Aranische Nächte 2 - Blutrosen (Neuauflage) - Heike Kamaris - E-Book

Aranische Nächte 2 - Blutrosen (Neuauflage) E-Book

Heike Kamaris

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Beschreibung

Nach Borbarads Ende greift Prinzessin Dimiona nach der Macht im Land der Ersten Sonne. Ein Verräter, der die Geheimnisse der göttertreuen Verteidiger kennt, stellt seine Rachsucht in den Dienst der neuen Herrin. Muss die Hoffnung unter Dornenranken ersticken, wenn im Land Oron die Blutrosen blühen? Dieser Roman setzt die Handlung aus "Sphärenschlüssel" fort.

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Impressum

Ulisses SpieleBand: US25748EPUBTitelbild: Sebastian WatzlawekAventurien-Karte: Daniel JödemannRedaktion: Nikolai HochBearbeitung der Neuauflage: Claudia WallerUmschlaggestaltung und Illustrationen: Steffen Brand, Nadine Schäkel, Patrick SoederLayout und Satz: Matthias Lück

Zoe Adamietz, Jörn Aust, Philipp Baas, Mirko Bader, Steffen Brand, Bill Bridges, Simon Burandt, Alina Conard, J-M DeFoggi, Trisha DeFoggi, Carlos Diaz, Nico Dreßen, Christiane Ebrecht, Christian Elsässer, Cora Elsässer, Thomas Engelbert, Simon Flöther, Frauke Forster, Christof Grobelski, Kai Großkordt, Markus Heinen, Nils Herzmann, Nikolai Hoch, Nadine Hoffmann, David Hofmann, Curtis Howard, Jan Hulverscheidt, Nadine Indlekofer, Philipp Jerulank, Kirk Kading, Johannes Kaub, Nele Klumpe, Anke Kühn, Christian Lonsing, Matthias Lück, Julia Metzger, Thomas Michalski, Carolina Möbis, Carsten Moos, Johanna Moos, Phillip Nuss, Dominik Obermaier, Sven Paff, Stefanie Peuser, Felix Pietsch, Marlies Plötz, Markus Plötz, Stephan Pongratz, Elisabeth Raasch, Nadine Schäkel, Maik Schmidt, Ulrich-Alexander Schmidt, Thomas Schwertfeger, Alex Spohr, Anke Steinbacher, Stefan Tannert, Maximilian Thiele, Katharina Wagner, Jan Wagner, Michelle Weniger, W. Gwynn Wettach, Carina Wittrin, Kai Woitczyk

Originalausgabe: Copyright © 2001 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München und Fantasy Productions, Erkrath

Copyright © 2022 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems. DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN, UTHURIA und THE DARK EYE sind eingetragene Marken der Ulisses Spiele GmbH, Waldems. Alle Rechte vorbehalten.

Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

Heike Kamaris & Jörg Raddatz

Blutrosen

Aranische Nächte II

Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©

Überarbeitete Neuauflage

Ein Wort der Warnung

Dieser Roman enthält Szenen, die in ihrer Darstellung von teils sexualisierter Gewalt für einige Leser unangemessen sein könnten.

Was bisher geschah

Nach Jahrhunderten der magischen Verbannung kehrt der gefürchtete Dämonenmeister Borbarad zurück und beginnt erneut mit der Eroberung Aventuriens. Auf der Insel Maraskan und in der Provinz Tobrien erheben sich seine Anhänger und überziehen das Land mit Krieg.

Der geckenhafte Magier und Dämonenkundler Tarlisin von Borbra wird unterdessen zeitweilig von Borbarads Geisteskraft kontrolliert und erfährt auf diese Weise in Visionen vom Sphärenschlüssel, einem uralten Artefakt, das je nach seiner Verwendung Borbarads Macht erheblich vermehren oder entscheidend schwächen würde. Daraufhin wird es Tarlisins vordringlichstes Ziel, den Sphärenschlüssel zu entdecken und mit ihm Borbarad zu bekämpfen, sich zu rächen und Ruhm zu ernten.

Dabei führt ihn sein Weg unter anderem in die lebensfeindliche Ödnis der sturmgepeitschten Gorischen Wüste, wo er mit borongläubigen Rittern vom Golgaritenorden die Ruinen von Borbarads Schwarzer Zitadelle erforscht und gemeinsam mit jenen vom untoten Drachen Rhazzazor, einem Diener Borbarads, angegriffen wird. Die letzte Golgaritin, die junge Khalidai, stirbt in Tarlisins Armen. Als einziger Überlebender verlässt er durch verbotene Pforten die Gorische Wüste, um seine Suche fortzusetzen.

Bevor er jedoch dieses hehre Ziel weiterverfolgen kann, bringen ihn zunächst seine zahlreichen Brüche des Gildenrechts während seiner Queste vor das Gericht der Grauen Magiergilde. Zusätzlich hat ihm die Magierin Alvina, Borbarads heimliche Agentin im Orden der Wächter Rohals, weitere schwere Verbrechen untergeschoben. Tarlisin gelingt es zwar, die Spionin zu überführen und die schwerwiegendsten Anklagepunkte zu widerlegen, doch wird er wegen der übrigen Vergehen verurteilt: Er muss seine Gildenämter ruhen lassen, sich in der Perricumer Akademie der Austreibung einer seelenkundlichen Examination unterziehen und den Sphärenschlüssel finden – oder wird auf immer aus der Gemeinschaft der Magier ausgestoßen werden.

1. Kapitel

Zorgan, im Praiosmond des Jahres 28 Hal

Von den verschiedenen Möglichkeiten, die Hochzeit der besten Freundin zu feiern, entschied sich Mara für die Eroberung und Zerstörung des Schwarzen Turmes des Dämonenmeisters. Auf beide Ereignisse hatten die Zorganer, ja, alle Aranier, seit geraumer Zeit gewartet. Ihren jungen Prinzen Arkos endlich vermählt und die Thronfolge gesichert zu sehen, war den meisten nicht weniger wichtig als ein Sieg (und sei er auch rein symbolischer Natur) über den düsteren Schwarzmagier Borbarad, dessen Horden bereits die Nachbarländer im Norden und Osten verheerten.

Die ganze aranische Hauptstadt war zu diesem Anlass mit Flaggen, Wimpeln und Blumen geschmückt, und in den Gassen und auf den Basaren prahlten die Frauen und Männer damit, zu welchem Teil der Festlichkeiten sie jeweils eine Einladung ergattert hatten – denn wie es sich in einem tulamidischen Fürstentum gehörte, wurde dem Anlass entsprechend drei Tage lang gefeiert, wobei sich die zahlreichen kleinen Veranstaltungen der verschiedenen Stadtteile, der Großsippen und Stämme zu einem gewaltigen Spektakel verbanden.

Den Höhepunkt des ersten Tages bildete eine farbenprächtige Darbietung augenschmeichelnder Zauberkunst, bei der sich Fabelwesen zu fremdartigen Blumen umformten, um danach in einem Funken- oder Sternenmeer zu vergehen, wobei jede neue Erscheinung von den Betrachtern mit lauten Beifallsbekundungen begrüßt wurde. Die Illusionisten der Magierschule des Seienden Scheins taten an diesem Abend ihr Bestes, um den Zuschauern eine Unterhaltung zu bieten, wie sie sonst den Reichen und dem Adel vorbehalten war.

Währenddessen hielten die Gesandten des aranischen Hochadels ihrerseits Hof und pflegten die diplomatischen Beziehungen. Im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stand natürlich die Braut, in ihrer Würde als Gräfin von Gorien, doch auch die Delegationen von Baburin – vertreten durch den stolzen Graf Merkan –, von Palmyramis und dem Lande Yalaiad glänzten in ihren jeweiligen Zelt- und Pavillondörfern. Sogar vom Kalifenhofe waren edle Gäste erschienen, aus der Stadt Rashdul gar die Shanja Eshila selbst.

Nur die Zelte für die Gesandten der Grafschaft Elburum standen leer. Diese hatten Nachricht geschickt, dass sie durch Gerüchte von einem maraskanischen Truppeneinfall an der Elburischen Küste aufgehalten worden seien, die sich erst im letzten Augenblick als unwahr erwiesen hätten, denn dieser Teil Araniens lag der verfluchten Insel am nächsten, die nun von den Schergen des Dämonenmeisters beherrscht wurde.

Der zweite Tag war dem eigentlichen Anlass des Festes vorbehalten. Inmitten von allerlei ausgelassenen Feierlichkeiten war es an Prinz Arkos, dem einzigen Sohn der geliebten Fürstin Sybia, seine Braut Eleonora, die Gräfin von Gorien und Tochter des Grafen von Baburin, zur Ersten Gemahlin Araniens zu erheben, zur ›Shahi Haranija‹. In einem Land, das seit jeher von Frauen regiert wurde und in dem die adligen Männer allenfalls dem Namen nach herrschten, war dies eine Würde, die ihr das Nachfolgerecht sicherte. Einst war die Zeremonie ganz auf die Erhabenheit des Fürsten ausgerichtet gewesen. Auf einem vornehmen Diwan, durch einen Vorhang vor den zudringlichen Blicken des gemeinen Hofstaates geschützt, wartete der Monarch während jener Zeremonie darauf, dass die Auserwählte gesenkten Blickes den Saal betrat und das Wort nicht etwa an ihn direkt, sondern über eine Fürsprecherin an seine Mutter richtete. Diese musterte die Bittstellerin prüfend und legte schließlich das Ersuchen der Braut dem Monarchen zur Entscheidung vor, der großmütig seine Zustimmung erteilte.

Eleonora, die sonst eher schlicht und nüchtern auftrat, war zu ihrer Hochzeit in prunkvolle Gewänder gekleidet: Vom Fez auf den kastanienbraunen Haaren floss ein silberner Schleier herab, der das Seerosensymbol Araniens aufnahm. Über grünen Hosen aus Zhatan trug die fünfundzwanzigjährige Adlige eine Ghala, ein Ehrengewand im tulamidischen Stil, aus grünem Brokat, mit achatbesetzten Knöpfen. Ihre Brüste waren noch vollständig bedeckt, denn erst am nächsten Tag würde die Fürstgemahlin sich erstmals ihren zukünftigen Untertanen mit dem übernommenen Brustschmuck der Shahi Haranija präsentieren.

An ihrer Seite schritt ihre Vertraute Mara, eine junge und ungebärdige Hexe, gebürtig aus dem Norden und nun Herrin über die Grenzbaronie Samra. Sie war gemäß der alten Sitten in derselben Farbe wie die Braut gekleidet, wenn auch in Gewänder von schlichterem Stoff und gewagterem Schnitt: Die Rothaarige trug eine Hose aus ungeschmückter Seide, und ihr golddurchwirktes Brokatwestchen mit dem Wappen Goriens gab bei jedem Schritt den Blick auf die entblößten Brüste frei, deren Spitzen mit juwelenbesetzten Ringen geschmückt waren und von goldenen Seerosenblättern umkränzt wurden.

Keine der beiden jungen Frauen hielt den Blick gesenkt, wie es dem Brauch entsprochen hätte. Im vollen Bewusstsein ihrer zukünftigen Stellung hielt die Braut stolz und fest den Blick auf das gewaltige Himmelbett gerichtet, hinter dessen schweren Brokatvorhängen ihr Prinz und zukünftiger Gemahl verborgen lag.

Vor dem Himmelbett, flankiert von ihren Leibwächterinnen, saß Ihre Durchlaucht Sybia auf dem Fürstinnenthrone, in ein weich fließendes Gewand gehüllt, dessen grauer Stoff im Licht in allen Regenbogenfarben schillerte, und schaute mit wohlwollender Miene ihrer Schwiegertochter entgegen. Auch mit fast sechzig Jahren war die Fürstin Araniens noch eine ansehnliche Frau und nur einige wenige Silberfäden durchzogen das volle rotblonde Haar.

Auf dem kostbaren Tulamidenteppich mit dem Großen Wappen Araniens, der in respektvollem Abstand zu der Fürstin ausgelegt worden war, kniete Gräfin Eleonora nieder. Mara trat hinter sie und wartete, bis Sybia das Wort an sie richtete: »Wie ist Euer Name?«

»Mara ay Samra, Freigräfin zu Anchopal, Euer Durchlaucht.« Obgleich jede Einzelheit der Zeremonie seit langem festgelegt und oft durchgesprochen worden war, hätte sich die Stimme des rothaarigen Wildfangs vor Aufregung fast überschlagen.

»Was führt eine Tochter Goriens vor den Fürstenthron?« Sybia nickte der Fürsprecherin ihrer auserwählten Nachfolgerin beruhigend zu.

»Euer Durchlaucht, meine Gräfin Eleonora von Gorien wünscht die Erste Gemahlin des Fürsten zu werden.«

»So soll sie hervortreten.« Bei diesen Worten erhob sich Gräfin Eleonora und Mara trat einen Schritt zurück. Für heute hatte sie ihre Aufgabe erfüllt.

Sybia hingegen fuhr fort: »Dreht Euch um, auf dass ich Euch betrachten kann.« Voller Anmut drehte Eleonora sich einmal um die eigene Achse, eine Bewegung, die sie wochenlang eingeübt hatte. Die Fürstin wandte sich dem Himmelbett zu: »Mein Sohn, ich kann keinerlei Fehl an ihr feststellen und empfehle Euch daher, die Gräfin Eleonora von Gorien, Alyanur Sherefi ay Gorija, zu Eurer Ersten Gemahlin zu erwählen, zur Shahi Haranija.«

Darauf rauschten die Brokatvorhänge wie von Dschinnenhand gezogen auseinander, und jeder im Saal wurde des jungen Fürsten ansichtig, der, auf seine Seidenkissen gestützt, mit überraschend kraftvoller und weit tragender Stimme erklärte: »So soll es geschehen!« Mit einem zweiten Rauschen schlossen sich die Vorhänge wieder – des Prinzen Aufgabe in dieser Darbietung war erfüllt.

Während die Hörner schmetterten und der Hofstaat in Jubel ausbrach, vermochten die älteren der Höflinge im Gesicht der Fürstin Sybia deutliche Anzeichen von Erleichterung zu erkennen. Immerhin war damals, bei ihrer eigenen Erhebung zur Fürstgemahlin, während der ganzen Zeremonie ein lautes Schnarchen hinter den Vorhängen ertönt, wo sich Fürst Muzaraban mit Pfeife und Weinschlauch verschanzt hatte … »So habe ich nun eine neue Tochter.« Mit diesen Worten zog die Fürstin ihre Schwiegertochter und Erbin Eleonora zu sich heran und küsste sie auf die Wangen, ehe sie ihr die Schmuckstücke der Ersten Gemahlin und den sinnbildlichen Schlüssel des Fürstenpalastes übergab.

In der Nacht trafen schließlich auch die Gesandten aus Elburum ein, zu spät, um an der Huldigung teilzunehmen, wofür sich ihre Anführerin Reshemin, die noch jugendliche Abgesandte und Enkelin der greisen elburischen Gräfin, wortreich entschuldigte. Doch wie um die Verspätung wieder gutzumachen, stürzten sie sich umso eifriger in den Trubel der Feiern, denn für den dritten Tag war eine Reihe von Spektakeln und Darbietungen vorgesehen, einige dem Adel des Hofes und des Landes zum Wohlgefallen, andere dem Volk zum Ergötzen. Am Morgen hatte Fürstin Sybia ihre erwählte Nachfolgerin Shahi Eleonora, die in einer blumengeschmückten Sänfte saß, den Untertanen vorgestellt. Später fanden verschiedene Belustigungen statt, von denen das Reiterspektakel im alten tulamidischen Stile den Höhepunkt bildete, eine Fantasija, die alle bisherigen in den Schatten stellen sollte.

Den Araniern liegen derartige wilde Schauspiele sehr, und in diesem Jahre hatte sich die oberste Zeremonienmeisterin etwas einfallen lassen, was die meisten Teilnehmer begeistern würde, auch wenn es in manchen Goriern eher Widerwillen weckte: Als Thema hatte man die Bezwingung des Schwarzen Turmesgewählt.

Folglich war schon viele Wochen zuvor vor den Toren der Stadt ein gewaltiger Zitadellturm aus ungebrannten Ziegeln errichtet worden, schwarz angestrichen und groß genug, um eine ganze Reiterschwadron aufzunehmen. Dieses Bauwerk sollte nun als Turm des Schwarzen Magus dienen, der von den Rittern Araniens bezwungen werden musste, und dass es nicht längst von einem Sommerregen hinweggeschwemmt worden war, nahmen viele als Zeichen göttlicher Billigung dieses Plans.

Eigentlich hätte das Los darüber entscheiden sollen, welche Grafschaften die Besatzung für den Turm stellen mussten – einzig die Gorier, die direkten Gefolgsleute der neuen Shahi, sollten davon ausgenommen sein, da man ihnen, die gleichsam im Schatten der echten Schwarzen Zitadelle leben mussten, nicht einmal zum Scherze zumuten wollte, den Schwarzen Turm zu bemannen. Doch aus Verlegenheit über ihr Versäumnis boten sich die Elburier freiwillig für die Rolle der Feinde an, ein großmütiges Angebot, das die Zeremonienmeisterin nur allzu gern annahm.

Mara ay Samra war von der Shahi gebeten worden, die Gorier in den Kampf zu führen, eine Ehre, die die hitzige Frau freudig annahm, denn sie hatte sich nur aus Freundschaft gegenüber ihrer Gräfin und um jener nicht das Fest zu verderben vor schärfsten Protesten gegen das Thema des Spektakels zurückhalten können. Eleonora hingegen nahm das Ganze sehr gelassen: Für die neue Erste Gemahlin zählten Wirklichkeiten viel mehr als jeder Schein und vermutlich sah sie den Turm tatsächlich nur als Ziegelbau von befristeter Lebensdauer und nicht als Symbol für Unterdrückung und Dämonenkult.

Insgeheim schwor sich Mara, das ihre zu tun, um diesen schandbaren Schwarzen Turm umzulegen und zu zerstören. Während in einer feierlichen Zeremonie die Anführerinnen und Anführer der Grafschaftstruppen gemeinsam schworen, nicht zu wanken noch zu weichen im Kampf gegen die schwarze Magie, kreisten Maras Überlegungen einzig um eine Frage: wie sie es anstellen sollte, in diesem Schaukampf mit ihren Goriern den Sieg zu erstreiten. Das war mitnichten eine leichte Aufgabe, denn all die Adligen ringsumher beschäftigten sich mit dem gleichen Gedanken.

Da war Reuther Raimon von Revennis, Eleonoras Bruder, der den Mangel an Humor mit rondrianischem Mut wettmachte, als Anführer der Baburiner Recken. Da stand Reutherin Rashpatane von Palmyrabad, die ungestüme Erbin der palmyrenischen Gräfin, und da wartete Gräfin Alwidja saba Mhirija aus dem Yalaiad, jeder Fingerbreit eine furchtlose tulamidische Streiterin in Spiegelpanzer und Spitzhelm. Auch wenn es nur um die Belustigung der Wettkämpfer und ihrer Zuschauer ging, würde keiner dem Nachbarn ohne Gegenwehr den Sieg schenken.

Während sich die ›Belagerer‹ bereitmachten, besetzten die Elburier unter Führung der Reutherin Reshemin den Schwarzen Turm und hissten die eigens für das Spektakel entworfene Fahne mit dem Drachenhaupt.

Dann ertönte der Schrei: »Für die Zwölfe, für Aranien!«, und auf ging es ins Getümmel.

Als Erste stürmten die Gorier heran, zähe Kriegerinnen und Krieger, ein jeder auf einem leichten, von einem oder zwei Straußen gezogenen Streitwagen. Allein standen sie in den Wagen, die Zügel in der einen Hand, in der anderen eine Garbe leichter Wurfspeere, die Hiebwaffe noch umgegürtet.

Ein größerer Unterschied zu den leichten Straußenwagen Goriens war kaum denkbar, als danach die schweren, bronzebeschlagenen Streitwagen der Baburiner Streiter erschienen. Wie Ungetüme aus einer längst vergessenen Zeit polterten sie heran, gezogen von Zwei- oder Viergespannen, edlen Rössern von schwerem Schlag und weißer Farbe, allein die Mähnen wehten fuchsrot. Rot waren auch Zaumzeug und Zügel, die die Knappen der hohen Herrinnen und Herren in den Händen hielten, während sie die seltene Rolle als Wagenlenker gekonnt meisterten. Hinter ihnen standen gelassen ihre Ritterinnen und Ritter, die Sprünge und Stöße des Gefährtes in den Knien abfedernd, die Stoßlanze oder das Schwert sicher im Griff. Reuther Raimon führte sie mit lauten Rufen an.

Zu beiden Seiten der Baburiner ritten die Streiter der beiden übrigen Grafschaften. Zur Rechten sah man die wilden Plänklerinnen aus Palmyramis. Die dürftig gerüsteten Töchter dieser rahjatreuen Grafschaft führten nur leichte Waffen, Wurfspeer, Schleuder oder Fangschlinge, vollführten jedoch während des gesamten Rittes akrobatische Kunststücke auf ihren ungesattelten Pferden, derer sich keine Sharizad hätte schämen müssen.

Ganz anders die Kämpfer aus dem Yalaiad: Sie strahlten vor allem Würde aus, wie sie nach alter tulamidischer Art heranritten, in blitzende Spiegelpanzer gehüllt, die blinkenden Khunchomer Zweihänder über den Spitzhelmen schwenkend.

Die Zuschauer mühten sich, die Kämpfer noch an Lautstärke zu übertreffen, und jeder jauchzte den Streitern seiner Grafschaft zu. Selbst die eifrigsten Speichellecker wurden von dem Spektakel mitgerissen und vergaßen, für die Grafschaft der neuen Fürstgemahlin zu jubeln, wenn sie nicht gerade selbst aus Gorien stammten.

Während sich die Streiter dem Turme näherten, wurden von oben allerlei Dinge auf sie herabgeschleudert – von Wassergüssen über stumpfe Speere bis zu ›Feuerbällen‹, farbigen Sandbeutelchen aus Seidentuch. Doch plötzlich zuckten auch scheinbar echte Blitze vom Turm herab, und den Angreifern stockte der Atem, denn Magie kam bei einem solchen Reiterspektakel sonst nie zum Einsatz.

Zwar entpuppten sich die Blitze bei zweitem Hinsehen als Illusionen, doch der Schaden war schon angerichtet: Die Tiere gerieten in Verwirrung, ja, fast in Panik, und während die Reiter ihre Pferde mit viel Geschick, aber auch Mühen zügig wieder in den Griff bekamen, hatten die Wagenlenker alle Hände voll zu tun, dass die Zugtiere nicht ausbrachen und die Streitwagen auf dem richtigen Weg blieben. Vor allem die Gorischen Strauße waren verschreckt, und teils wütende, teils schmerzerfüllte Schreie verrieten, dass manch einer der leichten Rennwagen umgestürzt und zerbrochen war.

Als die Gorier ihre schnellen, aber dummen Laufvögel endlich beruhigt hatten, waren die übrigen Wagen längst an ihnen vorbeigeprescht, getrieben von der wilden Lust am Getümmel, und auch das Publikum begrüßte die unerwartete Einlage mit Jubel.

Inzwischen hatte sich der erste Tumult gelegt und das Reitergefecht zu Füßen des Turmes begonnen. Lautes ›Ah!‹ und ›Oh!‹ erklang von den Schaulustigen auf der Tribüne, während Reiterinnen und Streitwagenfahrerinnen atemberaubende Kunststücke vollbrachten, einander in einem farbenprächtigen, aber völlig ungeordneten Turnier bekämpften und allgemein ein Abbild der heldenhaften Schlachten ihrer stolzen tulamidischen Vorfahren zum Leben erweckten. Dass inzwischen gar illusionäre Dämonen mit gehörnten Drachenköpfen erschienen waren, heizte die Kampfeslust nur noch mehr an, zumal die Illusionen, so unerwartet sie auch waren, zumindest dem Geiste des Kampfes gehorchten und nach zwei, drei Treffern mit der stumpfen Turnierwaffe verschwanden. Manch eine der Kämpferinnen trug im Eifer des Gefechtes Verletzungen davon, viele andere schieden gemäß der vorab vereinbarten Bestimmungen als ›getroffen‹ aus, und nach zwei Stunden des prächtigsten Getümmels hatte sich das Publikum heiser gebrüllt und sich das Feld so weit gelichtet, dass der Eingang des Turmes nur noch von wenigen elburischen Elitekämpferinnen bewacht wurde, nach deren Bezwingung die Erstürmung des Bauwerkes beginnen konnte.

Nun war es niemand anderes als der Grafensohn Raimon von Revennis, der nach heftigem Klingenspiel als Erster in das Innere des Turmes vordringen konnte, um die Fahne einzuholen und als Ehrenpreis seiner Schwester, der neuen Shahi, zu überbringen. Damit sollte, so war es vereinbart, die Schlacht entschieden sein, die Macht des Schwarzen Turmes gebrochen.

Kämpferinnen wie Zuschauerinnen jubelten aus vollem Halse, als die Fahne verschwand; doch das Jubeln blieb ihnen im Halse stecken, als jene unmittelbar danach wieder aufgerichtet wurde.

Unter den Zeugen dieser Szene war wohl niemand so verärgert wie Mara: Eigentlich liebte sie raue und wilde Spielereien und die Aufregung der Jagd, aber ihr Widerwille gegen das Thema des Spektakels hatte jede Begeisterung erstickt. Der jungen Frau war heiß, der Schweiß körperlicher Anstrengung, der sonst ihren schlanken Körper noch geschmeidiger zu machen schien, klebte ihr mit Staub und Sand vermischt am ganzen Körper, die Raufereien hatten sie eher ermüdet als aufgestachelt. Sie wollte nur noch, dass das gedankenlose Spiel ein Ende nahm, verließ kurz entschlossen und mehr als unvorsichtig ihren Straußenwagen und eilte ihrerseits in den finsteren Turm.

Das Innere des Gebäudes war leer, nur ein großer Stapel Heuballen lag bereit für den letzten Akt, der geplant war: die Vernichtung der Schwarzen Bastion durch reinigende Flammen. Zwei Reihen hölzerner Treppenstufen führten empor zu den Galerien, die sich unter den Fensterreihen erstreckten.

Die meisten der Verteidiger waren erschöpft zusammengesunken und kümmerten sich nicht um Mara, die die steilen Treppen emporfegte. Doch als sie die von Zinnen umgebene Plattform betrat, die das Dach des Turmes darstellte, sah sie sich Reshemin, der Enkelin der Gräfin von Elburum, gegenüber. Der Baburiner Grafensohn aber lag reglos zu deren Füßen.

Während sich die beiden jungen Frauen für einige Augenblicke anstarrten, hätte ein Beobachter zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen ihnen festgestellt: Beide waren von zierlicher Gestalt, mit langem Lockenhaar, heller Haut und großen Augen, die kindliche Unschuld zum Ausdruck bringen konnten, im Moment jedoch voller Wut und Erregung funkelten. Auch Reshemin, so wurde gemunkelt, sollte mit magischen Kräften geboren worden sein, und beide Frauen waren zu unbeherrscht und leidenschaftlich, um ihre Zauberkünste wirklich zu schulen.

Natürlich gab es auch Unterschiede. So war Mara rothaarig, wohingegen Reshemin schwarze Haare besaß. Der entscheidende Unterschied aber lag in der Natur ihrer Zornesmiene: Während die Gorierin ganz offensichtlich mit der Geduld am Ende war, leuchtete in den himmelblauen Augen der Elburierin die Wut einer Besessenen, die keine Niederlage akzeptieren will, sei diese auch noch so lange vorhergeplant.

Fauchend wich sie zurück, stellte sich zwischen den Fahnenmast und die Angreiferin und hob drohend die stumpfe Waffe.

Mit äußerster Selbstbeherrschung zwang sich Mara, Ruhe zu bewahren: »Was soll das, Reshemin? Eure Aufgabe ist erfüllt, Ihr habt uns beinahe stärker zugesetzt als einem Spiel angemessen ist.«

Die Verteidigerin des Dämonenbanners antwortete mit einem überspannten Lachen. Beim Klang dieses fast unmenschlichen Gelächters riss der mühsam zusammengehaltene Geduldsfaden der Rothaarigen endgültig entzwei und mit einem katzenhaften Sprung warf sie die Gegnerin zu Boden.

Kaum war Reshemin gestürzt, riss Mara das Banner herunter. Schon wollte sie es über die Zinnen schleudern, da fiel ihr Blick auf Raimon von Revennis, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht aufrichtete – offenkundig hatte Reshemin ihn mit einem Tiefschlag gefällt, wie er vielleicht dem Kriegsgetümmel, nicht aber einem Schaukampfe angemessen war.

Nach kurzer Beratung nahm der noch immer leicht benommene Grafensohn die Siegesbeute an und erklomm mit ihr schwach schwankend die Zinnen, während Mara die gestürzte Reshemin beobachtete. Der übertriebene Siegeswille schien der Elburierin durch den Sturz ausgetrieben, und als der Beifall für den siegreichen Raimon schließlich abgeebbt war, rang sie sich auch einige Worte der Beglückwünschung ab, doch keinerlei Entschuldigung für ihren regelwidrigen Angriff.

Mara knirschte mit den Zähnen, da sie ihre bösen Vorahnungen derart bestätigt fand. Die unselige Grundidee des Spektakels hätte selbst aufrechte Streiterinnen mit einer ganz und gar unheiligen Besessenheit zu erfüllen vermocht, und als der Sieger und alle ›Besiegten‹ den Turm verlassen hatten, ließ die Gorierin es sich nicht nehmen, als Letzte die Fackel an Fahnenmast, Treppenstufen und auch an den Heuhaufen zu legen.

Währenddessen trug der stolze Raimon das erbeutete Banner zur Ehrentribüne, wo er als siegreicher Heerführer aus der Hand seiner Schwester und zukünftigen Fürstin einen wunderschön verzierten Reitersäbel und eine prächtige Ghala erhielt. Aus den Reihen der Baburiner erklang erneut lauter Jubel, in den schnell auch die übrigen Zuschauer einfielen.

Auf dem Kampfplatz aber loderte der Schwarze Turm inzwischen lichterloh und die wenigen, die ihm mehr Aufmerksamkeit schenkten als dem Strom von Raschtulswaller Rotwein, der nun dargereicht wurde, übersahen zumeist die erschöpfte kleine Frau, die sich, ohne noch einmal zurückzublicken, auf den Weg zum nächsten Badehaus machte.

So feierte das Land Aranien voller Prunk seine Edlen und Recken, während sich jenseits der Grenzen Übles zusammenbraute.

2. Kapitel

Rashdul, zur Mittagsstunde am 16. Rondra des Jahres 28 Hal

Mit einem lauten Knall zerbarst die Karaffe, als der weite Ärmel der Magierin sie zu Boden riss. Generationen von Dienstboten hatten diese Kostbarkeit aus der Zeit der Magiermogule vorsichtig gereinigt, doch Belizeth bemerkte überhaupt nicht, dass sie das Gefäß zerstört hatte. Später würde sie den Verlust begreifen und sie würde noch sehr viel wütender werden.

Die Mittdreißigerin war eine gepflegte Tulamidin und trotz ihrer standesgemäßen Robe und des Magierstabes wirkte sie mit den langen schwarzen Haaren, dem sanften Gesicht und den fließenden Bewegungen ihres schlanken Körpers eher wie eine Tänzerin als wie eine Magierin. Aber Belizeth Dschelefsunni war die rechtmäßige Spektabilität der Rashduler Akademie, denn sie hatte ihrem Vater diesen Rang gemäß den alten Gesetzen im magischen Zweikampf abgerungen. Dennoch war sie nicht die unumstrittene Herrscherin. An der Akademie gab es zwei Fachrichtungen: Eine Gruppe der Magier hatte sich auf die Beschwörung von Dämonen festgelegt, während die Übrigen sich mit der Dschinnenkunde beschäftigten. Sie selbst war zwar in der Herbeirufung der elementaren Kräfte versiert, ihr Interesse hatte jedoch von jeher der Dämonologie gegolten.

Während sie auf dem Konvent in Punin gewesen war, hatte ihr Stellvertreter Dschaladir, einer der Dschinnologen, keine Zeit verloren, um sich bei seinen Kollegen ins rechte Licht zu setzten. Nach ihrer Rückkehr hatte es keinen offenen Aufruhr gegeben, aber es gab kleine, untrügliche Zeichen, dass Magister Dschaladir beabsichtigte, Belizeth in absehbarer Zeit zum Kampf um die Herrschaft herauszufordern.

Der heutige Tag hatte bereits äußerst übel angefangen. Ihre Leibsklavin Tariba hatte bei der täglichen Handpflege einen von Belizeths Nägeln derart zugerichtet, dass die eitle Maga alle Nägel kürzen musste. Bei der anschließenden Züchtigung hatte Tariba so schrill gebrüllt, dass die Magierin starke Kopfschmerzen bekam. Um sich abzulenken, war Belizeth in die Bibliothek gegangen, nur um dort festzustellen, dass zahlreiche wichtige Bücher verschwunden waren. Dscherine, die Bibliothekssklavin, hatte zuerst nicht mit der Sprache herausrücken wollen, ihr aber letztendlich doch verraten, wer die Folianten entfernt hatte: niemand anderes als Magister Dschaladir.

Nun, glücklicherweise war für den heutigen Tag ohnehin eine Besprechung mit dem Dschinnenkundler anberaumt, sodass Belizeth ihn schon bald um die Herausgabe der Werke ersuchen konnte.

Das Gespräch mit Magister Dschaladir war ein Musterbeispiel geheuchelter Freundlichkeit. Magistra Belizeth konnte den umtriebigen Dschinnenmeister nicht leiden und er hetzte nachweislich gegen sie. Dennoch hatten sie ein loses Bündnis geschlossen, denn den meisten anderen Lehrmeistern an der Akademie traute die Dämonologin noch weniger – und Dschaladir besaß, so hervorragend er auch sein mochte, eine deutliche Schwäche: Er war derart eingenommen von seiner Leistung, dass er manchen Winkelzug seines Gegenübers übersah. Ihm gegenüber spielte sie meist die Rolle der unerfahrenen Scholarin, die dringend den Rat eines älteren, väterlichen Freundes benötigt.

Sie hatte schon vor vielen Monden begonnen, ihm Hinweise darauf zu geben, dass womöglich ein Aufstand der Dämonologen geplant war, und dadurch so manches wertvolle Wissen über die Verteidigungs- und Angriffspläne der Dschinnenbeschwörer gewonnen.

Nachdem sie einen – zweifellos sehr geschönten – Bericht über die Geschehnisse der letzten Wochen erhalten und an den richtigen Stellen ein ›Oh weh!‹, ›Kaum zu glauben!‹ und ›Wenn ich Euch nicht hätte!‹ eingeworfen hatte, lächelte Belizeth Magister Dschaladir an. »Was mir gerade noch einfällt, Magister«, sagte sie mit weicher Stimme, »ich bin Euch wirklich dankbar, dass Ihr die Sphärologica Exempta, die Mhanadischen Fragmente und die Annales Academiae in Eure Obhut genommen habt. Ich verstehe auch, dass diese Werke in der Bibliothek kaum noch sicher sind – aber nun brauche ich sie, um gewisse reichlich absonderliche Theorien einiger Konventsbesucher zu überprüfen. Seid doch so gut und stellt die Folianten bereit, dass ich sie im Laufe des Nachmittags abholen lassen kann.«

Magister Dschaladir hielt dem Blick der Magierin stand. »Ich verstehe leider nicht ganz, worauf Ihr hinauswollt, Collega. Die von Euch genannten Bücher befinden sich mitnichten in meinem Besitz.«

Belizeth schenkte dem Magier ein süßes Lächeln. Magister Dschaladir hielt sich nicht schlecht. Wer ihn nicht gar so gut kannte wie sie, hätte seiner Lüge gewiss Glauben geschenkt. Aber sie hatte schon oft genug beobachtet, wie sich in angespannten Situationen auf der Stirn des Magus eine steile Falte bildete. »Nun, Collega, selbst wenn Ihr sie nicht in Eurem persönlichen Besitz habt, werdet Ihr ja wohl wissen, wem Ihr die Bücher anvertraut habt.«

Der Dschinnenbeschwörer schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber Ihr missversteht mich. Mir war bis eben nichts davon bekannt, dass die Bücher nicht in der Bibliothek sind. Vielleicht sollte ich mich einmal bei den Kollegen oder Schülern umhören, wer die Werke entliehen hat. Wenn es jedoch einer von Magister Durenalds Leuten war, habe ich wenig Hoffnung, etwas zu erfahren.«

Die Akademieleiterin schaute ihr Gegenüber nun aus weit aufgerissenen Augen an. »Eigenartig. Meister Murabisar hat eindeutig ausgesagt, dass Ihr diese Bücher mitgenommen habt.«

Am Haaransatz des Magus bildete sich ein einzelner Schweißtropfen, der langsam die Stirn herunterlief. Meister Murabisar, der Bibliothekar, gehörte eigentlich zu seinen Verbündeten im alltäglichen Gerangel um Macht und Einfluss.

»Ich fürchte, dass mich da jemand verleumden will, Eure Spektabilität«, antwortete Dschaladir so unbekümmert wie möglich. »Vermutlich handelt es sich wirklich um eine Verschwörung einiger Dämonologen.«

Belizeth schenkte ihrem Kollegen einen anbetenden Augenaufschlag, als sie sich von seinen Worten ›überzeugen‹ ließ: »Da werdet Ihr Recht haben. Ich gestehe, es fiel mir auch schwer zu glauben, dass ausgerechnet Ihr mich derartig hintergehen würdet. Ich werde mir heute Abend Murabisar einmal näher vorknöpfen.«

Der Schweißtropfen hatte die Nasenspitze des Magiers erreicht. Ärgerlich wischte er ihn beiseite, während sein Lächeln keine Spur schwächer wurde: »Ich glaube, das wäre eine gute Idee. Ich werde meinerseits versuchen, die Bücher zu finden. Können wir uns morgen zur gleichen Zeit noch einmal unterhalten?«

Belizeth nickte Magister Dschaladir dankbar zu: »Es wäre mir ein Vergnügen. Doch nun muss ich mich um meine Rosen kümmern!« Wie ein verzogenes Kind wechselte sie den Gesprächsgegenstand und schwärmte ihm von den geliebten Blumen vor – ein Feld, das ihr sehr lag – und brachte ihn so dazu, sich eine Entschuldigung auszudenken, um den Raum verlassen zu können.

Danach stand auch Belizeth auf und ging in den Rosengarten. Dort, inmitten ihrer geliebten Pflanzen, konnte sie ein wenig zur Ruhe kommen. Nun würde sich zeigen, ob Magister Dschaladir etwas im Schilde führte. Nach dem Bericht dieses Tarlisin von Borbra war ihr wieder eingefallen, dass sie vor Jahren etwas über ein Artefakt gelesen hatte, das nach den Magierkriegen von Magister Moffasan, der den heutigen Boronheiligen Khalid al Ghunar auf einer Forschungsreise in die Gor begleitet hatte, zur näheren Untersuchung in die Akademie mitgenommen worden war. Als sie zum ersten Mal davon gelesen hatte, war ihr das Ganze völlig belanglos erschienen; nun aber, da sie berechtigte Vermutungen hegte, dass es sich bei dem Artefakt um das Desiderat handeln könnte, waren die Aufzeichnungen verschwunden.

Die Gewölbe der Akademie waren unüberschaubar weitläufig, und es würde Monde, wenn nicht gar Jahre dauern, bis sie das Desiderat dort finden würde. In der Zwischenzeit hatte Magister Dschaladir alle Zeit der Welt, um es mittels der von ihm entwendeten Schriften zu orten und möglicherweise mit seiner Hilfe, wenn es denn derartig mächtig war, Belizeth die Herrschaft über die Akademie zu entreißen. Sie würde rasch handeln müssen.

Die Magierin streichelte sanft über die samtige Blüte einer tiefroten Rose. Der aufsteigende Duft wirkte berauschend und entspannend zugleich. Die Minuten, während sie versonnen die Rosen liebkoste, sammelten sich zu Stunden.

Belizeth öffnete erst wieder die Augen, als eine Stimme aus der Ferne aufgeregt ihren Namen rief. Die Magierin schaute in die Richtung, in der eine bleiche Scholarin stand. »Eure Spektabilität, bitte, Ihr müsst in die Bibliothek kommen. Meister Murabisar ist ums Leben gekommen.«

Belizeth hauchte einen Kuss auf die Rose. »Überall Verschwörungen und Betrug. Nur ihr werdet mich niemals verraten!« Dann hatte sie sich auch schon erhoben und folgte der zitternden Scholarin. Die Falle war früher zugeschnappt, als sie gedacht hatte. Magister Dschaladir verlor anscheinend die Nerven.

3. Kapitel

Rashdul, zur Mittagsstunde am 18. Rondra des Jahres 28 Hal

Der Konventssaal der Pentagramm-Akademie war bis auf den letzten Platz besetzt. Ihre Spektabilität Belizeth Dschelefsunni hatte vollständiges Erscheinen befohlen, da sie eine wichtige Verlautbarung bekannt geben wollte. Die meisten der Anwesenden rechneten damit, dass die Leiterin einen ausführlichen Bericht über den Konvent in Punin abliefern wollte, denn es gab zahlreiche Fragen, die noch ungeklärt waren. Vielleicht würde sie heute die lange erwartete Grußbotschaft des Weisen Rohal verlesen.

Die Anordnung der Plätze war allerdings etwas ungewöhnlich. Üblicherweise standen die Stühle in einem großen Fünfeck, doch am heutigen Tag hatte man fünf Stühle auf einem kleinen Podium aufgestellt, sodass die dort Sitzenden über den übrigen Zuhörern thronten.

Nach einer Weile öffnete sich die Tür und Ihre Spektabilität Belizeth Dschelefsunni betrat in Begleitung vierer Magister den Raum, um mit ihnen zusammen auf dem Podium Platz zu nehmen. Bei ihren Begleitern handelte es sich ausnahmslos um Lehrmeister der Dämonologie, was zu erstauntem Gemurmel führte – zumal Magistra Sarafina saba Terlina, Magister Oswald Durenald, Magister Rashid ben Sourad und Magistra Cassandra ya Devalli von den elf Dämonologen der Akademie zum harten Kern derer gehörten, die für ihre Beschwörungsform die Vorherrschaft erstreiten wollten.

Schließlich brachte Belizeth die Anwesenden mit einer energischen Geste zum Schweigen: »Collegae, ich habe diese Versammlung einberufen, weil diese ehrwürdigen Hallen an einem Wendepunkt stehen. Gerade hier, im Umland der Gorischen Wüste, ist die diesseitige Präsenz dämonischer Wesenheiten erheblich angestiegen, und wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass sich die Dschinne aus diesem Gebiet zurückziehen und wir uns am Anfang eines neuen Zeitalters befinden. In Anbetracht der derzeitigen sphärologischen Veränderungen wird sich die Akademie bis auf weiteres ganz der Erforschung, Beschwörung und Beherrschung von Dämonen widmen.«

Eine junge Scholarin, Belizeth erkannte sie als diejenige, die den toten Murabisar entdeckt hatte, fand als Erste die Sprache wieder, während die Übrigen den Sinn dieser Ankündigung anscheinend nicht begriffen hatten: »Aber Eure Spektabilität, was soll denn dann aus uns werden?«

Belizeth lächelte der jungen Frau ermutigend zu. »Seid unbesorgt, ich habe mir ausgiebig Gedanken darüber gemacht, wie man das Potenzial der Dschinnenbeschwörer nutzen kann. Für jeden von Euch habe ich Aufgaben, die Euch gewiss unsterblichen Ruhm einbringen werden.« Magistra Belizeth machte eine Pause, um das Gesagte auf die anwesenden Dschinnenkundler wirken zu lassen.

Die anfangs erschrockenen Gesichter blickten nun aufmerksam, ja geradezu erwartungsvoll auf die schöne Tulamidin. Belizeth strich sich bedächtig die schimmernden Haare zurück, bevor sie sich einem Stapel Pergamente zuwandte, die vor ihr auf einem Tischchen lagen. Müßig nahm sie das erste auf und für einen Augenblick studierte sie es sorgfältig, dann sah sie eine beleibte fünfzigjährige Frau unverwandt an: »Magistra Renaya, Ihr habt Euch bereits seit einiger Zeit mit der besonderen Magie der zwergischen Druiden befasst?«

Die Angesprochene errötete leicht, als sie sich nickend erhob: »Das ist richtig, Eure Spektabilität. Es ist überaus bemerkenswert, wie diese magiekundigen Zwerge, die sich selbst Geoden nennen, die elementaren Kräfte manipulieren und dabei …«

»Danke, das genügt!«, unterbrach Belizeth mit einem Wink den Redefluss. »Magistra Renaya, Ihr werdet spätestens morgen Mittag mitsamt Euren persönlichen Scholaren aufbrechen und sämtliches Wissen der verschiedenen Traditionen zwergischer, hm, Geoden archivieren.«

Die beleibte Magierin blickte Belizeth fassungslos an: »Aber, Eure Spektabilität, das würde mehrere Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte in Anspruch nehmen …«

Belizeth bedachte die Frau mit ihrem süßesten Lächeln und gab sanft zur Antwort: »Dann fangt Ihr am besten sofort mit dem Packen an, denn umso eher könnt Ihr mit Eurer Arbeit beginnen.« Sie griff nach dem nächsten Pergament. »Was haben wir denn hier? Ach ja: Magister Naramir, Ihr werdet mit Euren Schülern das Geheimnis der Zitadelle des Elementarherren der fruchtbaren Erde ergründen, die sich in der Krone der himmelhohen Bäume im südlichen Güldenland befinden soll. Ihr werdet Grundrisspläne erstellen und die Bände der dortigen magischen Bibliothek auflisten …« Dem Magister blieb nichts anderes übrig, als verwirrt nach Luft zu schnappen, war er doch ein behäbiger Freund des guten Lebens.

So ging es Schlag auf Schlag. Nacheinander erhielten die neun Lehrmeister der Dschinnologie verbindliche Forschungsaufträge, die sie in alle Winde zerstreuen würden.

»Magistra Teraminas, Euch ist die Zitadelle des Feuers zugewiesen, die im Herzen eines Vulkanes im südöstlichen Riesland liegen soll, jenseits des großen Ozeans …«

Die rothaarige Elementaristin war selbst dem elementaren Feuer zugewandt, und man konnte sehen, wie der Zorn in der heißblütigen Feuermagierin aufloderte, während Ihre Spektabilität fortfuhr.

»Magister ya Lezzeroni, die Zitadelle des Elementarherren der Lüfte wartet auf Euch – da sie ja angeblich auf einer Wolke über dem höchsten Gipfel des Ehernen Schwertes liegt, solltet Ihr Euch am besten von Dschinnen tragen lassen.«

Der flatterhafte Horasier sprang sogleich auf, verführt von der schieren Kühnheit der Mission, während sich an seiner Seite langsam auch Magistra Teraminas von den Flammen erhob. Belizeth beachtete sie gar nicht, sondern sprach weiter:

»Magister Irnulf, Ihr reist gen Havena und schifft Euch dort ein, denn die Zitadelle des elementaren Wassers soll am Grunde des Meeres der Sieben Winde liegen …« Der schlaksige Mittelreicher ließ sich kraftlos in den Sessel sacken, als wolle er zerfließen. Die Feuermagierin hingegen begann laut Einspruch zu erheben, ohne dass Belizeth innehielt.

»Die Zitadelle des Herrn des Eises soll direkt unter dem Nordstern liegen, vom Ewigen Eis umringt. Magistra Neryaki, dorthin werdet Ihr Euch mit Euren Schülern wenden …« Bevor die Angesprochene reagieren konnte, schlug schwarzblaues Dämonenfeuer aus dem Boden und hüllte die schreiende Magistra Teraminas ein. Als ihre Kollegen und Scholaren ihr zur Hilfe eilen wollten, wurden sie von den Dämonologen mit unmissverständlichen Drohgesten zurückgehalten. Es war unzweifelhaft, dass den überrumpelten Elementaristen keine Wahl blieb. Sie würden sich der Macht der Dämonologen fügen müssen.

»Magister Alarich, die Zitadelle des Erzes harrt darauf, von Euch und den Euren untersucht zu werden. In den tiefsten Kavernen unter dem Raschtulswall solltet Ihr sie finden können.« Wie es seinem Element entsprach, nickte der stämmige Magier unerschütterlich, während gerade seine Kollegin Teraminas im Dämonenfeuer ums Leben kam und sich die Elementaristen in heillosem Aufruhr befanden.

»Adeptus Magnus Cassidorus, Ihr übernehmt vertretungsweise Amt und Mission der verblichenen Frau Teraminas. Magistra Ioranina, Ihr werdet mit Euren Schülern die Festung Drakonia der Elementarmagier vom Raschtulswall aufspüren und kartographieren.«

Längst war das offene Aufbegehren einer stillen Schicksalsergebenheit gewichen, als Belizeth für Magister Dschaladir eine Überraschung bereithielt: »Magister Dschaladir, für Euch habe ich etwas ganz Besonderes. Ihr wisst ja, dass vor Madas Frevel einst eine siebte Zitadelle in dieser Sphäre existierte, die des verschwundenen Elementarherren der Magie, von dem manche munkeln, er sei damals in die verfeindeten Zwillinge Rohal und Borbarad geteilt worden. Findet heraus, wo diese Zitadelle lag, und rekonstruiert ihre Form.«

Durch die steile Falte auf Dschaladirs Stirn, tief wie mit dem Messer geschnitten, rann gut sichtbar der Angstschweiß herab.

Belizeth lächelte in die Runde. »Meine Damen und Herren, ich danke für die Aufmerksamkeit und möchte noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir in Anbetracht der verstärkten dämonischen Präsenz nur bis zum morgigen Nachmittag für Eure Sicherheit garantieren können. Wer sich bei Anbruch der Dämmerung noch in der Akademie befindet, tut dies auf eigene Gefahr. Werte Collegae, ich möchte mich für die jahrelange gute Zusammenarbeit bedanken und wünsche Euch allen eine angenehme Reise.«

4. Kapitel

Rashdul, zur zehnten Morgenstunde am 24. Rondra des Jahres 28 Hal

»Die Rosen brauchen unbedingt wieder Kamelmist, Ayshulibeth. Sag Assaf Bescheid, dass er welchen vom Basar besorgt.« Belizeth betrachtete den Rosenbusch kritisch. »Und die hier müssten wieder beschnitten werden, hörst du?«

Die Sklavin nickte der Magierin zu: »Kamelmist und beschneiden, ich höre und gehorche. Haben Eure Spektabilität schon gesehen, dass die Azila Ghala neue Knospen treibt?«

Belizeth erhob sich von der Mauer: »Lass sehen … wie schön, meine Kleine …« Die schlanken Finger der Magierin glitten liebkosend über die dornigen Stiele, dann ergriff sie ihren Skizzenblock und begann eifrig, den Strauch abzuzeichnen. Auf dem Kiesweg näherten sich eilige Schritte, doch Belizeth blickte nicht auf. Wenn sie bei den geliebten Rosen war, vergaß sie Raum und Zeit.

Die Schritte verstummten an ihrer Seite. »Verzeiht, Eure Spektabilität, aber diesmal müsst Ihr wirklich kommen.« Mit funkelnden Augen wandte sich Belizeth dem jungen Scholaren zu, der zusehends errötete. »Ich muss gar nichts, Alishar«, antwortete sie ungehalten. »Hast du verstanden?«

Der junge Mann hielt dem strafenden Blick stand. »Ich bedaure, aber Magister Durenald sagte, dass sich draußen vor der Akademie über dreihundert Berittene zusammengerottet haben.«

Über die ebenmäßigen Gesichtszüge der Tulamidin glitt ein breites Lächeln. »Warum hast du das denn nicht gleich gesagt? Ist Scheich Almut auch persönlich anwesend?«

Der junge Scholar zuckte die Schultern. »Das weiß ich leider nicht, ich sollte Euch nur diese Nachricht überbringen.«

Belizeth nickte der Sklavin Ayshulibeth noch einmal zu und drohte ihr halb scherzhaft mit dem Finger: »Vergiss nur nicht, was ich dir aufgetragen habe. Falls es später wird, bis Assaf zurückkommt, musst du heute die Rosen wässern.« Dann folgte sie dem Scholaren ins Innere der Pentagramm-Akademie. Ein Blick durchs Fenster bestätigte die Meldung. Belizeth war äußerst zufrieden.

Seit dem einundzwanzigsten Rondra suchte der Wesir von Rashdul den Kontakt mit den Magiern. An jenem Tag war ein einzelner Bote vor den verschlossenen Toren erschienen und hatte Belizeth eine ›Einladung‹ zum Gespräch überbracht. Diese Aufforderung, deren Wortlaut zufolge die Magierin allein in den Palast kommen sollte, roch förmlich nach einer Falle. Im besten Falle hätte der Wesir vermutlich versucht, aus ihr eine ebensolche Marionette zu machen wie aus der eigentlichen Fürstin oder Shanja von Rashdul, seiner Nichte Eshila. Belizeth wusste, dass Scheich Almut ben Saajd die Meinung zahlreicher Novadis teilte, dass der Platz einer Frau im Harem sei, aber gegen derartige Ansinnen hatte sie sich stets erfolgreich zur Wehr gesetzt. Selbst ihr eigener Vater Dschelef hatte stets versucht, seine Tochter von den wirklich mächtigen Ämtern fernzuhalten, bis er von ihr zum magischen Zweikampf herausgefordert worden war.

Am zweiundzwanzigsten Rondra hatte der Wesir einen Hauptmann der Garde mit fünfzig Kriegern der Rashduler Reiterei zur Pentagramm-Akademie geschickt, doch auch diesen war weder Zugang noch eine Antwort gewährt worden. Und gestern war der Wesir persönlich mit einhundert Reitern erschienen, aber selbst er erhielt keine Reaktion aus der Akademie. An diesem schönen Sommertag war er jedoch mit seiner gesamten Armee aufmarschiert und nun sollte er auch die ihm gebührende Antwort erhalten.

Belizeth rief eilig die übrigen Magister in den Konventssaal, um mit der Invocation zu beginnen. Die Magierin hatte bereits damit gerechnet, dass es zu einem großen Angriff kommen würde, und daher schon vor Tagen den Saal in einen Beschwörungsraum umgewandelt. Die heptagrammförmige Einlegearbeit am Boden war täglich mit neuer Kreide nachgezeichnet worden, Kerzen und andere Hilfsmittel standen in ausreichender Menge bereit. Außerdem trug Belizeth wie die übrigen Magier bereits seit Tagen das Beschwörungsgewand, sodass man sofort mit dem eigentlichen Ritual beginnen konnte. Die Akademieleiterin empfand es als passend, die erste dämonische Machtdemonstration mit Kreaturen aus der Domäne Agrimoths, des Erzherrn des dämonischen Humus, Erzes, Feuers und Windes, zu bestreiten – denn das war eine angemessene Abkehr vom Elementarismus der nunmehr vertriebenen Dschinnenbeschwörer.

Auf die Anrufung hin erschien ein Dharai, ein gewaltiger schwarzgrauer Gallertklumpen, so groß wie eine Lehmhütte, aus dessen blasenübersätem Rücken sich zwei nach vorne gebogene Hörner erhoben. Auf Belizeths Befehl bewegte sich die Monstrosität eilig zu einem der fünf Portale, die seit der Priesterkaiserzeit versiegelt waren. Seit mehr als einem halben Jahrtausend hatte niemand diese Tore durchschritten – eine lästige Sperrung, die Belizeth schon immer ein Dorn im Auge gewesen war. Auch die übrigen Magier waren nicht untätig geblieben, und so waren binnen kürzester Zeit alle fünf Portale mit Dharayim besetzt, die auf ein weiteres Kommando hin die Tore nahezu gleichzeitig aufsprengten und die schweren Steinquader auf die Reiter schleuderten, die am Fuße der Mauer lagerten.

Die zerschmetterten Krieger schrien in Todesqualen, doch bevor sich die hinteren Reihen auch nur in Sicherheit bringen konnten, erschien in jedem der Tore ein übermannsgroßer, flammenumloderter Feuersalamander, dessen Haupt von einer Krone aus drei gewundenen, weißglühenden Hörnern umkränzt wurde – Azzitayim, mächtige Diener des Agrimoth. Lichterloh brennend marschierten diese Dämonen in die Reihen der vor Schreck starren Reiter und setzten sie bei lebendigem Leibe in Brand. Allenfalls eine Viertelstunde später war die gesamte Armee zerschlagen und die wenigen Überlebenden Hals über Kopf geflohen.

Scheich Almut ben Saajd saß regungslos im Sattel und musste das Ende seiner stolzen Reiterei aus nächster Nähe miterleben. Die vielen Jahre als Regent der reichen Stadt hatten den Novadi träge und unbeweglich gemacht, und nun musste er erkennen, wie wenig von der ungestümen Kraft seiner Jugend ihm geblieben war, als neben ihm, von einem heftigen Windstoß begleitet, eine grau geschuppte Schlangenkreatur mit Widderkopf aus dem Himmel stürzte. Der Dämon packte den Wesir, der erst jetzt die Kraft zu einem schrillen Entsetzensschrei fand, und trug ihn geradewegs in die Akademie.

Erschöpft, aber glücklich blickte Belizeth aus dem Fenster. Auf den mit Blut und Leichen bedeckten Straßen und Plätzen ringsumher hatten weder Mensch noch Tier überlebt. Die wenigen Bürger, die den Anfang des Spektakels beobachtet hatten, hockten längst in fest verrammelten Häusern. Es würde lange dauern, bis sie sich wieder hervortrauten – und dann würden sie aller Welt berichten, wie mächtig die Magier waren. Anschließend würde es niemand mehr wagen, sich ihr entgegenzustellen, ihr, der neuen Herrin von Rashdul, Shanja Belizeth Dschelefsunni, unangefochtene Herrscherin über Stadt, Land und Akademie.

5. Kapitel

Rashdul, zur neunten Morgenstunde am 24. Efferd des Jahres 28 Hal

Shanja Belizeth I. von Rashdul kochte vor Wut.

Sie hatte sich jetzt drei Wochen lang mit den Annalen der Akademie und anderen Texten befasst, die außer im vertrauten Tulamidya und Garethi nicht nur im gelehrten Bosparano oder in Alt-Tulamidisch abgefasst waren, sondern auch in derart fremdartigen Sprachen wie der ›Dämonenzunge‹ Zhayad oder dem verrufenen Zelemja. Schließlich hatte sie herausgefunden, dass sich der Großmeister der Grauen Stäbe fürwahr auf der falschen Fährte befand, da das Desiderat niemals in den von Khalid al Ghunar geschaffenen Gräbern in der Gor gelegen hatte und daher auch nicht durch Liscom von Fasar hatte geraubt und verkauft werden können.

Stattdessen hatte Magister Moffasan aus Rashdul das Objekt gefunden und nicht beim boronischen Leiter der Forschungsreise abgeliefert, sondern heimlich in seine Akademie gebracht. Doch dann wurde es rätselhaft: Ihre ferne Vorgängerin, die damalige Spektabilität, hatte festzustellen geglaubt, dass das Objekt allmählich zu regelrechten Wahnvorstellungen führte. Prompt hatte sie Magister Moffasan gemaßregelt und das Fundstück in die Obhut des Rashduler Borontempels gegeben.

Alles sprach dafür, dass diese Magier nicht besonders stark im Geiste gewesen waren, denn vermutlich schützte das Artefakt sich lediglich selbst gegen Unwürdige. Es hatte Belizeth weitere fünf Tage gekostet, herauszufinden, in welchem der beiden Tempel des Raben der Sphärenschlüssel heute liegen musste, denn eine Kirchenspaltung hatte zu einer Verdoppelung der boronischen Einrichtungen in der Stadt geführt, und neben den alten Tempel, der weiterhin dem Raben von Punin die Treue hielt, war ein zweiter getreten, der dem Patriarchen von Al’Anfa gehorchte.

Boron war als Gott des Schweigens bekannt, und entsprechend schweigsam hatten sich seine Diener gezeigt, als es um die Frage ging, wer nun der Hüter des Sphärenschlüssels sei. Erst als Belizeth begonnen hatte, die beiden Sekten gegeneinander auszuspielen, und ihnen im Falle einer Zusammenarbeit versprochen hatte, die jeweils andere Glaubensgruppierung aus der Stadt zu vertreiben, war ein übereifriger Tempeldiener gesprächig geworden und hatte zugegeben, dass sich der Sphärenschlüssel im Tempel des al’anfanischen Ritus befand.

Doch dann, vor vier Tagen erst, waren alle Bemühungen an einem toten Punkt angelangt. Der Tempelvorsteher, der arrogante Al’Anfaner Borondrigo Bonareth, hatte angeblich ein Traumgesicht des Boron empfangen, vermutlich eher einen wirren Rauschtraum nach dem Genuss von Schwarzem Lotos, für den der Al’Anfaner Ritus so bekannt war.

Auf jeden Fall hatte er das Desiderat vor wenigen Tagen aus der Stadt fortgeschafft und sich dann einem boronischen Ritual unterzogen, um diese Geschehnisse zu vergessen. Belizeth fluchte, als sie daran dachte. Selbst unter Folter oder dem Einfluss von Hellsicht- oder Beherrschungszaubern würde er sich jetzt nicht mehr erinnern, wem er das Artefakt anvertraut hatte. Die Stadtherrin würde also ihre Späher ausschicken müssen und Zeit verlieren, die sich vielleicht noch als unersetzbar erweisen würde.

Aber so leicht sollte Hochwürden Bonareth ihr nicht davonkommen. Wesir Almut ben Saajd hatte neun Tage lang unendliche Qualen erlitten, bis Belizeth seiner überdrüssig wurde und seinen Kopf auf einem Minarett aufspießen ließ. Der Tod des Geweihten jedoch sollte ein Schauspiel werden, von dem die Rashduler noch ihren Urenkeln erzählen würden.

Sie hatte ihn noch einige Tage in Freiheit, aber unter ständiger Aufsicht gehalten und Hochwürden hatte sie nicht enttäuscht. Er hatte eifrig versucht, das Volk gegen die neue Herrscherin aufzuwiegeln und gegen die Dämonologen zu hetzen, obgleich jene, da war sich Belizeth sicher, dem Problem der zunehmen Dämonenpräsenz wesentlich wirksamer entgegentraten als die Geweihten mit ihrem Singsang.

Genau einen Mond nach dem Ende der Rashduler Armee marschierten dann die Gardisten der neuen Herrscherin vor dem Tempel auf und verhafteten den Tempelmeister erneut. Shanja Belizeth hatte in der Arena der Stadt eine öffentliche Gerichtsversammlung einberufen und das Erscheinen sämtlicher Rashduler Bürger befohlen. Entsprechend gut besetzt waren die Ränge, da die neuen Stadtgardisten, raue, kampferprobte Söldner, bereits dafür gefürchtet waren, dass sie die Befehle der Herrscherin ohne zu zögern durchsetzten – nachdem der erste bestechliche Wachweibel dazu verurteilt worden war, von einem Dämonen zerrissen zu werden, wurde jeder Bürger, der seine Pflichten gegenüber der Shanja vernachlässigte, mit unerbittlicher Härte bestraft.

Die eingeschüchterten Bewohner der Stadt harrten nun des Prozesses gegen Hochwürden Borondrigo Bonareth, der unter dem Vorsitz von Shanja Belizeth I. stattfinden würde. Fanfarenstöße kündigten den Einzug der Herrscherin an, die sich von Elitekriegern des früheren Wesirs – allem Anschein nach zum Leben erweckten Leichen – auf einer Sänfte zum Thronpodest tragen ließ. Nachdem sie ihre Macht erneut eindrucksvoll zur Schau gestellt hatte, winkte Belizeth der Anklägerin, die mit lauter Stimme die Vorwürfe gegen den Geweihten verlas. Sie hatte Magistra Cassandra ya Devalli für diese Aufgabe ausgesucht, weil die Nekromantin eine weittragende Stimme besaß und weil die Totenbeschwörerin Ihrer Spektabilität für das Vergnügen, die Rollen zu verkehren und ausgerechnet einen Borongeweihten zu beschuldigen, einige kleine, aus Magiergräbern geraubte Artefakte angeboten hatte.

»Borondrigo Bonareth, Ihr habt Eure Pflichten als Hüter der Adelsgräber sträflich vernachlässigt. Statt Euch, wie es die alten Vereinbarungen erfordern, täglich um die Grüfte zu kümmern, auf dass den Seelen der Großen Alten der Stadt nichts fehle, habt Ihr Euch dem Rausch des Vergessens hingegeben!« Der schwarzhaarige Al’Anfaner ließ sich vor dem Thron der Shanja auf die Knie fallen, eine Geste, die ein Lächeln auf Belizeths Gesicht malte. Dieses Schmunzeln allerdings gefror zu einer Maske, als deutlich herüberklang, dass der Geweihte nicht etwa das Knie vor ihr beugte, sondern laut zu seinem Gott betete.

Die Magierin gewann jedoch schnell wieder die Fassung zurück, als die von ihr bezahlten und angeheuerten Zeugen auftraten und einer nach dem anderen der Anklägerin bestätigte, was für ein verdammungswürdiger Geselle der Boronpriester war.

Belizeth beobachtete währenddessen das Publikum. Mittlerweile wurden auf den Zuschauerrängen bereits die ersten Schmährufe gegen den immer noch betenden Geweihten ausgestoßen. Und das lag nicht nur an der Furcht vor ihrer Macht. Die Bürger Rashduls betrachteten ihre Ahnen als wichtigen Teil ihres Lebens, und wer die herrlichen Grabhäuser und Grüfte aus dreißig Jahrhunderten vernachlässigte, der beschwor den Zorn der Altvorderen auf die Stadt herab.

Die Magierin war zufrieden. Spätestens nach dem nächsten Zeugen würde sie die Zuschauer restlos auf ihrer Seite wissen. Vor ihr warf die leichenblasse Magistra Cassandra das vorzeitig ergraute Haar nach hinten, sodass der schwere Duft ihres Parfüms zu Belizeth herüberwehte – es erinnerte die Tulamidin stets an Balsamierungselixier und sollte wie dieses den Leichengeruch überdecken, von dem die Magistra allzeit umgeben wurde –, und rief mit lauter Stimme: »Als nächsten Zeugen der Anklage rufe ich den Höchsten in den Zeugenstand, den diese Stadt je erblickt hat. Sieh, oh großer Raschtul, welch ein Frevler hier, in der von dir gegründeten Stadt weilt!«

Bereits einige Zeit zuvor hatte die Magierin von ihren Getreuen eine Mumie vorbereiten und von einem Nephazz aus der Domäne der Erzdämonin Thargunitoth, der Herrin der Untoten, beleben lassen. Diese Mumie trat nun, als der legendäre Raschtul selbst, scheinbar aus dem Nichts in die Arena und schritt auf den betenden Geweihten zu.

Als die Zuschauer den legendären Stadtgründer in seiner goldenen Königstracht erblickten, brach allgemeines Gelärme aus. Die Mumie griff mit ihren riesigen Händen nach dem Al’Anfaner und zerriss ihn, ohne sich um dessen Gebete zu scheren, in der Luft, dass die Gedärme auf den Boden der Arena fielen.

Belizeth hoffte unterdessen inständig, dass sich die Binden um den Leib der Mumie nicht lösen würden, denn da die Legenden übereinstimmend berichteten, dass der erhabene Raschtul weit größer gewesen war als ein Mensch, hatten sie sich einen toten Oger besorgen müssen.

Doch das Publikum war viel zu geblendet von der strahlenden Erscheinung und dem blutigen Schauspiel, um irgendwelche Zweifel zu hegen. Nachdem sie den zerfetzten Leichnam des Geweihten zur Seite geschleudert hatte, trat die ›Fürstenmumie‹ auf Belizeth zu, kniete vor ihr nieder und nahm sich mit einem kräftigen Ruck den goldenen Kronhelm vom mit Binden umwickelten Kopf, um dieses Zeichen der Macht der neuen Shanja zu Füßen zu legen. Aus den Augenwinkeln konnte die huldvoll lächelnde Belizeth die Anspannung auf dem Gesicht Magistra Cassandras erkennen, die den Untoten bei dieser schwierigen Bewegungsfolge lenkte.

Das Volk jubelte. Nun war auch dem Letzten deutlich, dass Belizeth die Auserwählte war, und als die ersten bestellten Beifallklatscher mit Hochrufen begannen, fielen die restlichen Zuschauer eifrig mit ein.

Belizeth schloss erleichtert die Augen. Das war geschafft! Jetzt galt es nur noch, den Sphärenschlüssel zu finden, und dann würde sie sich den übrigen Tulamidenlanden zuwenden.

6. Kapitel

Perricum, am Abend des 26. Efferd des Jahres 28 Hal

Über der Stadt Perricum erhob sich mächtig und unnahbar die Löwenburg, das Zentrum der Schwertkirche der Kriegsgöttin Rondra. Seit vielen Monden wehte das Kriegsbanner über der Festung, denn seit der Rückkehr des Dämonenmeisters lebte die Kirche im Krieg. Viele Häuser der Göttin hatte sie schon an den Feind verloren, doch nach dem festen Willen der Kriegerpriester sollte kein einziges weiteres mehr fallen.