werde ich sicherlich noch einiges in Erfahrung bringen. Wann waren sie das erste Mal im Wald, um nach diesen Lichtern zu schauen?« »Wir sind am 14. April 1995 erstmals dort jewesen, danach waren wir öfter in dem Wald.« 14. April? Das Datum ist mir jüngst doch schon einmal begegnet. In welchem Zusammenhang war das nur? Hoffentlich vergesse ich es nicht, später nachzuschauen, aber jetzt will ich weiter konzentriert zuhören!

»Wir? Sind sie mit mehreren Personen gegangen?« »Na, wat glooben se denn? Denken se, ik trau mich alleen nachts in den stockfinsteren Wald? Noch dazu, wenn et da gruselige Lichter jeben soll?« »Da haben sie natürlich Recht. Ich hätte mich übrigens auch nicht allein dort hineingetraut. Als Kind musste ich immer mutterseelenallein einen Kilometer übers Hochmoor gehen. Das war im Winter und bei Dunkelheit der reinste Horror. Man konnte die Hand vor Augen nicht erkennen, tappte in Pfützen oder glitt auf Eisflächen aus. Jedes Geräusch, jedes Rauschen des Windes durch Bäume und Sträucher, jeder auffliegende Vogel oder wegrennende Hase ließen einen zu Tode erschrecken.« »Hören se bloß uff damit. Ik bekomm ja jetzt schon eene Jänsehaut!« »Entschuldigung, aber bei dem Thema gehen die Erinnerungen mit mir durch! Wieviel Leute waren sie bei diesen Exkursionen?« »Zwischen 4 und 10. Dit war unterschiedlich. Jetzt fällt mir grade ein, dass wir dit erste Mal nach einer Jeburtstagsfeier jejangen sind. Da hatten wir über dit Thema jesprochen und dann hat irgendwer jesacht: Lass uns hinfahren und nachsehen! Wie dit denn immer so is in Jesellschaft. Jetrunken hatten wir ooch wat, betrunken war jedoch keener, nur lustich. Unternehmenslustich, wissen se.« »Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Aber jetzt die wichtige Frage für mich: Was genau haben sie im Brieselanger Wald gesehen?«

»Also, wir sind damals mit zwei oder drei Autos nach Brieselang rin jefahrn, so jenau weeß ik dit nich mehr. Karl-Marx-Straße, dann bei der Schule in die Birkenallee, die janz zu Ende und kurz in den Wald. Wo et nur links oder rechts jeht, sind wir kurz links, dort ham wa die Autos jeparkt, unsere Taschenlampen jegriffen und sind dann mit mulmigem Jefühl vorjeloofen, bis der Leuchterweech abzweegt. Den sind wir rinn. Je ängstlicher der Eenzelne war, desto mehr hat er rumjequatscht oder Witzchen jemacht. Uff alle Fälle weeß ik noch, dass wir alle dicht beisammen jeblieben sind. Da hätte sich niemand jetraut, zu weit voroder nachzuloofen!« »Und wo sind sie dann hingegangen?«

»Zuerst mussten wir über een richtich dicken Boomstamm klettern, der am Anfang vom Leuchterweech quer rüber liecht und den Weech versperrt.« »Das ist der Leuchterweg? Den bin ich schon so oft mit meiner Tochter Heidede und unserem Hund Julchen gegangen, wenn wir sonntags nach dem Gottesdienst im Wald einen Spaziergang machen.« »Sie haben eine Tochter? Wie alt is denn di?« »Elf! Ich weiß schon, altersmäßig könnte ich eher der Opa sein, aber das Leben geht seine eigenen Wege. Zurück zum Leuchterweg. Auf ihm ist mir nie etwas Ungewöhnliches aufgefallen.« »Wie denn ooch? Sie waren doch am helllichten Tach da. Die Lichter erscheinen doch erst bei Dunkelheit.« »Natürlich, daran habe ich im Moment gar nicht gedacht. Aber merkwürdig finde ich es schon, dass ich so häufig diesen Weg gegangen bin, ohne seine dunklen oder besser gesagt »leuchtenden« Geheimnisse zu kennen. Was haben sie denn nun genau im Leuchterweg gesehen?«

»Nich nur ick, wir waren ja mit mehreren Personen, und alle ham dit selbe jesehen, ooch wenn jeder et vermutlich etwas anders beschreibt.« »Das Phänomen kenne ich. Auf einem Seminar mussten wir uns einmal der Reihe nach aufstellen und wurden dann an einer offenen Tür vorbeigeführt. Jeder durfte kurz an der geöffneten Tür stehen bleiben und in den Raum dahinter schauen. Später wurde jeder einzeln befragt, was er gesehen habe. Sie glauben gar nicht, was die Leute alles gesehen haben wollten. Dinge wurden neu erfunden, auffällig große Gegenstände schlicht übersehen.« »So krass war dit bei uns zwar nich, aber et jab schon leichte Unterschiede.«

»Was haben sie selbst konkret gesehen?« »Sie dürfen nich verjessen, dass sich diese Vorjänge 1995/96 abspielten, also fast zwanzig Jahre her sind. Aber ik will ihnen jern sagen, woran ik mich erinner. Sie könn et aber ooch nachlesen, denn ik hab damals einen Bericht für die Cenap jeschrieben. Der is bei den Unterlagen, die ik ihnen mitjebe.« »Cenap? Was ist denn das?« »Das ist die Abkürzung für »Centrales Erforschungsnetz außergewöhnlicher Himmelsphänome« in Mannheim.« »Ufologen?« »So könnte man dit ooch nennen, wenngleich die sich nich allein mit Ufos beschäft’gen, sondern mit allem, wat am Himmel so uffällt.« »Die Artikel lese ich mir noch ganz in Ruhe daheim durch. Jetzt würde ich gern ihre ganz persönliche Schilderung hören.« »Also jut. Angst hatten wir alle, auch wenn dit keener zujeben wollte. Die Dunkelheit, die Stille. Ja, vor allem die Stille war beängstijend. Wie im Jruselfilm, wenn man weeß, gleich kommt der Böse um die Ecke und dann jibt’s een Unglück. Normal hört man doch watt, nachts im Wald, oder nich? Da sind doch nachts alle möglichen Viecher aktiv oder nich?« »Im Gruselfilm heulen dann, glaube ich, immer die Wölfe, ein Uhu ist zu hören oder eine Fledermaus flattert dicht vor den Augen vorbei!« »Jenau, dit mein ik. Da auf dem Leuchterweech aber: Nix! Einfach totenstill war dit da. Dann die Bäume und Sträucher links und rechts, wo man auch nich jenau wusste, wat man da eigentlich sieht. Immer wieder stolperte jemand und rempelte einen dabei an, weil der Weech so uneben is, wat richtije Schrecken in der Gruppe verursachte. Unterbewusst befürchtete man ja bei jedem Stolperer einen jeheimnisvollen Grund, bei jeder Berührung zuckte man zusamm und dachte: Jetzt hat it dich!« »Das kann ich gut nachempfinden!«

»Wir waren den Weech noch jar nicht allzuweit vorjejangen, vielleicht so dreihundert Meter, da fing dit ooch schon an mit dem geheimnisvollen Leuchten. In Blickrichtung des Weejes erschienen so eigenartige Lichtreflekte. It wurde muxmäuschenstill in der Gruppe. Ik gloob, in dem Moment spürte jeder einen leichten Schauer über seinen Rücken loofen. Et fing an mit hellem kurzen Aufblitzen, als ob jemand mit nem Licht schnell vorbeihuscht oder een Licht kurz an und ausjeschaltet wird. So, als ob jemand kurz kieken wollte, ob er jemanden sieht. Ik fühlte mich richtich beobachtet und unwohl in meiner Haut. Die Entfernung vom Standort zum Lichteffekt war nur schwer einzuschätzen. Anders als in den Berichten, die von Lichtern rechts und links in den Bäumen sprechen, sah ik nur welche in Blickrichtung des Weges. Das Licht selbst bewegte sich etwas oberhalb des Weejes, so als ob it darüber schweben tät. Dabei verfärbte et sich von weiß über rosenrot bis dunkelrot, als ob jemand een Signallicht errichten wollte: Achtung, nich weiter jehen! Jefahr! Dabei erschien dat Licht als Kugel ohne Strahlenkranz. Ik hab bei späteren Besuchen ooch schon beobachtet, wie diese Kugeln janz langsam uffsteigen und sich teilen, so dass man schließlich zwei Kugeln sieht. So sieht man doch keen Scheenwerferlicht von nem Auto, wi so viele immer wieder sajen, oder?«

»So wie sie es schildern, erscheint es mir auch unwahrscheinlich. Wie weit war denn das Licht von ihrem Standort entfernt?« »Wie schon jesacht, dit weeß ik nich. Aber, ooch wenn ik die Entfernung zu den Lichtern nich jut einschätzen konnte, so hatte ik beim Verlassen des Waldes janz stark dit Jefühl, dass dit Licht jetzt exakt an der Stelle stand, wo man selbst vorher jestanden hatte. Als ob jemand nach unserem Weggang die Stelle untersuchen wollte, an der wir jestanden hatten.« »Das klingt beängstigend. Wie lange dauerte denn das Leuchten insgesamt?« »Die Dauer des Leuchtens is nach meiner Beobachtung sehr unterschiedlich. Meist is it nur een sekundenlanges Aufleuchten, dann verschwindet dit wieder und is unauffindbar. Dat längste Leuchten, dit ik selbst je jesehen habe, dauerte jefühlt etwa 30 Sekunden am Stück. Eenmal waren wir zu zehnt uff dem Leuchterweech. An dem Tag hatten wir alle dit Jefühl, dit Licht käme direkt uff uns zu, watt uns janz schön bange machte!« »War diese Form der Lichter ein einmaliges Erlebnis, oder wiederholte es sich?« »Wir waren dort mit den unterschiedlichsten Leuten zu den unterschiedlichsten Jahreszeiten und dit Leuchten trat immer in Erscheinung, aber unterschiedlich. Nur eenmal, ausjerechnet als een Ufologe mit uns jing, ham wir nischt jesehen. Absolut nischt. Sowatt nennt man wohl Vorführeffekt. Villeicht wollte dit Licht ooch dem Ufologen nich so unbedingt bejegnen. Wer weeß dit schon?« »Wie hat denn das Licht auf sie gewirkt?« »Dieses Licht wirkt uff alle, die it mal jesehen ham, faszinierend, weil et irjendwie anders is, als die Lichter, die man sonst so kennt. Dit wirkt irjendwie janz kalt uff eenen, hat keenen Strahlenkranz und beweecht sich ooch anders, manchmal springt dit jar uff und ab. Vor allem: Niemand kann bisher schlüssich erkleern, watt die Ursache von diesen Lichtern is.«

In diesem Moment gesellt sich Herr Wulkow zu uns. Das Gehen bereitet ihm offensichtlich Mühe. Nachdem wir uns gegenseitig vorgestellt haben, fasst Frau Wulkow kurz zusammen, was wir bisher besprochen haben. Danach fordert sie ihren Ehemann auf, seine Erlebnisse mit dem Licht zu schildern. »Ja, wissen se, ik gloob ja normal nich an so’n Hokuspokus. Dafür is mir meine Zeit zu schade. Ik bin ooch nich janz so enthusiastisch wie meine Frau, aber jesehen hab ik dit Leuchten ooch. Dit is wohl wahr! Dit muss ik einfach mal zujeb’n!« »Haben sie einen Verdacht, was hinter dem Leuchten stecken könnte?« »Nich nur ich! Da jab it schnell welche, die meinten, dit würden die Scheinwerfer von den Autos machen, die von der Nauener Chaussee her durch den Wald strahlten. Aber dit kann ik ooch nich so einfach glooben.« »Warum nicht?« »Eenmal, da ham wir dit jetestet, weil it uns keene Ruhe mehr jelassen hat mit dem Leuchten. Welche von uns ham sich in den Wald jestellt, andere an die Nauener Chaussee und dann ham wir uns über Handy verständigt. Immer, wenn die im Wald een Licht jesehen ham, ham se Licht jerufen, und wenn in dem Moment een Auto die Chaussee passierte, ham die von der Straße her Auto jerufen. Janz oft kam uff die Meldung Licht umjehend die Rückantwort Auto - oftmals aber ooch nich! Un wissen se, dat hat mich irjendwie nachdenklich jemacht.«

»Wie ist denn ihre persönliche Einschätzung?« »Dit will ik ihnen ehrlich sagen. Eenerseits hat mich verunsichert, dass nich bei jedem Licht eene Automeldung kam. Also sind vielleicht einije, aber längst nich alle Lichter mit den Scheinwerfern zu erklären. Andererseits is dit Licht so merkwürdich. Manchmal rast dat direkt uff eenen zu und man jeht unweijerlich eenen Schritt zur Seite, weil man meint, man könnt sonst umjehaun wern. Ik jloobe zwar nich an Jeister un son Krams, aber seltsam is dit Leuchten schon.« »Zusammenfassend könnte man also sagen: Es gibt definitiv ein Lichtphänomen im Brieselanger Wald und mit dem Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos auf der Nauener Chaussee allein ist es nicht zu erklären.« »Et jibt nich nur dat Licht und man kann et nich wirklich erklären, sondern dieset Licht an sich hat so etwas unheimliches an sich. Irjendwie lässt es einen sich unwohl fühln in seiner Haut, wenn man et sieht.«

An dieser Stelle muss ich leider abbrechen, weil ich meine Tochter Heidede noch vom Reiten abholen muss. Aus einer geplanten knappen Stunde sind locker drei Stunden angeregter Unterhaltung geworden. Wir beschließen, dieses Gespräch ein anderes Mal fortzusetzen, aber vorher möchte ich mich anderweitig informieren, auch erst einmal die mitgegebenen Artikel studieren.

Auf der Heimfahrt nach Brieselang passiere ich wieder das Gelände des ehemaligen Rittergutes. Ob Anna hier als kleines Kind in den Tagelöhnerhäusern wohnte? Oder hatte ihre Mutter nur einen Verschlag über dem Vieh in einer der zum Rittergut gehörenden Stallungen davor? Als Anna später im Leben als Magd nach Bredow zurückkehrte, könnte sie durchaus in einem der Nebengebäude des Gutshauses untergebracht gewesen sein. Seit ich von Annas Existenz und ihrem traurigen Schicksal weiß, sehe ich sie häufig als armes und trauriges Kind an den verschiedensten Plätzen, wenn ich durch Bredow fahre. Das Gutshaus, die Tagelöhnerhäuser und die uralte Platane auf dem Festplatz dürfte sie gekannt haben, zumindest aus der Zeit, als sie als junge Frau beim Major von Bredow in Diensten stand. Die ersten Platanen kamen über die Seemächte England und Frankreich 1743 nach Deutschland. Aufgrund der engen Beziehungen zwischen England und Preußen gehe ich davon aus, dass die Platane sehr schnell ihren Weg nach Bredow fand. Vielleicht stand Anna sogar dabei, als sie vermutlich feierlich im Gutsgarten gepflanzt wurde, weil sie zu der Zeit ein ganz besonderer Baum war. Auf Kreta steht eine Platane, die 2500 Jahre alt ist. Sie war also schon ein alter Baum, als die Römer 67 v. Chr. nach Kreta kamen. Caesar hat sie ebenso überlebt wie Alexander den Großen, Napoleon, Hitler und Stalin. Unglaublich! Warum können Pflanzen so alt werden, während wir Menschen relativ schnell vergehen?

Die Oranienburger Straße, auf der ich mich jetzt befinde, heißt im Volksmund auch »Schwiegervater Chaussee«, wie ich jüngst von einer Dame aus Brieselang erfuhr, weil auf ihr einer der Ritter von Bredow regelmäßig zu seiner Geliebten ritt, die angeblich in der Nähe des Kreisverkehrs an der Brieselanger Straße wohnte. Was eine Geliebte mit einem Schwiegervater zu tun hat, ist mir zwar nicht ganz ersichtlich, aber sicherlich werde ich auch hierauf eine Antwort finden. Das Havelland scheint einige Überraschungen für mich parat zu halten. Ich sollte noch einmal Fontanes »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« lesen. Vor Ort lebend und in gesetztem Alter wirken sie heute sicherlich anders auf mich, als in meiner Jugend im Ammerland. Mit dem Licht werde ich mich etwas intensiver beschäftigen, denn es scheint tatsächlich etwas dran zu sein, womit ich eigentlich nicht wirklich gerechnet hatte. Meist befassen sich mit solchen Themen nur weltentrückte Spinner, aber das Brieselanger Licht scheint auch »Otto Normalverbraucher« zu erreichen.

Anna ist mir nach wie vor im Kopf. Warum lässt sie mich nicht mehr los? Was will sie von mir? Alles, was ich bisher über sie weiß, ist recht wenig und lediglich angelesen. Es bestehen keinerlei persönliche Beziehungen. Laut meinen Unterlagen war sie die in sehr bescheidenen Verhältnissen geborene uneheliche Tochter eines Tagelöhners namens Thönß und der Magd Marie Elisabeth Meyerin oder Krügerin, beide Variationen kommen vor, und damit offiziell ein »Hurenkind«. In jener Zeit als »Hurenkind« geboren zu werden bedeutete eine Vorverurteilung, die fast zwangsläufig zu einem steinigen Lebensweg führen musste. Die einfachen sozialen Verhältnisse, in die Anna hineingeboren wurde, waren der zweite Mühlstein, der ihr bereits in der Wiege unabnehmbar um den kleinen Hals gelegt wurde. Gemeinsam sollten diese beiden Steine sie im Laufe ihres Lebens unweigerlich in die Tiefe ziehen.

Geboren in Bredow besuchte sie die Schule in Markau, allerdings nur für sehr kurze Zeit. Von Bildung kann man bei ihr also nicht sprechen. Bereits als Kleinkind sah sie sich gezwungen, ihr tägliches Brot und das ihrer Familie durch Betteln zu erwerben. Sie wurde zwar im christlichen Glauben erzogen, konnte in ihm und der Kirche jedoch kein Zuhause finden, zumindest, wenn man Pfarrer Hollmanns Ausführungen für bare Münze nimmt. Der Grund für eine eventuell vorhandene Distanz zu Glauben und Kirche war möglicherweise darin zu finden, dass ein Hurenkind, wie sie eines war, zu jener Zeit auch in der Kirche nur eine Gebrandmarkte sein konnte, die sich ausgestoßen fühlen musste und es objektiv auch wohl war. Nächstenliebe, wie sie aktuell Papst Franziskus nicht nur predigt sondern auch vorlebt, die vor allem den Ausgegrenzten und Leidenden dieser Welt gelten soll, erfuhr sie in der damaligen Gesellschaftsordnung mit Sicherheit nicht. Die Feudalgesellschaft ihrer Zeit verfolgte vor allem die Sicherung der hierarchischen Ordnung. So kann es durchaus sein, dass sich Anna bereits jung verschloss und vom Glauben abwandte, ihn auch später nicht mehr so nah an sich heranließ. Nach damaligem gesellschaftlichen Verständnis war sie im Prinzip eine verlorene Seele, unausweichlich dem Untergang geweiht. »Dit war doch abzuseh’n, dit die eenmal so endet!«

Spätestens als Anna körperlich und altersmäßig dazu in der Lage war, verdingte sie sich als Dienstmädchen. Bei ihrer Herkunft und ihrem sozialen Stand war dies für sie wahrscheinlich die einzige realistische Möglichkeit, ein bescheidenes Auskommen zu finden und nicht im Armenhaus, auf der Straße, in der Kriminalität oder in der Prostitution zu enden. In einer Zeit, in der auch die Bauern noch Leibeigene ihrer Gutsherren waren, wurden Dienstmägde, Knechte und Tagelöhner wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Bereits als Kinder wurden sie aus der Schule genommen, wenn sie für die Feldarbeit benötigt wurden. Wer arbeiten konnte, wurde dorthin vermittelt, wo Arbeitskraft benötigt wurde, was oftmals mit dem Abschneiden sozialer Bindungen einherging. Wenige Kilometer Distanz konnten aufgrund der schlechten Infrastruktur und der beschränkten und teuren Transportmöglichkeiten jener Zeit unüberwindlich werden, zumal die Knechte und Mägde nur jeden zweiten Sonntag frei hatten, sofern es dem Dienstherrn behagte, sich an diese Absprache zu halten. Anfänglich diente Anna bei zwei Kossäten in Lietzow, danach ein Jahr lang bei dem Major von Bredow. Von dort kam sie zu dem Bauern Dörre in Markau, anschließend zu dem Krüger Sydow in Fahrland in Stellung.

Der relativ häufige Stellungswechsel kann unterschiedliche Gründe gehabt haben. Bis zu Annas Anstellung beim Major von Bredow unterstelle ich positiv bedingte Stellungswechsel, die auch Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen Situation mit sich brachten, danach, aufgrund der kürzeren Beschäftigungszeiten und dem Abstieg von einer Magd auf einem Gut zu einer Bedienung in einem Lokal, negative. Vielleicht ist Annas häufiger Stellungswechsel aber auch nur ein deutliches Zeichen dafür, dass sie den jeweiligen Dienstherren entfloh, weil es zu Misshandlungen oder gar sexuellen Übergriffen kam, wie sie in der damaligen Feudalgesellschaft an der Tagesordnung waren. Selbst Bruder Martin Luther schrieb wie selbstverständlich und für mich unverständlich: »Will die Frau nicht, so komme die Magd.« Welch ein frauenverachtendes Weltbild verbirgt sich hinter diesen Worten des großen Reformators!

Von Fahrland wechselte Anna schließlich nach Buchow, der letzten Station ihrer Lebensreise. Zunächst diente sie beim Bauern Engel. Da sie zu diesem Zeitpunkt bereits Mutter von zwei Hurenkindern gewesen sein muss und längere Zeit in einem Lokal gearbeitet hatte, vermute ich bei dieser Anstellung persönliche Gründe. Zuletzt diente sie bei dem Bauern Lichterfeldt, wo sich ihr unausweichlich scheinendes Schicksal erfüllte. Werde ich noch mehr über sie erfahren? Wenn sie eine Dame von Stand gewesen wäre, sicherlich, aber so? Kann man nach 250 Jahren Informationen über eine unbedeutende Dienstmagd erhalten? Jetzt fällt mir auch wieder ein, wo mir der 14. April bereits begegnet war: Es war der Tag, an dem Anna ihr drittes Kind gebar und umgehend in den Brunnen warf!

Blatt 3: Auswertung Zeitungsartikel

Heute ist ein verlorener Tag. Erneut musste ich so ein langatmiges und aufgequollenes Anwaltsschreiben lesen und beantworten. Goethe lehnte es strikt ab, Briefe zu beantworten, wenn er nichts inhaltlich Relevantes zu sagen wusste. Nachbarn hatten mich anfangs angeschrieben, weil ich zwar das Landleben genießen, den Pflichten desselben ihres Erachtens jedoch nicht nachkommen würde. Auf ihr Schreiben habe ich nicht reagiert, weil es inhaltlich fehl ging und die Verfasser des Briefes als Menschen entlarvte, mit denen man nicht zwingend Umgang pflegen möchte. Aufgrund einer mittlerweile eingereichten Klage muss ich jetzt reagieren, nun bereits zum wiederholten Male, weil ihnen nach jedem Entzug eines Arguments ein neues einfällt. Für mich bedeutet dies effektiv gestohlene Lebenszeit, von der ich nicht mehr allzu viel zur Verfügung habe. Folgenreicher als diese Klage ist jedoch die gleichzeitig erfolgte Anzeige des Nachbarn beim Bauamt. Obwohl ich ordnungsgemäß seit drei Jahren mit erstem Wohnsitz in meinem Häuschen gemeldet bin, hat sich aufgrund dieser Anzeige im Nachhinein herausgestellt, dass ich dort eigentlich nicht wohnen dürfte, weil die Zufahrten für Rettungsfahrzeuge nicht ausreichend sind. Diese Anzeige wird wohl in letzter Konsequenz dazu führen, dass ich mein Haus und Brieselang verlassen muss. Ich werde sehen, was passiert.

Um den Tag noch irgendwie zu retten, werde ich die Zeitungsartikel auswerten, die Frau Wulkow mir mitgegeben hat und die ich noch gestern Abend voller Erwartungen durchgelesen habe. In der Nacht habe ich einige von ihnen Revue passieren lassen bzw. von dem Brieselanger Licht geträumt, wie es rasend auf mich zuschießt und ich mich erst im letzten Moment durch einen Riesensatz in die Büsche retten kann. Die Artikel stammen alle aus der Zeit zwischen 1995 und 1997. Offensichtlich hatten sich die Havelländer zu dieser Zeit bereits an die Freuden des Kapitalismus gewöhnt und seine Schattenseiten verdaut, so dass sie sich in Gesprächen wieder anderen als wirtschaftlichen und politischen Themen widmen konnten.

Bündelt man die Informationen der einzelnen Artikel, so erhält man in etwa folgende Darstellung des Brieselanger Lichtes: Das Licht erscheint grundsätzlich ganz am Ende des Weges, was wiederum die vorbeifahrenden Autos und deren Scheinwerfer ins Spiel bringt, weil dort die Nauener Chaussee vorbeiführt. Einmal sieht man die Lichter am Boden, ein anderes Mal leicht darüber schwebend, dann aber auch links und rechts in verschiedenen Höhen in den Bäumen. Die beobachteten Lichtpunkte sind in etwa faustgroß und wechseln während ihres Erscheinens sowohl die Farbe als auch den Standort. Manchmal sind sie ein pulsierendes Licht, welches springt und die Besucher sogar aggressiv anzugreifen scheint, wie es auch Herr Wulkow berichtet hatte. Die Farbpalette der Lichtpunkte reicht dabei von weiß über grün, bläulich, rosenrot bis dunkelrot.

Die Lichtpunkte werden laut einigen Zeugen besonders bei nassem Wetter reflektiert, was ich mir spontan und simpel mit lichtreflektierenden und -brechenden Wassertropfen auf den Blättern erklären könnte. Nach den Aussagen anderer Zeugen sieht man aber gerade an nassen Tagen hingegen definitiv nichts. Hier besteht also ein ähnlicher Widerspruch zwischen Wasser und Licht wie schon zwischen Scheinwerfer und Licht. Tagsüber ist das Licht vereinzelt zwar auch schon wahrgenommen worden, zuverlässig sieht man es anhand vieler Berichte jedoch nur dann, wenn man nachts bei Dunkelheit in den Wald geht. Dagegen stehen allerdings viele Berichte von Leuten, die wiederholt im Wald waren und niemals etwas gesehen haben, was augenfällig gegen die Scheinwerfertheorie spricht, denn Autos fahren fast immer auf der Nauener Chaussee.

Laut den mir vorliegenden Berichten beginnen die Lichterscheinungen meist mit einem kurzen hellen Aufblitzen oder bewegen sich als Kugel schwebend über dem Boden, verfärben sich, steigen langsam aber stetig auf und teilen sich mitunter. Anders als das Taschenlampenlicht lässt es sich nicht auf Video aufzeichnen, weshalb im Netz kursierende Aufnahmen vermutlich gefälscht sind oder andere Lichtquellen zeigen. Ein Zeuge berichtet, dass es einem Freund einmal gelungen sei, das Licht aufzunehmen, am anderen Tag sei es allerdings unerklärlicherweise vom Handy verschwunden gewesen. Beim Blick durch ein Fernglas bleibt das Licht angeblich stets gleich weit entfernt, und mitgebrachte Hunde ziehen bei seinem Anblick verängstigt den Schwanz ein, suchen Schutz beim Herrchen oder heulen solange jämmerlich, bis man mit ihnen den Wald verlässt. Dies ist dann der Moment, in dem den für Geheimnisvolles und Übersinnliches anfälligen Personen der erste Schauer des Grauens über den Rücken läuft. Ganz unberührt lassen mich diese Berichte auch nicht, denn eines scheint unbestreitbar: Es gibt definitiv Lichter im Brieselanger Wald, deren Herkunft nicht in jedem Falle eindeutig zu erklären sind. Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos allein können es nicht sein. Soweit bin ich schon einmal mit meiner Recherche.

Federführend bei der Nachforschung des Brieselanger Lichts zeigten sich anhand meiner Unterlagen die »Märkische Allgemeine« und deren Lokaljournalist Jürgen Krumnow, die zwischen Spätherbst 1996 und Frühjahr 1997 intensiv recherchierten und wiederholt berichteten. Ausgelöst wurde diese Aktivität offensichtlich durch eine Anfrage der Cenap, nachdem Frau Wulkow dieser ein mehrseitiges Protokoll über ihre Erfahrungen im Brieselanger Wald hatte zukommen lassen. Herr Krumnow bezeichnet Frau Wulkow denn auch als diejenige Kraft, die den Stein ins Rollen bzw. das Licht erneut zum Leuchten gebracht hat, nachdem es scheinbar zuvor bereits einmal ein beherrschendes Thema gewesen war, mit der Zeit allerdings an Interesse eingebüßt hatte. Er gibt sich sichtbar Mühe, dem Thema mit der erforderlichen Ernsthaftigkeit nachzugehen, opfert seine Freizeit und erforscht den Wald auch bei Nacht, wobei er und seine jeweiligen Begleiter wiederholt die geheimnisvollen Lichter erblicken.

Mit übersinnlichen Phänomenen hat er allerdings grundsätzlich nichts im Sinn, wie mir beim Lesen schnell klar wird. So verwundert es auch nicht, dass er bei allen angeführten und auch eigenen Sichtungen einer natürlichen Erklärung zuneigt, womit er nicht allein steht. Jugendliche, so sein Fazit, hätten per Handykontakt eindeutig festgestellt, was Forstleute schon immer gesagt hätten: Die Lichter zeigen sich immer nur dann, wenn Fahrzeuge bei Dunkelheit die Nauener Chaussee passieren! Dabei würden die strahlenden Scheinwerferlichter der vorbeifahrenden Autos von den Beobachtern im Wald überraschend nur als Lichtpunkte wahrgenommen, die besonders bei Nässe zusätzlich von den Bäumen reflektiert würden. Stimmt das? Herr Wulkow hatte mit seinen Bekannten andere Erfahrungen gemacht, und wie kann es sein, dass viele Leute im Wald nie etwas gesehen haben, obwohl auf der Nauener Chaussee immer irgendwelche Autos fahren? Ferner unterstellt Herr Krumnow, dass im Grunde keiner an einer ernsthaften Lösung des Phänomens interessiert sei, da Brieselang mit dem Licht eine kleine Attraktion besäße und ein wenig Übersinnliches dem Alltag unserer durch und durch technisierten Welt ein gewisses Kribbeln bewahre. Freunde des Waldes sehen dies sicherlich anders.

Festzustehen scheint mir persönlich nach dem Gespräch mit den Wulkows und der Lektüre der diversen Artikel das Vorhandensein von letztlich nicht ganz eindeutig zuzuordnenden Lichtern. Zusätzliches Gewicht erhält diese Erkenntnis dadurch, dass sie von unterschiedlichsten Menschen und nicht nur einer irgendwie ausgerichteten Gruppe gesehen und beschrieben worden sind. Meist sind es Laien, die Selbsterlebtes wiedergeben, aber auch Fachleute, die sich wissenschaftlich systematisch mit dem Phänomen beschäftigen. Herr Krumnow berichtet in einem weiteren Artikel von einem (wieder einmal) lebhaften Abend im Wald, als gleichzeitig abenteuerlustige und den mittlerweile entstandenen Legenden um das Licht verhaftete Jugendgruppen mutig im Dickicht den Lichtern nachjagen, die sie einmal da und einmal dort gesichtet haben wollen, während eine gesetztere Radfahrergruppe unter Führung von Herrn Thomas Gitzel mittels eines Picknicks zunächst dem leiblichen Wohl frönt und dann am Rande natürliche und übernatürliche Erklärungen diskutiert. Selbst Ufos und das unergründliche und unendliche Weltall werden dabei bemüht.

Nachdenklicher als die Berichte im Zusammenhang mit den Autoscheinwerfern haben mich die Schilderungen gemacht, die das Licht als kalt und gleißend beschrieben, aber niemals als blendend. Das Licht wirkt demnach wie ein Phosphorlicht ohne Strahlen. Es glimmt verhalten auf, wird zusehends stärker, ohne jemanden anzustrahlen und verlischt alsbald wieder. Wenig später wiederholt sich dieser Vorgang. Das Licht antwortet nach Aussagen mehrerer Zeugen zuverlässig auf Taschenlampen. Wenn man mit der Taschenlampe den Weg entlang in den Wald hineinleuchtet, kommt unterschiedlich schnell eine Reaktion, manchmal erst nach 2-3 Minuten. Dies alles deutet für mich eher auf eine landschaftlich bedingte Phosphoreszenz hin als auf vorbeifahrende Autos, denn wie könnte ein Auto auf eine Taschenlampe reagieren? Hat das Licht somit neben den Autoscheinwerfern auch eine natürliche Erklärung?

Phosphoreszenz ist die Eigenschaft eines Stoffes, nach einem Beleuchten mit sichtbarem oder UV-Licht im Dunkeln eine gewisse Zeit nachzuleuchten. Diese Erfahrung hat wohl jeder von uns wiederholt gemacht. Ursache ist die strahlende Deaktivierung, das heißt, der Rückgang vom aktiven in den nicht aktiven Zustand. Dieses Phänomen beobachteten Alchemisten bereits im 17. Jahrhundert. Es könnte unter bestimmten Umständen durchaus im Brieselanger Wald vorhanden sein.

Die Phosphoreszenz ist eine besondere Form der Lumineszenz. Der Begriff Lumineszenz wird vom lateinischen Wort »lumen« abgeleitet, was soviel wie »kaltes Licht« bedeutet und beruft sich auf die außergewöhnliche Leuchterscheinung unterhalb der Glühtemperatur, die mit diesem Phänomen im Zusammenhang steht. Es handelt sich also sozusagen um »kaltes Licht«. Normalerweise glühen beispielsweise unsere Glühlampen erst dann, wenn der Leuchtdraht durch den Durchfluss von Strom aufgrund des Widerstandes zum Glühen gebracht worden ist. Hitze ist demzufolge im Regelfall ein wesentliches Element für das Leuchten, hier aber nicht. Lumineszenz begegnet uns in unserem täglichen Leben auch an vielen anderen Stellen, ohne dass wir uns dessen immer bewusst sind. Beim Einschalten der Bürolampen, beim Fernsehen oder beim Arbeiten am Computerbildschirm haben wir mit ihr zu tun. Immer mehr Produkte enthalten zunehmend lumineszierende Materialien, um Originale von ihren Fälschungen zu unterscheiden, so beispielsweise Banknoten, Dokumente und Markenprodukte. Ebenso findet man sie in der Klinik beim Röntgen, bei der Anwendung des Lasers im physikalischen Institut oder im Waschmittel aus dem Supermarkt.

Im Bereich des Unfall- und Arbeitsschutzes sorgen lang nachleuchtende Signalschilder für die richtige Orientierung in der Dunkelheit. Auch aus der Natur sind Lumineszenz-Phänomene in Hülle und Fülle bekannt. Man denke dabei an Glühwürmchen, viele Bewohner der Tiefsee, faulende Baumstämme und ganz besonders auch an Mineralien. Meine Tochter Heidede hat drei kleine grünliche Steine, die sie abends manchmal mit ins Bett nimmt, weil sie unter der Bettdecke so schön leuchten. Die Lumineszenz unterscheidet sich vom ähnlichen Phänomen der Fluoreszenz darin, dass die Fluoreszenz nach dem Ende der Bestrahlung rasch abklingt, meist innerhalb einer millionstel Sekunde, wogegen es bei der Phosphoreszenz zu einem Nachleuchten kommt, welches von Sekundenbruchteilen bis hin zu Stunden dauern kann. Eine solche Erklärung, zumindest für die auf die Taschenlampenbestrahlung reagierenden Lichter, könnte ich mir gut vorstellen. Dafür dürfte für mein Verständnis als Laie gegebenenfalls bereits ein feuchter verfaulender Baumstamm als Quelle ausreichen. Ein Naturwissenschaftler könnte die Vorgänge sicherlich auch noch physikalisch erklären.

Weit vorn bei allen Skeptikern des Lichts und auch bei Herrn Krumnow liegt jedoch nach wie vor die Erklärung des Brieselanger Lichts mittels der Scheinwerfer der Autos. Im Netz findet man beispielsweise auf »helpster«, einem nach eigenen Angaben kostenlosen Online-Ratgeber-Angebot mit praktischen Anleitungen für Alltagssituationen aller Art, einen Artikel des Inhalts, dass bisher kein auch nur annähernd wissenschaftlicher Beweis für auch nur eine der in Umlauf befindlichen Geschichten rund um das Brieselanger Licht erbracht worden sei, weshalb vernunftbegabte Naturen auch recht nüchtern an das Phänomen herangehen würden. Bei einer unvoreingenommenen Betrachtung, so der Verfasser des Artikels, legten die tatsächlichen Beobachtungen genau die Schlüsse nahe, an die ein Wissenschaftler wohl zuerst denken würde, wenn von Licht im Wald die Rede sei. Wenn also von einem dichten und dunklen Wald erzählt würde, in dem Lichter zu sehen seien, die sich vom Beobachter weg oder auf ihn zu bewegten, manchmal weiß, manchmal grün und manchmal bunt aussähen, prüfe jeder rational veranlagte Mensch zunächst einmal, ob an dem Wald eine Straße vorbei oder ein Weg durch den Wald hindurchführe. Beides sei in Brieselang der Fall, weshalb jeder rational veranlagte Mensch nun dächte, dass die Lichter wohl von Scheinwerfern kommen würden. Von Autoscheinwerfern vorwiegend bei Dämmerung oder Nacht, von Motorradscheinwerfern auch am Tag, weil Motorradfahrer auch tagsüber mit Licht fahren müssten, von vorne gesehen weiß oder von hinten rot, grün durch die Blätter oder bunt durch Regentropfen, weil diese das Licht im Prisma des Regenbogens auffächerten.

Daneben gäbe es auch noch Menschen mit Taschenlampen im Wald, die Fahrradlampen der Radler und die Stirnlampen der Jogger, die leuchtenden Hundehalsbänder der Gassi gehenden Hunde und die reflektierenden Streifen an den Jacken von Menschen, die durch den Wald spazieren gingen. Deshalb werde ein zu analytischem Denken erzogener Mensch nur schwer zu überzeugen sein, dass im Brieselanger Wald Geister bzw. ein ganz bestimmter Geist herumirrten. Er würde sich eher darüber ärgern, dass der »Grusel-Tourismus« zwischenzeitlich bereits Ausmaße angenommen habe, die zu erheblichen Vegetationsschäden, Müllhalden und zu einem Rückgang des Wildbestandes geführt hätten!

Für mich stellt sich die Situation nicht so eindeutig dar. Den Müll und die nachts durch den Wald fahrenden Autos empfinde auch ich als sehr negative Begleiterscheinung des Phänomens. Natürlich lassen sich einige Lichterscheinungen mit den Scheinwerfern vorbeifahrender Autos erklären, aber ein eindeutiger Nachweis, worauf nun genau dieses Leuchten zurück zuführen ist, haben meine Unterlagen bisher nicht erbracht. Ich werde mich im nächsten Schritt zunächst einmal mit den Gegebenheiten vor Ort beschäftigen.

Zwischen meine Stapel mit Zeitungsberichten zu dem Thema »Brieselanger Licht« hat sich auch eine Kopie eines Artikels geschlichen, der sich mit Annas weiterem Schicksal beschäftigt. In ihm lese ich von ihrem anfänglich hartnäckigen Leugnen der Tat, welches erst durch »hartnäckiges Nachfragen« gebrochen werden konnte. Hat man sie gefoltert und ihr damit ein Geständnis abgepresst? Hat sie unter Umständen die Tat gar nicht begangen? Dem Gutachten des Stadtchirurgus Feige und des Hofmedicus Frese in Potsdam nach musste »höchstwahrscheinlich angenommen« werden, dass das Kind lebend zur Welt gekommen und anschließend von ihr ermordet worden sei. Sicher war dies hingegen nicht. Als Nachweis, dass ein Kind gelebt hat, galt damals, wenn man die Lunge des toten Kindes ins Wasser legte und diese an der Oberfläche schwamm. Dies hieß, das Kind hatte geatmet und die Lunge hatte sich mit Luft gefüllt. Anna gab zwar schließlich zu, dass das Kind am Leben gewesen sei, aber wer würde nicht alles gestehen nach einer »hochnotpeinlichen Vernehmung«, wie die Folter damals hieß? Zwar hatte Friedrich II. nach seinem Machtantritt die Folter de jure abgeschafft, aber die Justiz verfügte nach wie vor de facto über ein reichhaltiges Arsenal von Möglichkeiten, einen Verdächtigen geständig zu machen.

Kindersterblichkeit war damals anders als heutzutage Alltag, um nicht zu sagen die Norm. Auch Mütter starben aufgrund unhygienischer Umstände reihenweise am Kindbettfieber. So überlebten im Elternhause Goethe beispielsweise auch nur zwei von sechs Kindern, und der Dichterfürst selbst musste ebenfalls vier Kinder zu Grabe tragen. Einzig und allein der Sohn Karl August überlebte. Hat Annas Kind vielleicht gelebt und ist kurz nach der Geburt erstickt, was auch nicht selten vorkam, und sie hat sich aufgrund der Gesamtsituation keinen anderen Rat gewusst als das tote Kind in den Brunnen zu werfen, um es verschwinden zu lassen? Die Tat erscheint mir zumindest nicht geplant, anhand aller Umstände logisch auch nicht ganz nachvollziehbar. Denkbar erscheint mir allenfalls eine Tat im Affekt.