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Anne Buchberger

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Beschreibung

An ihrem dreizehnten Geburtstag erhält Analina, Kronprinzessin von Arden, eine Nachricht, die ihr bisheriges Leben verändert: Auf Befehl ihrer Mutter soll sie ihrer Heimat den Rücken kehren und Schülerin an der Akademie des Meeres werden, um sich für den kommenden Krieg gegen die mysteriöse Schwarzmagierin Gwenda ausbilden zu lassen, die im Sumpfgebiet Ardens ihre Fäden spinnt. Mit ihren engsten Freunden tritt Analina eine Reise durch das Reich ihrer Vorfahren an, um das zu schützen, was sie in sich trägt – die Seele des Mondvogels, jenes magischen Geschöpfs, das Analinas Erbe retten soll. Doch nicht nur die Königin der Sümpfe hat Geheimnisse, von denen Analina nichts ahnt ...

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Veröffentlichungsjahr: 2017

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Für meinen Bruder

ISBN 978-3-492-97825-5© , ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: FinePic®, MünchenDatenkonvertierung: psb, BerlinSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Prolog

Lynda schritt im Rosenquarzsaal auf Schloss Funkelstein auf und ab. Sie war ratlos, und das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Lynda erwartete ein Kind. Sie selbst jedenfalls war überzeugt davon – alle Zeichen sprachen dafür. Doch wenn das stimmte, stand sie vor einem der bisher größten Probleme ihrer Amtslaufbahn. Denn Lynda Céleste war keine gewöhnliche Frau. Sie war die Königin des Ardenreichs, dem größten der drei Reiche Hyiandas. Durch seine zentrale Lage zwischen den beiden anderen Kontinenten Lunadësias – Uyneia und B’ynyay – stand Hyianda immer schon im Mittelpunkt der lunadësischen Politik. Genauso wie das Schloss Funkelstein, Lyndas Schloss, in Hyianda im Mittelpunkt stand. Alle Welt sah zu Lynda auf. Sie konnte nicht einfach ein Kind bekommen! Nicht jetzt, da …

Lynda wurde durch die eifrige Stimme ihres Türstehers Silvo aufgeschreckt: »Euer Majestät, sie sind eingetroffen!«

Sie hob den Kopf. »Danke, Silvo. Sie sollen eintreten.«

Lynda richtete sich auf und strich sich eine blonde Locke, die sich aus der tadellosen Flechtfrisur gelöst hatte, aus dem Gesicht. Um alle Zweifel zu beseitigen, hatte sie gleich drei Schattenspäher anreisen lassen. Schattenspäher besaßen eine sehr seltene Gabe: Sie konnten die Magie, die in jedem Lebewesen Lunadësias und selbst in scheinbar leblosen Gegenständen steckte, als sichtbare Spur wahrnehmen. Jemand, der diese Gabe nicht besaß, konnte sich nicht vorstellen, wie Schattenspäher ihre Umwelt sahen, aber Lynda hatte gehört, dass die Magie für Schattenspäher aussah wie farbiges Licht – die Magie jeden Geschöpfes hatte einen anderen, einzigartigen Farbton. So konnten Schattenspäher auch das wahrnehmen, was dem normalen Auge verborgen blieb.

Die großen Flügeltüren des Saals schwangen auf und drei mit Kapuzen vermummte Gestalten traten ein. Mit hastigen Schritten stolperte die linke herbei und verbeugte sich tief, während die anderen beiden gemessenen Schrittes folgten, um sich dann ebenfalls stumm zu verneigen.

»Guten Abend. Ich danke Euch für Euer schnelles Erscheinen«, begrüßte Lynda die drei Kapuzenträger, die nun zu ihr aufsahen. Eine unheimliche Stille breitete sich aus. Einige Sekunden lang sprach niemand ein Wort, während Lynda das Gefühl hatte, von drei unsichtbaren Augenpaaren durchbohrt zu werden. Dann zogen die Seher die Kapuzen vom Kopf.

Der Schattenspäher, der vorhin gestolpert war, entpuppte sich als junges Mädchen: Eine Waldelfe, kaum vierzehn Jahre alt, blickte der Königin ehrfurchtsvoll entgegen. Ihre Augen schienen zu ernst für ein Kind ihren Alters. Lynda war sich sicher, sie nie getroffen zu haben, aber irgendetwas an ihr kam ihr bekannt vor … schmerzlich bekannt.

Die anderen Seher waren älter, viel älter. Ihr Blick ging ins Leere, als hätten sie schon genug von der Welt gesehen. Oder zu viel. Leise tuschelten sie miteinander, und Lynda wusste, dass sie sich absprachen. Dann erhob einer der Alten die Stimme: »Ihr hattet recht, Euer Majestät. Ihr erwartet eine Tochter. Das Ardenreich bekommt eine Prinzessin. Aber …«

Lyndas Herzschlag beschleunigte sich kaum merklich. Ein Haken. Natürlich musste es wieder einen Haken an der Sache geben, als wäre alles nicht ohnehin schon kompliziert genug.

»Aber?«, wiederholte sie, und obwohl sie innerlich bebte, klang ihre Stimme vollkommen ruhig.

Die junge Waldelfe antwortete ihr: »Eure Tochter wird kein gewöhnliches Kind sein. Sie …« Für einen Moment schien es, als wollten die älteren Schattenspäher ihre Schülerin unterbrechen, und sie hielt inne, doch Lynda machte eine nur mühsam gemäßigte Handbewegung: »Fahr fort.«

Und plötzlich sprudelte es geradezu aus ihr heraus: »Dieses Kind ist ein Geschenk, auf das niemand zu hoffen gewagt hat! Es wird mächtig werden und Kräfte entfalten, die unserem Reich wieder Gleichgewicht und Frieden bringen können. Die ganze Welt wird die Geburt dieses Mädchens erwarten, man wird es Wunder nennen und Lichtbringerin. Euer Majestät – Eure Tochter wird die nächste Mondprinzessin sein!«

Auf diese Ankündigung folgte bleierne Stille. Lynda, die für gewöhnlich nie um die richtigen Worte verlegen war, war sprachlos.

Konnte es möglich sein? Konnte dieses Kind, das so viele Probleme versprach – das sie nicht einmal gewollt hatte –, die nächste Mondprinzessin sein? Es war kaum zu glauben. Natürlich kannte Lynda die Legende von den Mondvögeln, die Licht in ihre Welt gebracht und alle Lebewesen mit Magie beschenkt hatten. Zudem gab es immer wieder Geschichten über besonders begabte Kinder königlicher Herkunft, die die Seele eines Mondvogels in sich trugen und sagenhafte Kräfte entfalteten. Doch die Geburt der letzten Mondprinzessin lag bereits mehrere Jahrhunderte zurück. Und nun sollte ausgerechnet sie die Mutter der nächsten sein?

»Seid ihr sicher?«, fragte sie, leiser, als sie sonst sprach.

»Völlig sicher«, bestätigte der augenscheinlich ältere der Schattenspäher. »Diese Magie ist völlig unverwechselbar, Euer Majestät.«

Lynda nickte langsam. Das änderte natürlich alles. Während es in ihrem Kopf bereits zu arbeiten begann, fiel ihr Blick auf das junge Mädchen, das mit weit aufgerissenen Augen stumm zwischen seinen Lehrern stand und sich sichtlich bemühte, sie nicht allzu sehr anzustarren. Ihr kam ein Gedanke.

»Wie heißt du?«, fragte sie unvermittelt.

Die junge Schattenspäherin blinzelte erschrocken. »Narena«, brachte sie hervor und fügte, nach einem harten Rippenstoß von einem ihrer Lehrer, hastig hinzu: »Euer Majestät.«

Lynda wandte sich an die beiden Alten. »In Anbetracht der Umstände hätte ich gerne einen Schattenspäher in meiner Nähe, falls es zu Komplikationen kommen sollte. Ich möchte Narena mit Eurem Einverständnis eine Stelle bei Hofe anbieten.«

Es war offensichtlich, dass jeder der beiden Männer sich selbst für die geeignetere Wahl hielt, was die Position des königlichen Schattenspähers anging. Der Jüngere der beiden öffnete den Mund, wie um zu widersprechen, doch Lyndas Blick ließ ihn seine Meinung ändern.

»Natürlich, Euer Majestät. Es wäre uns eine große Ehre, Euch unsere Schülerin anzuvertrauen.«

Lynda nickte knapp. »Dann danke ich Euch für Eure Dienste. Silvo wird Euch nach draußen begleiten. Narena, ich sorge dafür, dass man dich in deine neuen Räumlichkeiten bringt. Ich werde im Laufe der nächsten Woche nach dir schicken lassen.«

Ohne auf die gemurmelten Abschiedsworte der Schattenspäher oder die ängstlich geweiteten Augen des Mädchens zu achten, wandte Lynda sich ab. Es gab einige Dinge zu bedenken. Doch wenn sie sich nicht täuschte, bot sich ihr nach all den Jahren endlich eine neue Chance.

Eine Geburtstagsüberraschung

Dreizehn Jahre und sieben Monate später

Die Morgensonne schien auf Schloss Funkelstein hinab und ließ seine cremeweißen Mauern leuchten wie Perlmutt. Obwohl es noch kühl war, versprach es ein schöner Tag zu werden. Der Himmel war klar und blau und die zarte Frühlingsluft kündigte strahlendes Wetter an. Es war einer dieser Tage, an denen alles genau so zu sein schien, wie es sein sollte.

Analina Nelia von Funkelstein war da anderer Meinung.

»Tut mir leid, aber ich kann es einfach nicht!« Resigniert ließ Analina die Hände sinken und ging ein paar Schritte Richtung Fenster. Sehnsüchtig warf sie einen Blick hinaus auf den makellosen Himmel. Das war wieder einmal typisch, dass sich ihre Lehrerin ausgerechnet den bisher schönsten Tag des Jahres aussuchte, um eine Intensiv-Stunde Magieunterricht abzuhalten. Analina hasste solche Stunden. Beluu, ihre Mentorin für Magie, war immer anspruchsvoll, aber manchmal war ihr Unterricht einfach die Hölle. Heute Morgen hatte sie Analina in aller Frühe aus dem Bett geworfen, um mit ihr an ihrer Ausdauer zu arbeiten. Das bedeutete, dass Ana seit sechs Uhr morgens damit beschäftigt war, Magiestrahlen gegen eine stabile Kristallscheibe zu schießen, bis ihr die Energie ausging. Immer und immer wieder.

Beluu räusperte sich und Ana wandte widerwillig den Blick vom Fenster ab und sah sie an. Beluu war eine Wassernymphe und damit schon von Natur aus launisch, aber bei ihr war diese Eigenschaft, davon war Analina überzeugt, selbst für eine Nymphe ungewöhnlich stark ausgeprägt.

»Du gibst dir keine Mühe«, fuhr Beluu sie unwirsch an, wie um Analinas Eindruck zu bestätigen. »Versuch es noch mal.«

Analina stöhnte leise auf. Sie hatte bereits vier Versuche hinter sich, einen weiteren Magiestrahl zu erzeugen, und fühlte sich inzwischen so ausgelaugt wie nach drei schlaflosen Nächten. Am liebsten hätte sie sich auf den Boden fallen lassen und die Augen geschlossen, aber das Wort Erschöpfung schien Beluu generell nicht zu kennen, und als Ausrede ging es bei ihr schon gar nicht durch.

Unter Beluus Blick kapitulierte sie und hob erneut die Hände. Inzwischen schmerzten ihre Handflächen, als hätte sie Verbrennungen daran, weil die ständige Beanspruchung ihre Haut reizte. Mit zusammengebissenen Zähnen begann sie, Energie aus ihrem Innern durch ihre Arme bis in die Fingerspitzen wandern zu lassen. Der Magiefluss war viel träger als sonst, weil sie bereits einen Großteil ihrer Energie aufgebraucht hatte, aber nach ein paar Sekunden spürte Analina wieder das vertraute Prickeln in ihren Fingerspitzen. Endlich. Angestrengt richtete sie den Blick auf die Kristallscheibe. Himmelblaue Funken begannen um ihre Finger zu tanzen. Analina holte tief Luft, das Prickeln wurde stärker, die Luft um ihre Hände begann zu glühen, und mit einem Ruck, der durch ihre Arme fuhr, brach ein gleißend heller, himmelblauer Magiestrahl aus ihren Handflächen hervor. Mit einem melodischen Klingeln traf er die Kristallscheibe, und Analina konzentrierte sich rasch darauf, ihn aufrechtzuerhalten.

»Siehst du, es funktioniert doch.« Mit einem anerkennenden Nicken drehte Beluu ihre Sanduhr um. »Mal sehen, wie lange …«

Analina spürte, wie die Magie versiegte. Sie runzelte verärgert die Stirn, doch bevor sie ihren Strahl stärken konnte, brach er schlagartig ab.

Beluu seufzte enttäuscht. »Ach, Analina, was ist denn heute los?«

»Ich bin müde, Beluu. Wir stehen hier seit drei Stunden und ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Ich weiß, ich habe es schon länger geschafft, aber im Moment kann ich einfach nicht mehr.« Missmutig senkte Analina den Blick auf ihre geröteten Handflächen. Sie wusste, warum Beluu sie im Unterricht immer wieder bis an ihre Grenzen gehen ließ. Die Magie, die Analina bisher benutzte, war die gewöhnliche, die jedes Lebewesen in sich trug. Sie hatte eine charakteristische Farbe, in Anas Fall himmelblau, und eine gewisse Stärke. Normalerweise war sie die einzige Kraftquelle, die ein Magier besaß, aber Analina wusste, dass es bei ihr anders war. Oder anders sein sollte.

»Ich finde sie nicht«, sagte sie leise und sah zu Beluu auf. »Ich finde meine Mondmagie nicht. Ich spüre sie nicht.«

Beluu, die bisher die Stirn gerunzelt hatte, schenkte ihr nun ein kurzes Lächeln. »Das macht nichts, Analina. Es wird schon noch kommen. Du bist die Mondprinzessin, du musst Mondmagie in dir tragen.«

Analina schwieg. Ja, sie war die Mondprinzessin. Und als solche sollte sie eigentlich neben ihrer gewöhnlichen Magie noch die des Mondvogels in sich tragen, dessen Seele mit der ihren verschmolzen war. Das Problem war nur, dass sie bisher keine Anzeichen dieser Magie in sich entdeckt hatte. Beluu war da zuversichtlich und ließ sie immer wieder üben, in der Hoffnung, ihre Mondmagie würde irgendwann von selbst aus ihr herausbrechen. Aber Analina konnte sich nicht vorstellen, dass es in ihr noch etwas gab außer der himmelblauen Energie, die schon immer wie selbstverständlich zu ihr gehört hatte.

Beluu schien zu merken, was in ihr vorging, denn sie trat auf sie zu und sagte mit einem ungewöhnlichen Anflug von Sanftheit: »Na schön, dann machen wir eben eine Pause. Ich will ja nicht dafür verantwortlich sein, dass die Mondprinzessin tragisch an Erschöpfung zugrunde geht, und das ausgerechnet an ihrem Geburtstag.«

Analina zuckte zusammen und sagte vorwurfsvoll: »Du weißt, dass ich Geburtstag habe?«

Beluu schnaubte. »Natürlich weiß ich, dass du Geburtstag hast. Ob du es glaubst oder nicht, deine Geburt galt damals als ein gewisses Ereignis.«

»Und trotzdem hast du mich zu dieser … dieser lebensgefährlichen Zeit geweckt und drei Stunden lang gequält?«

»Du wirst es überleben. Wie alt wirst du, zehn?«

»Sehr witzig. Dreizehn. Und tu bloß nicht so, als wüsstest du nicht …«

Ein Pochen unterbrach sie mitten im Satz. Überrascht wandte sich Analina der Tür zu. »Ja?«

Eine junge Schlossbotin betrat Beluus Turmzimmer. Von dem einfallenden Sonnenlicht geblendet blinzelte sie irritiert und wandte sich dann mit einem Knicks an Analina: »Eure Mutter schickt mich, Euer Hoheit. Ihr sollt in ihr Arbeitszimmer kommen … unverzüglich.«

Analina hob die Brauen. »Worum geht es?«

»Das weiß ich nicht, Euer Hoheit. Aber es scheint wichtig zu sein.«

»Dann hat es nichts mit meinem Geburtstag zu tun«, sagte Analina trocken.

»Verzeihung?«

»Nichts. Schon gut. Danke, ich komme.«

Sie warf Beluu einen hastigen Blick zu. »Ist es in Ordnung, wenn wir aufhören?«

Keine Antwort. Beluus blassblaue Augen waren auf sie gerichtet, doch Analina wurde das Gefühl nicht los, dass sie sie im Grunde gar nicht sah.

»Beluu?«

Beluu blinzelte. »Bitte? Ähm, ja. Natürlich. Und beeil dich besser, du solltest deine Mutter nicht warten lassen.«

Stirnrunzelnd verließ Analina den Raum und machte sich auf den Weg in den Ostflügel, in dem das königliche Arbeitszimmer lag. Lynda schickte selten nach ihr. Sowieso bekam Analina ihre Mutter nicht sehr häufig zu Gesicht, denn Lynda hatte ständig zu tun. Wenn sie sich nicht hinter ihrem Schreibtisch verbarrikadierte und um Dinge kümmerte, die Analina nicht einmal ansatzweise durchschaute, dann hielt sie Versammlungen ab, reiste durchs Land, besuchte Bälle und Gerichtsverhandlungen, eröffnete wichtige Veranstaltungen oder war Ehrengast bei irgendwelchen Festen. Analina war es gewohnt, ihre Zeit ohne sie zu verbringen, und normalerweise hatte sie auch immer genug zu tun. Sie war von klein auf von verschiedenen Lehrern unterrichtet worden, die für eine gründliche Allgemeinbildung zu sorgen hatten. So sprach sie mehrere Sprachen fließend, bekam seit ihrem fünften Lebensjahr Fechttraining, konnte reiten und den ruhigeren der beiden Hofdrachen fliegen. Eigentlich war der Magieunterricht bei Beluu noch angenehm im Vergleich zu den endlosen Stunden Politik und Geschichte, die sie täglich über sich ergehen lassen musste. Aber am besten waren natürlich die freien Nachmittage – wenn sie denn welche hatte. Bei schönem Wetter durfte Analina dann ihre Freizeit draußen verbringen, zusammen mit ihren besten Freunden, den Kindern des Gärtners. Saphiron und Türkis hatte sie es vermutlich zu verdanken, dass sie bisher nicht an Langeweile gestorben war, denn abgesehen von ihnen hatte Analina nicht viele Freunde in ihrem Alter, um nicht zu sagen, sie hatte gar keine. Die Mondprinzessin zu sein half nicht unbedingt gegen Einsamkeit …

Gedankenversunken hatte Analina die Eingangshalle durchquert, war die breite Haupttreppe hinaufgestiegen und erreichte schließlich den Korridor, auf dem das königliche Arbeitszimmer lag. Die richtige Tür war nicht zu verfehlen. Kunstvoll verschlungene Rosen in Purpur und Gold wanden sich auf dem weißen Holz um das Wappen Funkelsteins, das ebenfalls in den Farben des Ardenreichs gehalten war: ein geschliffener Kristall, über dem eine Krone schwebte. Darunter zog sich wie eine Kette der Leitspruch der Familie. Er war in einer alten Sprache geschrieben, die Analina nicht verstand, aber die Bedeutung war ihr schon von klein auf eingeprägt worden: Wahrhaft königlich ist, wer durch sein Volk lebt.

Wie jedes Mal, wenn sie diese Tür sah, fühlte sie sich plötzlich eingeschüchtert. Instinktiv wich sie wieder einen kleinen Schritt zurück, bevor sie sich überwand und zaghaft anklopfte.

»Ja?«

Die Antwort kam beinahe sofort, aber die Stimme war nicht die ihrer Mutter. Leicht irritiert ließ Analina den Arm sinken. »I-ich …« Sie räusperte sich und versuchte es erneut: »Ich bin es. Analina«, fügte sie hinzu, bevor sie der Mut verließ. Prompt ertönten Schritte und im nächsten Moment wurde die Tür nach innen aufgezogen.

»Guten Morgen, Euer Hoheit. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«

Ein großer, schwarzhaariger Mann lächelte sie freundlich an und trat dann einen Schritt zurück, um ihr Platz zu machen.

»Danke.« Zunehmend verunsichert folgte Analina der stummen Aufforderung und trat über die Schwelle.

»Die Königin wurde aufgehalten, aber sie sollte jeden Moment eintreffen. Sie bittet Euch, hier zu warten.«

»Tut sie das«, murmelte Analina und warf dem Mann einen prüfenden Blick zu. Sie konnte sich nicht erinnern, je zuvor mit ihm gesprochen zu haben, aber bei näherer Betrachtung kam er ihr doch irgendwie bekannt vor. Wenn sie sich nicht täuschte, hatte sie Parl Marsiy vor sich, einen der königlichen Berater.

Er nickte, fügte jedoch nichts hinzu. Das machte Analina bewusst, dass sie streng genommen die ranghöchste Person im Raum war und er vermutlich irgendeine Form der Anweisung von ihr erwartete.

»Ähm.« Ihr Blick glitt rasch durch das großzügige Zimmer, blieb kurz an den leuchtenden Sonnenflecken hängen, die auf dem makellosen Parkettboden tanzten, und wanderte dann zu der hohen Lehne des verlassenen Schreibtischstuhls. Natürlich konnte sie sich nicht auf den Platz setzen, der Lynda zustand, aber eine andere Sitzgelegenheit gab es nicht. Das bedeutete dann wohl, dass sie stehen musste. Unwillkürlich sah sie wieder zu Parl Marsiy und stellte fest, dass er sie beobachtete. Vielleicht bildete sie es sich ein, aber sie glaubte, die Spur eines Lächelns in seinen Mundwinkeln erahnen zu können.

Schlagartig erinnerte sie sich daran, dass er ihre Erlaubnis brauchte, um den Raum zu verlassen. »Wollen Sie … gehen?«

Das war definitiv nicht die Formulierung, die ihre Mutter gewählt hätte, doch er zuckte nicht mit der Wimper. »Ich wurde gebeten, Euch beim Warten Gesellschaft zu leisten.«

»Oh.« Analina blinzelte. »Tut mir leid.«

Jetzt war sie sich sicher, dass er ein Lächeln unterdrückte. »Das hoffe ich doch nicht. Es ist mir ein Vergnügen.«

Tatsächlich schien ihm die Situation deutlich weniger unangenehm zu sein als ihr, und das nahm ihr einen kleinen Teil ihrer Verlegenheit. Mutiger geworden wagte sie sich vor: »Sie sind Parl Marsiy, oder?«

Diesmal gelang es ihm nicht ganz, seine Überraschung zu überspielen. »Ja, Euer Hoheit.«

»Wissen Sie, warum meine Mutter mich sprechen will?«

Ein leichtes Flackern glitt über seine dunklen Augen. »Ich …«

»Sie dürfen es mir nicht sagen«, stellte sie fest.

Er wirkte erleichtert. »Ich fürchte nicht, Euer Hoheit.«

»Hm.« Analina musterte ihn kurz. »Verstehe.«

Für einen Moment herrschte Schweigen.

»Hattet Ihr bisher einen schönen Geburtstag?«, fragte er schließlich.

Analina ließ ihre immer noch geröteten Handflächen unauffällig hinter dem Rücken verschwinden. »Sehr schön, ja.«

Parl war die Bewegung nicht entgangen und kurz begegneten sich ihre Blicke. Er zögerte und räusperte sich dann. »Kann ich …«

Das Geräusch hoher Absätze hallte durch den Korridor und ließ ihn verstummen. Analina fuhr herum und bemühte sich hastig um eine aufrechte Körperhaltung. Im nächsten Moment schwang die Tür wie von Geisterhand auf und Lynda trat ein. Sie durchquerte den Raum, ohne innezuhalten, erreichte ihren Arbeitsplatz und drehte sich um. Für den Bruchteil einer Sekunde begegnete sie Analinas Blick, bevor sie sich kommentarlos an Parl Marsiy wandte. »Danke.«

Er nickte. »Jederzeit.«

Ohne dass ein weiteres Wort nötig war, schenkte er Analina ein flüchtiges Lächeln und zog sich zurück.

Lynda wartete, bis die Tür hinter ihm zugefallen war, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Analina. Das Sonnenlicht, das schon die ganze Zeit zwischen den dünnen Vorhängen hindurchgeschimmert hatte, brach sich nun in dem filigranen Diadem auf ihrer Stirn und ließ Analina blinzeln. Sie wusste, dass ihre Mutter eine außergewöhnlich schöne Frau war, und das trug nicht unbedingt zur Steigerung ihres eigenen Selbstbewusstseins bei. Wieder einmal wurde ihr klar, dass sie äußerlich das komplette Gegenteil ihrer Mutter war. Lynda war groß und schlank, hatte blonde Locken und bemerkenswert blaue, diamanthelle Augen. Analina dagegen war eher klein für ihr Alter, hatte dunkles Haar und ihre Augen erinnerten weniger an Diamanten als vielmehr an die eines verschreckten Rehs, groß und braun, wie sie waren. Sie hätte gerne gewusst, ob sie ihrem Vater ähnlich sah, aber Lynda hatte niemals ein Wort über diesen Mann verloren, und Analina nahm nicht an, dass sie nach ihm fragen sollte.

»Analina. Schön, dich zu sehen.« Lynda lächelte, doch ihre Augen blieben wachsam. »Alles Gute zum Geburtstag.«

»Danke.« Ana machte einen kleinen Schritt auf den Schreibtisch zu. »Wie war die Ratsversammlung?«

Lynda war vor ein paar Wochen verreist, um der Ratsversammlung der Hochmagier von Hyianda beizuwohnen, und offenbar war sie erst letzte Nacht zurückgekommen.

»Ergebnisreich.«

Unter ihrem prüfenden Blick fühlte Analina sich unwohl. »Du … wolltest mich sprechen?«

Lynda nickte. »Ja. Es gibt Neuigkeiten, die dich … nun, vielleicht überraschen werden. Bei der Ratsversammlung ging es diesmal um dich.«

»Um mich?«, wiederholte Analina verdutzt. »Wieso das?«

Ihre Mutter antwortete nicht sofort. Es schien, als suchte sie nach geeigneten Worten, was ungewöhnlich war. Normalerweise wusste Lynda Céleste sehr genau, was sie wollte. Schließlich sagte sie langsam: »Die Akademie des Meeres ist nun bereit, dich aufzunehmen. Du hast einen Platz bekommen.«

Ihre Stimme hallte in Anas Ohren nach. Wortlos starrte sie Lynda an, unfähig, eine Antwort zu formulieren. Sie war starr vor Schreck. Erst als Lynda einen schweren, mit purpurroter Tinte beschriebenen Briefumschlag aus ihrer Tasche zog und Analina entgegenstreckte, sickerte die Botschaft langsam durch. Ihr Magen verkrampfte sich.

»L’Arctes … hat geantwortet.« Es war keine Frage. Trotzdem hoffte sie verzweifelt auf den Widerspruch ihrer Mutter. Doch Lynda schwieg und ließ ihr keine andere Wahl, als mit zitternden Fingern nach dem Brief zu greifen. Die teure Purpurtinte war typisch für Nachrichten aus Uyneia, dem größten und reichsten Kontinent Lunadësias. Dort stand die ranghöchste der drei Akademien, die die Kinder des Adels ausbildeten und erzogen – vorausgesetzt, die Eltern besaßen das nötige Kleingeld. Lynda hatte Ana schon vor ein paar Jahren eröffnet, dass sie einen Platz an der Akademie in Hyianda beantragt hatte, aber Analina hatte insgeheim immer gehofft, dass sie abgelehnt werden würde. Eine Ausbildung an der Akademie bedeutete auch den Abschied vom Schloss. Abschied von Arden – Abschied von allem, was sie kannte.

Mit steifen Fingern brach Analina das Siegel, entfaltete das dicke Papier und begann zu lesen:

Hiermit erteilen wir, die Höchsten Akademiker der Drei Akademien, Analina Nelia von Funkelstein die Erlaubnis und den Befehl, sich vor Anbruch des neuen Jahres an der Akademie des Meeres zum ersten Schuljahr zu melden. Sie hat selbstständig und ohne weitere Aufforderung zu erscheinen. Ihr Ausbildungsschwerpunkt liegt auf Sprache und Kampf.

L’Arctes, Leiter der Akademie der Sonne

Ana las die Nachricht zweimal, weil sie nicht in ihrer Muttersprache Hyiandanisch geschrieben war, sondern in der uyneianischen Sprache der Sonne.

Sie hatten sie genommen. Sie würde fortgehen. Und lange Zeit nicht wiederkommen. Kurze, bruchstückhafte Sätze jagten durch ihren Kopf, während sie zu begreifen versuchte, dass es jetzt endgültig war. Ich gehe.

Schlagartig wurde ihr bewusst, dass Lynda noch im Zimmer war. Langsam hob sie den Kopf. »Ich … werde gehen?«

Lynda nickte. Sie lächelte nicht. Analina fragte sich, ob sie von dem Kloß wusste, der ihr plötzlich im Hals steckte. Immerhin war auch Lynda in ihrem Alter weggeschickt worden. Aber sie hatte wenigstens Gesellschaft gehabt.

»Ist es wegen Gwenda?«, fragte Analina leise.

Erneut schien Lynda nicht auf Anas Frage vorbereitet zu sein, denn ihre Stimme stockte kurz. »Wie bitte?«

Analina ließ sich nicht beirren. »Muss ich wegen Gwenda weg?«

Wie immer, wenn sie es wagte, diesen Teil ihrer Familie anzusprechen, wurden Lyndas Augen kühl und abweisend wie schimmernde Spiegel. Gwenda Melania war die Herrscherin des Sumpfgebiets, eines der beiden anderen Reiche Hyiandas. Analina hatte nie viele Antworten auf ihre Fragen über Gwenda bekommen, doch natürlich kannte sie wie jeder Bewohner Hyiandas die Geschichte: Seit Lynda im Alter von sechzehn Jahren den Thron bestiegen hatte, kämpfte Gwenda darum, die Herrschaft über das Ardenreich an sich zu reißen. Bisher war es allerdings nie zu einer offenen Schlacht gekommen – Gwenda hatte andere Methoden. Mithilfe von schwarzmagischen Ritualen, die selbst die mächtigsten Magier Hyiandas bislang nicht kannten, hatte sie ihre Magie im Laufe der Zeit um ein Vielfaches vergrößert. Und das noch bevor Lynda überhaupt auf die Bedrohung aufmerksam geworden war. In ganz Arden spann Gwenda ihre Fäden und hielt sich dabei so bedeckt, dass man kaum etwas gegen sie ausrichten konnte. Ihre Späher überflogen immer wieder das Land und hin und wieder wurden Dörfer angegriffen, scheinbar ohne jeden Grund. Analina war sich sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Gwenda versuchen würde, mit einer Armee durch die Schwarzlande bis nach Funkelstein zu ziehen. Die Bedrohung durch die Andere, wie sie vom Volk genannt wurde, war allgegenwärtig, und doch hatte Lynda offenbar nicht vor, den Kampf zu eröffnen, solange Gwenda kein Heer aufstellte. Und Analina wusste, warum: Sie durfte nicht diejenige sein, die einen ganzen Kontinent in den Krieg gegen ihre eigene Schwester stürzte. Gegen ihre Zwillingsschwester. Die Andere. Bis dieser Krieg ausbrach, schwebte die Bedrohung wie eine dunkle Wolke über Lyndas Reich.

Ein leises Miauen riss Analina aus ihren Gedanken. Ariyala, eine Goldkatze, die Lynda irgendwann aus Uyneia mitgebracht hatte, hatte auf dem Fensterbrett geschlafen und war nun aufgewacht. Sie sprang zu Boden, streckte sich ausgiebig und begann dann, um Lyndas Beine zu streichen. Geistesabwesend bückte Lynda sich und hob Ariyala hoch, die laut zu schnurren begann.

»Du weißt doch, warum du auf die Akademie musst, Analina. Du wirst dort zu der Kämpferin ausgebildet, die du als Mondprinzessin sein solltest. Und außerdem bist du dort in Sicherheit, ja. Und du wirst gut behandelt werden.«

Analina widerstand dem Impuls, trotzig die Arme zu verschränken, und ballte stattdessen ihre immer noch empfindlichen Handflächen zu Fäusten. »Du hast selbst gesagt, dass wir uns nicht im Krieg befinden …«

»Aber ich habe dir auch erklärt, dass es jederzeit dazu kommen kann. Natürlich werden unsere Grenzen geschützt, aber kein Schutz ist vollkommen. Und Konflikte wird es immer geben. Durch deine besonderen Kräfte wirst du früher oder später Aufmerksamkeit auf dich ziehen, und die wird nicht immer angenehm sein. In jedem Fall solltest du lernen, dich zu wehren.«

Analina biss sich auf die Lippe. Etwas in ihr wusste natürlich, dass Lynda recht hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Gwenda eine akute Bedrohung in Analina und ihren Kräften sah. Noch war sie kaum ausgebildet und ihre Mondmagie vielleicht weit davon entfernt, sich endlich zu entfalten, aber Gwenda würde sicher nicht warten, bis sie eine ebenbürtige Gegnerin war. Sie würde zuschlagen, sobald sich eine Möglichkeit dazu bot.

»Darum ging es also bei deiner ergebnisreichen Ratsversammlung? Ihr habt hinter meinem Rücken über meine Zukunft entschieden?« Analina konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme bitter klang. Offensichtlich bemerkte das auch Lynda, denn sie setzte die Katze ab und legte stattdessen Ana eine kühle Hand auf den Arm. Prompt breitete sich Gänsehaut auf der Stelle aus und Lynda zog ihre Fingerspitzen rasch wieder zurück.

»Ich verstehe, dass das alles überraschend für dich kommt«, antwortete sie. »Aber ich hatte keine Wahl. Es musste alles organisiert werden, bevor Gwenda davon erfährt und ihre letzte Gelegenheit nutzt, dir etwas anzutun, solange du unausgebildet bist.«

»Organisiert?«, wiederholte Analina langsam. »Was meinst du mit …«

Es war nicht zu übersehen, dass sie einen wunden Punkt angesprochen hatte.

Lynda seufzte leise. »Aus diesem Grund habe ich dich rufen lassen«, sagte sie ruhig. »Wir können deine Reise nicht länger aufschieben. Das nächste Schuljahr beginnt im Sommer, und wenn du bis dahin nicht angetreten bist, verfällt erstens dein Platz und zweitens die Garantie, dass Gwenda nicht mehr an dich herankommt. Deshalb musst du so schnell wie möglich aufbrechen.«

»Und damit meinst du …?«

»Morgen. Es ist bereits für dich gepackt worden und um Begleiter habe ich mich auch gekümmert. Die Reise ist gleich am ersten Tag der Versammlung beschlossen worden.«

Analina zuckte zusammen und wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. »Morgen«, wiederholte sie tonlos und räusperte sich, um die schreckliche Enge in ihrem Hals loszuwerden, »ich kann nicht … nicht so bald aufbrechen. Das ist unmöglich. Absurd. Wie stellst du dir das vor? Ich … ich habe weder damit gerechnet noch bin ich irgendwie vorbereitet … ich weiß nicht einmal, wo ich hinmuss! Das ist doch Wahnsinn …«

Plötzlich kam es ihr in Lyndas Zimmer sehr kalt vor. Ariyala schmiegte sich leise schnurrend an ihre Beine, doch sie nahm es kaum wahr. Alles kam ihr unwirklich vor. Es war doch ihr Geburtstag, verdammt noch mal! Wieso konnte Lynda keinen Kuchen backen und ihr Geschenke überreichen wie alle anderen Mütter? Nein, sie musste Analina auf eine Reise ans andere Ende Hyiandas schicken.

»Lynda, ich kann nicht …«

»Doch, du kannst«, gab ihre Mutter unbeeindruckt zurück. »Und du wirst. Wie gesagt, es ist alles geplant. Die Route ist festgelegt, die Begleiter sind geprüft und die Kontaktpersonen sind auch alle bereit. Du musst nur tun, was dir gesagt wird, dann wird alles gut werden. In spätestens drei Monaten solltest du angekommen sein.«

»Aber … aber wieso muss ich morgen aufbrechen? Wieso nicht in einer Woche oder zwei?«

»Je weniger Zeit wir verlieren, desto weniger Zeit hat Gwenda, von der Reise zu erfahren.«

Analina war wie erstarrt. Alles, was sie herausbekam, war: »Bitte … bitte nicht.«

Lynda erwiderte ihren flehenden Blick mit regloser Miene. Nur für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Ana, ein leichtes Schimmern in den eisblauen Augen wahrzunehmen. Dann blinzelte sie und der Eindruck verflog.

»Du solltest deine Begleitung kennenlernen, bevor ihr aufbrecht«, erwiderte Lynda sachlich. »Sie warten schon auf dich. Komm. Ich bringe dich hin.«

Ohne ein weiteres Wort schritt sie an Analina vorbei in Richtung Tür, ihre Absätze machten helle, klackernde Geräusche auf dem Parkett. Erst als sie der graue Seidenrock streifte, löste Ana sich endlich aus ihrer Starre. Wie in Trance setzte sie sich in Bewegung und folgte ihrer Mutter hinaus auf den Gang.

Abschiedsworte

Lynda führte sie geradewegs in den Westflügel des Schlosses, in dem die Küchen und die Schlafsäle der niederen Angestellten lagen. Normalerweise durfte Analina sich hier gar nicht aufhalten, was sie allerdings bisher nicht davon abgehalten hatte, es trotzdem zu tun. Ihre Schritte hallten laut von den gekachelten Wänden wider und im selben nervösen Takt spürte Analina ihr Herz hämmern.

Vor einer hohen, schweren Tür machte ihre Mutter Halt. Unsicher trat Analina vor und hob die Hände, doch bevor sie ihr Glück versuchen konnte, bewegte Lynda leicht die Finger, und von einigen eisblauen Magiefunken begleitet schwang die Tür auf.

Sie waren in einer Art Aufenthaltshalle der Diener gelandet, in der Analina nie zuvor gewesen war. Abends wimmelte es hier vermutlich von Leben, aber jetzt, am Vormittag, war die Halle fast leer. Die einzigen drei Anwesenden standen schweigend mitten im Raum und hatten sie ganz offensichtlich erwartet. Naturgemäß war es der Schneeriese, der Analinas Aufmerksamkeit zuerst auf sich zog. Wie alle Angehörigen seiner Art verfügte er über die Eigenschaft, seine Körpergröße an die Umgebungstemperatur anzupassen, und so maß er in unmittelbarer Nähe eines offenen Kamins nur knapp zwei Meter. Unauffällig war seine Erscheinung trotzdem nicht, denn im flackernden Feuerschein funkelte seine reinweiße Haut, als wäre sie mit Raureif überzogen. Es war das erste Mal, dass Analina einem Riesen direkt gegenüberstand, und während seine Gestalt insgesamt etwas Einschüchterndes hatte, war sie vom freundlichen Ausdruck seiner blassroten Augen überrascht.

Unter ihrem Blick neigte er kurz den Kopf und die Bewegung wurde von einem zweiten Mann wiederholt, der keinen größeren Kontrast zu dem Schneeriesen hätte bilden können. Er zeigte die gedrungene Statur, den kräftigen Bartwuchs und die dunkle Haut der Gnomen und inmitten seiner harten Gesichtszüge loderten orangefarbene Augen wie zwei glühende Kohlen. Analina schaffte es, seinen Blick für die Dauer eines Herzschlags zu erwidern. Dann wandte sie sich ab und begegnete prompt einem dritten Augenpaar, bernsteinfarben und katzenartig. Die einzige Frau in der kleinen Gruppe war jünger als ihre Begleiter, schien jedoch die Ranghöchste der drei zu sein. Ihr dunkelgrüner Zopf und die olivfarbene Haut legten nahe, dass es sich bei ihr um eine Waldelfe handelte, die normalerweise in ihren Stämmen im Ardenwald unter sich blieben. Im Gegensatz zu den beiden anderen senkte sie ihren Blick nicht, als Analina ihm begegnete, sondern sah ihr ungehemmt ins Gesicht.

Lynda trat einen Schritt nach vorne und die Waldelfe neigte den Kopf.

»Das sind die Begleiter, die ich für dich ausgewählt habe«, sprach ihre Mutter das Offensichtliche aus und blieb dann neben Analina stehen. Ihre kühle Haut streifte Anas, und unwillkürlich fragte sie sich, wann Lynda sie vor diesem Tag das letzte Mal berührt hatte. Sie kam schnell zu dem Schluss, dass sie sich nicht erinnern konnte.

»Das sind mein Leibwächter Hannibal« – der Schneeriese deutete eine Verbeugung an – »Qalim, unser bester Langstreckenbote« – der Gnom nickte knapp – »und meine Schattenspäherin Narena« – die Waldelfe verzog keine Miene.

Analina zwang sich zu lächeln. »Ich bin sicher, sie sind hervorragend geeignet. Vielen Dank, dass ihr mich begleiten wollt.«

Lynda trat auf die Gruppe der Begleiter zu und wandte sich wieder an Ana. »Ihr werdet morgen bei Sonnenaufgang aufbrechen. Für Kleidung und Proviant ist gesorgt, wenn du noch persönliche Dinge einpacken möchtest, solltest du das heute noch tun. Die vollständige Route kann Qalim dir unterwegs erklären, zunächst verläuft sie auf jeden Fall durch die Ebenen von Arden und durch die Glasberge bis nach Gringol, wo ihr rasten werdet. In ein bis zwei Monaten solltet ihr euch von dort aus melden. Danach geht es dann über Muschelsand, Lartencia und Turmland weiter zur Akademie des Meeres an der Küste von Palestra.«

Ana nickte automatisch. Ein bis zwei Monate. Sie konnte es immer noch nicht wirklich fassen. In ein paar Stunden würde sie unterwegs sein.

»Aber wieso …«

Doch Lynda runzelte plötzlich die Stirn und hob die Hand. Verdutzt beobachtete Analina, wie ihre Mutter einen raschen Blick mit der Schattenspäherin Narena tauschte und sich dann völlig unvermittelt in Bewegung setzte. Sie machte einige gezielte Schritte durch den Raum, richtete ihre Aufmerksamkeit auf einen großen Schrank in der Ecke und in einem Schauer eisblauer Funken sprangen die Schranktüren auf. Zwei Gestalten stolperten heraus, dicht gefolgt von einem kleinen weißen Hund.

Analina keuchte auf. »Saphiron! Türkis! Was bei allen Göttern …«

Die beiden Kinder rappelten sich auf. Man sah auf den ersten Blick, dass sie Geschwister waren – ein neunjähriges Mädchen und ein fünfzehnjähriger Junge mit der gleichen zartblauen Haut, den gleichen dunkelblauen Locken, den gleichen funkelnden Augen. Selbst die schuldbewussten Blicke, die sie in Lyndas Richtung schickten, waren vollkommen identisch.

»Darf ich fragen, was ihr in diesem Schrank zu suchen hattet?«, fragte Lynda, und bei ihrem kühlen Tonfall rückten die beiden unwillkürlich ein wenig näher zusammen.

»Wir …« Saphiron verstummte unter ihrem durchdringenden Blick.

Türkis erkannte die Lage und nahm die Sache in die Hand: »Es tut uns leid. Wir hatten mitbekommen, dass es um Lia gehen sollte und die Akademie des Meeres und … wir wollten wissen, was das alles zu bedeuten hat. Wir bitten um Verzeihung, Euer Majestät.« Sie knickste ein wenig ungeschickt und sah Analina Hilfe suchend an.

»Sie wollten nur wissen, was los ist«, sprang Ana ein und trat schnell neben Saphiron. »Sie haben es nicht böse gemeint, Lynda.«

Lynda hob die Brauen. »Das ist mir klar. Die Schwäche der meisten Lauscher ist Neugier, nicht Bosheit. Ihr seid Onyx’ Kinder, nicht wahr?«

Saphiron zuckte zusammen. »Vater hat nichts damit …«

Die Andeutung eines Lächelns huschte über Lyndas Gesicht. »Ich weiß, ich weiß, keine Sorge. Nun, habt ihr gehört, was ihr hören wolltet?«

»Na ja«, entfuhr es Türkis.

Lynda sah sie abwartend an.

Türkis’ Wangen wurden eine Spur dunkler. »Ich meine … muss Lia wirklich ganz allein bis nach Palestra?«

»Lia?«

»Analina, wollte ich sagen.«

»Nun, wie du siehst, wird sie nicht allein sein«, antwortete Lynda ungerührt und deutete auf die drei Begleiter.

Türkis schwieg. Sie wirkte nicht sonderlich zufrieden.

»Wo liegt das Problem?«, fragte Lynda mit der Spur eines weiteren Lächelns.

»Ich … wir möchten mitkommen«, platzte sie heraus. »Bitte. Euer Majestät.«

Analinas Miene hellte sich auf. »Wirklich?«

Doch die schmalen Brauen ihrer Mutter neigten sich beunruhigend steil in Richtung ihrer Nasenwurzel. »Das ist unmöglich. Ihr seid Kinder, ich kann euch unmöglich auf so eine Reise schicken.«

»Ich bin auch ein Kind«, wandte Analina rasch ein. »Und damit, mich loszuschicken, hast du ja offensichtlich kein Problem.«

»Es ist durchaus ein Unterschied, ob es sich um eine Neun- oder eine Dreizehnjährige handelt«, entgegnete ihre Mutter und die Brauen wanderten nun auf ihren Haaransatz zu.

»Ich bin fünfzehn«, warf Saphiron prompt ein.

»Wenn er darf, will ich auch!«, begehrte Türkis auf. »Ich kann mich genauso gut verteidigen wie er!«

Lynda warf ihnen einen einzigen Blick zu und sie verstummten sofort.

»Analina?«

Ana folgte ihrer Mutter widerstrebend außer Hörweite und spürte Saphirons und Türkis’ neugierige Blicke in ihrem Nacken, als sie sich Lynda zuwandte.

»Bitte, Lynda. Die beiden wissen, was sie tun. Sie sind selbstständig genug für so eine Reise und Türkis ist wirklich reif für ihr Alter und … bitte.«

Lynda schüttelte verärgert den Kopf. »Wie stellst du dir das vor? Wir sprechen hier von den Kindern des Gärtners …«

Ana hob die Augenbrauen. »Wie war das? Wichtig ist nicht, als was man geboren ist; wichtig ist, als was man sterben möchte?«

»Ich wünschte, du würdest dir alles so genau merken wie das, was du gegen mich verwenden kannst«, entgegnete Lynda trocken.

Analina sah flehend zu Saphiron und Türkis hinüber, die ängstlich zurückstarrten. »Kannst du es dir nicht wenigstens überlegen? Wenn die beiden dabei wären, dann … es wäre einfach viel leichter. Verstehst du, sie sind meine besten Freunde …«

»Das ist mir neu.«

»Bitte.«

Lynda schwieg. Für eine kleine Ewigkeit. Sie musterte ihre Tochter prüfend. Analina starrte zurück, entschlossen, nicht mit der Wimper zu zucken. Sekunden verstrichen.

»Na schön«, räumte Lynda schließlich ein. »Ich werde mit Onyx sprechen und die beiden bis morgen früh prüfen. Und falls ich zu dem Schluss komme, dass sie für die Reise geeignet sind, darfst du sie mitnehmen.«

»Ja!« Saphiron, der offenbar sehr gute Ohren hatte, stieß seine kleine Schwester an, doch das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht, als er Lyndas stechenden Augen begegnete.

»Ich sagte, falls«, verdeutlichte sie. »Ihr bleibt also noch, wenn wir hier fertig sind.«

Beide nickten eifrig. Der kleine Hund an Türkis’ Seite fiepte aufgeregt.

Mit einem kaum wahrnehmbaren Seufzen wandte Lynda sich wieder an Analina: »Du hattest eine Frage, bevor wir unterbrochen wurden?«

Ana brauchte einen Moment, bis sie sich erinnerte. »Ähm, ja. Zwei, eigentlich. Wir reisen zu Fuß, oder?«

Ihre Mutter nickte. »Der Tradition entsprechend, ja. Es wird als die Pflicht der Thronfolgerin angesehen, ihr zukünftiges Reich auf diese Weise kennenzulernen. Abgesehen davon würdet ihr mit Pferden spätestens im Gebirge Probleme bekommen … eine Laststute wird genügen.«

»Was spricht gegen Drachen?«

Lynda runzelte die Stirn. »Zu leichtes Ziel«, gab sie knapp zurück.

»Also denkst du, man wird uns angreifen?« Analina gab sich alle Mühe, genauso sachlich zu klingen wie ihre Mutter. Sie war sich nicht sicher, ob es ihr gelang.

»Ich denke«, antwortete Lynda ruhig, »dass wir besser so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf deine Reise lenken sollten. Damit fallen Drachen weg. War das alles?«

Etwas in Lyndas Tonfall gab Analina das Gefühl, dass sie nicht mehr viele Fragen stellen sollte. Trotzdem konnte sie sich einen Hinweis nicht verkneifen: »Wieso der Umweg über Muschelsand? Palestra liegt an der Ostküste, wir sind im Westen. Wäre der direkte Weg durch den Ardenwald und das Wolkental nicht viel einfacher?«

Lynda hob die Brauen. »Ich darf dich daran erinnern, dass das Wolkental nicht zu Arden gehört. Eine Reise durch Nuben steht nicht zur Debatte.«

»Aber wenn du sowieso denkst, dass es gefährlich wird, sollte ich dann nicht so schnell wie möglich …«

»Muschelsand ist viel zu weit vom Sumpfgebiet entfernt, das macht Angriffe extrem unwahrscheinlich. Außerdem habe ich dir doch gesagt, dass die Route längst geplant ist. Wer sollte im Wolkental für deine Sicherheit sorgen?«

Ana zuckte die Schultern. »Wie wäre es mit dem Regenkönig?«

Ihre Mutter starrte sie an. »Ich bin nicht auf die Hilfe des Regenkönigs angewiesen, um dich zu schützen«, gab sie nach einer kurzen Pause zurück. Ein stählerner Hauch hatte sich in ihre Stimme eingeschlichen, der Analina eindrucksvoll an die berühmte Erbfeindschaft zwischen Arden und Nuben erinnerte.

»Ich dachte, es gibt ein Friedensabkommen mit Nuben«, hakte sie vorsichtig nach. »Wäre es dann so abwegig, den Regenkönig zu bitten …«

»Eine Reise durch Nuben steht nicht zur Debatte«, wiederholte Lynda sehr langsam und sehr deutlich. Ohne auf Analinas irritierte Miene zu achten, wandte sie sich ab und trat ein paar Schritte in Richtung Fenster. Durch das Licht, das auf ihr Gesicht fiel und goldene Flecken auf ihre Haut malte, wirkte sie plötzlich merkwürdig leblos, fast wie eine Statue.

»Aber wieso …«

»Das reicht«, fiel ihre Mutter ihr ins Wort, ohne sich nach ihr umzudrehen, »Wenn du keine weiteren Fragen mehr hast, war das alles.«

Analina konnte ein Schnauben nicht unterdrücken. Das war also alles? Ein Haufen Befehle und ein paar verweigerte Antworten? Andererseits wusste sie nicht, was sie erwartet hatte. Vielleicht, dass Lynda es wenigstens über sich brachte, sie anzusehen.

Als ihre Mutter sich auch nach ein paar stummen Sekunden nicht nach ihr umdrehte, hatte Analina genug.

»Tja, dann war es das wohl.« Die Worte klangen trotziger, als sie beabsichtigt hatte. »Danke für nichts«, fügte sie leise hinzu.

»Bitte?«

Lynda hielt den Blick immer noch aus dem Fenster gerichtet, so offensichtlich unbeteiligt, dass Analinas Blut zu kochen begann. Sie öffnete den Mund, um irgendetwas Unverfängliches zu antworten, doch plötzlich schien alles Unverfängliche aus ihrem Wortschatz verschwunden zu sein.

»Na ja, dir scheint meine Meinung ja sowieso relativ egal zu sein, oder?«

Lynda blinzelte. »Wie darf ich das verstehen?«, fragte sie kühl.

»Was ist daran so schwer zu verstehen? Ich werde hier mal wieder vor vollendete Tatsachen gestellt, aber das bin ich ja gewohnt«, fauchte Ana. Sie wusste nicht, wo die Wut plötzlich herkam, die in ihrem Bauch loderte. All die Verwirrung und Unsicherheit, die sie bisher gespürt hatte, schien sich in nagenden Zorn verwandelt zu haben.

»Ich weiß nicht, was du …«

»Du weißt genau, was ich meine. Sieh mich an, wenn ich mit dir rede.«

Etwas in Ana wusste, dass sie gerade unwiderruflich zu weit ging. Aber etwas anderes sagte, dass es ihr egal war. Sie hatte nicht besonders laut gesprochen, doch auf ihre Worte folgte eine Stille, als hätte sie geschrien. Von einer Sekunde auf die andere herrschte eine Spannung im Raum, die beinahe greifbar war. Sehr langsam wandte Lynda ihr Gesicht vom Fenster ab.

»Wie bitte?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein eisiger Hauch, der Analina eindeutig davor warnte, die Grenze noch weiter zu übertreten. Aber Ana hatte genug. Einmal, ein einziges Mal, wollte sie nicht einfach den Mund halten und die brave Tochter sein. Dieses eine Mal sollte Lynda zu hören bekommen, was sie dachte.

»Du hast mich schon verstanden! Ich habe es satt, behandelt zu werden wie ein dummes Kind, das nicht selbstständig denken kann. Ich habe es satt, dass jede Entscheidung über meinen Kopf getroffen wird! Du schickst mich einfach los, ohne mich vorher nach meiner Meinung zu fragen, und du hältst es nicht mal für nötig, mir dabei in die Augen zu sehen?«

In ihren Ohren rauschte es, aber ihre Stimme war ruhig. Lyndas Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert, doch plötzlich strahlte sie eine Härte aus, die Analina nicht kannte. Ihr wurde schlagartig klar, dass sie mehr als zu weit gegangen war, aber sie dachte nicht daran nachzugeben.

»Du wirst nicht in diesem Ton mit mir sprechen«, sagte Lynda überdeutlich.

»Ich spreche mit dir, wie es mir passt«, knurrte Ana.

Lynda schien ihren Ohren nicht zu trauen. »Wie bitte?«, wiederholte sie gefährlich leise. »Ich glaube, dir ist nicht klar, wen du vor dir hast.«

Analina schnaubte. »Oh, natürlich ist mir das klar, Ihre Majestät, die Königin, höchstpersönlich! Dass ich deine Tochter bin, scheint dir herzlich egal zu sein, denn du hast ja offensichtlich kein Problem damit, mich wie irgendeine deiner Untergebenen zu behandeln …«

»Es reicht!«, fuhr Lynda dazwischen. »Kein Wort mehr, Analina, ich warne dich!«

»Warum? Weil ich recht habe?«, schoss Analina zurück. »Ich lasse mir von dir nicht mehr den Mund verbieten, Lynda. Ich werde aufbrechen, wie du es willst, wie es die Königin will, aber von einer Mutterbemerke ich hier nichts. Wie oft warst du denn hier in den letzten Wochen? Wann hattest du das letzte Mal wirklich Zeit für mich? Wenn du mir als Mutter irgendetwas zu sagen hast, dann sag es jetzt!«

Noch nie hatte Analina eine lautere Stille gehört. Alle um sie herum schienen erstarrt zu sein. Wütend funkelte sie Lynda an, während die Sekunden des Schweigens sich zwischen ihnen ausdehnten wie ein zum Zerreißen gespanntes Band.

Als Lynda schließlich sprach, klirrte jedes Wort vor Kälte: »Wenn du deinen Wutanfall beendet hast, solltest du jetzt gehen. Viel Erfolg auf deiner Reise, Analina.«

Sie wandte sich wieder dem Fenster zu und sah zu den Wolken auf, die sich am Horizont zu sammeln begannen. Analina starrte sie fassungslos an, während die Botschaft zu ihr durchdrang.

»Danke«, sagte sie bitter. »Dann hätten wir das ja geklärt.«

Langsam drehte sie sich um, ohne irgendjemanden anzusehen.

»Bis morgen früh«, brachte sie leise hervor.

Die Tür schlug krachend hinter ihr zu.

In der Aufenthaltshalle breitete sich eine bleierne Stille aus. Doch dann fuhr Lynda mit so ruhiger Stimme fort, dass ihre Zuhörer schauderten: »Das war dann wohl alles. Narena, Qalim, Hannibal, ihr könnt gehen. Saphiron, Türkis, ihr bleibt.«

Sie gehorchten sofort. Eines wusste jeder Einzelne im Raum: Den Zorn dieser Frau wollte man niemals, unter keinen Umständen, auf sich ziehen.

Kaum war Analina auf dem Gang allein, da fiel ihr mühsam aufrechterhaltenes Gerüst aus Ärger und Empörung in sich zusammen. Sie zitterte, aber nicht mehr vor Wut. Nie zuvor hatte sie sich so mit ihrer Mutter gestritten. Obwohl sie oft kurz davor gewesen war, ihre Meinung herauszuschreien, hatte sie sich bisher immer zurückgehalten. Und jetzt? Ausgerechnet jetzt war sie explodiert.

Noch einmal hallte die Abweisung ihrer Mutter in ihren Ohren nach und prompt stieg brennende Übelkeit in ihr auf. Ana schluckte und zwang sich, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten. Saphiron und Türkis. Sie hatte so sehr gehofft, dass sie die in welcher Form auch immer abzulegende Prüfung durch Lynda bestehen würden, doch natürlich hatte sie diese Chance nun zunichtegemacht. Jetzt konnte sie vermutlich von Glück reden, wenn Lynda vor lauter Ärger nicht auch noch den Vater der beiden entließ.

Mit zusammengebissenen Zähnen beschleunigte sie ihre Schritte.

Als sie ihr Zimmer betrat, empfing sie kühle Luft, die durch die geöffneten Fenster hereinwehte. Analina blieb kurz stehen und atmete tief durch, dann ging sie zu ihrem Bett und setzte sich. Sie brauchte unbedingt eine Minute, um ihre Gedanken zu ordnen. Abwesend ließ sie ihren Blick durch den großen, hellen Raum wandern und stellte zum ersten Mal fest, dass jedes einzelne Möbelstück die Handschrift ihrer Mutter trug. Der hohe Schrank, der polierte Schreibtisch, das akkurat bezogene Himmelbett – alles hier strahlte die schlichte Eleganz aus, mit der sich Lynda stets völlig mühelos umgab. Noch dazu wirkte alles unnatürlich ordentlich, als hätte hier nie jemand gewohnt. Analinas Augen suchten angestrengt nach etwas, das bewies, dass in diesem Zimmer gelebt wurde, irgendein Detail, das darauf hindeutete, wer hier jeden Tag aufwachte. Aber sie fand nichts. Bis auf Ariyala, die schnurrend zu ihren Füßen in einem Weidenkorb lag, gab es kein Leben in diesem Raum.

Als sie schon aufgeben wollte, blieb Anas Blick an den Bücherregalen hängen und ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Dort, zwischen all den dicken, millimetergenau angeordneten Wälzern, die Rücken an Rücken die Regalfächer füllten, stach ein einziges Buch hervor. Es war klein, alt und abgegriffen. Der Einband, der einmal dunkelgrün gewesen war, hatte seine Farbe verloren und glänzte matt in der Sonne.

Wie von selbst stand Analina auf und ging langsam auf das Regal zu. Ihre Finger tasteten vorsichtig, beinahe ehrfürchtig, über den kleinen Band, bevor sie ihn hervorzog und über den makellos sauberen Rücken strich, vergeblich auf der Suche nach dem kleinsten Staubkorn. Ihre Augen glitten über den Titel des Buches, der in verblichenen Silberlettern in das abgewetzte Leder geprägt war.

Im Nachtwald – Geschichten aus der Welt der Mondvögel.

Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie hatte doch etwas gefunden, das nur ihr gehörte. Etwas, das viel bedeutender war als Unordnung auf dem Schreibtisch oder ein ungemachtes Bett. Man konnte sie nicht sehen, aber sie waren da: Erinnerungen. Erinnerungen an ihre Kindheit, zusammengefasst in diesem unscheinbaren kleinen Gegenstand.

Es war das einzige Kinderbuch, das Ana je besessen hatte.

Analina zögerte kurz, dann steckte sie das Buch in einen Stoffbeutel, den sie mit auf die Reise nehmen wollte. Mit dem Buch verschwand auch der letzte Hinweis auf ihre Persönlichkeit aus dem Raum, aber diesmal machte es ihr nichts aus. Es war nicht wichtig, was sie zurückließ. Wichtig war, was sie mitnahm. Analina richtete sich auf und sah sich ein letztes Mal um. Alles hier war sauber. Ordentlich. Unberührt. So sollte man ein Zimmer zurücklassen. So sollte man Abschied nehmen und so sollte man aufbrechen. Mit einem wehmütigen Lächeln kniete sie sich neben Ariyalas Korb und strich der Katze ein letztes Mal über das glatte Fell und die ledrigen, warmen Pfotenballen. Ariyala gab ein leises Seufzen von sich und rollte sich enger zusammen, ohne aufzuwachen.

»Morgen bin ich weg«, flüsterte Analina und schluckte den Kloß hinunter, der ihren Hals verengte. Sie hatte das unangenehme Gefühl, ein Leben zurückzulassen, das sie nie wieder führen würde.

Wie eine Maske aus Diamant

Die Nacht huschte wie ein Schatten vorbei, flüchtig, sekundenschnell. Kaum hatte sich Analina am Abend hingelegt, schon war es wieder Morgen, und sie hatte das Gefühl, keinen Augenblick geschlafen zu haben. Der erste Gedanke, der ihr kam, sobald sie die Augen aufschlug, durchzuckte sie wie körperlicher Schmerz: Es war so weit. Sie musste aufbrechen.

Der nächste Gedanke galt Lynda, und das machte alles nicht gerade besser. Wie in Trance stand Analina auf, wusch sich, flocht sich die langen Haare und zog sich an. Statt der üblichen prunkvollen Seidenkleider hatte sie sich am Abend eine einfache Bluse, Hosen aus weichem, hellem Wildleder und ein leichtes Wams zurechtgelegt. Als sie im Hinausgehen ihrem eigenen Blick im Spiegel begegnete, kam ihr das blasse Mädchen mit dem Zopf wie eine Fremde vor.