Aqua - Anne Buchberger - E-Book

Aqua E-Book

Anne Buchberger

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Beschreibung

Mit »Aqua – Im Zeichen des Meeres« wird die zauberhafte Fantasyreihe um Prinzessin Analina und ihr magisches Erbe fortgesetzt. Analina ist nach einer gefährlichen Reise endlich auf der berühmten Akademie des Meeres angekommen. Dort, fernab der Heimat, soll Analina in Magie ausgebildet werden, doch es fällt ihr schwer, ihre Rolle an dem Eliteinternat zu finden – zumal sie ihre wahre Identität als Prinzessin von Arden vor ihren Mitschülern verbergen muss. Während sie sich mit alten und neuen Freunden und Feinden, Lehrern, Prüfungen sowie dem Druck zu hoher Erwartungen herumschlägt, zieht sich das Netz der Schwarzmagiern Gwenda immer enger um Analinas Königreich. Bald wird klar: Der Krieg um Hyianda wird nicht mehr lange auf sich warten lassen ...

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Für Ulli

ISBN 978-3-492-99072-1© , ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: FinePic®, MünchenKarte: Timo KümmelDatenkonvertierung: psb, BerlinSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Prolog

Die Wächter der Küste

Angekommen

Regeln für alle

ERSTES TRIMESTER

Wie man schwimmt

Keine Monster

Die Zeit wartet nicht

Der geschlossene Kreis

Briefe nach Hause

Ein bisschen frei sein

Haltung bewahren

Der erste Schnee

Lichterball

Zuhause

Spuren von Leben

Erinnerungen

Am Abend anders

Scherbenkekse

Sternsteine

Die andere Tochter

Die Winterversammlung der Ardengrafen

ZWEITES TRIMESTER

Wieder zurück

Beste Freunde

Nicht perfekt

Der Duft der Bücher

Je länger der Weg

Der Andere

Mondkinder

Hand in Hand

Vertrauen ist gut

Arena frei

Alte Lügen

Ring und Spiegel

Barrieren

Wahrheit oder Pflicht

DRITTES TRIMESTER

Hoher Besuch

Leben und Tod

Schlechte Nachrichten

Das große Finale

Am Ende der Spur

Das erste Opfer eines Krieges

Epilog

Danksagung

Prolog

Dichter Nebel waberte über den schlammigen Boden des Sumpfgebiets. Wo trübes Wasser zwischen faulen Wurzeln hervorquoll wie Wundsekret, kämpften krumme Büsche um Platz, Nährstoffe und Licht, aber es war zwecklos. Man konnte nicht übersehen, dass das Gebiet im Sterben lag. Dabei hatten vor noch gar nicht langer Zeit Händler diese Gegend bereist. Es hatte Straßen und Ortschaften gegeben, Flüsse und Felder. Doch dann waren Überschwemmungen gekommen und mit ihnen die Ernteausfälle. Nach und nach hatten Hunger und Armut die Bevölkerung Richtung Süden getrieben, in die Städte oder den Ardenwald. Innerhalb weniger Jahre hatte das Land nördlich der ardischen Hochebenen fast all seine Einwohner verloren. Inzwischen wirkte die Landschaft völlig ausgestorben, und für gewöhnlich war sie das auch, aber nicht in dieser Nacht.

Nicht ganz.

Die Gestalt, die der Nebel nur widerwillig preiszugeben schien, war allein. Eigentlich hätte sie verloren aussehen müssen, doch die Leichtfüßigkeit, mit der sie sich vorwärtsbewegte, verriet, wie zielstrebig sie war. Flinke Füße fanden wie von selbst sichere Wege, wo andere längst abgerutscht und ertrunken wären. Fast schien es, als fände der Reisende sich blind zurecht, denn die Kapuze hing ihm tief ins Gesicht. Sie war feucht vom modrigen Atem des Sumpfes.

Das Tor tauchte unvermittelt auf, als hätte sich ein Vorhang gelüftet. Losgelöst von seiner Umgebung ragte es aus dem Morast, keine Mauern, kein Gebäude – nur das Tor. Der Vermummte setzte seinen Lauf ohne Stocken fort und erreichte den Steinbogen mit wenigen Sprüngen. Glutrote Flammen schienen in den Tiefen des schwarzen Steins zu tanzen, doch er warf kaum einen Blick darauf. Er kannte Feuerstein und er kannte die Strafe, die ihm drohte, wenn er seine Herrin mit Unpünktlichkeit verärgerte. Der Weg hinter dem Tor war mit bloßem Auge zu erkennen und das ließ den Reisenden noch etwas schneller werden. Leise keuchend stürzte er über schwarze Steinplatten, die immer größer und zahlreicher wurden, je näher er seinem Ziel kam. Mehr Tore tauchten auf, wie dunkle und stumme Vorboten der Schwarzen Festung. Sie waren unbewacht, das waren sie immer. Es war kein Geheimnis, dass die Herrin der Sümpfe sich nicht vor Angreifern fürchtete. Ein letztes Tor schälte sich aus dem Nebel und dahinter thronte, vor einem schwefelgelben Himmel, Nygerarx.

Es war schwer zu sagen, ob die Festung schrecklich war oder schön. Auf jeden Fall war sie eindrucksvoll. Das hohe Portal, das Schmuckstück der Fassade, war kunstvoll verziert. Gemeißelte Steinrosen blitzten und flackerten, als stünden sie in Brand. Sie umkränzten den Leitspruch, einen Satz, der alle Anhänger Gwendas verpflichtete, für ihre Königin zu leben, zu kämpfen und zu sterben: Wahrhaft königlich ist, wer durch das Volk lebt. Dieser Ausspruch war keine höfliche Geste zur Ehrerweisung mehr. Er bedeutete Treue und Gehorsam bis in den Tod.

Der Bote hielt inne, ganz kurz nur. Dann blitzte etwas auf und das Portal öffnete sich ohne einen Laut. Fackelschein flutete über die Schwelle, die Herrin wartete. Es galt, eine Botschaft zu überbringen.

Im Schwarzen Saal auf Nygerarx herrschte Stille. Dunkle, intensive, formvollendete Stille. Die Frau, die auf dem Thron hinter der polierten Tischplatte saß, schloss die Augen und horchte ihr nach. Sie mochte die Stille. Hatte gelernt, sie zu mögen. Sie hatte immer gedacht, zu herrschen würde bedeuten, mitten im Licht zu stehen, immer in Bewegung zu sein, mit der ganzen Welt zu tanzen. Doch so war es nicht, denn sie regierte in Stille. In Stille und in Dunkelheit.

Das Lächeln zuckte über ihre Lippen wie die Flammen der Fackeln an den Wänden. Ihr Thron war schwarz. Auch ihr Kleid war schwarz. Schwarz war alles, was sie umgab. Sie hatte sich diese Farbe eigentlich nicht ausgesucht. Feuerstein war nun einmal schwarz und fast alles im Sumpfgebiet bestand aus Feuerstein. Doch mit der Zeit hatte sie die Wirkung der Dunkelheit zu schätzen gelernt. Schwarz war dramatisch und Dramatik verschaffte Respekt.

Abgesehen davon sah sie in schwarzer Seide fantastisch aus.

Der Bote trat ein, ohne zu klopfen. Gwenda Melania scherte es nicht. Sie blieb reglos, während sich die Schritte näherten, wartete, bis sie langsamer wurden und erstarben, andächtig, wie sie es gewohnt war.

Gwenda wusste, wie sie aussah. Sie vergaß nie, wie schön sie war, weil es ein Fehler wäre, diese Tatsache nicht zu nutzen. Und auch diesmal wartete sie einen Moment lang, bevor sie die Augen aufschlug und ihren kühlen Farbton wirken ließ.

»Du bist spät.«

Ihre Stimme war ebenso kalt wie ihr Blick.

Der junge Mann neigte kurz den Kopf. Er zeigte keine Angst. »Verzeiht mir, Majestät. Ich bin aufgehalten worden.«

»Das interessiert mich nicht.« Sie musterte ihn ungerührt. »Du hast Neuigkeiten.«

Es war keine Frage.

»Ja, meine Herrin. Die Prinzessin von Funkelstein …«

Sie hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Spar dir die Mühe. Ich weiß Bescheid. Sie ist angekommen.«

Der Junge blinzelte. »Ja, Euer Majestät.«

Er fügte nichts hinzu, doch sein Gesichtsausdruck sprach Bände.

Gwenda versah den Schwung ihrer Lippen mit einer sorgfältig dosierten Spur von Spott. »Nicht nur meine Schwester geht zu offen mit ihren Gedanken um, mein Lieber.«

Schweigend nahm er die Warnung entgegen.

Sie hob die Brauen. »War das alles?«

»Nicht ganz.« Der Junge räusperte sich kurz. »Verzeiht, Majestät, aber ich verstehe Euer Vorgehen nicht. Jetzt, da die Prinzessin die Akademie erreicht hat, ist sie praktisch nicht mehr zu fassen. Sie ist genauso sicher, wie sie es auf Funkelstein war. Ihre Reise wäre unsere Gelegenheit gewesen, sie zu beseitigen …«

Die Herrin der Sümpfe lachte auf. »Du hast recht. Du verstehst mein Vorgehen nicht.«

Er wartete.

»Du kannst gehen.«

Sein kurzes Zögern überraschte sie. Er schien besser mitzudenken, als sie erwartet hatte. Schließlich nickte er. »Wie Ihr wünscht.«

»Aber sei bereit«, fügte sie hinzu.

»Natürlich, Euer Majestät.«

»Gut. Geh.«

Der Junge verschwand und Gwenda schloss die Augen.

Stille trat ein.

Die Wächter der Küste

»Bereit machen zur Landung!«

Mühelos übertönte Lars’ Stimme das gleichmäßige Brausen der silbernen Schwingen. In den letzten Tagen hatte Analina ihn als guten Drachenreiter kennengelernt und auch jetzt zeigte er keine Unsicherheit, als er die Höhenleine straffte, die Beine in die Halskuhlen des Tieres drückte und zu einer weiten Schleife ansetzte. Die Akademie des Meeres, gerade noch ein perlmuttfarbener Klecks vor stahlgrauen Klippen, verschwand hinter dem Horizont und Islas Griff an Anas Seite verstärkte sich.

»Eine Frage«, flüsterte Isla mit dünner Stimme. »Wird das hier so schlimm wie der Start oder …«

Der Rest des Satzes wurde von ihrem Aufschrei verschluckt, als sie urplötzlich zur Seite kippten. Analina holte tief Luft und schmeckte Zimt und Regen, während der Silberne seinen schuppigen Hals neigte und der Erdboden immer näher kam.

»Lass los«, rief sie über die Schulter. »Das ist der beste Teil!« Ohne Zögern löste sie die klammen Finger vom Sattel, streckte die Arme aus und genoss das Gefühl des freien Falls. Islas Finger gruben sich tief in Anas Fleisch, dann ließ auch sie los und stieß einen Laut aus, der ein Begeisterungsruf sein konnte oder ein Wimmern.

»Das ist …«

»Mund zu!«, rief Lars von vorne und Ana gehorchte. Im nächsten Moment setzten sie hart auf der Erde auf und Islas halb unterdrückter Fluch verriet, dass sie sich auf die Zunge gebissen hatte. Ein paar Sekunden wurden sie heftig durchgeschüttelt, dann kam der Drache zur Ruhe und faltete die Flügel ein.

Analina löste den Hüftgurt, der sie die letzten Stunden und Tage fast ununterbrochen gesichert hatte. Obwohl der Silberne sich dicht an den Erdboden drückte, waren sie in ihren Sätteln immer noch über drei Meter von dort entfernt. Vor ihnen sprang die nubische Besatzung furchtlos ab, aber Ana löste lieber die am Sattel aufgerollte Strickleiter und entschied sich für den langsamen Weg. Die Erleichterung war Isla deutlich anzusehen, als sie ihr auf der Leiter nach unten folgte.

»Fliegen ist gut«, verkündete sie, sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. »Aber schwimmen ist besser.«

Analina verzog das Gesicht. »Ich mag Luft. Luft kann man atmen.« Sie ignorierte Islas verdrehte Augen und richtete ihre Aufmerksamkeit nach vorne. Lars war ebenfalls abgesprungen und kam mit großen Schritten auf sie zu. Nach der langen Zeit im Sattel fühlten sich Analinas Beine wie labbrige Algen an, der nubische Kronprinz aber bewegte sich genauso elegant wie immer. Bruder, dachte Ana nachdrücklich. Er ist mein Bruder.

»Tja«, machte Lars und blieb vor ihr stehen. »Da wären wir.«

»Tja«, sagte Analina und sah sich um. Sie standen auf einer Lichtung zwischen knorrigen Laubbäumen, die an einer Seite von einer hohen Steilwand begrenzt wurde. Das Meer war nirgends zu sehen, aber sie hörte Wellen und Möwen und unter dem Zimtduft der Drachen roch sie das Salzwasser auch.

»Wir wären wo?«, fragte Isla unbeeindruckt.

Lars hob die Brauen und offene Belustigung blitzte in seinen blauen Augen auf. »Geduld ist nicht deine Stärke, was?«

»Nachdem ich schon Wochen unter freiem Himmel verbracht habe und jeden einzelnen Knochen spüre? Nein, nicht so sehr.«

»Das hier ist einer der wenigen Landzugänge zu den Anlagen der Akademie. Sie haben uns kommen sehen. Jeden Moment sollte jemand hier sein, um euch abzuholen.«

»Und ihr?«, fragte Analina.

»Wir fliegen zurück. Auf der Wolkenfestung gibt es für mich mehr als genug zu tun, vor allem nach den jüngsten Entwicklungen.«

Ana schauderte, als sie an ihre Begegnung mit Gwendas Nachtmahren zurückdachte. »Wird … wird es Krieg geben? Einen offenen, meine ich?«

Ihre Blicke begegneten sich. Kurz schien Lars zu zögern.

»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich.

»Und was glaubst du?«

Stille. Dann: »Ich glaube schon.«

Sie nickte. »Ich auch.«

Keiner von ihnen schien zu wissen, was man darauf sagen sollte. Nach einer kurzen Pause nahm Lars den Helm ab und sein blonder Zopf rutschte ihm über die Schulter. »Lothian hat mit dir geredet, oder? Über …«

»Unsere Eltern«, sagte Analina.

»Ah. Ja. Damit … wäre das geklärt.« Er lächelte. »Du weißt, dass du es für dich behalten solltest?«

»Ich hatte es mir gedacht.« Sie hielt kurz inne. »Wie lange weißt du schon, dass …«

»Die Hoheiten, nehme ich an.«

Die Stimme ließ sie zusammenzucken. Ana fuhr herum und bemerkte jetzt erst die Gestalt, die im Schatten der Felswand aufgetaucht war. Das musste jemand von der Akademie sein, der sie abholen sollte. Dann trat die Person einen Schritt vor und Ana konnte eine hagere Frau mit kräftigen Schultern erkennen. Ihr Gesicht und die sehnigen Arme waren bedeckt von unzähligen Sommersprossen und das rote Haar hatte sie achtlos am Hinterkopf zusammengebunden. Sie bedachte Lars mit einem kurzen Blick und einem knappen Nicken, das er mit einem breiten Lächeln erwiderte. Dann blieben ihre Augen an Ana hängen und gaben ihr sofort das Gefühl, irgendeinen peinlichen Fehler gemacht zu haben.

»Analina Nelia von Funkelstein.« Es war keine Frage. Ana nickte trotzdem und trat auf sie zu.

»Du bist unauffällig«, stellte die Frau fest. »Das ist gut, damit bist du leichter zu schützen. Du stichst nicht besonders ins Auge.«

»Danke«, sagte Analina.

Die kritische Miene der Frau veränderte sich kaum wahrnehmbar. »Man sieht es«, sagte sie langsam, während ihre Augen noch einmal über Anas Gesicht wanderten. »Wenn man es weiß. Da ist etwas in deinem Blick … du ähnelst ihr.«

Das hatte Lothian auch gesagt. Bevor Analina antworten konnte, ergriff die Frau ihre Hand. Ihr Händedruck war fest, die Haut rau und voller Schwielen. »Mein Name ist Sienna Morianne. Streng genommen müsstest du mich Mentorin Morianne nennen, aber das tut niemand. Sienna reicht aus. Ich werde dich vermutlich in Schwertkampf und Lanze unterrichten, dich und deine Freundin.«

Analina warf Isla einen Blick zu. Sie wirkte ungewohnt zurückhaltend, und Ana rief sich in Erinnerung, dass Isla mit ihrer lückenhaften Ausbildung viel mehr Grund hatte als sie, nervös zu sein.

»Vielen Dank, dass Ihr uns abholt«, brachte Ana hervor und räusperte sich, um den unsicheren Unterton loszuwerden.

Sienna zuckte nur mit den Schultern. »Jemand muss es ja machen. Ach, und ihr werdet alle Mentoren auf der Akademie mit ›Sie‹ ansprechen. Auf der Akademie spielen Adelstitel keine Rolle, nicht wie bei Hof, deshalb genügt diese einfache Anrede. Wir halten einige Dinge anders, als ihr sie kennt, aber ihr wirkt nicht überdurchschnittlich begriffsstutzig. Ihr solltet euch bald zurechtfinden.«

Ana starrte sie an. »Gut zu wissen.«

»Ja. Nun, ich bin keine Freundin sentimentaler Szenen, also haltet es kurz. Ich warte.«

Erst nach ein paar Sekunden verstand Analina, dass das eine Aufforderung gewesen war, sich zu verabschieden. Peinlich berührt wandte sie sich ab und trat mit Isla auf Lars zu.

»Ah, Sienna«, sagte er vergnügt. »Immer wieder eine Freude.«

»Du kennst sie?«

»Klar, sie unterrichtet schon lange. Hasst es angeblich, aber dafür hält sie schon eine ganze Weile durch.«

»Wie kommt sie darauf, dass es sentimental werden könnte?«, hakte Isla stirnrunzelnd nach.

Ana stockte, aber Lars zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Ach, für Sienna ist schon ein freundliches Lächeln sentimental. Also gut, halten wir es kurz.«

Er umarmte erst Isla, dann legte er eine Hand auf Analinas Schulter und murmelte: »Sienna ist eine Schulfreundin von Lothian. Wenn es Probleme gibt, sprich mit ihr.«

»In Ordnung.«

»Pass auf dich auf. Und hab Spaß. Es wird dir gefallen.« Er zwinkerte und trat zurück. »Na dann. Man sieht sich, Kleine.«

»Ich bin nicht klein.« Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu, dann nahm sie ihr Gepäck von einem der Reiter entgegen und wandte sich wieder Sienna zu.

»Fertig?«, fragte diese knapp. »Dann los, wir sollten keine Zeit verlieren.«

Ana zog den Gurt ihrer Tasche straff und verkniff sich ein Stöhnen, als ihre Armmuskeln schmerzhaft protestierten. Siennas Reaktion auf Gejammer konnte sie sich nur zu gut vorstellen.

Bisher war Analina nicht klar gewesen, woher Sienna so plötzlich aufgetaucht war. Als sie jedoch in den Schatten der Steilwand traten, erkannte Ana eine schmiedeeiserne Tür, die mit verschiedenen Ketten und Schlössern gesichert war. Ohne auf ihre verdutzten Gesichter zu achten, hantierte Sienna eine Weile mit mehreren Schlüsseln verschiedener Größe, bevor sie zusätzlich einen Funken türkisblauer Magie auf die letzte Kette überspringen ließ. Ein lautes Klicken ertönte und die Tür schwang nach innen auf.

»Mir nach.« Sienna betrat den steinernen Gang im Fels, den die Tür verborgen hatte. Er war niedrig und eng und führte nach und nach immer stärker bergauf, was Analina nach ein paar Minuten Weg unangenehm zu spüren bekam. Ihre Waden begannen zu brennen, und sie musste sich darauf konzentrieren, gleichmäßig zu atmen. Bald wusste sie nicht mehr, wie lange sie schon schweigend hinter Siennas im Dämmerlicht leuchtendem Haarschopf herliefen. Es gab keine Fenster und die einzigen Lichtquellen waren einzelne, schwach leuchtende Magiekugeln, die an den Wänden schwebten und verzerrte Schatten über den Stein ziehen ließen.

Irgendwann wurde der Weg flacher und hinter Ana atmete Isla kaum hörbar auf. Doch die Erleichterung war voreilig gewesen. Sie hatten den Fuß einer steilen Treppe erreicht, die scheinbar endlos nach oben in die Klippe führte. Ana konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken, hätte sich aber gleich darauf ohrfeigen können. Sienna drehte sich um und warf den beiden Mädchen einen spöttischen Blick zu.

»Doch nicht so zäh, wie Céleste behauptet hat?«, fragte sie trocken.

Ana brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass mit Céleste ihre Mutter gemeint war, und in dieser Zeit hatte Sienna sich schon wieder umgedreht und war weitergelaufen. Verärgert über ihre eigene Unbedachtheit tauschte Analina einen Blick mit Isla. Die hob nur die Schultern und schenkte ihr ein schicksalsergebenes Lächeln.

Viele Treppenstufen und erschöpfte Atemzüge später erreichten sie schließlich eine Tür, die ebenfalls mitten im Fels saß und dadurch genauso fehl am Platz wirkte wie die erste. Ana wusste längst nicht mehr, wie hoch sie gestiegen oder wie lange sie schon unterwegs waren. Schweiß brannte in ihren Augen und ihre Schultern und Arme pochten höllisch. Müde wischte sie sich die feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht, doch sobald Sienna sich umdrehte, straffte sie den Rücken, biss die Zähne zusammen und gab sich alle Mühe, gleichmäßig zu atmen. Sie würde dieser Frau keine weitere Gelegenheit geben, an ihrer Ausdauer herumzumäkeln.

Sienna musterte sie und Isla mit leicht verzogenen Mundwinkeln. »Da sind wir«, sagte sie dann, griff, ohne hinzusehen, nach der Klinke und öffnete die Tür.

Als Erstes schmeckte Ana Salz. Kaum war sie durch die Tür getreten, schlug ihr die klare Meeresluft entgegen, die sie inzwischen so gut kannte. Wind verfing sich in ihren Haaren und sie blinzelte, während ihre Augen sich nach der dämmrigen Beleuchtung des Ganges wieder an das helle Licht gewöhnten. Erst nach einigen Atemzügen konnte sie ihre Umgebung ausmachen.

Sie stand in einer kleinen Kammer mitten im Fels. Die Wände waren teilweise verkleidet, mit einem grünblau schimmernden Material, das sie nicht kannte. In der Mitte des Raumes stand ein flaches Wasserbecken, das leicht zu glimmen schien. Nach einigen Sekunden fragte sich Ana, wie sie den Wind und die frische Luft hatte spüren können – wenn sie sich doch in einem geschlossenen Raum befand. Aber bevor sie sich irritiert an Sienna wenden konnte, entdeckte sie eine schmale Steintreppe, die sich an einer der Wände hinaufzog und an einer weiteren Felsentür endete, die allerdings offen stand. Wieder fuhr ein Luftzug durch die Öffnung und brachte ihr Haar durcheinander.

»Wo sind wir?«, fragte Ana. Sienna antwortete nicht, sondern ging auf das Becken in der Mitte der Höhle zu. Sie beugte sich darüber und berührte mit den Fingerspitzen ganz leicht die Wasseroberfläche. Nach ein paar Sekunden blitzte ein türkisfarbener Funke auf und Sienna hob den Kopf.

»In Ordnung. Wir können hoch«, sagte sie knapp und nickte in Richtung der Steintreppe.

Ana spürte Islas verwirrten Blick, doch sie folgten Sienna wortlos die wenigen Stufen nach oben und hinaus ins Freie. Analina machte einen Schritt ans Tageslicht und blieb wie angewurzelt stehen. Sie sah Wellen brechen, Wasser gurgeln und schillernde Schaumkronen an schwarzen Felsen zerbersten. Das Wasser war tief, tief unter ihr, aber sie spürte den Sog und den Wind und sah sich taumeln, sah sich fallen. Sie spürt eiskaltes Wasser über ihrem Kopf zusammenschlagen, spürt das Wasser in ihrem Mund, in ihren Lungen. Da ist Wasser unter ihr, Stein über ihr und kein Platz, keine Kraft, keine Luft zum Atmen …

Mit rasendem Herzen drückte Ana den Rücken gegen die Felswand. Unkontrolliert wirbelten Bilder durch ihren Kopf. Wie durch Watte hörte sie Siennas Stimme, verstand die Worte aber nicht. Dann sah sie, wie Isla sich umdrehte, ein Lächeln auf den Lippen. Wie es gefror und ihre Augen sich weiteten.

»Ana, was ist los mit dir? Du bist ja kreidebleich!« Islas Blick wanderte von Analinas Gesicht zum Rand des Felsvorsprungs, auf dem sie standen. In dem Moment kehrte Ana in die Realität zurück: Da war kein Wasser um sie herum, nicht zwischen ihren Fingern, nicht in ihrem Mund. Sie befanden sich in beträchtlicher Höhe über dem Meeresspiegel und die Wellen brachen so weit unter ihnen, dass sie kein Spritzer erreichte. Ana schloss kurz die Augen und atmete tief durch.

»Nichts«, hörte sie sich selbst sagen, und sie hörte auch, wie hoch und dünn ihre Stimme klang. »Alles in Ordnung.«

Islas Finger berührten vorsichtig ihren Arm. Bist du sicher?

Diesmal erklang ihre Stimme direkt in Anas Kopf.

Analina zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht.« Sie wagte erneut einen Blick die Klippe hinunter. Die Panik blieb diesmal aus.

»Höhenangst«, stellte Sienna nüchtern fest. »Célestes Tochter hat Höhenangst.«

Ana gefiel der Tonfall, den sie gebrauchte, ganz und gar nicht und auch nicht ihr abschätziger Blick.

»Es ist keine Höhenangst«, widersprach sie gereizt. »Ich habe kein Problem mit Höhen. Wir sind auf einem Drachen hergekommen, oder nicht? Mir war nur … schwindelig.«

Siennas rote Augenbrauen zuckten. »Ein Schwindelanfall beim Anblick von großer Höhe, aber keine Höhenangst. Mir kannst du das nicht weismachen, aber rede dir ruhig ein, was du willst.«

Analina presste die Lippen zusammen und schwieg. Sie wusste, dass es nicht die Höhe war. Es war …

Das Wasser, schallte Islas Stimme durch ihr Bewusstsein. Ist es das Wasser?

Ana gab keine Antwort.

»Nelia«, sagte Sienna.

Ana zuckte leicht zusammen, als sie ihren Stammnamen hörte. »Ja?«

Sienna streckte ihr wortlos einen Beutel entgegen und schüttelte ihn leicht. »Nimm eine. Ich habe nicht ewig Zeit.«

Stirnrunzelnd gehorchte Ana. Das Innere des Beutels war rau und stellenweise abgewetzt. Ihre Finger suchten kurz, dann stieß sie auf eine harte Scheibe etwa in der Größe ihres Handtellers. Sie zog sie heraus und senkte den Blick. Was auch immer sie da ans Tageslicht befördert hatte, schillerte in tiefen Blau- und Grautönen. An den Rändern war die Scheibe gezackt und Ana erkannte mehrere Schichten, die kurz hintereinander ausliefen. Tiefe Kratzer zogen sich über die spiegelnde Oberfläche. Stirnrunzelnd betrachtete Ana die Furchen.

»Ist das …«

»Eine Schuppe!«, platzte Isla heraus. »Das ist eine Drachenschuppe.«

Ana hob ungläubig den Kopf. »Eine … und was hat sie beschädigt?«

Sienna warf einen flüchtigen Blick auf die Kratzer. »Meerjungfrauen. Es gibt einen Pakt mit der Akademie, aber die jüngeren werden hin und wieder übermütig.«

»Hier gibt es Meerjungfrauen?«, stieß Isla entsetzt hervor.

»Hunderte«, bestätigte Sienna beiläufig.

»Aber … aber das sind Bestien! Ich habe Geschichten gehört … Sie töten mit ihren Schwanzflossen und trinken das blutige Wasser … Sie jagen Haie!«

»Und Feinde der Akademie, zumindest die Küstenschwärme.« Sienna schien nicht vorzuhaben, sich länger mit ihnen über die Vor- und Nachteile blutrünstiger Ungeheuer an der Schulküste zu unterhalten. Stattdessen warf sie Analina einen auffordernden Blick zu. »Bitte.«

Ana blinzelte. »Bitte was?«

»Du liebe Güte, ihr habt euch ja bestens vorbereitet. Passt auf: Die Akademie des Meeres liegt so gut wie unerreichbar oben auf den Klippen, vom Festland aus ebenso schwer zugänglich wie vom Meer. Das heißt natürlich nicht, dass es für uns nicht trotzdem einen Weg hinauf und hinunter gibt. Das ist der hier, und er kann ausschließlich von Schülern und Mentoren der Akademie benutzt werden. Schaut gut zu, irgendwann werdet ihr alleine nach oben kommen müssen.«

Und mit diesen Worten nahm sie Ana die Schuppe aus der Hand und berührte sie mit einem Finger. Wieder flackerte ein türkisfarbener Funke auf und versank in der matten Oberfläche der harten Drachenschuppe. Die erglühte kurz und blieb dann dunkel und unschuldig auf Siennas Handfläche liegen. Sienna holte aus und warf sie mit einer flüssigen Bewegung über den Felsvorsprung. An Islas Seite beugte Ana sich vor und sah gerade noch, wie die Schuppe spritzend die Wasseroberfläche durchschnitt.

»Weg da!«, fuhr Sienna die beiden an und schob sie unsanft zurück. Im nächsten Moment brach etwas Gewaltiges aus dem Meer empor. Eine Art schuppiger Turm schraubte sich vor ihnen in die Höhe, verdeckte die Sonne und besprühte sie alle mit Gischt. Hustend und prustend stolperte Analina gegen die Felswand und lachte zittrig auf, als ihr klar wurde, weshalb ihr die Situation so vertraut vorkam. Wie schon am Drachenspiegel starrte sie hinauf in das stachelbewehrte Gesicht eines Wasserdrachen.

Doch der Drache am See war nichts gewesen im Vergleich zu diesem hier. Dieser war gigantisch. Obwohl ihr die Klippen unglaublich hoch erschienen waren, streckte der Drache mühelos seinen gewaltigen Kopf darüber, während sein Körper unten im Wasser überhaupt nicht ganz zum Vorschein gekommen war. Er hatte zwei baumdicke Hörner auf seiner Stirn und seine Zähne waren größer als Analina. Doch das Furchteinflößendste an ihm waren seine Augen. Sie glänzten silbern wie Spiegel, waren von zwei geschlitzten Pupillen durchzogen, und als Ana dem gleißenden Blick begegnete, fühlte sie sich kleiner und dümmer als je zuvor. »Was … wer ist das?«

Sienna war nicht zurückgewichen, doch der beißende Spott war aus ihrem Tonfall verschwunden. »Darf ich vorstellen: Excubytor, einer unserer Wächterdrachen. Tagsüber wacht er, nachts Vygilia. Ruft die beiden mit ihrer Schuppe und einem Funken Magie und sie kommen, um euch nach oben zu bringen. Fantastische Geschöpfe«, fügte sie hinzu. Ohne ein Zeichen von Furcht trat sie auf den riesigen Drachen zu und hob ihm die Hände entgegen. Excubytor schnaubte kurz und versprühte noch mehr Wasser. Dann neigte er ganz langsam den Kopf, so behutsam, als wüsste er, dass diese kleinen Geschöpfe vor ihm viel zerbrechlicher waren als er selbst. Sienna blieb reglos, bis die riesige Schnauze des Drachen ihre Handflächen berührte. Kurz fuhren ihre Finger unter sein Kinn, und als sie die Hand wieder hervorzog, lag eine neue Schuppe darin.

»Vergesst nie, euch eine neue Schuppe zu holen. Am Unterkiefer gibt es eine Hautfalte, in der sie sehr lose sitzen«, erklärte Sienna. Sie sprach ruhig, den Blick auf die Spiegelaugen gerichtet. Excubytor gab ein leises Brummen von sich, als wollte er zustimmen. »Gut. Kommt jetzt.«

Ana brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, doch als sie es tat, überschlug sich ihr Magen vor Schreck. An Excubytors Hals, direkt unter seinem Kopf, war mit baumdicken Lederriemen ein merkwürdiges Gerüst befestigt. Ein sehr breiter Ledergurt lief um seinen Hals und daran hingen zwei Reihen robuster Schlaufen, die Ana an Steigbügel erinnerten.

Steigbügel.

»Bei allen Göttern …« Isla keuchte auf, als Sienna einen kurzen Sprung machte und sich hochzog. Mühelos schob sie ihre Hände und Füße in die angebrachten Schlaufen, bevor sie nach einem Gurt auf Hüfthöhe tastete und sich mit zwei geübten Bewegungen festschnallte.

Mit funkelnden Augen wandte sie sich an Ana und Isla. »Worauf wartet ihr?«

Zwei todesmutige Sprünge später hatten sie es geschafft. Anas Arme zitterten vor Anstrengung. Sie klammerte sich so fest an die Schlaufen, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, während sie sich alle Mühe gab, das gurgelnde Wasser unter sich zu ignorieren. Neben sich hörte sie Isla leise fluchen.

»In Ordnung, jetzt haltet euch gut fest!«, ertönte erneut Siennas Stimme. Ana gehorchte und presste die Augen zusammen. Sie war schon oft geflogen. Wie groß konnte der Unterschied sein?

Dann schoss Excubytors Hals in die Höhe und Anas Schrei zerriss die Luft. Fünf Meter, zehn Meter, schneller, als sie denken konnte, rasten sie aufwärts. Weit, weit unter sich sah sie, dass die Vorderkrallen des Drachen aus dem Wasser aufgetaucht waren: Excubytor stellte sich auf die Hinterbeine. Analina presste sich an das nasse Leder und flehte stumm, dass ihr die Tasche nicht von der Schulter rutschen würde. Dann ging ein heftiger Ruck durch ihre Arme und der rasante Aufstieg brach ab. Anas Magen protestierte, als Excubytors gewaltiger Kopf sanft pendelnd zur Ruhe kam. Seine Schnauze ragte nun über eine Felskante, die mehrere Hundert Meter über ihrem Startpunkt lag. Analina öffnete eilig ihren Hüftgurt und ließ sich an Land fallen.

Islas begeisterte Stimme ertönte, kaum dass Ana wieder festen Grund unter den Füßen spürte: »Wahnsinn! Oh Mann, das war unglaublich. Dürfen wir das öfter machen?«

Angekommen

Endlich hatten sie die höchsten Klippen erreicht. Excubytor hatte sie auf einer Art Felsplateau abgeworfen. In den schwarzen Boden waren helle Steinplatten eingelassen, durchsetzt von versteinerten Muscheln und anderem Meeresgetier. Beim Anblick des schimmernden Gesteins begann Analinas Herz schneller zu schlagen. Sie hob den Blick und drehte sich langsam in Richtung Festland.

Ihr stockte der Atem.

Was aus der Ferne ausgesehen hatte wie ein gewöhnliches Gebäude, war in Wahrheit alles andere als das. Analina befand sich vor einer Muschel – der größten Muschel, die sie jemals gesehen hatte. Sie war groß wie ein Schloss, und mit ungläubiger Begeisterung wurde Ana klar, dass es sich bei diesem herrlichen Gebilde um nichts anderes als die Akademie des Meeres handelte. Statt der gewöhnlichen Öffnung konnte Ana im Gehäuse eine kunstvoll verzierte Flügeltür erkennen, die von Perlmuttstacheln umgeben war. In den höheren Stockwerken zogen sich Reihen von Fenstern, Türmen und Erkern bis zur Spitze empor. Die lag so weit über ihnen, dass Analina sie auch mit weit zurückgelegtem Kopf kaum erkennen konnte.

Islas warme Hand tastete nach Anas und drückte sie fest. Analina konnte sich vorstellen, wie Isla gerade zumute war – sogar sie selbst, die eindrucksvolle Gebäude und Schlösser kannte, konnte ihren Augen kaum trauen.

Siennas Stimme riss sie aus ihrer Erstarrung. »Willkommen an der Akademie des Meeres. Ab hier schafft ihr es auch ohne mich. Geht nach oben und sucht nach Mentor Dragan. Seid nett und höflich und tut mir einen Gefallen: Versucht, ihn nicht anzustarren, das mag er nicht. Viel Erfolg.«

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging wieder auf Excubytor zu, der schon auf sie wartete. Ana und Isla blieben mit ihren Taschen allein zurück. Kurz herrschte Stille.

»Nun«, sagte Isla dann. »Da …«

»Wären wir«, ergänzte Ana und nickte.

»Sollen wir …«

Analinas Blick wanderte zurück zu der stachelgesäumten Doppeltür. Sie straffte die Schultern. »Ja. Komm mit.«

Sie drückten das schwere Portal der Akademie gemeinsam auf und traten ein. Vor ihnen öffnete sich eine riesige Empfangshalle. Der Boden und die Wände schimmerten hell wie Silber, und auch hier waren überall Ammoniten zu erkennen. Ana kam es tatsächlich vor, als stünde sie mitten in einer Muschel, aber diese hier war von Architektenhand entstanden. Es war schwer zu sagen, was abwegiger war: eine Monstermuschel oder ein Gebäude, das aussah wie eine Monstermuschel.

»Irre«, wisperte Isla an ihrem Ohr. »Das ist echt irre.«

Gemeinsam gingen sie ein paar Meter in die Halle hinein. Die Decke war so hoch, dass die kunstvollen Bemalungen erst auf den zweiten Blick auffielen. Über ihren Köpfen lieferten sich gewaltige Seeungeheuer erbitterte Kämpfe, schöne Meerjungfrauen stellten ihre tödlichen Fischschwänze zur Schau und exotische Meeresbewohner aller Art überboten sich in ihrer Ausgefallenheit. Zwischen den Wänden und der Decke der Halle zogen sich bunte Muschelgirlanden entlang und zahlreiche Säulen liefen auf eine breite Wendeltreppe zu, deren Geländer weitere Ornamente zierten.

»Das ist … unglaublich«, hauchte Ana ehrfürchtig. Ihre Hände zitterten und sie schluckte ein paarmal, um den Nervositätskloß loszuwerden, der ihr die Luft abschnürte.

»Wen sollten wir hier treffen?«, fragte Isla leise.

»Mentor Dragan«, antwortete Ana beinahe lautlos.

»Aber hier ist niemand«, flüsterte Isla.

»Vielleicht ist Unterricht?«, schlug Ana vor. »Wir könnten …«

Doch sie wurde von einer lauten Stimme unterbrochen: »Ah, da sind Sie ja! Wir hatten Sie schon erwartet. Nelia und Sterlissia, nehme ich an.«

Ana und Isla wirbelten herum.

»Was bei …«

Ana stieß Isla heftig in die Rippen, die sofort verstummte. Ihre Augen jedoch weiteten sich vor Schreck. Vor ihnen stand ein Mann. Zumindest konnte Ana das problemlos über seine obere Körperhälfte sagen. Er war groß und kräftig, hatte perlengeschmücktes, schwarzes Haar und einen stechenden Blick. Sein Vollbart verdeckte die spöttisch verzogenen Lippen nicht ganz. Er trug ein schlichtes, weißes Hemd – aber keine Hose. Ana blinzelte kurz, doch das änderte nichts an dem, was sie sah. Dieser Mann trug keine Hose aus einem einfachen Grund: Er hatte keine Beine. Stattdessen stand er auf vier dicken, sich windenden, schuppigen … Körperteilen, die aussahen wie eine Mischung aus Drachenschwänzen und Oktopustentakeln. Sie schimmerten dunkelgrün und ihre Oberflächen waren von kleinen Stacheln besetzt, während ihre Unterseiten glatt zu sein schienen und auf dem Steinboden kein Geräusch verursachten.

Nun trat der Mann ein paar Schritte auf sie zu, sofern man es so nennen konnte. Die Schwänze krümmten sich und er glitt zügig über die hellen Fliesen nach vorn. Isla gab einen kleinen, erstickten Laut von sich, den sie hastig zu einem missglückten Husten umwandelte.

Der Mann warf ihr einen kurzen Blick zu und lächelte dann. Seine Zähne waren ungewöhnlich spitz, aber in Anbetracht seiner sonstigen Besonderheiten kam das Analina nicht weiter bemerkenswert vor.

»Fräulein Nelia. Wie schön, dass wir uns endlich begegnen«, sagte er und reichte ihr die Hand. Ana riss sich zusammen und ergriff sie, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Die Freude ist ganz meinerseits«, sagte sie höflich. Der Mund des Mannes lächelte weiter, doch seine Augen blieben ohne Regung. Ana hatte schon genug Leuten die Hand geschüttelt, um zu merken, wann jemand sie tatsächlich mochte, und eines war klar: Dieser Mann mochte sie nicht.

»Ich bin Mentor Dragan und werde Sie beide in Internationaler Geschichte unterrichten, womit Sie hoffentlich etwas anfangen können. Sie haben Glück, wir haben bereits eine ganze Klasse mit SuK-Neulingen zusammen. Das bedeutet, dass Sie beinahe sofort unterrichtet werden können. SuK bezeichnet Ihren Ausbildungsschwerpunkt«, fügte er angesichts ihrer verwirrten Mienen hinzu. »Sie haben sich doch beide für Sprache und Kampf entschieden, nicht wahr?«

Ana nickte.

Mentor Dragans Augen blitzten missbilligend auf. »Ich möchte Sie bitten, hier an der Akademie immer mit ›Ja, Mentor Soundso‹ oder ›Nein, Mentor Soundso‹ zu antworten, falls einer der Mentoren das Wort an Sie richtet. Möglich, dass Ihre Mutter auf respektvolle Umgangsformen keinen Wert legt, aber hier ist uns Derartiges sehr wichtig, und ich möchte, dass Sie sich entsprechend verhalten. Haben Sie verstanden?«

Ana starrte ihn an, unsicher, ob sie sich verhört hatte. »Natürlich …«

»Natürlich was?«

Sie kämpfte mit sich. »Natürlich, Mentor Soundso«, stieß sie nach einer kurzen Pause hervor.

Dragan hob die Brauen. Plötzlich war der freundliche Ton verschwunden. »Jetzt hören Sie mal zu, Fräulein Oberschlau. Es ist mir vollkommen egal, welchen Stand Sie außerhalb dieser Mauern genießen, hier drin gilt die Hierarchie der Akademie des Meeres, und zwar nur die. Wenn Sie also glauben, Sie könnten aufgrund Ihrer Herkunft irgendwelche Extrabehandlungen erwarten, dann haben Sie sich getäuscht. Ich erwarte Respekt und den werden Sie mir entgegenbringen, ist das klar?«

In Analina stieg Wut auf. Was war hier eigentlich los? Er beleidigte völlig ohne Vorwarnung ihre Mutter und sie sollte ihre Herkunft vergessen?

Isla stieß sie leicht mit dem Ellbogen an und Ana riss sich zusammen. »Ja, Mentor Dragan«, zischte sie mühsam.

Dragan nickte herablassend und wandte sich dann um. »Folgen Sie mir«, befahl er ihnen über die Schulter und glitt los. »Ich bringe Sie ins Sekretariat, damit Sie sich melden.«

Ana und Isla beeilten sich, ihm zu folgen.

»So ein Mistkerl«, wisperte Isla so leise, dass Dragan sie nicht hören konnte. »Er hat doch mit deiner Familie angefangen!«

Ana schnaubte. »Klar. Aber ich bilde mir angeblich was auf meinen Stand ein. Toll. Fünf Minuten an der Akademie des Meeres und schon hasst mich der erste Lehrer«, fügte sie hinzu. »Das fängt ja gut an.«

Das Sekretariat lag im ersten Stock. Dragan glitt über die Schwelle, ohne anzuklopfen. Ana und Isla folgten ihm zögernd.

»Guten Tag, Yosephine. Das hier sind die beiden Neuankömmlinge.«

Beim Klang seiner Stimme sah die Frau auf, die vor dem hohen Fenster an einem Schreibtisch gesessen und Papiere sortiert hatte. Sie war recht klein und hatte helle, freundliche Augen. Leicht zerzauste, strohblonde Haare umrahmten ihr rundes Gesicht.

»Ach, wie schön«, sagte sie und erhob sich mit einem leisen Ächzen. »Danke, Mentor Dragan, ich kümmere mich um sie.«

Dragan verschwand ohne ein weiteres Wort durch die Tür und die Frau – Yosephine – trat mit einer langen Liste in der Hand auf sie zu.

»Ihr seid also Analina Nelia und Isala Sterlissia?«, fragte sie und strahlte Ana und Isla an.

»Ja, Mentorin …«

»Ach, lass gut sein, Süße. Ich habe keinen Titel oder sonst irgendwas, ich bin einfach Yosephine. Ich darf euch doch duzen, oder? Das mache ich hier bei allen Schülern«, sagte sie und ihr Lächeln wurde noch breiter. Ihre Stimme war eine Spur zu laut, aber sie hatte etwas Herzliches an sich, das Ana sofort mochte.

»Also, passt auf, ihr beiden. Hier habt ihr die Liste der Angekommenen. Tragt euch mit eurem Namen ein und merkt euch eure Kursnummer. Wenn ihr euch eingetragen habt, legt die Hand auf die Scheibe dort, damit eure Magie registriert wird.«

Isla nahm die Liste zuerst entgegen und legte dann die Hand auf eine schwach leuchtende Kristallscheibe, die auf einem kleinen Podest vor dem Fenster stand. Hastig setzte Ana ihren Namen unter Islas Unterschrift und warf einen Blick auf die Kursnummer. SuK1406. Bevor Yosephine die Liste wieder entgegennahm, konnte Ana einen Namen über dem Islas erkennen: Peneelopy Repyrticia.

Das war merkwürdig. Den Stammnamen Repyrticia trugen normalerweise die Kinder in den Findelhäusern, die keine eigene Familie hatten. Wie kam ein solches Kind an die beste Schule des Landes, ohne den Namen seiner Wohltäter anzunehmen? Nachdenklich trat Ana hinüber zu der schimmernden Scheibe, in der sich ihr Gesicht spiegelte. Sie streckte die Hand aus und drückte sie auf die kühle Fläche. Ein leichtes Kribbeln fuhr durch ihren Arm und ein einzelner, hellblauer Funke löste sich aus ihren Fingerspitzen und versank im Kristall. Das Kribbeln ließ sofort nach und Ana zog den Arm wieder zurück.

»Sehr gut, sehr gut«, dröhnte Yosephine zufrieden und rollte die Liste wieder zusammen. »Das war alles. Die anderen Neuen sind wahrscheinlich im Aufenthaltsraum eurer Stufe, aber das lohnt sich für euch nicht mehr, bevor es Mittagessen gibt. Was übrigens um Punkt zwei der Fall ist. Ich würde vorschlagen, ihr bringt einfach eure Taschen in euer Zimmer und zieht eure Einheitskleidung an. Uniformen und Handtücher liegen oben auf euren Betten. Nach dem Essen bekommt euer Kurs die Stundenpläne und den Raumplan für das nächste Trimester. Ihr wart die letzten aus SuK. Jetzt, wo ihr da seid, könnt ihr gleich mit dem Unterricht loslegen.« Sie hatte sehr schnell gesprochen und Ana fühlte sich von den vielen Informationen leicht überfordert.

Sie blinzelte. »In Ordnung … danke. Wie finden wir …«

»Euer Zimmer liegt im Mädchenflügel der Erstjährigen, zweiter Stock. Einfach die Haupttreppe nach oben, dann den Gang nach links, bis ihr an eine kleinere Treppe kommt. Die nach oben und durch die Tür, auf der das große M aufgemalt ist. Ihr seid im ersten Flur, eure Zimmernummer ist die Zweihundertsechzehn. Nicht zu verfehlen.« Yosephine ging zur Tür und hielt sie den beiden auf. »Viel Spaß. Wenn ihr Fragen habt, ich stehe immer zur Verfügung.«

Sie strahlte immer noch, als sie die Tür hinter Ana und Isla zuschlug.

»Puh«, ächzte Isla und sah sich auf dem verlassenen Gang um. »Eine ganz schöne Energie hat diese Frau, was?«

Ana lachte. »Ja, sieht so aus. Warte … da lang.«

Gemeinsam schleppten sie ihre Taschen in den zweiten Stock und in den Gang der Mädchen. Wenig später standen sie vor einer dunkelgrün gestrichenen Tür, die allem Anschein nach aus Schiffsplanken gefertigt worden war. Die Bronzeziffern 216schimmerten wie frisch poliert.

»Das ist es«, murmelte Ana und warf Isla einen zögerlichen Blick zu. »Mach du auf.«

Isla grinste. »Feigling.«

Sie hob die Hand und drehte den Türknauf. Die Tür schwang lautlos auf.

Vor ihnen lag ein kleines Zimmer mit hellem Holzfußboden. An einer Wand stand ein einzelnes Bett, daneben ein Schrank und ein größtenteils leeres Regal. Nur ein paar säuberlich eingebundene Schulbücher und eine kümmerliche Topfpflanze schmückten die Regalbretter, die teilweise von einer feinen Staubschicht bedeckt waren. An der Wand gegenüber wartete ein Stockbett, auf dessen unterer Matratze zwei Garnituren Bettbezüge und Handtücher sowie zwei Stapel dunkelblauer Kleidungsstücke lagen. Drei schmale Pulte samt Stühlen kämpften vor den Fenstern um Tageslicht. Ein Waschtisch und ein kleiner Spiegel vollendeten die schlichte Einrichtung.

Ana sah sich nach Isla um. »Es ist … in Ordnung, oder? Groß genug für zwei …«

Sie verstummte. Ihr Blick glitt zurück zu dem einzelnen Bett. Es war nur nachlässig gemacht, das Laken zerknittert. Der Zipfel eines Nachthemdes lugte unter dem zerknautschten Kissen hervor. Neben dem Waschtisch lag ein feuchtes Stück Seife.

»Oh.« Ana starrte Isla an. »Weißt du etwas von einer Mitbewohnerin?«

Isla schüttelte den Kopf und ging langsam in das Zimmer hinein. »Nein. Oje. Hoffentlich ist es nicht eine von diesen verzogenen Adelstöchtern, die die Nase höher tragen als ihnen guttut.« Sie stellte ihre Tasche neben das Doppelbett und ging hinüber zu dem Spiegel. Neugierig streckte sie die Finger nach einer einzelnen Grußkarte aus, die schief am Rahmen klemmte.

»He, lass das. Bevor wir sie kennengelernt haben, solltest du nicht in ihren Sachen herumschnüffeln«, sagte Ana entschlossen und zog Isla weg. »Warte erst mal ab, vielleicht ist sie nett.«

Isla seufzte. »Na gut, Prinzessin Wohlerzogen. Meine Güte, bist du brav.«

»Ach, halt die Klappe«, grummelte Ana und wandte sich der Bettwäsche zu. »Hilf mir lieber. Ich habe keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Ich habe in meinem Leben noch kein Bett bezogen.«

Isla lachte laut auf. »Natürlich hast du das nicht. Pass auf, Zuckerpüppchen, ich mache dich jetzt alltagstauglich.«

Eine halbe Stunde später waren die Betten bezogen, die Schrankfächer eingeräumt, die Bücher durchgesehen und die Kleider gewechselt. Isla, die sich gerade skeptisch im Spiegel betrachtet und die Ärmel der dunkelblauen Bluse ein Stück nach unten gezogen hatte, fischte eine feine Kette aus ihrem Ausschnitt und warf einen Blick auf den Anhänger. »Mist! Zehn Minuten vor zwei und wir haben keine Ahnung, wo der Speisesaal ist. Das fehlt gerade noch, dass wir gleich zu spät kommen. Wir müssen los. Jetzt beeil dich!«

Ana rührte sich nicht. »Was ist das?«

Isla starrte sie an. »Eine Uhr? Misst die Zeit. Nützlich.«

»Ich weiß, was eine Uhr ist. Wieso hast du eine? Hast du eine Ahnung, wie teuer die sind?«

»Ziemlich teuer, schätze ich. Hab ich von Ylva. Sie hat gespart.«

»Lynda hat gesagt, meine erste Uhr kriege ich frühestens zur Volljährigkeit!«

Isla grinste. »Bist du gerade ernsthaft neidisch auf meinen Besitz, Prinzessin Seidenkleid?«

»Ich mein ja nur …«

»Nein, nein, sei neidisch. Fühlt sich gut an.« Ihr Grinsen wurde breiter. »Und jetzt komm. Meiner Uhr zufolge sind wir spät dran.«

Gemeinsam hasteten sie die Treppen wieder hinunter in den ersten Stock. Ana glaubte sich zu erinnern, dort vorhin einen Speisewagen gesehen zu haben, also rannten sie den Gang im ersten Stock entlang, auf der Suche nach irgendetwas, das auf den Speisesaal hindeuten könnte. Sie kamen nicht weit. Kaum waren sie ein paar Schritte gelaufen, da ertönte eine laute Glocke, die offenbar das Ende der Unterrichtsstunde verkündete. Den ganzen Gang entlang setzte sofort Lärm ein, Türen gingen auf, Stimmengewirr und Gelächter rollte in Wellen heran. Von allen Seiten strömten blau gekleidete Schüler auf sie zu, rempelten sie an und schoben sie mit sich den Gang entlang. Ana warf Isla einen hilflosen Blick zu und wich einer Tasche aus, die in ihre Richtung schwang.

Isla zuckte die Schultern. »Die wissen wenigstens, wo es langgeht.«

Analina nickte schicksalsergeben und ließ sich treiben.

Die Türen zum Speisesaal befanden sich ganz am Ende des Korridors. Eine breite Treppe führte hinunter in eine von mächtigen Leuchtern erhellte Halle, in der zahllose runde Tische aufgestellt waren. Auf jedem Tisch standen einige große Töpfe, Teller und Besteckkörbe. Im Saal teilte sich die Schülerschar und kleine Grüppchen besetzten nach und nach ihre Plätze.

»Und jetzt?«, fragte sie leise und sah sich um.

Isla deutete auf einen Tisch links von ihnen. Dort saßen einige Leute in ihrem Alter und griffen gerade nach den Tellern. Ein großer, dunkelhaariger Junge hatte sich halb erhoben und winkte ihnen eifrig zu.

»Meint der uns?«, fragte Ana skeptisch.

»Klar, wen sonst? Wir sind hier die Einzigen, die hilflos auf der Treppe herumstehen.« Tatsächlich blockierten sie den Verkehr – die nachströmenden Schüler mussten ihnen ausweichen und warfen ihnen genervte Blicke zu.

»Oh.« Ana setzte sich eilig in Bewegung und zog Isla mit sich. Gemeinsam gingen sie auf den Jungen zu.

»Hallo, hast du uns gemeint?«, fragte Ana und lächelte ihn an.

Der Junge hob die Schultern und grinste zurück. »Kommt drauf an. Seid ihr die beiden Neuen aus SuK vierzehn null sechs?«

»Ja«, stieß sie erleichtert hervor. »Können wir uns zu euch setzen?«

Er nickte. »Ihr müsst sogar. Die Mahlzeiten werden unter der Woche mit den Kursen eingenommen, am Siebentag dürft ihr essen, wo ihr wollt. Ich bin übrigens Yulius, und wie heißt ihr?«

»Ich bin …« Analina stockte für den Bruchteil einer Sekunde. »Lia«, sagte sie dann. »Ihr könnt mich Lia nennen.«

Isla warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. »Isala. Isla für meine Freunde.«

»Lia und Isla«, fasste Yulius zusammen. »Und ihr seid Schwestern?«

Ana schüttelte den Kopf. »Freundinnen. Wir sind zusammen gereist.«

»Arden oder Nuben?«

Seine Stimme blieb freundlich, aber Analina beäugte ihn misstrauisch. Ihr war seine leicht andersartige Sprachmelodie bereits aufgefallen.

»Arden«, gab sie zurück. »Ist das ein Problem?«

»Na, für mich nicht.« Er lachte. »Es herrscht doch Frieden. Wo bist du denn bitte aufgewachsen?«

Bevor sie sich eine gute Antwort ausdenken konnte, schob er Isla und ihr einen großen Topf und zwei Teller hin. »Haut rein. Es ist genug für alle da.«

Der dampfende Brei erinnerte Analina auf unangenehme Art und Weise an ihren Reiseproviant. Allerdings bestand er aus gröberen Körnern als der, den ihre Begleiter für sie angerührt hatten. Er sah sehr zäh und klebrig aus und roch, als wäre er auch noch ziemlich gesund. Wahlweise konnte man getrocknete Pilze, getrocknete Früchte oder getrocknete Carobeeren hineinmischen. Ana entschied sich für die Früchte und probierte zögernd. Yulius beobachtete sie neugierig. »Und?«

Ein bitterer Schleimfilm legte sich auf ihre Zunge und machte das Schlucken fast unmöglich. Ana würgte den Bissen mit Mühe herunter und verzog das Gesicht. »Interessant.«

Er nickte. »Ja, das finden wir alle. Aber du gewöhnst dich schon daran, das Zeug gibt es hier jeden Tag. Angeblich enthält der Brei alle Nährstoffe, die man so braucht, ein richtiges Wunderzeug. Aber wir glauben, es ist einfach leichter für sie, jeden Tag die Reste vom Vortag wieder zu servieren. Der Bodensatz ist sicher schon ein paar Jahre im Umlauf.«

Isla, die gerade probiert hatte, hustete und griff nach einem Wasserkrug.

»Hört nicht auf ihn«, mischte sich ein rothaariger Junge an Yulius’ Seite ein. »Das sind Gerüchte, mehr nicht. Ihr seid die Neuen? Ich bin Eryk.«

»Lia und Isla«, sagte Isla und lächelte ihn an. »Freundinnen, keine Schwestern.«

»Gut, mehr Schwestern brauche ich nicht.« Er nickte quer über den Tisch in Richtung eines sommersprossigen Mädchens, das ihm auffallend ähnlich sah. »Das da ist meine. Enya. Und ihre Mitbewohnerinnen: Etrees und …«

»Anastasie!«, stieß Analina hervor.

Das spitznasige Mädchen hob den Kopf und musterte sie eingehend. Die blassblauen Augen zeigten zunächst keine Spur des Wiedererkennens, aber nach ein paar Sekunden verengten sie sich. Analina war ihr zum ersten Mal begegnet, als sie beide vier Jahre alt gewesen waren, und schon damals hatten sie sich nicht ausstehen können. Es gab vermutlich nur eine Person auf der Welt, die es in Sachen Gehässigkeit mit Anastasie von Winterruh aufnehmen konnte, und das war ihre Mutter Noele.

»Ihr kennt euch?«, fragte Isla überrascht.

»Ja«, sagte Ana und lächelte Anastasie versuchsweise an.

»Flüchtig«, sagte Anastasie spitz und senkte den Blick wieder auf ihren Teller.

»Nett«, stellte ein schwarz gelockter Junge neben Isla fest. »Ich bin Nori. Delian, Mikan, Qualle«, fuhr er fort und stieß dem Dicksten der drei in die Rippen.

»Qualle?«, wiederholten Ana und Isla gleichzeitig.

Der Junge neben Nori rieb sich die Seite und verzog das Gesicht. »Qualemaleus«, gab er verlegen zu. »Meinen Eltern sind die Namen ausgegangen. Ich bin der jüngste von acht Brüdern.«

»Klingt doch … spannend.« Analina lächelte ihn aufmunternd an. »Und das ist unser ganzer Kurs?«

»Fast«, gab Yulius zurück und schaute stirnrunzelnd in die Runde. »Hat jemand eine Ahnung, wo Peneelopy steckt?«

Alle schüttelten die Köpfe.

Yulius seufzte. »Sie ist scheinbar wieder nicht aufgetaucht. Ihr wohnt zusammen mit Peneelopy. Sie ist … ein bisschen komisch«, erklärte er. »Redet kaum. Ich bin schon seit zwei Wochen hier, habe sie aber erst dreimal beim Essen gesehen. Angeblich wohnt sie schon hier, seit sie ganz klein ist, sie wurde ausgesetzt oder so. Na ja«, fügte er hinzu, »sie ist wohl gerne für sich.«

»Vielleicht ist sie nur schüchtern«, schlug Nori vor.

»Niemand ist so schüchtern.«

Analina tauschte einen Blick mit Isla und hob die Schultern. »Vielleicht doch. Wir werden ja sehen.«

Regeln für alle

Nach dem Essen verließen die Schüler nach und nach die Halle. Ana sah sich fragend nach Yulius um. »Und jetzt?«

»Wir warten«, erklärte er. »Es wurde eine Versammlung angesetzt. Von unserem Kursleiter, Mentor Dragan.«

Ana zuckte zusammen. »Mentor Dragan ist unser Kursleiter?«

Er nickte. »Ja, wieso?«

Ana tauschte einen bestürzten Blick mit Isla. »Wir … sind ein bisschen aneinandergeraten.«

»Wirklich? Eigentlich hatte ich gehört, dass er ganz in Ordnung sein soll. Streng, aber gerecht. Was ist denn passiert?«, fragte Yulius beiläufig.

Ana starrte ihn an. Gerecht? »Ach, nichts«, murmelte sie. »Es ist nur …«

Doch sie unterbrach sich. Gerade war eine weitere Person lautlos hinter ihr aufgetaucht und zog sich einen Stuhl an den Tisch. Es war ein Mädchen in der blauen Einheitskleidung der Schüler. Außerdem trug die Unbekannte ein dunkles Baumwollkopftuch, das ihre Blässe noch betonte.

»Hallo, Peneelopy«, sagte die Blonde, die Eryk ihnen als Etrees vorgestellt hatte. Peneelopy nickte leicht, hielt den Kopf jedoch gesenkt, sodass man ihr Gesicht kaum erkennen konnte. Ana spürte, wie eine Gänsehaut ihren Rücken hinaufkroch.

»Hallo, Peneelopy«, sagte auch sie. Peneelopys dünne Finger zuckten und sie neigte den Kopf in ihre Richtung, ohne aufzusehen. Ana schluckte und fuhr fort: »Ich bin Lia. Isla und ich wohnen jetzt zusammen mit dir in einem Zimmer. Wir sind heute erst angekommen.«

Ein paar Sekunden blieb das Mädchen reglos. Doch als Analina schon keine Reaktion mehr erwartete, sagte es mit klarer Stimme: »Ihr könnt mich Penny nennen.«

Stille trat ein. Ana sah, wie Yulius und Nori überrascht Blicke tauschten. Scheinbar hatte das Mädchen vorher noch niemandem angeboten, es Penny zu nennen.

»In Ordnung. Penny, das ist ein schöner Name«, sagte Isla freundlich und lächelte.

»Danke. Ich wusste, dass ihr kommt«, fügte sie überraschend hinzu. »Ich habe es geträumt.«

Sie sprach so leise, dass Ana sich nicht sicher war, ob sie sich den letzten Satz vielleicht nicht nur eingebildet hatte. Dann begegnete sie Islas entgeistertem Blick und erkannte, dass sie es auch gehört hatte.

»Was …«

Eine kühle Stimme fiel ihr ins Wort. »Guten Tag.«

Ana fuhr auf ihrem Stuhl herum. Mentor Dragan stand wie aus dem Nichts hinter ihnen, einen Stoß Papiere in der Hand. Sofort erhob sich der Rest der Gruppe und Ana und Isla taten es den anderen hastig nach.

»Guten Tag, Mentor Dragan«, antworteten sie gehorsam.

Er nickte knapp. »Setzen Sie sich.«

Sie ließen sich wieder auf ihre Stühle sinken und sahen ihn erwartungsvoll an.

»Nachdem Sie seit heute vollzählig sind, können wir endlich auch mit Ihrem Unterricht beginnen.« Seine Augen zuckten kurz zu Analina, als hielte er ihr spätes Eintreffen für eine besonders grobe Unhöflichkeit. »Bisher wurden die Aufgaben der Kurssprecher von Yulius Alexandyr und Etrees Antonina erledigt. Wenn niemand der Meinung ist, er müsste sich explizit über dieses Arrangement hinwegsetzen« – wieder streifte er Analina mit einem finsteren Blick, der sie vollkommen verwirrte – »dann wäre ich dafür, es bei dieser Ernennung zu belassen.« Er machte eine Pause. Ana hielt den Atem an. »Niemand? Wie erfreulich.« Dragan lächelte schmal, dann senkte er den Blick auf die Blätter in seiner Hand. »Hier habe ich Ihre Stundenpläne und die entsprechenden Raumnummern, außerdem eine Ausgabe der Hausordnung für jeden von Ihnen. Ich bin genötigt, sie wie jedes Jahr mit Ihnen durchzugehen. Glauben Sie mir, das entspricht nicht dem, was ich zukünftig an selbstständiger Denkleistung von Ihnen erwarten werde. Leider muss ich trotzdem nach den Vorschriften vorgehen, wenn Sie mir also bitte ein paar Minuten Ihrer Aufmerksamkeit schenken würden …«

Ana heftete ihren Blick auf ihn und gab sich sehr viel Mühe, ihre Gedanken nicht abschweifen zu lassen. Schon nach wenigen Sekunden wurde ihr klar, dass das keine einfache Aufgabe werden würde.

»Erstens: Allen Mentoren ist mit Respekt und absolutem Gehorsam zu begegnen, dasselbe gilt für höher gestellte Schüler ab dem vierten Ausbildungsjahr und andere Mitglieder der Akademie, die in der Rangfolge über den Auszubildenden stehen. Einem Befehl oder einer Aufforderung durch eine dieser Personen ist in jedem Fall Folge zu leisten …«

Das versprach eine lange Liste zu werden. Ana begann, gedankenverloren eine Haarsträhne um ihren Finger zu drehen. Sie kannte die gewöhnlichen Umgangsformen nur zu gut. Auch, wenn Dragan das bei ihrer ersten Begegnung angezweifelt hatte, hatte Lynda schon immer viel Wert darauf gelegt, dass sie sich anständig zu benehmen wusste. Sie kannte die unnötigsten Sitten, von der Reihenfolge, in der den Mitgliedern einer Tischrunde ihre Plätze zugewiesen werden mussten bis zu den Glückwunschritualen bei traditionellen Gnomenhochzeiten.

»… Fünftens: Der Aufenthalt auf den Gängen während der Nachtruhe ist strengstens untersagt. Gleiches gilt für den Aufenthalt in den für die Schüler nicht vorgesehenen Teilen des Gebäudes, darunter das Mentorenzimmer, der Mentorenflügel und der alte Mädchenflügel im Erweiterungsbau …«

Es wurden zehn Punkte und es wurden fünfzehn Punkte. Ana versuchte, Islas Blick aufzufangen, doch die starrte mit glasigen Augen auf Dragan und kaute träge auf ihrer Lippe herum. Ab und zu blinzelte sie müde. Yulius war inzwischen dazu übergegangen, mit Mikan und Nori unter dem Tisch irgendein Spiel zu spielen, bei dem es darum ging, die Daumen des anderen mit seinen eigenen einzuklemmen. Etrees und Enya tuschelten leise mit Eryk.

»… außerhalb der Essenszeiten. Fräulein Nelia, könnten Sie das bitte wiederholen?«

Ana schrak hoch, genau wie alle anderen um sie herum. Sie lief knallrot an, versuchte aber ihr Glück: »Kein Essen außerhalb der Essenszeiten.«

Dragan hob die Augenbraue. Treffer. Sie konnte sich ein erleichtertes Lächeln nicht verkneifen.

»Und das davor?« Er sah sie kalt an.

Analina erstarrte. Sie hatte nicht den leisesten Schimmer. Gerade wollte sie zugeben, nicht zugehört zu haben, als eine Stimme durch ihr Bewusstsein geisterte: Das Rennen auf den Gängen und in den Treppenhäusern sowie in den Lehr- und Lesungssälen ist untersagt.

Sie schluckte. Dann wiederholte sie leise: »Das Rennen auf den Gängen und in den Treppenhäusern sowie in den Lehr- und Lesungssälen ist untersagt.«

Dragan sah sie ein paar Sekunden lang scharf an. Sie nahm sich zusammen und erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Niemand rührte sich. Schließlich lächelte er kühl. »Glück gehabt.«

Mit einem Räuspern fuhr er fort: »Achtzehntens: Diese Regeln sind für alle Schüler gleich. Bei Missachtung ist mit einer Bestrafung durch den Lehrkörper bis hin zum Verweis von der Akademie zu rechnen.«

Sobald sich Dragan von ihr abgewandt hatte, suchte Analina Islas Blick. Seit dem Kampf gegen die Nachtmahre hatten sie die geistige Verbindung kaum noch genutzt, die aus mysteriösen Gründen zwischen ihnen existierte, aber nun tastete Analina zaghaft nach Islas Bewusstsein. Warst du das?

Es dauerte eine Sekunde, bis Islas Antwort durch ihren Kopf hallte. Was?

Sie klang ehrlich verblüfft. Und es war auch nicht Islas Stimme gewesen, die Ana gehört hatte. Stirnrunzelnd sah sie sich um, doch niemand schien ihre Verwirrung auch nur zu bemerken.

In diesem Moment sah Dragan von der Liste auf. »Das war alles.«

»Reicht ja auch«, murmelte Mikan.

Dragan ging nicht darauf ein. »Ich teile Ihnen jetzt Ihre Stundenpläne und die Schulordnung aus. Ihr Unterricht beginnt mit dem nächsten Tag, und ich erwarte, dass Sie sich benehmen. Sie wissen alle, wozu Sie hier sind, und ich bitte Sie, daran zu denken, bevor Sie sich über eine der Regeln hinwegsetzen.«

Mit diesen Worten drückte er Yulius den Stapel Blätter in die Hand.

»Wenn jemand Fragen hat, findet er mich diese Stunde im Mentorenzimmer. Ab der nächsten Stunde gebe ich wieder Unterricht, also beeilen Sie sich bitte, falls es Unklarheiten geben sollte.«

Er drehte sich um und glitt lautlos auf die Treppe zu.

Für den Nachmittag zog sich ihr Kurs in einen Aufenthaltsraum zurück, der im ersten Stock lag. Den Mittelpunkt des Raumes bildeten einige zusammengeschobene Pulte mit Arbeitsplätzen für alle, doch eine Ecke war mit sonnengebleichten Schiffsplanken verkleidet und mit bunt schillernden Kissen und Sesseln ausgestattet worden. Dort ließen sich ihre Mitschüler auf die Sitzgelegenheiten fallen und begannen, lautstark ihre Stundenpläne zu diskutieren und über die Schulordnung zu fluchen. Nach einem kurzen Moment der Starre griff Isla nach Analinas Handgelenk und zog sie mit sich auf zwei der letzten Kissen zu. Zu Anas Überraschung stellte sich der schillernde Bezug als feinste uyneianische Seide heraus. Offensichtlich war die schlichte Einrichtung keine Folge von Geldmangel, sondern sollte eine Art erzieherischen Effekt haben. Nachdenklich fuhr sie mit den Fingern über die vom Meer geglättete Holzplanke hinter sich und stieß auf tiefe Kratzer, wie sie sie schon auf der Drachenschuppe entdeckt hatte. Beim Gedanken an die messerscharfen Flossen der Meerjungfrauen zog sie die Hand rasch wieder zurück.

Den Rest des Tages verbrachten sie alle im Aufenthaltsraum. Nach einiger Zeit holte jemand ein Würfelspiel aus seinem Zimmer, das sofort für helle Aufregung sorgte. Es schien um irgendeine Form von Wetten zu gehen, aber das Ziel war Analina nicht ganz klar, und so beschränkte sie sich darauf, den anderen zuzusehen. Isla leistete ihr die ersten Runden über Gesellschaft, aber Ana merkte, wie sie immer unruhiger wurde, und schließlich stieß sie sie leicht in die Seite. »Jetzt mach schon.«

Isla zuckte schuldbewusst zusammen. »Nein, nein, ich kann …«

»Sei nicht albern. Ich sehe doch, dass du mitspielen willst.«

»Was ist mit dir? Es ist nicht schwer. Ein bisschen wie Zehnstein, aber mit den Grundregeln von Flipp. Und du musst bei den anderen mitrechnen, aber wenn du erst mal drin bist …«

Analina hatte weder von Zehnstein noch von Flipp gehört. Auf Funkelstein hatte sie ein Gemspiel gehabt, aber Saphiron und Türkis fehlte dafür die Geduld, und wann immer Ana den Fehler begangen hatte, sich auf eine Partie gegen Lynda einzulassen, war sie von einer verheerenden Niederlage in die nächste gejagt worden. Analina mochte keine Spiele.

Bevor sie das sagen konnte, hob Eryk den Kopf und rief ihnen zu: »Neue Runde! Wollt ihr einsteigen?«

Isla zögerte immer noch.

Entschlossen schob Ana sie von ihrem Kissen. »Sie will!«

»Bestens. Einsatz?«

Bald saß Isla zwischen Eryk und Enya und würfelte, als hätte sie nie etwas anderes getan. Analina sah ihr zu, aber je länger sie das tat, desto deutlicher wurde ein flaues Gefühl in ihrem Magen. Sie wusste, dass Isla sich auf ihrer Reise Sorgen gemacht hatte, sie könnte wegen ihrer verhältnismäßig einfachen Herkunft Schwierigkeiten haben, sich an der Akademie zurechtzufinden. Im Gegensatz zu ihr hatte Ana vielleicht eine höfische Erziehung genossen, aber sie hatte nie gelernt, wie man Flipp spielte oder Zehnstein. Oder wie man einfach aufstand und sich dazusetzte, als wäre nichts dabei. Ihr Blick fiel auf Anastasie, die gerade gewürfelt hatte und sich jetzt vorbeugte, um Delian etwas ins Ohr zu flüstern. Beide sahen auf und starrten unverhohlen in Anas Richtung. Das flaue Gefühl wurde stärker, als sie begriff, dass sie vermutlich nicht lange einfach nur Lia bleiben würde. Natürlich wusste Anastasie, wer sie wirklich war. Mit Mühe schaffte sie ein Lächeln und wandte sich ab.

Als sie schließlich für die Nachtruhe in ihr Zimmer zurückkehrten, wurde es vor den Fenstern schon dunkel. Islas Wangen waren gerötet und ihre Augen glänzten, während sie die letzten Treppenstufen hinaufsprang. »Das war viel besser, als ich es mir vorgestellt hatte! Ich dachte, sie wären alle irgendwie anders, aber das stimmt gar nicht. Na ja, dich mag ich ja auch, also war es eigentlich klar, aber trotzdem …«

»Hat Anastasie erzählt, woher sie mich kennt?«

Isla blinzelte verdutzt, bevor sie begriff. »Du meinst, wegen der Prinzessinnensache? Keine Ahnung, ich habe nicht mit ihr geredet. Aber was wäre schon dabei? Ist ja kein Geheimnis.«

Analina warf ihr einen unglücklichen Blick zu. »Na ja, irgendwie schon. Bisher. Ich dachte, wenn sie mich als Lia kennenlernen … keine Ahnung. Dass es dann leichter wäre.«

»Ach, warum denn? Wenn überhaupt, dann müssten sie mich komisch finden, oder? Ich meine, Etrees’ Vater gehört zum Beispiel ungefähr das halbe Land. Lauter reiche Leute, genau wie du.«

Als Ana nicht antwortete, wurde Isla ernst. »Mach dir keine Sorgen, Ana. Das wird. Du musst dich nur trauen.«

»Wenn du meinst.«

»Na klar. Und wenn nicht … na ja, da ist immer noch Penny, oder?« Ihre Mundwinkel zuckten.

»Sei nicht gemein. Wir wissen nicht, was dahintersteckt.«

Isla seufzte. »Du bist aber auch schwer aufzumuntern, Prinzessin Griesgram. Na schön, wie wäre es damit: Egal, was passiert, du hast immer noch mich. Besser?«

Analina begegnete ihrem Blick. »Ja«, sagte sie leise. »Besser. Danke.«

»Ich erfülle nur meine Pflicht, Euer Hoheit.«

Lachend wich Isla ihrem Schlag aus und schob sie vor sich her über die Zimmerschwelle.