Aranische Nächte 1 - Der Sphärenschlüssel - Heike Kamaris - E-Book

Aranische Nächte 1 - Der Sphärenschlüssel E-Book

Heike Kamaris

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Beschreibung

Während Dämonenmeister Borbarad seine Truppen zur entscheidenden Endschlacht zusammenzieht, müht sich im Land der Ersten Sonne ein zusammengewürfeltes Grüppchen, jene Waffe zu finden, die den Dämonenmeister vom Quell seiner finsteren Macht abschneidet: den Sphärenschlüssel. Doch sollte es ihnen gelingen, ihn zugunsten der Seite des Guten zu finden – die Welt wird dennoch nie wieder so sein wie zuvor. Der vorliegende Roman ist eine Neuauflage der Originalausgabe, die im Jahr 2000 beim Wilhelm Heyne Verlag erschien.

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Impressum

Ulisses Spiele

Band US25749EPUB

Titelbild: Sebastian Watzlawek

Aventurien-Karte: Daniel Jödemann

Redaktion: Nikolai Hoch

Bearbeitung der Neuauflage: Claudia Waller

Umschlaggestaltung und Illustrationen:Steffen Brand, Nadine Schäkel, Patrick Soeder

Layout und Satz: Matthias Lück, Michael Mingers

Zoe Adamietz, Jörn Aust, Philipp Baas, Mirko Bader, Steffen Brand, Bill Bridges, Simon Burandt, Alina Conard, J-M DeFoggi, Trisha DeFoggi, Carlos Diaz, Nico Dreßen, Christiane Ebrecht, Christian Elsässer, Cora Elsässer, Thomas Engelbert, Simon Flöther, Frauke Forster, Christof Grobelski, Kai Großkordt, Markus Heinen, Nils Herzmann, Nikolai Hoch, Nadine Hoffmann, David Hofmann, Curtis Howard, Jan Hulverscheidt, Nadine Indlekofer, Philipp Jerulank, Kirk Kading, Johannes Kaub, Nele Klumpe, Anke Kühn, Christian Lonsing, Matthias Lück, Julia Metzger, Thomas Michalski, Carolina Möbis, Carsten Moos, Johanna Moos, Phillip Nuss, Dominik Obermaier, Sven Paff, Stefanie Peuser, Felix Pietsch, Marlies Plötz, Markus Plötz, Stephan Pongratz, Elisabeth Raasch, Nadine Schäkel, Maik Schmidt, Ulrich-Alexander Schmidt, Thomas Schwertfeger, Alex Spohr, Anke Steinbacher, Stefan Tannert, Maximilian Thiele, Katharina Wagner, Jan Wagner, Michelle Weniger, W. Gwynn Wettach, Carina Wittrin, Kai Woitczyk

Originalausgabe: Copyright © 2000 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München und Fantasy Productions, Erkrath

Copyright © 2022 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN, UTHURIA und THE DARK EYE sind eingetragene Marken der Ulisses Spiele GmbH, Waldems. Alle Rechte vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Heike Kamaris & Jörg Raddatz

Der Sphärenschlüssel

Aranische Nächte I

Ein Roman in der Welt vonDas Schwarze Auge©

Überarbeitete Neuauflage

Vorspiel

In der Gorischen Wüste, am Abend des 14. Ingerimm 26 Hal

Roter Staub, so weit das Auge reichte, bis zum Horizont ein Meer aus staubfeinem rotem Sand. Der niemals nachlassende Wind trieb den Staub vor sich her und ließ die Kämme der roten Dünen wandern wie Wogen auf der See. Wenn es hier Leben gab, dann allenfalls fremdartiges Leben im Staub selbst; kein Tier und keine Pflanze erhoben sich über dem Boden. Inmitten der roten Endlosigkeit gab es nur wenige Stellen, wo steinerne Nadeln und Pfeiler aus Basalt emporstachen durch die staubige Oberfläche.

Rot war auch der Komplex aus Quadern, der im Herzen der roten Wüste angehäuft war wie die Reste eines mächtigen Palastes. Die gigantischen Ruinen ragten viele Mannshöhen empor und waren doch nur ein Abglanz der früheren Gestalt, als die mit fremdartigen Glyphen bedeckten Steine noch eine Festung gebildet hatten: die Schwarze Zitadelle des Dämonenmeisters Borbarad, vernichtet in den Magierkriegen durch seinen Bruder Rohal den Weisen.

Schwarz waren schließlich auch die niedrigen Zelte, die sich unweit der mächtigen Ruinen neben umgestürzten Felsnadeln, Monolithen und Basaltobelisken duckten, um ein wenig Schutz vor dem unablässig vom Himmel herab wehenden Wind zu finden, doch sie waren nicht mit magischen Glyphen und Dämonensymbolen bedeckt, sie schmückte ein schlichteres Zeichen: der Rabe und das zerbrochene Rad, die heiligen Zeichen des Boron, des Gottes der Totenruhe. Der rabengestaltige Golgari war sein todbringender Bote und die Ritter des Golgari sein Kriegerorden, entschlossene Streiter wider Grabschändung und unheilige Nekromantie.

In den letzten Monaten hatten die Bewohner der Zelte gründlich gelernt, welch kostbare Gabe der ungestörte Schlaf im Grabe ist. Der Fall der Schwarzen Zitadelle hatte viele tapfere Frauen und Männer, die sie zuvor bestürmt hatten, ins Verderben gerissen und ihre Gebeine bleichten seit Jahrhunderten friedlos unter der grausamen Sonne, wurden vom gnadenlosen Wind und dem Staub blankpoliert, der jedes Kettenglied durchdrang.

Siebzehn Skelette waren auf schwarzen Tüchern inmitten eines freien Platzes aufgebahrt und schwarze Tücher hatten auch die beiden Männer um sich gewickelt, die am Rande des Platzes, vor dem größten der Zelte, schweigend beobachteten, wie einige der jüngeren Golgariten die letzten Gräber vorbereiteten, in denen die sterblichen Überreste ihre Ruhe finden sollten. Als der größere der beiden Beobachter, ein hochgewachsener Mann mit militärischer Haltung, das Schweigen brechen wollte, musste er sich zur Seite drehen und den Mund nahe zum Ohr des anderen bringen, um das Pfeifen des Winds zu übertönen: »Dies sind nun die Letzten, Euer Gnaden. Sollen nicht alle von … uns dabei sein?« Sein kurzes Zögern war durch den Wind kaum wahrnehmbar.

Der Angesprochene, fast einen Kopf kleiner als sein Begleiter, nickte nur. Selbst wenn Geweihte des Boron kein Gelübde des Schweigens abgelegt hätten, so wäre es doch unter diesen Umständen für jeden eine Torheit gewesen, öfter als unbedingt nötig den Mund zu öffnen. Selbst die schwarzen Schleier, die sie vor Mund und Nase trugen, vermochten den tückischen Staub nicht völlig fernzuhalten.

Knapp winkte der Offizier eine der übrigen vermummten Gestalten zu sich. Sie war schmal und zierlich gebaut, das verhüllte ihr schwarzer Überwurf keineswegs, und als sie zu den beiden trat, vor dem Geweihten das Knie beugte und vor dem Offizier salutierte, zeigte sie kurz ihr Gesicht: eine junge Frau, wohl gerade erst Mitte Zwanzig, mit einem hübschen Gesicht, hellwachen Augen und stoppelkurz geschnittenen schwarzen Haaren. Die Ritter des Golgari tragen ihre Häupter gewöhnlich kahlgeschoren, doch diese Pflicht hatte Vater Cylian für seine kriegerischen Begleiter schon vor Wochen gelockert, um hier in der Wüste Wasser zu sparen. Erst mussten die Lebenden die Toten begraben, ehe sie an sich selbst denken konnten.

»Schwester Khalidai, es ist so weit. Hol Etiliane und Girolamo; und auch den Magus! Wenn er so sehr zum Aufbruch drängt, soll er zumindest beim Abschlussgottesdienst anwesend sein!« Die junge Frau salutierte erneut, zog sich wieder den schützenden Schleier vors Gesicht und eilte davon. Die beiden Mitgeschwister in ihrem Ruhezelt waren schnell in Kenntnis gesetzt, der dritte Gesuchte aber lebte in einem Zelt abseits der übrigen, in einem Zelt, das in unmittelbarer Nähe der Ruinen von Borbarads Zitadelle aufgestellt war.

Dort war die einst den Hauptturm krönende Kuppel zu einem mächtigen blutroten Gebilde verschmolzen, höher als acht Mann, das aussah wie die aus dem Boden emporragende Faust eines gefallenen Riesen, der selbst als Verschütteter noch Rache gelobt und seine Rückkehr androht. Am Fuß dieses Gebildes war ein Zelt aufgeschlagen, das auf grauem Tuch sehr wohl magische Symbole und Abwehrglyphen aufwies: Bannzeichen vor dem einzigen Eingang sollten die nicht lebendigen und nicht toten Geschöpfe der Wüste und der Ruinen fernhalten. Die junge Khalidai von Bruchweiden aber konnte ohne Schwierigkeiten die Zeltklappe erreichen und geräuschvoll an der Leinwand kratzen, das übliche Zeichen, um hier im Lager Einlass zu erbitten.

Keine Antwort. Und doch konnte der Bewohner nicht weit sein, denn wäre er wieder einmal fort gewesen, um die Ruinen zu durchsuchen, wäre sein Zelt weit gründlicher gesichert gewesen. So konnte Khalidai sogar ein wenig die Zeltklappe anheben, um in das von einer trüben Lampe beleuchtete Innere zu schauen.

Sie wusste selbst nicht, weshalb sie leise in den Vorraum des Zeltes schlüpfte, statt laut vernehmlich zu grüßen und um Einlass zu bitten. Vielleicht war es das leise Singen, das so gar nicht zu der Behausung eines Zauberers passen wollte: Es war kein Beschwörungslied, kein Banngesang, nicht einmal eine Hymne zu Ehren der Göttin Hesinde. Khalidai kannte das Stück, es war ein altes Liebeslied aus dem fernen, vergessenen Güldenland, aus dem die Ahnen der meisten Menschen Aventuriens als kühne Pioniere oder verbannte Verbrecher auf den rauen ›neuen‹ Kontinent gekommen waren.

»Ich wünscht, ich wäre in Bahn Cantara, nur eine Nacht noch im Güldenland.

Ich überquerte selbst das Meer der Winde, für eine Nacht nur an seinem Strand.

Doch das Meer ist breit und ich kann’s nicht durchschwimmen noch überfliegen mit Schwingenschlag.

Könnt ich bloß finden einen tapferen Seemann, der mich hinüberbringt nur für einen Tag.

Denn in Cantara ruht meine Liebste, ein schwarzer Marmorstein bedeckt ihr Grab, in das ich selbst mit meiner Habgier nach Gold und Silber sie gezwungen hab.

Nun bin ich krank und selten nüchtern, ein einsamer Wanderer von Ort zu Ort.

Bald werde ich fortgehen, Golgari wartet, nur ein paar Tage noch, dann muss ich fort.«

Khalidai war Ordensritterin einer Kirche, die das Schweigen über alles stellt, aber sie war auch eine junge Frau, und um nichts in der Welt hätte sie den Sänger unterbrechen mögen. Sie mochte das Lied, und als kleines Mädchen hatte sie sich oft gefragt, ob die Liebste des Dichters ob seiner Auswanderung vor Gram gestorben war oder ob es gar von einem verbannten Mörder stammte. Der ›schwarze Marmorstein‹ auf dem Grab der jungen Frau hatte sie jedenfalls schon immer fasziniert.

Noch immer um Lautlosigkeit bemüht, trat sie näher und spähte hinter den Vorhang, der den rückwärtigen Teil des Zeltes vor ihren Blicken abschirmte. Fast musste sie lachen, als sie sah, bei welcher Gelegenheit der Magier sang: Er war nackt und hatte seinen ganzen Leib mit Öl eingerieben – einen höchst ansehnlichen Leib, wie sie erkennen konnte. Gerade war er damit fertig geworden, seine Haut mit rotem Staub zu bedecken, und begann nun, seinen Körper mit einem metallenen Gegenstand zu reinigen, indem er die raue Masse aus Öl und Sand wie mit einer stumpfen Klinge von der Haut strich – und dabei sang er von Liebe und Verlust.

Das blauschwarze Haar hatte er hochgebunden, aber Khalidai wusste, dass es, locker herabfallend, den ganzen Rücken bedeckte. So hatte er es die ersten Tage und Wochen getragen, bis ihn der Staubwind eines Besseren belehrt hatte und er es müde geworden war, es jeden Tag stundenlang auszubürsten. Khalidai gefiel es so, denn sonst wären der kupferbraune Rücken und das Gesäß, das die dreistere Etiliane zweifellos als ›knackig‹ bezeichnet hätte, nicht zu sehen gewesen. Khalidai war zurückhaltender, doch auch sie ließ den Anblick für einige Momente auf sich wirken und gab sich entschieden unklösterlichen Gedanken hin, ehe sie den Vorhang zurückgleiten ließ und einige Schritte zurücktrat, um ihre Anwesenheit förmlich bekanntzugeben.

Irgendetwas unter ihrem Fuß zerbrach klirrend. Es war ein leises Geräusch, wollte aber so wenig zu allen übrigen Lauten passen, dass das Singen jäh verstummte. Noch bevor sie einen Gruß aussprechen konnte, sah sie, wie der trennende Vorhang auf einmal auf sie zuflog. Schnell trat sie zur Seite, doch es war zu spät, der Vorhang schlang sich fest um ihre schmale Gestalt und zog sie fast zu Boden. Und als ob das nicht reichte, spürte sie im nächsten Augenblick einen schweren Stoß, der sie endgültig umwarf, und hörte das Prasseln eines aufflackernden Feuers. So schnell entflammte keine Kohle, nicht einmal Stoff.

Sie hatte ein solches Auflodern schon einige Male gesehen: manchmal, wenn der Magier seinen Zauberstab in eine Fackel verwandelte, um auch in der Nacht oder unter der Erde Licht zu haben, öfter aber noch dann, wenn er seinen Stab in ein Flammenschwert verwandelte, um Untote oder Ghule zu bekämpfen. So, wie es nun prasselte, traf zweifellos die zweite Deutung zu.

»Bei Boron, ich bin es!« Der schwere Vorhang und ihr eigener Schleier dämpften die Worte, aber das Prasseln wich zurück. Stattdessen spürte sie, wie kräftige Hände sie emporhoben, in den dicken Stoff eingewickelt, wie sie war, und halb schüttelten, halb drückten. Selbst wenn sie gewollt hätte, ihre Hände hätten den Schwertgriff niemals erreicht. Dann befreite eine kräftige Hand ihren Kopf aus der dicken Stoffhülle.

»Khalidai.« Es klang nicht gerade überrascht. »Ich hätte es mir denken können, aber wer weiß, vielleicht gibt es ja auch Untote mit Eurem anmutigen Körper …« Der Magier musste irgendwann Zeit gefunden haben, seine Blöße mit einem schmalen Stoffstreifen ansatzweise zu bedecken, doch er machte keine Anstalten, sich weiter anzukleiden, während sie sich aus dem Vorhang befreite. »Was führt einen solch holden Gast in mein Zelt? Seid Ihr, schöne Dame, gekommen, um mich zu erhören? Hat das Flehen meiner liebeskranken Seele doch noch das beharrliche Schweigen Eures rabenschwarzen Herzens überwinden können?«

Khalidai erwiderte kühl: »Magister Tarlisin, so frevlerisch sollt Ihr nicht reden, und das wisst Ihr seit langem.« Doch ihr Lächeln nahm den Worten die Schärfe. So ging es seit Monaten zwischen ihnen, ohne dass es jemals ernst geworden wäre. Für sie war es ein kurzweiliges Spiel, seine dreisten Annäherungsversuche anzuhören und zurückzuweisen. Wenn das auch Vater Cylian und Herrn Demestiron nicht recht gefiel, so sahen sie doch über diesen Zeitvertreib hinweg und schwiegen dazu. Andere Teilnehmer der Expedition hatten ihre eigene Wege, sich von dem alltäglichen Entsetzen abzulenken, das aus den Mühen des Tages und den immer heftigeren Alpträumen der Nacht entstand: Wer seit Monaten nur der selbstgestellten Aufgabe folgte, die Gefallenen der Magierkriege zu bergen und beizusetzen, die umherwandernden Untoten zur Ruhe zu legen und die leichenfressenden Ghule zu erschlagen, der musste irgendetwas Menschliches tun, um nicht den Verstand zu verlieren, und wenn es eine harmlose Tändelei war.

Über die genauen Absichten des Magus war sie sich weit weniger im Klaren: Tarlisin von Borbra hatte einen gewissen Ruf als Herzensbrecher, aber gegenüber den übrigen Frauen der Expedition hatte er sich allenfalls ritterlich gezeigt. Die Dreistigkeiten hob er sich für sie auf, aber die waren schon wieder so übertrieben und plump, dass Khalidai sie ebenso wie seine offenkundige Eitelkeit oder seine Sorglosigkeit für eine Maske hielt, um den Schrecken nicht an sich heran zu lassen. Denn von allen Bewohnern der Zelte stieg Tarlisin am tiefsten in die Ruinen der Zitadelle hinab, erforschte die unteren Höhlen und Hallen, in denen der finstere Borbarad seine unaussprechlichen Zeremonien und Experimente ausgeführt hatte, und suchte nach einer Trophäe, von der er nur Vater Cylian Näheres mitgeteilt hatte. An vielen Tagen hatte er die Knochen und Schädel von Gefallenen mit nach oben gebracht, einige davon auf eine unbeschreibliche Art und Weise miteinander verschmolzen, doch seinem eigentlichen Ziel war er nicht nähergekommen. Die Ringe unter den Augen und die frischen Falten in dem hübschen Gesicht vermochte er wohl mit seiner tulamidischen Schminkkunst zu verstecken, aber das Grauen spiegelte sich noch in seinen dunklen Augen, in denen jetzt zusätzlich ein gewisser fiebriger Glanz lag.

Von einer erlöschenden Kohlenschale drang noch der süßliche Geruch des Ilmenblattes herüber, einer leicht betäubenden Droge, die zu verwenden den Rittern des Golgari im Einsatz streng verboten war. Für den Magus galt dieses Verbot nicht, sodass er sich als der einzige Expeditionsteilnehmer die Nächte mit süßem Rauch angenehmer gestaltete und die allgegenwärtigen bösen Träume auf Abstand hielt.

Während er sein Haar hinabgleiten ließ und ausschüttelte, sprach Khalidai ihn an. »Herr Demestiron wünscht Eure Anwesenheit beim heutigen Borondienst. Die letzten Leichname, die wir gefunden haben, werden beigesetzt, und da es nicht zuletzt auf Euren Wunsch hin morgen zurückgeht, wird Vater Cylian eine Große Messe abhalten.«

Tarlisin von Borbra zuckte die Schultern. »Wenn es den Vater glücklich macht, werde ich kommen. Etwas Segen kann ich auch gebrauchen, denke ich …« Solche Reden führte er gern, aber die Arbeit des Tages hatte Khalidai zu sehr erschöpft, um ihm jetzt den Gefallen zu tun und sich zu empören, also begnügte sie sich mit einem knappen: »Göttlicher Beistand kann Euch wirklich nicht schaden!« Währenddessen schlenderte der Magus zu der Truhe, in der er seine Gewänder aufbewahrte. Die meisten anderen Gepäckstücke waren bereits für die Abreise zusammengepackt, wie Khalidai bemerkte.

Kurz hielt er das Gewand des Magierordens der Grauen Stäbe hoch – graue Robe mit rotem Skapulier –, dessen Anchopaler Ordensburg er vorstand, ehe er es beiseitelegte. Sie wusste genau: Wenn der ebenso eingebildet wie geckenhaft wirkende Magier nicht Ordensgroßmeister zu Anchopal und damit Titular-Baron der ganzen verfluchten Gorischen Wüste gewesen wäre, hätten Vater Cylian und Herr Demestiron niemals zugestimmt, dass er die Expedition begleitete. Allein dass ihm seit einem früheren Kampf mit einem überlegenen magischen Gegner der Schatten fehlte, hatte das Misstrauen der beiden Anführer heftig geschürt, ganz gleich, wie götterfürchtig der Zauberer auch sein mochte. Inzwischen gab es einige unter ihnen, die ohne seine Zauberei nicht mehr gelebt hätten, ebenso wie er ohne die geweihten Waffen der Golgariten und den Segen der begleitenden Borongeweihten keine Woche in den von Untoten verseuchten Ruinen der Schwarzen Zitadelle überstanden hätte.

Als er sich schließlich für ein schwarzes Gewand, dem Anlass entsprechend, entschieden hatte, erkundigte sich Khalidai: »Habt Ihr das Ziel Eurer Suche erreicht? Konntet Ihr Eure Trophäe bergen?«

Der Magier zuckte zusammen, als er ihre Worte hörte. »Bitte, meine Liebe, nennt es nicht ›Trophäe‹! Das klingt, als wolle ich es über meinem Kamin an die Wand hängen, um Gäste zu beeindrucken. Nun, ich konnte das ›Desiderat‹, wie ich es lieber nenne, nicht finden. Zumindest bin ich jetzt sicher, dass es bei der Verbannung des Dämonenmeisters nicht in den Überresten seiner Zitadelle zurückblieb.«

›Desiderat‹, das hieß in der alten Gelehrtensprache Bosparans einfach ›das Gesuchte‹ – und ließ nähere Schlüsse über das Objekt der Suche nicht zu. Khalidai schwieg, während Tarlisin sich den Gürtel aus silberdurchwirktem Brokat um den Körper schlang und in plumpe Schuhe aus schwarzem Holz schlüpfte – die Fußbekleidung, die hier alle trugen, da selbst zähestes Leder in einigen Tagen vom roten Sandstaub erst blankpoliert und dann durchgescheuert wurde.

Als sie sein Zelt gemeinsam verließen und er einige Schutzzauber auf seine Behausung legte, blickte die junge Frau zum Himmel empor. Die Sonne war fast untergegangen und schon bald würden die Sterne zu sehen sein, scheinbar zum Greifen nahe und doch so fern. Dieselben Sterne hatten vor Jahrhunderten gesehen, wie der Dämonenmeister Borbarad seine Zitadelle errichtete, wie aufrechte Frauen und Männer gegen ihn zogen und alles in Trümmer sank, und sie ließen sich mit keinem Funkeln anmerken, ob es sie berührt hatte.

Die junge Ordensritterin bemerkte erst nach einiger Zeit, dass Tarlisin längst seine Zauber gewirkt hatte, schweigend neben sie getreten war und wie sie den Himmel betrachtete. Hier kam der Wind nahezu unmittelbar von oben, eisig und klar, da er noch keinen Staub aufgewirbelt und angesammelt hatte. Die kalte Luft verursachte ihr ein Frösteln und riss sie aus ihrer Versunkenheit. »So kühl und klar … Woher mag dieser Eiswind nur kommen?«

Tarlisin blickte Khalidai überrascht an. »Aus dem Sphärenriss, der seit Tagen wächst! Woher denn sonst?« Er sagte dies so selbstverständlich wie die bekannte Tatsache, dass das Tageslicht von der Sonne kommt. Dann blinzelte er kurz und schien erst jetzt wirklich wach zu werden. »Verzeiht, aber ich habe nicht nachgedacht. Nun, da wir morgen ohnehin zurückreisen, kann es nicht mehr viel schaden: Als Magierin könntet Ihr den Himmel auf seine astrale Natur hin untersuchen und würdet sehen, dass unmittelbar über der Zitadelle ein Riss im Firmament gähnt, von hier betrachtet wohl einen Spann lang. Seit der Weise Rohal den Finsteren Borbarad hier besiegte und mit seinem mächtigsten Bannspruch in die Nichtwelt schleuderte, die unsere Sphäre umgibt, weht der eisige Hauch eben dieser Nichtwelt herunter. Aber« – er konnte es nicht lassen, eine dramatische Pause einzulegen – »seit drei Tagen verändert sich der Riss. Er wächst, um genau zu sein, nur sehr langsam, aber eindeutig erkennbar. Dazu kommen andere Vorfälle, die ich Euch als Nichtmagierin beim besten Willen nicht erklären kann, für die aber das Wort ›Sphärenbeben‹ keineswegs zu hochtrabend ist. Irgendetwas – irgendjemand – bringt gerade die althergebrachte Ordnung der Sphären auf feinsinnige, aber unmissverständliche Weise zum Schwanken. Die Quelle des Problems liegt nur wenige Meilen südwestlich von hier.«

Er schaute Khalidai einen Moment lang prüfend an. »Von allen hier seid Ihr die Einzige, der ich davon so viel erzählen kann – Vater Cylian oder Ritter Demestiron lachen mich aus, und wenn sie hören, dass ich die letzten zwei Tage und Nächte unablässig beobachtet und gerechnet habe, dann nennen sie es die Trugbilder eines übermüdeten Geistes. Aber wenn Ihr es einmal selbst sehen wollt, kann ich Euch etwas vom Elixier des Weißgelben Lotos geben, das ich besitze – eines der letzten verbliebenen Elixiere, nachdem alle Heiltränke und Zaubertränke verbraucht sind. Mit diesen Tropfen könnt Ihr sehen, was sonst nur ein Zauberer zu erblicken vermag.«

Khalidai musste einen Augenblick lang mit sich ringen. Die magischen Künste waren nie ihr Ding gewesen, aber nun war ihre Neugierde erwacht – und wenn es etwas zu sehen gab, könnte sie vielleicht die beiden Anführer der Expedition dazu überreden, es sie einmal versuchen zu lassen.

Dann aber erinnerte sie sich an den unmissverständlichen Befehl Ritter Demestirons. »Danke Euch – aber ich habe schon zu lange gezögert, gewiss warten die anderen bereits. Vielleicht finden wir ja später am Abend noch einmal die Zeit.« Mit einem Lächeln, das einem Versprechen näher kam als alles andere in den letzten Monaten, wandte sie sich ab und schritt dem Magier voraus zum Begräbnisplatz.

Der Geweihte, Vater Cylian, und Ritter Demestiron von Yaquirblick warteten bereits, als die junge Ritterin und der Magus in der Mitte der Ordenszelte eintrafen und sich zu den anderen stellten. Einst waren es fünfzehn Menschen gewesen, die in die Gorische Wüste aufgebrochen waren: elf Ritter, drei Geweihte und der Magier. Nun lebten noch zwölf von ihnen: Zwei Golgariten und eine Geweihte waren den Kreaturen der Wüste zum Opfer gefallen und ruhten nun in rotem Staub. Das Herausmeißeln von Gräbern aus dem Schwarzen Basalt, ja selbst das Errichten eines Grabhauses aus schwarzen Gesteinsbrocken, was beides als letzte Ruhestätte entschieden angemessener gewesen wäre, hatte sich als viel zu mühselig erwiesen und war ohne die richtigen Werkzeuge nicht zu machen gewesen.

Heute aber sollten nicht ihre Gefährten bestattet werden, sondern die Überreste der Recken, die sie am Morgen in einer Staubverwehung gefunden hatten. Für Gefallene der Magierkriege waren die Toten gut erhalten, mehr von Wind und Sonne gegerbt als verwest. Ihre Waffen lagen an ihrer Seite und so würden sie auch begraben werden.

So ernst die Ritter und Geweihten ihre Mission auch nahmen, sie waren doch im Grunde ihres Herzens heilfroh, bald diese entsetzliche Ödnis verlassen zu können. In den zurückliegenden Monaten hatten sie bestimmt mehr als tausend Gefallene gefunden und beigesetzt, auch wenn von manchen nur noch die Bruchstücke einzelner Knochen zu finden gewesen waren, sodass sich ihre genaue Zahl kaum schätzen ließ.

»Achtung!« Mit diesem knappen Ruf lenkte Ritter Demestiron die Aufmerksamkeit seiner Gefolgsleute ganz auf sich und den kleineren Geweihten, der nun anhob, die Ansprache zu Ehren des Herrn Boron zu halten sowie zum Gedenken der Gefallenen, die man nun seiner Obhut übergeben wollte. Vater Cylian fasste sich kurz, wie es die Art seiner Kirche war und wie es auch der staubige Wind nicht anders zuließ: Nach einigen Sätzen über die Größe Borons, der die Seelen gemäß ihrer Verdienste und Versäumnisse richtet und in seine Obhut nimmt, folgten einige Worte über den Opfermut der Recken, die aufgebrochen waren, den finsteren Dämonenmeister zu bezwingen. Wie bei den Dutzend Begräbnisfeiern der letzten Wochen zuvor, erwähnte er mit keiner Silbe, dass sie im Gefolge des großen Rohal, des weisesten und gütigsten aller Magier, in den Kampf gezogen waren.

Nach dem Ende der Ansprache übernahm Ritter Demestiron erneut das Kommando und befahl den Rittern, die Leichname in die offenen Gräber zu senken und diese zu schließen. Letzteres war einfach – den ganzen Tag über war es weit mühseliger gewesen, die Gruben so abzusichern, dass sie nicht von allein mit Sand und Staub vollliefen. Als alles geschehen war, knieten die Ritter und auch der Magier nieder, während sich Vater Cylian vorbereitete, die Gräber einzusegnen.

Doch ehe er dazu kam, den Segen zu sprechen, ereignete sich etwas, das jeden Anwesenden aufschrecken ließ: Von Südwesten klang ein unirdisch hohles Heulen herüber, das ein phantasievoller Troubadour vielleicht als das Kreischen verdammter Seelen beschrieben hätte; die Ritter und Geweihten dachten eher an eine unbekannte Kreatur natürlichen oder unnatürlichen Ursprunges, die sich zur Jagd bereitmachte – denn das Heulen hatte viel von einem Ruf an sich. Fast eine Minute lang hing es in der Luft, ehe es langsam verhallte. Eilig berieten sich Ritter Demestiron und Vater Cylian, ehe sie sich entschlossen, zuerst die Zeremonie zu vollenden und sich erst dann dem Urheber des Geräusches zu stellen.

Ob sie dabei einen Fehler begingen, ließ sich kaum sagen. Denn nichts, was die Teilnehmer der Expedition zu diesem Zeitpunkt hätten tun können, hätte das Verhängnis noch aufhalten können.

Noch bevor der Borongeweihte seinen Segen vollendet hatte, tauchte etwas am Himmel auf, von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne von hinten beschienen: Es flog und es war größer als jeder Geier, der sich auf der Suche nach Aas über den Tafelberg hätte verirrt haben können. Mit mächtigen Flügelschlägen kam es näher und bald waren der langgestreckte, unverkennbar vierbeinige Körper, der schlanke Hals und die weitgespannten, ledrigen Flügel zu erkennen – ein mächtiger Drache von rötlich schwarzer Farbe näherte sich ihnen. Er flog mehr als fünfzig Schritt über dem Boden und schwebte nun wie ein Geier über dem Zeltlager der Golgariten, lautlos und bedrohlich. Auf seinen weit gefächerten Flügeln klebte ebenso der feine rote Staub der Wüste wie an seinem langen, schlanken Leib, der einige große Risse und Schrunden aufwies, durch die der eisige Wind aus dem Himmelsriss pfiff und brechreizerregend den Moder von Jahrhunderten zu den Menschen heruntertrug. Der Drache musste sich geradezu in Leichen gesuhlt haben.

Auf einen knappen Befehl ihres Anführers hin hatten die Golgariten ihre Waffen gezogen und beeilten sich, einen Kreis um Vater Cylian zu bilden. Der Borongeweihte hatte ebenso rasch seine Verblüffung abgeschüttelt und begonnen, ein rituelles Gebet an seinen göttlichen Herrn zu rezitieren, in dem er ihn um Beistand gegen diese Verhöhnung der göttlichen Prinzipien bat.

Allein der Magier hatte sich, kaum dass der Drache erschienen war, hinter eines der schwarzen Zelte zurückgezogen. Dort ließ er seinen Zauberstab über dem Kopf kreisen und murmelte die Formel, die ihn mit einem Schutzkreis gegen feindliche Zauber umgeben würde. Dergestalt mit einem ersten Schutz versehen, machte er sich nun daran, die genaue Natur des so plötzlich aufgetauchten Drachen zu erkunden: »Oculus Astralis!« Dieser Blick durch das Auge der Sphären erlaubte dem Magier, die astrale Beschaffenheit des Geschöpfes zu erkennen, und ließ ihn beinahe aufschreien: Der Drache hatte sich nicht mit Leichen umgeben, er war selbst ein Leichnam, ein untotes Geschöpf, leblos und doch aktiv. Tarlisin hatte schon vieles gesehen, doch selbst das lange zurückliegende Studium an der Dunklen Halle der Geister zu Brabak hatte ihn niemals mit einer Wesenheit von solch monströser nekromantischer Affinität konfrontiert.

Nur eine intensive Verbindung mit Thargunitoth, der erzdämonischen Herrin der Untoten, konnte die Fülle von minderen dämonischen Kräften erklären, die die leblosen Knochen, Schuppen und Flügel des verrottenden Drachenleibes zusammenhielten. Das Erschreckendste aber war zweifellos die einfache Tatsache, dass noch immer das helle astrale Leuchten eines Drachenkarfunkels aus dem weit aufgerissenen Maul drang: Das war kein dämonisch bewegtes Gerippe – er hatte es mit einem untoten und doch seiner Macht und seines Wesens voll bewussten und damit wohl auch unverändert zaubermächtigen Drachen zu tun, einem so einzigartigen Machwerk der Nekromantie, dass es nur von einem stammen konnte – von Borbarad, dem Dämonenmeister, im Schatten dessen zerstörter Zitadelle sie standen.

Die Wahl des nächsten Zaubers war einfach. Der Psychostabilis würde Tarlisin gegen Trugbilder, Bannsprüche und Beherrschungszauber des Drachen schützen. Ohne den astralen Blick aufzugeben, vollendete der erfahrene Magus den Zauber und richtete seine Konzentration dann weiter auf den Drachen. Die Lage war nicht leicht zu beurteilen, da alle nicht-magischen Geländemarken unsichtbar geworden waren, aber noch schien der Drache jenseits der Reichweite eines jeden Kampfzaubers. Allein der mächtige und zerstörerische, aber auch für den Zauberer gefährliche Feuerball mochte ihn erreichen, da jener bis zu sieben mal sieben Schritt weit flog, doch lieber wartete Tarlisin ab und beobachtete den Drachen, hinter dem sich nun immer mehr graue Schwaden sammelten, als er langsam, sehr langsam Schritt um Schritt tiefer glitt, während seine mächtigen Schwingen fast unbewegt in der Luft hingen.

Gerade war sich der Magier sicher, dass nunmehr ein Feuerball sein Ziel finden würde, als ihn eine unsichtbare Hand rüde an der Schulter packte und schüttelte. Mit einem Fluch drehte er sich um und packte seinen Stab fester, während sich seine Augen wieder auf die herkömmliche Blickweise einstellten, nun, da der Hellsichtzauber so jäh unterbrochen worden war. Ritter Demestiron von Yaquirblick war es, der sich völlig unmagisch und damit unsichtbar dem Magier genähert hatte, um ihn nun anzuschnauzen: »Wenn Ihr vielleicht einmal Eure Anwesenheit zu Euren Begleitern verlagern könntet, statt Euch hier in den Schatten zu verkriechen wie ein Feigling! Warum habt Ihr uns nicht besser gewarnt?!« Nach diesem Ausbruch starrte er den jüngeren Magier zornerfüllt an, während eine Ader auf seiner Stirn fast fingerdick anschwoll. Um eine völlig sinnlose Auseinandersetzung zu vermeiden, schluckte Tarlisin den aufkeimenden Ärger hinunter und verwandelte mit einem Gedankenbefehl seinen Zauberstab in ein Flammenschwert, das drohend in der Luft zwischen ihnen schwebte. »Das sollte zeigen, dass ich mich nicht verkriechen will. Ich werde kommen – sobald Ihr mich meine Arbeit habt tun lassen!«

Ohne ein weiteres Wort drehte sich der Anführer der Golgariten um und stapfte zu seinen Männern zurück, die aufmerksam bereitstanden, die Waffen erhoben, die Blicke auf den allmählich näherkommenden untoten Drachen gerichtet. Auch Tarlisin schaute wieder zu der unheiligen Kreatur empor. Irgendetwas war da noch außer dem Drachen selbst gewesen, das ihn irritiert und an einen Anblick aus früheren Zeiten erinnert hatte. Seufzend opferte er ein weiteres Stück seiner magischen Kraft, um erneut seinen Augen die Fähigkeit des astralen Sehens zu verleihen.

Ja, da war es: Das schattenhafte Wimmeln hinter und neben dem Drachen war deutlicher geworden, und der Beobachter konnte über ein Dutzend Nebelschwaden klar unterscheiden, die sich nun in einem Kreis um den Drachen gruppiert hatten. Gerade erschien ein weiterer, die Zahl stieg damit auf siebzehn, doch statt sich dem Kreis anzuschließen, sank der Nebel direkt auf die kleine Zeltstadt hinunter; die anderen Schwaden folgten ihm.

Tarlisin hatte keine Zweifel, was ihr Ziel war. Seine Stimme gellte zu den Golgariten hinüber und die Botschaft war kurz genug, um nicht von dem Staub, der in seine Kehle drang, erstickt zu werden: »Zerhackt die Leichen! Rasch!« Aber ebenso sicher, wie seine Worte bei den Rittern ankamen, würden sie die Aufforderung nicht befolgen.

Doch statt weiter den noch immer halb offenen Gräbern den Rücken zuzuwenden, drehten sich einige der Ordensritter zumindest zu den Leichnamen um, die noch immer keinen Segen Borons empfangen hatten. Zwar konnten sie im Gegensatz zu dem Magus nicht wahrnehmen, wie die unsichtbaren Nephazzim, Dämonen aus der niederhöllischen Domäne des Untodes, in die Leichname fuhren, um sie mit unheiliger Bewegungskraft zu versehen, doch sie sahen, wie die ausgedörrten, ledrigen Männer und Frauen Arme und Beine bewegten, mit starren Händen nach ihren Waffen griffen und sich bemühten, den Befehlen der Dämonen, die von ihnen Besitz ergriffen, und des drachischen Beschwörers nachzukommen. Sogleich fuhren die gesegneten Rabenschnäbel auf die Untoten herab. Die leichten Streithämmer mit den vogelkopfförmigen Spitzen durchbohrten Lederhaut, zerrissen Sehnen und zerschlugen Knochen, als die abgebrühten Ordensritter den Kampf mit den Kreaturen aufnahmen. Doch gegen eine anderthalbfache Übermacht der Gegner, die buchstäblich in Stücke gehauen werden mussten, damit sie keine tödliche Bedrohung mehr darstellten, brauchte es allen Mut und viel Glaubensstärke, und wann immer einer der Ritter angesichts der Schrecken zu zagen begann, fiel er alsbald den Waffen der Untoten zum Opfer.

Abseits des Kampfplatzes verwandte der Magier seine Zauberkraft darauf, den Urheber des Ganzen auszuschalten – denn sein astraler Blick hatte ihm gezeigt, dass der schwarze Drache zwar das Geschöpf eines nekromantischen Rituals, aber auch selbst ein Totenbeschwörer war und die unsichtbaren minderen Dämonen gerufen hatte, die nun die Leichname bewegten.

Für einige Herzschläge ließ Tarlisin die Formel vor seinem inneren Auge entstehen, hielt die Hände wie eine Schale vor die Brust und sah zu, wie sich dort eine sengende, apfelgroße Kugel aus gleißend weißem Feuer bildete. Als er sie mit einem geistigen Befehl von sich fortschleuderte, auf den langsam herabsinkenden Drachen zu, stieg sie rasch empor und gewann an Größe.

Der Magier hatte allerdings die Wendigkeit des Drachen unterschätzt – das Ungeheuer war nicht so träge und starr wie die gerade erweckten Untoten, sondern zeigte die Beweglichkeit einer Schlange oder eher noch eines Raubvogels, als es die Feuerkugel erblickte und im letzten Moment unter ihr hinwegtauchte, sodass sie das angestrebte Ziel verfehlte und ein, zwei Schritt über seinem Rücken in einem jäh auflodernden Feuerball explodierte.

Tarlisin hatte in Erwartung der Explosion den Blick abgewandt und seine Handflächen untersucht – sie waren versengt und schmerzten, was bei einem Zauber von dieser Gewalt unvermeidlich war. Aber es würde gehen, es musste gehen. Mit schmerzenden Fingern holte er aus einer seiner Taschen eine knapp handtellergroße Kristallkugel hervor, die auf einen kurzen Befehl hin eine silbrig durchscheinende Halbkugel um ihn erscheinen ließ. In einem Umkreis von zwei Schritt in jede Richtung würde sie den Magus zumindest gegen die Annäherung der weniger mächtigen Untoten schützen, ein Zauber, der ihm hier in der Gorischen Wüste schon manches Mal das Leben gerettet hatte.

Als er wieder emporschaute, sah er den Drachen herabstürzen, doch nicht wie ein getroffenes Tier, sondern trotz der schwelenden Flügel und der feinen Rauchspur, die er hinter sich herzog, wie ein Falke, der die Beute erspäht hat. Als die Kreatur sich noch zwei Schritt über dem Boden befand, breitete sie die Flügel zur größten Spannweite aus, und obgleich der Wind schrill durch die Risse zwischen den kokelnden Schuppen pfiff, nahm das blankliegende Gerippe des untoten Drachen nicht den kleinsten Schaden. Halb skelettiert, zwanzig Schritt lang, erhob sich der schwarze Kaiserdrache schlangengleich aus dem roten Sand. Der Lehm des Grabes, dem er unlängst entstiegen sein musste, war durch die Wucht des Feuerballes und den Sturzflug von seinem Körper abgeplatzt und enthüllte nun die schwarzen, rissigen Schuppen der Kreatur. Totenbleich waren die langen Zähne in dem weit aufgerissenen Maul, leer gähnten die Augenhöhlen.

Dem Magus, der nur durch einen gewagten Sprung dem landenden Feind entkommen war, blieb keine Zeit, sich an einem weiteren Zauber zu versuchen. Stattdessen lenkte er sein Flammenschwert mit einem knappen Gedankenbefehl gegen die Kreatur, um sie sich möglichst weit vom Leibe zu halten. Immer wenn der schlangenhafte Hals vorzuckte, um den Magus zu treffen, schwirrte auch das Flammenschwert herbei, um die Halswirbel zu durchtrennen, und schnell wand sich der Drache dann wieder aus der Gefahrenzone. Zu nah konnte sich aber auch der Magier nicht an den Gegner heranwagen, wenn er nicht in Reichweite der mächtigen Klauen geraten wollte. Die silbrige Kugel schien das Monstrum überhaupt nicht zu beeindrucken. Einige Zeit belauerten sie sich so, während irgendwo hinter ihnen der Kampf der Golgariten und der Untoten weiterging.

Tarlisin dankte den Göttern, dass der weit aufgerissene Rachen des untoten Drachen noch immer mit Sand, Lehm und Staub vieler Jahrhunderte verklebt und dadurch wenigstens der – mutmaßliche – Feueratem des Feindes blockiert war.

Während sich die zwei auf immer neuen Bahnen belauerten, der Mensch vorsichtig und unsicher, der Drache, seiner Haltung nach zu urteilen voll ungebrochener Siegeszuversicht, sprach die untote Kreatur plötzlich mit Tarlisin – oder vielmehr füllte sie seinen Geist mit Bildern und Worten, die Drohungen und Verheißungen ausdrückten: Sie nannte sich Rhazzazor der Schwarze, ältester Diener des Uralten Meisters Borbarad, forderte seine bedingungslose Unterwerfung und versprach ihm Macht jenseits seiner kühnsten Träume.

Trotz oder gerade wegen seiner Angst erlaubte sich der Mensch ein grimmiges Lächeln. »Meine Träume sind umfassend und schön, toter Rhazzazor. Wie steht es um die deinen?«

Mit einem wütenden Fauchen schwenkte der Drache seinen langen Schwanz herum, sodass sich Tarlisin mit einem Ausfallschritt in Sicherheit bringen musste. Die Replik hatte einen wunden Nerv getroffen. Natürlich, dachte der Magus, Boron war nicht nur der Gott der Totenruhe, sondern auch des Schlafes und der nächtlichen Träume. Falls eine solche dämonische Kreatur überhaupt träumen konnte, mussten ihre nächtlichen Visionen abscheuliche Strafen des erzürnten Gottes sein.

Trotz seines Ärgers fuhr das drachenleibige Ungeheuer fort, ihn zu locken und zu bedrohen, zeigte ihm, wie es schon bei der Rückkehr seines Meisters vor einigen Jahren als Geist erwacht war und seitdem alles beobachtete, was in der Gorischen Wüste geschah. Seitdem die ›Menschlein‹ hier waren – Menschlein! –, hatte der Drache sie belauert und dabei die Erfahrung gemacht, dass er das Desiderat nicht finden konnte, weil es nicht in der Zitadelle geblieben war.

Doch der Uralte Meister wollte es haben, also bot sich Rhazzazor Tarlisin als Sklave und Sprecher an, während sie die Spuren des Artefaktes verfolgten.

Im Geist sah Tarlisin bildlich vor sich, wie die letzten Getreuen Rohals nach der Schlacht die Ruinen der Zitadelle verließen, verfolgt und gehetzt von Rhazzazor, der sie allesamt tötete, während er selbst an vielen großen und kleinen Wunden zugrunde ging.

Ihre Gräber, das wusste Tarlisin, waren Jahrhunderte später vom fanatischen Borbarad-Anbeter Liscom von Fasar geplündert worden. Die gefundenen Artefakte hatte er verhökert, um seinen Traum, die Rückrufung des Borbarad, zu finanzieren. Hier musste man ansetzen, da die Zitadelle sich als leer erwiesen hatte – eine Aufgabe, die der untote Drache kaum ohne menschliches Sprachrohr erledigen konnte, denn es hieß, Dutzende, wenn nicht Hunderte von Magiern und Sammlern zu überprüfen, eine langwierige, höchst unheroische Beschäftigung.

Für den Magier, der gerade wieder einmal einer wenig ernst gemeinten Attacke ausweichen musste, war das Angebot des Drachen ein verlockender Gedanke. Die Wiedererweckung Rhazzazors bewies ihm, wie sehr auch der verbannte und wiedergekehrte Dämonenmeister das Desiderat begehrte. In jüngeren Jahren hätte Tarlisin ohne Zögern seine Treue beteuert, stets darauf bauend, dass er diesen Eid jederzeit würde brechen können, wenn er das gesuchte Artefakt erst einmal in Händen hielte. Doch seitdem hatte er zu viel darüber gelernt, wie die Gefolgsleute des Borbarad ihre Diener im Zaum hielten: Ein Beherrschungsbann, ein Besessenheitsdämon, ein Bluteid, das waren nur einige der Möglichkeiten, von denen man sich niemals würde befreien können.

Tarlisin schüttelte bedächtig den Kopf: »Nein, schwarzer Rhazzazor. Ich hatte einmal die Möglichkeit, der Gefolgsmann deines Herrn und Schöpfers, des Dämonenmeisters, zu werden. Da ich ihm selbst dieses Angebot ausgeschlagen habe, wie könnte ich mich dann seiner Kreatur unterwerfen?«

Der untote Drache neigte den zwei Schritt langen Schädel zur Seite und antwortete mit einem Bild des Todes. Mit einer Bewegung, die von keiner verräterischen Muskelzuckung angekündigt wurde, schoss im gleichen Moment seine vordere Tatze vor, um den Kopf des Magiers zu zermalmen. Keine Parade mit dem Flammenschwert konnte den Hieb aufhalten – zwar zersplitterte das spröde Horn der mächtigen Klauen und begann zu brennen, doch der Schlag wurde ungehindert fortgeführt. Nur unwahrscheinliches Glück erlaubte es dem Magier, seinen Körper noch zur Seite zu werfen, sodass nur sein linker Oberarm von einer der brennenden Klauen getroffen wurde.

Die mehrfach gesplitterte Klaue harkte wie eine scharfe Gabel durch den Muskel und legte für einen Herzschlag den Knochen frei, ehe das nachströmende Blut die Wunde schäumend rot füllte und schnell auch die linke Hälfte seiner Kleidung tränkte und verklebte. Der süße Gestank füllte die Nase des Magiers, der wie eine Puppe zur Seite geworfen wurde und im sandigen Staub landete, wo er sich noch mehrmals überschlug und einige Schritt weit rollte, ehe sein schlaffer Körper zum Liegen kam.

Der schwer verletzte Tarlisin gewann das Bewusstsein erst zurück, als der Drache die Tatze um seinen geschundenen Leib schloss und ihn emporhob. Bei dem Druck um seine Leibesmitte brachen die untersten Rippen wie sprödes Holz, und dieser zusätzliche Schmerz rief ihn für einen Augenblick ins Reich der Wachen zurück. Gegen den inneren Drang, sich völlig zu versenken und alles vorbei sein zu lassen, öffnete der Kampfmagier die Augen und blickte auf den untoten Drachen, der ihn beinahe unschlüssig in der Tatze hielt, eine zerbrochene Puppe, mit der weiter zu spielen ihm nun keine Kurzweil mehr bereitete.

Während sich der mörderische Druck um seinen Leib noch verstärkte und er die Beine schon nicht mehr spüren konnte, richtete der Magier seine Gedanken auf den Zauberstab aus Eisenholz, der angeblich einstmals vom weisen Rohal selbst geschaffen worden war und den er, Tarlisin, einst in einer Weihezeremonie an sich gebunden hatte, und aktivierte die Kräfte des Siebten Zaubers, der über den Stab verhängt worden war – und an irgendeiner Stelle im Staub erhob sich der zwei Schritt lange Stab und schwebte auf seinen Besitzer zu. Noch im Fluge verwandelte der Magier seine Waffe in ein Flammenschwert und kaum, dass jenes seine Fingerspitzen berührt hatte, riss er den rechten Arm hoch und schmetterte die brennende Waffe gegen den Ellbogen des schwarzen Drachen.

Die Reaktion kam unverzüglich. Mit einem wütenden Fauchen musste die Kreatur ihren Griff lockern und den Magier zu Boden fallen lassen. Die Schmerzen beim Aufprall nahm der Gestürzte kaum wahr, so sehr war er damit beschäftigt, sich mit letzter Kraft aus der unmittelbaren Reichweite des Drachen zu schleppen. Nach einigen Schritt stellte er fest, dass er seine Beine kaum noch bewegen und keinesfalls aufstehen konnte.

Doch auch der schwarze Rhazzazor war angeschlagen: Er war offenkundig von diesem Angriff überrascht worden und hatte nun einige Schwierigkeiten voranzukommen: Schuppen und Knochen seines Ellenbogengelenks waren klar durchtrennt worden und der ganze Unterlauf mit der Tatze baumelte nur noch an einer einzigen ausgedörrten Sehne. Selbst eine so dämonische Kreatur der Magie war den grundlegenden Gesetzen der Mechanik unterworfen und konnte ihr Gewicht nicht auf dieses Vorderbein verlagern, ohne dass sie mehr wie ein auf dem Bauch kriechenden Alligator als wie ein stolzer Drache wirkte, als sie sich aufmachte, den Feind zu zermalmen. Der mächtige Schädel mit den leeren Augenhöhlen blickte sich wie suchend um. Obgleich es schon fast Nacht war, schien er sich wesentlich besser zurechtzufinden als seine menschliche Beute.

Natürlich, das war es: Ohne Augen musste der Geist des Drachen, der noch immer den längst verrottenden Leib beseelte, auf ungewöhnlichere Mittel zurückgreifen, um sich in der Welt zu orientieren. Immerhin gab es eine ganze Reihe von Hellsichtzaubern, die dem Anwender das Vorkommen oder die Beschaffenheit von Magie anzeigten, die Anwesenheit von Lebewesen enthüllten, die Sicht in finsterster Nacht erlaubten oder gar den Blick durch fremde Augen ermöglichten. Und es gab einen, genau einen Zauber, der all dies unmöglich machte.

Nur ein paar Herzschläge brauchte Tarlisin, um einen Zauber zu wagen, der ihm vielleicht noch helfen konnte. Er deutete mit dem Stab auf den Drachen, der bereits gefährlich nahe bei ihm war und konzentrierte sich. Wie sich der graue Nebel aus Zauberei formte, der sich um die übernatürlichen Sinne des Drachen legen und ihn für jede Hellseherei blind machen würde, konnte er selbst ohne astralen Blick nicht sehen, doch die Reaktion war unverkennbar. Mitten in der Bewegung hielt der schwarze Rhazzazor inne und schüttelte wütend den mächtigen Schädel, als wolle er einen lästigen Insektenschwarm vertreiben. Dabei geriet der große Kopf direkt über den gefallenen Magier – und der ließ sein Flammenschwert, getragen von magischer Hand, so schwer gegen die Seite des Drachen schlagen, dass einige Fetzen Schuppenhaut fortgeschleudert wurden und trockene Rippen splitterten. Wie erwartet fuhr der geblendete Kopf des Drachen zur verletzten Stelle, um den Angreifer zu packen, der aber ließ das Flammenschwert in seine Hand zurückkehren und schlug es dann mit aller Wucht auf den dünnen Hals der Kreatur. Wäre der Kopf erst einmal abgetrennt, würde sich auch der Leib besiegen lassen.