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Während einer apokalyptischen Unwetterfahrt von Nürnberg nach Berlin thematisiert der Autor Liebe, Macht und Tod anhand zweier gescheiterter Frauenbeziehungen und dem Verhältnis Goethes zu Napoleon. Daneben beschreibt er detailliert historische und geographische Gegebenheiten entlang der A 9. Alle Handlungsstränge streben einem strengen Zeitplan folgend ihrem jeweiligen Ziel entgegen. Der Text überzeugt durch die Melodie seiner Sprache.
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Seitenzahl: 242
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Für Heidede
Dir hätte ich diese verwirrenden Worte nicht sagen dürfen, damals, als ich dir vor dieser überbreiten und sonnendurchfluteten Fensterfront erstmals im Leben begegnete. Nicht dir, diesem staubtrockenen und aufsauggierigen Schwamm. Einfach hingeworfen, ohne groß nachzudenken, ohne bestimmte Absichten. Hinübergeprustet von einem ausgetrockneten Schwamm zum anderen. Jetzt ist es zu spät. Gleich noch das Gepäck ins Auto, Handy in die Konsole, einsteigen und abfahren. Ein Fehler, so spät noch aufzubrechen, ich weiß, aber ich will den magischen Termin auf keinen Fall versäumen. Er ist die letzte Möglichkeit, Kontakt mit ihr aufzunehmen, noch einmal ihre Nähe zu spüren, eins zu sein mit ihr. Allein in der Wohnung bleiben könnte ich jetzt ohnehin nicht mehr. Nicht nach dieser Nachricht und nicht nach unserem Telefonat. Die entstandene endgültige Einsamkeit würde mich erdrücken.
19.30 Uhr. Abfahrt. Wie die Zeit verflogen ist. Warum bin ich noch einmal in die Wohnung zurückgekehrt, als das Telefon klingelte? Ich war doch bereits fort, die Wohnungstür fest versperrt, meine Abreise mehr als verspätet. Vorweg den ganzen Tag über diese beklemmende Schwüle. Nicht zu ertragen. Fast schien sie mich bedrohlich zu umklammern, triefnass abzuschlecken, um mich dann wie ein vollgesogenes Aufwischtuch auszuwringen. Kaum hatte ich mich geduscht und umgezogen, klebte die nach wenigen Minuten durchnässte Kleidung erneut an meinem ermatteten Körper. Dann diese alles erschütternde Nachricht. Die endlos traurig schönen Erinnerungen. Das enttäuschende Telefonat mit ihren Angehörigen. Danach Dein Anruf. Er wird mich mehr als nur diese eine Stunde meines Lebens kosten. Das spüre ich. Die Bewegungen und die Atmung fielen mir auf einmal schwer, schwerer als noch vor kurzem. Jeder Schritt war Mühsal, Qual, Ermattung. Zu nichts hatte ich mehr Lust. Zu nichts konnte ich mich aufraffen. Dabei wollte ich doch fahren, hatte ausdrücklich darum gebeten, inständig gebettelt, kommen zu dürfen.
Hier draußen bläht sich die Schwüle zu einem prall gefüllten Ballon auf, der jeden Moment mit einem lauten Knall zerplatzen kann, ja, zwangsläufig zerplatzen muss. Dann werden grell zuckende Blitze den Himmel weiträumig aufreißen, krachende Donner die Ohren betäuben und sintflutartige Regenschauer auf Stadt und Land hernieder prasseln. Das ist sicher. Wird es Staus geben auf der ohnehin vielbefahrenen A9, dieser blutdurchtränkten direkten Verbindungslinie zwischen den Hitler glorifizierenden Reichsparteitagen auf dem Zeppelinfeld und seinem viel zu späten und mehr als schäbigen Ende im Bunker der Berliner Reichskanzlei? Kann ich dem Unwetter noch rechtzeitig ausweichen oder gerate ich unmittelbar hinein? Ich fahre nachts nicht gern. Allein und bei Regen gleich gar nicht. Die hernieder fallenden Wassertropfen reflektieren glitzernd das Gegenlicht, verschlingen das eigene vor einem auf der Fahrbahn, lassen mitunter gar die weißen Markierungen kurzzeitig verschwinden. Hinzu kommen die auf die Frontscheibe klatschenden Wasserfontänen der Überholer und die Dauerbesprühung der vor einem fahrenden Autos, die einen zwingen, die Scheibenwischer nahezu durchgehend auf hoher Stufe laufen zu lassen. Wisch-Wasch, Wisch-Wasch, Wisch-Wasch. Nerv tötend!
Jeder aufgewühlte Schmutz und alles Dreckwasser wird hoch und dann mit Vehemenz auf den Nachfolgeverkehr geschleudert. Im Nu ist die gesamte Windschutzscheibe blitzartig mit stumpfen, undurchsichtigen Schlieren übersät. Lebensgefährlicher sekundenlanger Blindflug. Bei zu großem Schmutzanteil quietschen die Wischerblätter beim Hin- und schlurfen beim Rückschlag. Fast wie Eselsgeschrei. Iii-Aar, Iii-Aar, Iii-Aar. Um überhaupt noch etwas sehen zu können, ist man gezwungen, unentwegt die Scheibenwaschanlage zu betätigen. Wisch – Wasch, Wisch-Wasch, Wisch-Wasch. Zosch! Iii- Aar, Iii-Aar, Iii-Aar. Zisch, Zisch, Zisch. Wisch-Wasch, Wisch-Wasch, Wisch-Wasch. Hypnotisierend und ätzend zugleich. Bleibt mir diese Tortur heute erspart? Ich könnte sie nicht ertragen. Nicht nach dieser Nachricht und nicht nach unserem Telefonat. Rüger Schlafkomfort. Merkwürdig, früher ist mir das Geschäft rechte Hand in Mögeldorf nie aufgefallen, dabei bin ich die Strecke schon so häufig gefahren. Ich will einmal hören, was B 5 zu Wetter und Verkehr sagt: »… im gesamten Sendegebiet im Laufe des Abends und der Nacht heftige Gewitter mit sintflutartigen Regenschauern und Sturmböen. Für den gesamten Nordosten der Bundesrepublik wurden vom Deutschen Wetterdienst Unwetterwarnungen herausgegeben.« Auch das noch! Davon war doch den ganzen Tag nicht die Rede, oder habe ich es überhört? Dabei hoffte ich, der Unwetterfront zu entkommen, wenn ich nordöstlich Richtung Berlin fahren würde. Wird schon schief gehen, ist ja nicht die erste problematische Fahrt meines Lebens. Hinweisschild Pension Christel. Dort wohnte ich ein paar Wochen, als noch Hoffnung auf Rückkehr bestand.
Ich muss mich ablenken. Linke Hand blitzt gleich das Industriegut Hammer durch die stattlichen uralten Baumkronen, häufiges Ziel sonntäglicher Spaziergänge. Ausgehend von einer Mühle im 14. Jahrhundert entwickelte sich dort im Laufe der Zeit ein Industriegut mit Herrenhaus, Wirtshaus, Schule, Stallungen, Wirtschaftsgebäuden, Arbeiterwohnungen für mehr als 100 Arbeiter und Produktionsstätten, in denen im 17. Jahrhundert Bunt- und Edelmetallfolien entstanden, die bis nach Asien verschifft wurden. An Hammer beeindruckt mich, wie selbstverständlich hier die Arbeiterwohnungen direkt neben dem Herrenhaus stehend mit diesem eine harmonische dörfliche Gemeinschaft bilden, ebenso die bereits im 17. Jahrhundert geschaffenen sozialen Einrichtungen. Früh gab es eine Schule für Arbeiterkinder, mietfreie Arbeiterwohnungen und eine Invaliditäts-, Alters- und Witwenrente. Die Arbeitsverhältnisse waren unkündbar. Angesichts der heutigen Arbeitslosenzahlen, der zunehmenden befristeten Arbeitsverträge und des wachsenden Niedriglohnsegments traumhafte Arbeitsbedingungen.
Der Himmel lässt Schlimmes befürchten. Als Kind musste ich bei drohendem Gewitter sofort mit den Geschwistern herein kommen. Sobald wir alle im Hause versammelt waren, verriegelte meine Mutter die Haustür zweifach, entzündete eine große weiße Kerze, zog sämtliche Stecker aus der Wand, überprüfte sorgsam alle Fenster und zog zuletzt die Übergardinen vor. Dann löschte sie das Deckenlicht. Nichts fürchtete sie mehr als ein aufkommendes Gewitter, diesen wiederkehrenden Hinweis Gottes auf die unausweichliche Apokalypse. Während der Sturm um unser Haus fegte, der Regen gegen die Fensterscheiben prasselte und die zuckenden Blitze als flächendeckende Aufhellungen durch die abgedunkelten Fenster drangen, umfing sie uns ängstlich im flackernden Kerzenlicht am Boden kauernde Brut mit ihren Armen. Mit zittriger leiser Stimme, aber ganz regelmäßig begann sie mit dem aufflackernden Blitzlicht zu zählen: »21, 22, 23« bis der dumpfe oder krachende Donner zu hören war. Dann die Zahl: »3! Nur noch 3 Kilometer!« So maß sie den Abstand zur Gewitterfront. Blitzlicht, »21, 22«, Donnerschlag. »2! Es kommt näher!« Urplötzlich gab es eine ohrenbetäubende Detonation, wesentlich lauter und intensiver als die anderen, als ob Himmel und Hölle zugleich zerbersten würden. Dann krampfte sie erschrocken zusammen, wurde totenbleich und schrie: »Mein Gott, jetzt hat der Blitz eingeschlagen! Ganz in der Nähe! Hoffentlich nicht bei uns! Herr, steh uns bei!« Wenn sie wüsste, dass ich in dieser gespenstisch bedrohlichen Nacht eine so lange Fahrt antrete, würde sie außer sich geraten und mir die Fahrt streng verbieten. Auch heute noch. »Junge, man muss sein Schicksal nicht mutwillig herausfordern!«
Nach Ende des Gewitters verharrten wir eine Weile in der unbequemen Stellung und erwarteten Mutters Entwarnung. »Ich glaube, ihr könnt jetzt hinausgehen. Zieht eure Gummistiefel an und saut euch nicht wieder so ein, wenn ihr in den Wasserpfützen spielt! Ich will nicht schon wieder den ganzen Tag in der Waschküche stehen!« Dann schritt sie voran, entriegelte die Haustür und warf zuerst einen prüfenden Blick an den kräftig aufgewühlten Himmel. Erst, wenn die Luft nach dieser Prüfung absehbar rein erschien, gab sie den Türstock frei, damit wir das Haus verlassen konnten. Danach ging sie allein wieder hinein und öffnete alle Fensterflügel weit, um den furchtbaren Geistern der Angst die Möglichkeit zu geben, unser Haus möglichst rasch und vollständig verlassen zu können.
6 Minuten Fahrtzeit bis zur Auffahrt. Nicht schlecht! Noch gut 4 Stunden, wenn alles glatt läuft. Wer weiß, wie die Autofahrer heute bei der drückenden Luft beieinander sind. Nicht wenige von ihnen werden mit Erreichung der Autobahn automatisch aggressiv, als ob die Auffahrt zur Autobahn eine Injektion mit kampfbereit machenden Substanzen wäre. Selbst friedliche Zeitgenossen sehen sich urplötzlich von Todfeinden umringt. Hoffentlich ist kein Geisterfahrer oder Selbstmörder unterwegs. Übermüdete Fernfahrer sind mir Gefahr genug, nicht zu vergessen dieses wie ein beängstigendes Damoklesschwert über mir hängende Unwetter. Ohne die die drückende Hitze im Wageninneren verdrängende Klimaanlage würde mir der Schweiß nur so am Körper hinuntertriefen und den Autositz und meine Kleidung verkleben. Gleich bei der Auffahrt zur A9 muss ich wachsam sein, um nicht wieder in Richtung Prag zu fahren. Als ob mich magische Kräfte in die Goldene Stadt an der Moldau ziehen wollten. Seit Jahren bewahre ich einen Gutschein für ein verträumtes Wochenende zu zweit auf. Er war in glücklichen Tagen Julias mit ein paar sehr lieben persönlichen Zeilen versehenes Geburtstagsgeschenk, welches mich tief berührte. Ich lese die Zeilen heute noch gern, bis sie vor meinen Augen verschwimmen. Leider verpassten wir es, ihn beizeiten gemeinsam einzulösen. Nun ist es endgültig zu spät.
In jenen erfüllten Jahren unternahmen wir im Frühjahr und Herbst Wochenendreisen in europäische Großstädte, während der Sommer Lignano vorbehalten blieb. Häufig weilten wir in Paris, weil ich dort regelmäßig beruflich zu tun hatte. Während ich mittwochs flog, kam sie freitags nach und wir blieben bis Sonntag, manchmal bis Montag. Bewusst wohnten wir jedes Mal in einem anderen Arrondissement, um nach und nach die ganze Stadt in ihrer herrlichen Vielfalt kennen zu lernen. Daneben reisten wir in viele deutsche Großstädte, oftmals verbunden mit dem Besuch einer größeren Veranstaltung, meist Musicals oder Opern. Einmal verbrachten wir eine Woche in New York. Meinen Tick, unbedingt im Waldorf Astoria wohnen zu wollen, und mein Verharren und Schweigen vor dem Dakota Building blieben ihr ebenso unverständlich wie meine Begeisterung für die schwarzen Sängerinnen und Sänger in »Smokey Joe’s Garage«.
Den Aufenthalt in der wunderschönen, malerischen Altstadt von Prag mit ihren Ansätzen zur Bohême, dem guten Bier, deftigem Essen und urigen Wirtshäusern, erlebt mit ihr an meiner Seite hätte ich mir sehr reizvoll vorstellen können. Es hätte mich nachhaltig bewegt. Du, Fee, warst kürzlich dort. Mit unserem Kurs. Ich nicht. Da der Gutschein mich bisher stets besinnlich verweilen und rückblickend träumen ließ, wenn er mir zufällig in die Hände fiel, werde ich ihn jetzt besonders sorgsam aufbewahren. »Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort«. Eichendorff oder? Manche liebgewordenen Dinge erhalten ihren wahren bleibenden Wert erst nach einem entstandenen Verlust. Deine letzten Worte bedrücken mich. »Das war ein ausgesprochen harmonischer Urlaub, wirklich wunderschöne Tage der Gemeinsamkeit« – diese Worte verlassen mich nicht mehr. So etwas hattest du vorher nie gesagt. Diese Worte beginnen, sich in mir festzusetzen. Sie ergreifen krebsartig Besitz von mir. Sie nagen an mir, zerfressen mich. Zu sehr habe ich gefühlt, wie du sie gemeint hast, zu sehr verstanden, was sie mir wirklich sagen sollten. Es sind nicht die Worte an sich, die uns verzagen lassen, sondern die Denkräume, die sie schaffen. In sie zwingen wir unsere tiefgehenden Überlegungen, wachsenden Zweifel und negativen Schlussfolgerungen. Unsere Trauer. Auch der Zeitpunkt einer Aussage ist bedeutend. Du hast den denkbar falschesten Moment für diese Worte gewählt. Blattschuss!
Der Verkehr ist für diese Tageszeit erstaunlich dicht. Sobald die ersten vereinzelten Tropfen fallen, wird es sich schnell stauen. Mit dem ersten Aufschlag eines Regentropfens auf die Windschutzscheibe verlernen viele das Autofahren und geraten in Panik. Wie im Winter, wenn der erste Schnee fällt. Als ob die ganze Nation noch nie Schnee gesehen hätte oder bei Schnee gefahren wäre. Augenblicklich ist außen noch alles ruhig, wenngleich weiterhin drückend schwül. Die berühmte Ruhe vor dem losbrechenden Sturm lastet fühlbar und bedrohlich auf dem ausgedörrten Land. Die endlos plane Fahrbahn flimmert leicht von den aufsteigenden Hitzewellen, zugleich zieht sich der Himmel immer bedrohlicher zu. Die fast geschlossene dunkle Wolkenwand scheint die Erde am Horizont direkt zu berühren. Tonnenschwer hängen die fetten schwarzen Regenwolken am sommerlichen Abendhimmel. Spätestens in Lauf, befürchte ich, werde ich nicht mehr unter ihnen hindurchfahren können. Im Moment herrscht Grabesstille. Keine Anzeichen für Wind, kein Wetter leuchten ist zu sehen. Vielleicht entkomme ich dem Unheil nach der Hersbrucker Schweiz. Auf über vierhundert Kilometern mit wechselnden Landschaften ist einiges möglich. Jetzt aber aufgepasst, nicht schon wieder die falsche Abfahrt nehmen. Prag ist nicht mehr. Nie mehr!
A9. Richtung Berlin. Wunderbar. Diesmal ohne zeitraubendes Verfahren. Die Landschaft vor mir wird felsig hügelig. Östlich von Lauf sehe ich die Ausläufer der Hersbrucker Schweiz. Hinweis: Berlin 423 km. Jetzt einzelne Etappen festlegen und abarbeiten. Bayreuth ist die nächste größere Stadt, dann folgt Hof. Beim Brückenrasthaus Frankenwald ist ungefähr ein Drittel geschafft, in Osterfeld die Hälfte. Ab Leipzig sind es knapp 180 Kilometer, die aber in der Regel wie im Fluge vergehen, weil ich in der flachen Norddeutschen Tiefebene erfahrungsgemäß zügiger vorankomme. Dann Potsdam, schließlich das Ziel.
Unmittelbar nach der Wende war die Fahrt von und nach Berlin eine einzige Katastrophe. Die gesamte Strecke war eine durchgängige Baustelle, dazu die vielen Autofahrer, die ihren Umstieg vom Trabbi auf den Golf fahrtechnisch noch nicht bewerkstelligt hatten. Einmal reisten Julia und ich aus Berlin zurück. Von Marzahn südlich über den Ring bis Halle benötigten wir zehn Stunden für nicht einmal zweihundert Kilometer! Ausschließlich Stop and Go. Gang einlegen, Kupplung kommen lassen, schleichend zehn Meter rollen, Kupplung und Bremse treten, Gang heraus nehmen, halten. Motor laufen lassen. Motor abstellen, weil es länger dauert. Motor wieder anstellen, da es plötzlich doch wieder zehn Meter voran geht. Den ganzen lieben Tag lang das gleiche nervenaufreibende Spiel. Dazu ein satter Landregen, der uns die Treue hielt und von Stunde zu Stunde schwerer zu ertragen war. Wisch-Wasch, Wisch-Wasch, Wisch-Wasch. Halten, rollen, halten. Wisch-Wasch, Wisch-Wasch, Wisch-Wasch. Heute läuft es hoffentlich besser! Zumindest wäre es mit dem Automatik jetzt etwas komfortabler.
Das mich umgebende Frankenland ist ein schönes Fleckchen Erde, wohin ich auch schaue. »Wie ein Zauberschrank immer neue Schubfächer thun sich auf und zeigen bunte, glänzende Kleinodien, und das hat kein Ende«, wie Fürst Pückler begeistert notierte. Die A 9 durchläuft hier kurvig eine überwiegend mit Nadelwald bedeckte hügelige Landschaft. Ich lebe gerne hier, wenngleich kein geborener Franke, sondern ein anfangs argwöhnisch beäugter Fischkopp. Die Franken selbst sind ein wenig mundfaul und kontaktscheu, aber rechtschaffene und fleißige Leutchen mit einem ganz eigenen skurrilen Humor. Nach der neapoletanischen Weise »Funiculi Funicula« singen sie, sich bier- oder weinselig in den Armen liegend: »Schau hie, da liegd a doda Fisch im Wassa, den mach’ma hie, den mach’ma hie! Lesbisch, lesbisch, und a bisschen schwul …« Abgefahren! Kommt an Genialität dem norddeutschen »An der Nordseeküste, im Plattdeutschen Land, sind die Fische im Wasser und selten an Land!« recht nahe. Vielleicht gefällt es mir deshalb in Franken so gut.
Hier auf der A 9 in Richtung Berlin streife ich drei wunderbare fränkische Landschaften. Östlich die Hersbrucker Schweiz, westlich die Fränkische Schweiz, schließlich, nach Plech, den Veldensteiner Forst. Fast überall in den malerischen Ortschaften isst man gut, reichlich und preiswert, was sich im Laufe der Jahrzehnte leider in meinem äußeren Erscheinungsbild niedergeschlagen hat. Schäufele oder Schweinebraten mit Kloß und gebackener Karpfen sind nun mal keine Brigitte Diät, wie sehr ich es mir auch wünschte. Gleich bei Lauf erhält die den Ort durchfließende Pegnitz ein stärkeres Gefälle, weshalb an ihr bereits im 11. Jahrhundert Wassermühlen errichtet wurden und eine Siedlung entstand, die unter Karl IV. zur Stadt erhoben wurde. Anfang der neunziger Jahre war ich hier bei einem Hörer zum Abfischen eines Karpfenteiches eingeladen. Wir kecherten die schweren Karpfen aus dem abgelassenen Teich, warfen sie in einen großen, auf einem Wagen befestigten Wasserbottich und kippten sie später in eine Wasserstelle mit reinem Fließwasser, wo sie gewässert wurden. Unterlässt man die Wässerung, schmeckt der Karpfen später moderig, weil er Zeit seines Lebens wie ein Mastschwein im Morast, im algenverschmutzten Schlamm des Teichgrundes herumwühlt und frisst. Nebenbei nahm ich einige Interviews auf meinem kleinen Rekorder auf, den ich damals stets bei mir trug, so dass ich als Nebenprodukt gleich einen interessanten Beitrag über Karpfenzucht in Franken in der Tasche hatte, den wir in der Folgewoche ausstrahlten. Zum Abschluss erhielt ich einen lebenden Karpfen und eine lebende Schleie geschenkt, die ich daheim behutsam in unseren kleinen Gartenteich setzte, obwohl Julia vor allem den Karpfen liebend gern gleich in die bereitstehende Fritteuse geworfen hätte. Die Schleie empfinde ich vom Körperbau her als sehr graziös und habe die Meinige gern beobachtet, wenn sie ruhig und elegant durch das Wasser gleitend, ihre beharrlichen Runden drehte.
Warum, fällt mir gerade ein, besucht man eigentlich Städte, betrachtet Gebäude und Plätze? Um ihrer selbst willen? Ich nicht. Wenngleich ich für schöne oder gewagte Architektur jeglicher Epoche nicht unempfänglich bin, gewinnen Orte und Plätze für mich erst dann ein tiefer gehendes Interesse, wenn ich sie mit einem konkreten Ereignis oder einer konkreten Person in Verbindung bringen kann. Mensch vor Stein! So bleibt der »Place des Vosges« in Paris für mich immer der Ort, an dem ich einen vom äußeren Erscheinungsbild her bemitleidenswerten Kastraten mit einer engelsgleichen Stimme hörte, wenngleich die Harmonie und Geschlossenheit des Platzes ihren eigenen, bezaubernden Charme versprühen. In Venedig interessierten mich das kleine Fenster in der »Merceria Orologio«, aus dem einst ein Blumentopf lärmend hinunterfiel und eine Revolte verhinderte, und Casanovas Gefängniszelle unter dem Dach des Dogenpalastes mehr als der Palast selbst. Das Brandenburger Tor bleibt für mich unauslöschlich ein endloser abendlicher Fackelzug der Hitlerfaschisten anlässlich ihrer Machtergreifung. Die Wöhrderwiese in Nürnberg ist forthin für mich der verzauberte Ort, an dem ich mit dir eng umschlungen im sommerlich warmen Gras lag. Das Pochen unserer erregten Herzen überdeckte den Gesang der uns umgebenden Vögel, der Geruch deiner aufsteigenden Lust und die Berührung deiner zarten Haut ließen mich den lieblichen Sommerduft und die fröhlichen Menschen um uns herum vergessen.
An jenem schicksalsträchtigen Morgen unserer ersten Begegnung waren wir beide etwas zu früh in dem Sprachkurs. Du, Fee, standst am Fenster, deine Ellenbogen aufgestützt. Dein Blick durchdrang die Gegend. Aber weder regnete es, noch würdest du von Klopstock schwärmen. Das spürte ich sofort. Ich sah deinen schönen schlanken Frauenkörper das durch die überbreite Fensterfront hereinflutende gleißende Sonnenlicht brechen, deine Konturen wie von einem hell leuchtenden Strahlenkranz umfasst. Leicht erschrocken und etwas verlegen drehtest du dich zu mir, um mir zaghaft freundlich zuzulächeln. Langes, gescheiteltes mittelblondes Haar, ein großer lachender Mund, großzügig geschwungene Augen. Die gleiche Augenfarbe wie ich. Kaum Schminke. Bekleidet warst du mit Pumps, einer blauen Jeans und einer rot-schwarz gemusterten Seidenbluse. Schlicht und leger, aber nicht einfach. So etwas Schönes und Anmutiges hatte ich in diesem Kurs nicht erwartet. Für mich strahltest du wie ein hell erleuchteter buntgeschmückter Christbaum, den man als Kind erst zu Gesicht bekam, wenn einen die Eltern den Raum für die Bescherung betreten ließen.
»Was bist denn Du für eine unfassbar schöne Frau?« brach es völlig unkontrolliert aus mir heraus. Keine Begrüßung, kein Sie, keine Distanz, wie es angebracht gewesen wäre. Einfach du und frontal. Ungeplant und ungewollt. Intuitiv. Nach diesem verbalen Aussetzer fühlte ich meine Gesichtsröte aufsteigen und rechnete mit einer barschen Zurechtweisung deinerseits, die aber ausblieb. Verhalten kamst du auf mich zu und stelltest dich mit zögerlichem, zittrigem Handschlag mit deinem Vornamen vor. Dann ich mich. Forsch, soweit möglich, um meine Verlegenheit zu überspielen. Die heikle Situation war mir sehr peinlich und ich entschuldigte mich für meinen ungehörigen Auftritt, wobei ich dich darum bat, meinen Spruch nicht als plumpe Anmache zu werten. Es sei halt unaufhaltsam aus mir herausgesprudelt. Du akzeptiertest meine Entschuldigung und lächeltest mich erneut freundlich an. Wie es der Zufall an diesem Tag wollte, war der einzige freie Sitzplatz in dem Kurs der neben Dir. Was für ein Geschenk.
Julia hatte ich ganz anders kennen gelernt, anlässlich eines Außendiensttermins, den ich peinlicherweise auch noch verschlief. Obwohl sie als Chefin eines größeren medizinischen Instituts sicherlich unter Termindruck stand, wartete sie über eine Stunde auf mich. Registriert hatte ich sie erstmals im Rahmen der Vorbereitung einer Verbrauchermesse, aber nie gewagt, sie direkt anzusprechen. Den Termin hatte ein Mitarbeiter vereinbart. Sie trug damals ein eng geschnittenes Kostüm, High Heels, Goldschmuck und hochgesteckte schwarze Haare, was, wie sich später zeigte, ihrem Standardoutfit entsprach. Manchmal sah ich sie danach auch mit einem Pferdeschwanz. Rot und Schwarz, die Farben für Liebe und Tod, dominierten ihre Garderobe, dazu viel weiß, manchmal blau. Sie faszinierte durch ihr selbstsicheres Auftreten, ihre Intelligenz und ein klassisch schönes Aussehen, wobei man sich vor allem in ihren dunkelbraunen, fast schwarzen Augen und dem sinnlichen großen roten Mund verlor. Wie du war auch sie kaum geschminkt. Jetzt, da ich darüber nachdenke, erkenne ich erst die Ähnlichkeit zwischen euch. Sie hätte mir eigentlich sofort auffallen müssen. Ihr ward in vielen Dingen der gleiche Typ, du in etwa eine zwanzig Jahre jüngere, etwas lockerere Ausgabe von ihr. Dennoch ward ihr auch sehr verschieden.
Bei den Treffen, bei denen ich ihr wiederholt begegnete, waren stets viele Geschäftsleute anwesend. Kein Mann im Saal, der sie nicht mit den Augen ausgezogen hätte. Außer mir. Ich ging gerade durch das Höllental einer unendlich schmerzhaften Trennung, die ich nicht überwinden konnte. Mehr vegetierend als lebend, schien das Thema Frauen für mich endgültig erledigt zu sein. Ich kämpfte nur mehr ums nackte Überleben, wirtschaftlich wie emotional. Beide Kämpfe hätte ich voraussichtlich verloren, wäre sie nicht in mein aus den Fugen geratenes Leben getreten. Während unseres Geschäftsgesprächs glaubte ich mehrmals das Wort »Enkel« verstanden zu haben, was ich aber meinem desolaten körperlichen Zustand zuschrieb, da ich in der vorhergehenden Nacht versucht hatte, fehlenden Schlaf durch eine Überdosis Alkohol auszugleichen. So wie sie mir gegenübersaß, jugendlich frisch und fröhlich gestikulierend, schätzte ich sie höchstens auf fünfunddreißig. Studium, dachte ich, anschließende Promotion, da hat man noch keine Enkel. Trotz des missratenen Auftakts unseres Termins wurde es eine sehr anregende und angenehme Unterhaltung, an deren Ende wir einen Werbevertrag miteinander abschlossen, der weitere Treffen beinhaltete. So blieben wir in Kontakt.
19.49 Uhr. Ausfahrt Lauf/Hersbruck. Eben überquerte die A 9 die Pegnitz, nun erstreckt sich östlich die wunderschöne Hersbrucker Schweiz vor mir. Der Abzweig nach den zwei Brücken ist für mich wie ein Stich ins Herz. Wenn ich hier rechts von der Autobahn abfahren würde, wäre ich in einer halben Stunde bei dir, Fee. Ich könnte bei dir klingeln. Aber wozu? Du würdest mich abweisen, ich wie ein erfolgloser Zeitschriftenwerber hängenden Kopfes abziehen. Es ist wohl besser so für uns, wie es jetzt ist. Trotz des unmittelbar bevorstehenden Unwetters und meiner Traurigkeit wird es im Wageninneren fühlbar angenehmer. Ich verschmelze körperlich mit der Motorenvibration. Mein Herzschlag passt sich dem gleichförmig ruhigen Rhythmus des Motors an. Dazu die eigenartige, ein wenig mystische Stimmung des Tagesausklangs, wenn der lichte verlebte Tag kaum wahrnehmbar entschwindend, der dunklen geheimnisvollen Nacht weicht. Als ich einige Jahre lang mein Büro im achtundzwanzigsten Stock eines Büroturmes hatte, wartete ich diese Stunde des Zwielichts in passenden Jahreszeiten ab, bevor ich nach der Arbeit heimfuhr. Dann rückte ich meinen Drehsessel vor die riesigen bodentiefen Fenster und schaute, wie sich die Umrisse der Häuser und Pflanzen in der Umgebung allmählich veränderten, teilweise unnatürlich plastisch erschienen. Die idale Zeit, schweigend ein Gläschen Rotwein zu genießen, verträumt seinen Gedanken nachzuhängen oder ängstlichen Naturen möglichst bildhaft blutrünstige Gruselgeschichten zu erzählen.
Als nächstes erreiche ich die Talbrücke Schnaittach mit Blick auf das ausladende Schnaittachtal und den imposanten Hienberg, an dem sich die A 9 zerteilt. Wenn man gleich zu Beginn der Brücke scharf nach rechts schaut, sieht man den Rothenberg mit seiner riesigen Festung, auf der es spuken soll. Ein selbstmordender Oberst, ein erwürgter Soldat und ein vor Erschöpfung umgekommener Tambour geistern angeblich geräuschvoll durch die verlassene Anlage. Vor der Festung verbrachte ich einmal an einem heißen Julitag viele Stunden, mich intensivst mit dem Fremdenführer unterhaltend. Angeregt plaudernd warteten wir zwei gemeinsam vergeblich auf weitere Besucher, da er für mich als Einzelperson keine Führung unternehmen durfte. Später ließ er mich dann doch kurz hinein, und ich konnte von dort oben wunderbar den Glatzenstein, den Eingang zur Hersbrucker Schweiz, erkennen.
Interessanter als die Festung selbst, auf der es außer den Kasematten nur Ruinen zu sehen gibt, weil man in ihr u.a. Sprengstoff für den Ersten Weltkrieg ausprobierte, waren die ausgiebigen Erzählungen des Fremdenführers. So erfuhr ich von dem bayerischen Schnaittach als Stachel im fränkischen Fleisch, dass sowohl Maria Theresia als auch angeblich Napoleon die Festung monatelang vergeblich belagert hätten und von den vielen, vor allem Frauen und Kindern, die aufgrund der feuchten und ungesunden Wohnräume in der Festung frühzeitig an Typhus verstarben. Ebenso hörte ich von Franz Hartl, einem Nürnberger Spion, der entlarvt und hingerichtet wurde. Zuerst wurden ihm 15 Liter in Magen und Darm gärende Jauche eingeflößt, durch die er förmlich zerplatzte, danach hing man ihn sicherheitshalber noch an den Beinen auf, damit auch noch ein letztes vielleicht vorhandenes Lebensfünkchen aus ihm herausfallen konnte. Nürnberger sind offensichtlich nicht nur in Fürth recht unbeliebt. Der anschließende Versuch der Nürnberger, die Festung mittels Untergrabung und Sprengung zu erobern, ging im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten los. Die Druckwelle wandte sich nicht wie beabsichtigt nach innen, sondern nach außen, weshalb die Nürnberger ihre Eroberungspläne aufgaben und stark reduziert den Heimweg antraten. Mit Napoleons Eingliederung Frankens in Bayern im Jahre 1806 entfiel die strategische Bedeutung der Festung und sie zerfiel. Ach ja, der Napoleon. Wie Hitler kein Deutscher, sondern Österreicher, so war er kein Franzose, sondern Korse mit italienischen Wurzeln. Dies ist nicht die einzige Parallele zwischen den Beiden, die entlang der A 9 ihre zerstörerischen blutigen Spuren hinterließen.
Hinweis: Berlin 409 km. Nach der Talbrücke teilt sich die A 9 und führt östlich über die Ostenoher und westlich über die Simmelsdorfer Hangbrücke am Hienberg vorbei. Die Fahrt erhält jetzt einen ganz eigenen, getragenen Rhythmus. Eins mit der unmerklich verrinnenden Zeit und dem eintönig singenden Motor gleite ich sacht auf der hier leicht serpentinenhaften Autobahn dahin. Kraftwerk kommt mir in den Sinn »Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn …«, »In a Gadda da Vida« von Iron Butterfly. Ein Gefühl wie damals während meiner Langstreckenläufe. Die ersten Kilometer quäle ich mich, muss meinen inneren Schweinehund überwinden, um weiterzulaufen, den Körper auf ideale Betriebstemperatur erwärmen. Rasch fällt meine Atmung von allein in einen ganz regelmäßigen Takt. Zwei Schritte einatmen, zwei Schritte ausatmen. Mein Körper drittelt sich. Der Kopf wird frei und beschäftigt sich gedanklich mit ganz anderen Dingen als dem Laufvorgang. Die Körpermitte wirkt wie abgeschaltet, wird nur mitgeführt. Die Beine scheinen mich von ganz allein weiter zu tragen. Ab diesem Moment glaube ich, ewig laufen zu können. Ähnlich ergeht es mir jetzt, wenngleich in passiver Haltung. Mein Körper hat auf Energiesparstufe geschaltet, verharrt in einer Art Ruhestellung und könnte sich unbegrenzt forttragen lassen. Nur die Augen sind wachsam, koordinieren die Fahrbahn, die Rückspiegel, die Arme und das rechte Bein. Der Rest ruht entspannt in sich.
Früher liebte ich diese Weltabgeschiedenheit im Auto, wenn es draußen dämmerte, ein klarer Sternenhimmel seine tief gestaffelte Pracht über mir ins Grenzenlose entfaltete und die sich nähernden und entfernenden weißen und roten Lichterketten vor mir, durch Überholer, Kurven, Anhöhen und Täler die Reihen durchbrechend, zu tanzen begannen und wenn zudem die gedämpft farbig aufleuchtenden Anzeigen des Armaturenbretts im Wageninnern eine entspannte Atmosphäre verbreiteten, die durch eine angenehm melodiöse Musik aus dem Radio untermalt wurde. Ich fühlte mich unangreifbar in meiner eigenen kleinen, geschlossenen Blechwelt, während mich das Auto scheinbar laut- und mühelos über die endlos wirkenden Straßen hinfort trug, dem jeweiligen Ziel entgegen, welches ich im Grunde gar nicht mehr erreichen wollte. Fahren, nur fahren. Immerfort. »Ich bin unterwegs nach Süden, und will weiter bis ans Meer …« Wader. Häufig hörte ich Cassetten mit Liedern von ihm, Bob Dylan, Donovan, Joan Baez, Klaus Hoffmann, Wolf Biermann oder Helmut Debus, die ich über Stunden inbrünstig oder mitfühlend mitsang. Im Leben hätte mir etwas Wesentliches gefehlt, hätte ich diese Künstler nicht kennen lernen dürfen. Lange Jahre waren sie ein fast täglicher Begleiter für mich und überdauerten einige Liebesbeziehungen, an deren jeweiligen Anfängen sie gestanden hatten. »Manche Stadt und manches Land, manche Stunde, manchen endlos langen Tag, ließ ich im Dunkeln hinter mir …« »Heute hier, morgen dort, bin kaum da, muss ich fort …« Wader.
Die letzten Jahre mit Julia tendierte ich zu schönen Liedern mit herausragenden Interpreten. Im Bayerischen Rundfunk verfolgten wir längere Zeit montags abends eine Sendung, die sich »Schöne Stimmen« nannte. An diesen Abenden genossen wir regelmäßig unseren Schwimm- und Saunatag, sofern wir nicht ins Kino gingen. Langsam und wohlig entspannt durch das ruhige warme Wasser gleitend oder nach einem heißen Saunagang ausruhend auf einer Sonnenliege, war mir fast feierlich zumute, wenn ich diesen ausgesuchten Stimmen und Liedern lauschen durfte. Schönheit euphorisiert, egal in welcher Form man ihr begegnet: eine herausragende Stimme, ein gefühlvolles Lied, ein faszinierendes Bild, ein ergreifendes Buch, ein mitreißendes Theaterstück, ein überwältigender Film, eine pittoreske Landschaft, eine farbenprächtige Pflanze, ein edles Tier, ein attraktiver Mensch, eine vornehme Geste, ein verbindliches Wort, gesprochen von einer geliebten Person. Mensch sein heißt, Schönheit erkennen und bewusst genießen zu können. Gelöst erlebte gemeinsame Zeiten waren das damals mit ihr. Intensiv gefühltes Miteinander. Wortloses Beisammensein, inniglich vereint. Körper und Seele befanden sich im Einklang, auch mit dem Gegenüber. Ich hoffe, diesen Moment noch einmal mit ihr teilen zu dürfen.
Tagsüber mag ich kaum noch Radio hören, weil selbst öffentlich-rechtliche Sender auf eine ganz begrenzte Anzahl von Hits setzen, die sie unentwegt rotieren lassen. Bei den Privatsendern hört man ergänzend Wortbeiträge, derer man nicht bedarf und die einem, ohne am Kiosk vorbeischauen zu müssen, verraten, welche Themen die Bildzeitung am jeweiligen Tag abgearbeitet hat. Dazu die unvermeidlichen Witze unterhalb der Gürtellinie und die penetranten Telefonattacken, die die Würde des Angerufenen nicht in jedem Falle wahren. Wir hatten früher eine musikalische Bandbreite von Speed Metal bis Klassik und