Arbeit und Struktur - Wolfgang Herrndorf - E-Book + Hörbuch

Arbeit und Struktur Hörbuch

Wolfgang Herrndorf

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Beschreibung

«Dann Telefonat mit einem mir unbekannten, älteren Mann in Westdeutschland. Noch am Tag der Histologie war Holm abends auf einer Party mit dem Journalisten T. ins Gespräch gekommen, dessen Vater ebenfalls ein Glioblastom hat und noch immer lebt, zehn Jahre nach der OP. Wenn ich wolle, könne er mir die Nummer besorgen. Es ist vor allem dieses Gespräch mit einem Unbekannten, das mich aufrichtet. Ich erfahre: T. hat als einer der Ersten in Deutschland Temodal bekommen. Und es ist schon dreizehn Jahre her. Seitdem kein Rezidiv. Seine Ärzte rieten nach der OP, sich noch ein schönes Jahr zu machen, vielleicht eine Reise zu unternehmen, irgendwas, was er schon immer habe machen wollen, und mit niemandem zu sprechen. Er fing sofort wieder an zu arbeiten. Informierte alle Leute, dass ihm jetzt die Haare ausgingen, sich sonst aber nichts ändere und alles weiterliefe wie bisher, keine Rücksicht, bitte. Er ist Richter. Und wenn mein Entschluss, was ich machen wollte, nicht schon vorher festgestanden hätte, dann hätte er nach diesem Telefonat festgestanden: Arbeit. Arbeit und Struktur.»

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Zeit:10 Std. 38 min

Veröffentlichungsjahr: 2013

Sprecher:August Diehl

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Wolfgang Herrndorf

Arbeit und Struktur

 

 

 

Über dieses Buch

«Dann Telefonat mit einem mir unbekannten, älteren Mann in Westdeutschland. Noch am Tag der Histologie war Holm abends auf einer Party mit dem Journalisten T. ins Gespräch gekommen, dessen Vater ebenfalls ein Glioblastom hat und noch immer lebt, zehn Jahre nach der OP. Wenn ich wolle, könne er mir die Nummer besorgen.

Es ist vor allem dieses Gespräch mit einem Unbekannten, das mich aufrichtet. Ich erfahre: T. hat als einer der Ersten in Deutschland Temodal bekommen. Und es ist schon dreizehn Jahre her. Seitdem kein Rezidiv. Seine Ärzte rieten nach der OP, sich noch ein schönes Jahr zu machen, vielleicht eine Reise zu unternehmen, irgendwas, was er schon immer habe machen wollen, und mit niemandem zu sprechen.

Er fing sofort wieder an zu arbeiten. Informierte alle Leute, dass ihm jetzt die Haare ausgingen, sich sonst aber nichts ändere und alles weiterliefe wie bisher, keine Rücksicht, bitte. Er ist Richter.

Und wenn mein Entschluss, was ich machen wollte, nicht schon vorher festgestanden hätte, dann hätte er nach diesem Telefonat festgestanden: Arbeit. Arbeit und Struktur.»

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt·Berlin Verlag GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

(Umschlagabbildung: View of Haarlem from the Northwest, with the Bleaching Fields in the Foreground, Jacob Isaacksz. van Ruisdael, ca. 1650–ca. 1682/Rijks Museum, Amsterdam/Legat von L. Dupper Wzn., Dordrecht)

ISBN 978-3-644-11741-9

 

Hinweis: Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Inhaltsübersicht

Dämmerung

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Rückblende, Teil 1: Das Krankenhaus

Rückblende, Teil 2: Eine Nacht

Rückblende, Teil 3: Ein Telefonat

Rückblende, Teil 4: Das Moleskine

Rückblende, Teil 5: HaShem

Rückblende, Teil 6: Exorzismus

Rückblende, Teil 7: Die Weltformel

Rückblende, Teil 8: Fernando Pessoa

Rückblende, Teil 9: Tanz der seligen Geister

Rückblende, Teil 10: Der Pinguin

Neun

Zehn

Outtake: Tschick

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Widmung

Fragmente

Nachwort

Bildnachweis

Dämmerung

Ich bin vielleicht zwei Jahre alt und gerade wach geworden. Die grüne Jalousie ist heruntergelassen, und zwischen den Gitterstäben meines Bettes hindurch sehe ich in die Dämmerung in meinem Zimmer, die aus lauter kleinen roten, grünen und blauen Teilchen besteht, wie bei einem Fernseher, wenn man zu nah rangeht, ein stiller Nebel, in den durch ein pfenniggroßes Loch in der Jalousie bereits der frühe Morgen hineinflutet. Mein Körper hat genau die gleiche Temperatur und Konsistenz wie seine Umgebung, wie die Bettwäsche, ich bin ein Stück Bettwäsche zwischen anderen Stücken Bettwäsche, durch einen sonderbaren Zufall zu Bewusstsein gekommen, und ich wünsche mir, dass es immer so bleibt. Das ist meine erste Erinnerung an diese Welt.

Angeblich wächst die Sentimentalität mit dem Alter, aber das ist Unsinn. Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet. Als in Garstedt das Strohdachhaus abbrannte, als meine Mutter mir die Buchstaben erklärte, als ich Wachsmalstifte zur Einschulung bekam und als ich in der Voliere die Fasanenfedern fand, immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand, und fast jeden Morgen hoffte ich, die schöne Dämmerung würde sich noch einmal wiederholen.

Eins

8. 3. 2010 13:00

Gestern haben sie mich eingeliefert. Ich trug ein Pinguinkostüm. Jetzt habe ich einen Panoramablick über ein trapezförmiges Stück Spree, den Glaszylinder des Hauptbahnhofs, einen Kanal und klassizistische Gebäude. Auf dem Mäuerchen um die Neuropsychiatrie herum sitzt eine Schulklasse. Mein Bedürfnis, unter Zucken und Schreien einen Zettel durchs Fenster hinunterzuwerfen, wächst: «Hilfe! Ich bin nicht verrückt! Ich werde gegen meinen Willen hier festgehalten! Das mit dem Pinguin war nur ein Scherz, ihr könnt Marek fragen oder Kathrin!» Aber erstens kann man die Fenster nicht öffnen, und zweitens, fürchte ich, würden sie den Witz nicht kapieren.

Gestern noch lag ich auf der Psychiatrie, ich kann mich aber nicht mehr an viel erinnern, außer an den sehr unaufgeregten Morgenkreis. Eine Patientin wollte für eine andere beten, die sich umgebracht hatte, es wurde aber entschieden, das im Stillen zu tun, jeder für sich. Und an den Zimmergenossen Iwan erinnere ich mich und an die Frage: «Darf ich das Bild über deinem Bett verändern?» Klar, warum nicht. Dann Verlegung.

Gespräche mit den Ärzten laufen darauf hinaus, dass sie versuchen, mir Erinnerungslücken nachzuweisen, weil ich mich an sie und ihre Namen nicht erinnere. Mich nennen sie grundsätzlich Hernsdorf.

Tests vom Kaliber «Ich sage Ihnen drei Gegenstände: Tennisschläger, Apfel, Omnibus. Was ist dreizehn zum Quadrat? Fünfzehn zum Quadrat? Was waren die drei Gegenstände?» bestehe ich aber. Die Gespräche kommen mir mehr als einmal wie Dialoge aus dem Krimi vor, an dem ich die letzten Jahre gearbeitet habe. Der beginnt mit einem Mann, der ungeheuere Kopfschmerzen hat, dann wird ihm der Schädel eingeschlagen, er erleidet eine Totalamnesie und unterhält sich achtzig Seiten lang mit einem Psychologen, der ihm erklärt, dass man von einem Schlag auf den Kopf keine Amnesie bekommt. Am Ende stirbt er.

«Fällt Ihnen auf, wie schnell Sie sprechen?»

Ja, ich denke aber auch schnell. Ich schreibe auch schnell, ungefähr dreimal so schnell wie sonst, und zehnmal so viel.

9. 3. 2010 17:00

Als es nachmittags anfängt, süßlich zu riechen und ich im Gemeinschaftsraum ein junges Mädchen am Waffeleisen entdecke, kriege ich einen kleinen, privaten Lachanfall. Sieben oder acht Patienten bekommen reihum Herzchen mit Puderzucker. Die Leute sind sehr freundlich. Außer mir sind alle sediert.

Die ältere Frau, deren Essen von Scientology vergiftet wird und die bedrohliche Symptome entwickelt (sonst wäre sie wohl auf der Psychiatrie und nicht auf der Neuropsychiatrie), protokolliert minuziös ihren Tagesablauf. Ihr Essen. Sie ist witzig und beredt, und ich frage sie: Sind wir verrückt, weil wir alles aufschreiben, oder schreiben wir alles auf, weil wir verrückt sind? Man sieht, ich nehme doch besser meinen Roman in Angriff als einen Aphorismenband.

Zum Lesen und Schreiben sitze ich an dem kleinen Tisch mit Spreeblick direkt vor ihrem Einzelzimmer, und wenn sie an mir vorbeikommt, nennt sie mich Schatzi und schenkt mir ein Duplo: «Originalverpackt.» Das erste Duplo werfe ich in eine Zeitschrift gewickelt in den Papierkorb. Kuchen, Schokolade und weitere Duplos, die in den nächsten Tagen folgen, esse ich. Und nein, ich glaube nicht an die Sache mit Scientology. Meine Amateurdiagnose war Münchhausen oder so was. Aber ich muss es nicht herausfinden.

10. 3. 2010 9:00

Lars fährt mich zum Planungs-CT, eine Kunststoffmaske wird angefertigt, damit bei der Bestrahlung mein Kopf fixiert ist. Anschließend gehen wir in ein Schreibwarengeschäft und sind beide der Ansicht, dass Schreibwarengeschäfte mit die tollsten Geschäfte sind.

11. 3. 2010 0:30

Heftiger Kopfschmerz und abermals positive Gedanken, die in der Nacht von der Festplatte gelöscht werden wie alle positiven Gedanken zuvor. Unter unendlicher Anstrengung baue ich die Gedankenkette wieder zusammen und gehe auf Zehenspitzen auf Toilette, um sie aufzuschreiben. Im Moleskine steht am nächsten Morgen: «1. Den andern mitteilen, die Todesangst sei vorüber. 2. Aus dem Widerstand gegen den Gedanken seine Richtigkeit ableiten. 3. Leichter Kopfschmerz bleibt. 4. Werde dennoch ohne Tavor schlafen, womit 2. seine Bestätigung erfährt.» usw.

Später noch mehr Gedanken ähnlicher Art, diesmal schreibe ich unter der Bettdecke im Licht des Handydisplays, um meinen Zimmernachbarn nicht zu wecken.

11. 3. 2010 10:00

Verabredung mit dem Waffelmädchen zum Tischtennis. Im Innenhof gibt es eine Platte, und die Sonne scheint. X. hat verwirrende Ähnlichkeit mit Ira, Mimik und Stimme fast komplett, aber auch Gesprächsführung, Interessen, teilweise Aussehen.

Mein Sichtfeldausfall macht sich nicht bemerkbar. Wir zählen keine Punkte, auch geschmettert wird nicht, die Gefahr ist zu groß: Der Ball ist alt, und es ist der einzige auf der Psychiatrie. Nur schnelles, kontemplatives Hin- und Herspiel, dazwischen gelegentlich Stillstand, da gleichzeitig konzentrierter Austausch der Biographien, der Ereignisse rund um den Anfall. Dabei so starke Übereinstimmung des gegenseitig mitgeteilten Wahns (X.: Beherrscherin der Sonne, ich: Seher der Zukunft. X.: Unendliche Funktion gelöst, ich: Die Weltformel ein endloser Zirkelschluss etc.), dass ich, der ich immer noch keine klare Diagnose habe (Manie wurde mittlerweile ad acta gelegt), einfach mal ihren Befund anprobiere: Schizoaffektive Störung. Um zu gucken, wie sich das anfühlt. Schizoaffektive Störung. Und wie fühlt sich das an? Manie infolge Schlaflosigkeit infolge Todesangst war mir lieber.

Längere Ballwechsel, und dann geht es rasant über die Dörfer. X. hat gerade Nietzsche komplett. Wir kommen von Heidegger (fraglich) über Grass (Arschloch) zu Salinger (groß) und Piaget (groß). Die Sonne wärmt, wir freuen uns an der Übereinstimmung und rufen die Namen großer Geister. Jetzt bin ich endgültig in der Klapse angekommen.

Ebenfalls im Garten anwesend: 1 Maiglöckchen, einige Krokusse, später zwei Blaumeisen.

Hier wohne ich jetzt also.

Drei

19. 3. 2010 14:30

Das PET-CT zeigt keinen zweiten Herd vorne rechts. Ich erzähle Dr. Zwei von den Einwänden Prof. Dreis. Sie nennt ihn einen charismatischen Mann, der nicht auf dem neuesten Stand der Forschung sei. Seine Zahlen seien falsch. Sie beruft sich auf die NOA.

19. 3. 2010 18:00

Eine CD vergessen, erneut zum PET-CT. Die Praxis ist ganz in der Nähe von Marek, ich gehe zum Schachspielen vorbei. Spiele deutlich schneller, aber auch deutlich waghalsiger als sonst. In der Spielstärke am Ende kein Unterschied.

19. 3. 2010 23:30

Prof. Drei und seine Medikamente, hauptsächlich Hypericin, bei gleichzeitiger Ablehnung der Bestrahlung, gegoogelt. «Für die Wirksamkeit von Hypericin gibt es keine Nachweise.» Quelle: NOA. Die Suche nach neuesten Studien macht nicht glücklicher. Überhaupt: Ich finde fast keine «neuesten Studien». Bei der Suche nach zuverlässigen Angaben lande ich immer wieder auf Wirtschaftsseiten. DCVax-Brain von Northwest Biotherapeutics, Impfung mit dendritischen Zellen, phantastische Studien aus dem Jahr 19** etc., wo bleibt die Folgestudie? Die Börse rät ab.

20. 3. 2010 8:00

Traum: Ich gehe an einer Reihe von Rassehunden mit schönem Fell vorbei. Eine Stimme sagt mir, die Hunde hörten auf mein Kommando. Ich befehle einem zu verschwinden, er rührt sich nicht. Ich gehe einen Hügel hinauf und schaue mich nach den Tieren um, von denen ich weiß, dass jemand sie gleich auf mich hetzen wird. Ich verstecke mich in einem Kellereingang, und die Stimme sagt, dass dort der größte, schrecklichste Hund wohnt. Ich kehre zurück zu den Hunden, die in Reihe stehen.

Traum: Bei der Entlassung geben die Ärzte mir sieben Valium, die «sicher tödlich sind». Ich schlucke zu Hause zwei oder drei, um mich zu beruhigen. Dann fürchte ich, sie könnten mich in dieser Dosierung bereits einschläfern, und pule den zerkauten Rest aus der Mundhöhle. Wie viel habe ich jetzt genommen? Ich frage die Ärzte, ab wie viel Tabletten genau es aus ist. Zwei, sagen sie. Ich trinke eine Schüssel Salzwasser und weiß: Ich brauche eine Waffe.

20. 3. 2010 15:00

Vier Stunden warten auf Prof. Drei. Zwei Patienten waren gestern schon da, haben fünf Stunden gewartet und wurden dann nach Hause geschickt. Diesmal keine beeindruckenden Langzeitpatienten, dafür viele aus dem Ausland, ein Schwede oder Niederländer, ein Italiener, ein Russe, eine Vietnamesin.

Prof. Drei hat keine Einwände gegen meine Strahlentherapie am Montag. Spricht nur abermals von Wirkungslosigkeit, allerdings mit anderen Zahlen: Lebensverlängerung um 2 Monate. Stützt sich auf NOA 1, 2 und 3, worauf auch Dr. Zwei sich stützt. Ihm geht es nach wie vor um Jahre. Will nach 6 Wochen ein MRT und mich dann wiedersehen. Empfiehlt die Kombination aus Hypericin, Thalidomid (Contergan-Wirkstoff, Angiogenesehemmer) und Resochin (Chloroquin) als Apoptoseauslöser.

Dass ich keine Studien zu Hypericin finden konnte, wundert ihn nicht: Es gibt keine. Zu dem, was er macht, auch nicht. Googelt man die Medikamentenkombination, findet man nichts.

Ich frage, wo im Krankenhaus ich meine AOK-Karte vorzeigen soll, weil sie schon letztes Mal keiner sehen wollte. Er sagt: Ist alles umsonst. Klingt phantastisch und macht mich noch misstrauischer. Wieder der Händedruck, der einen hinauszieht.

22. 3. 2010 13:50

Beginn von Temozolomid und Bestrahlung im Clinac 3 der Charité. Schönes Gerät, könnte für meinen Geschmack noch futuristischer sein. Der Kopf wird in der vor zwei Wochen hergestellten Maske fixiert, die Kanone wandert um den Tumor herum und verschießt aus verschiedenen Winkeln hochenergetische Photonen mit 1,5 Gray. Zweimal täglich. Es piepst, dann werde ich gedreht, dann piepst es wieder, und wenn die Assistentin unter großem Applaus das schwarze Tuch von der Kiste zieht, ist der Krebs verschwunden.

Strahlender Sonnenschein, fast blauer Himmel. Clinac 3 liegt an der Spree, es sind nur ein paar Meter bis zum Hauptbahnhof, und da stehe ich jetzt in dem Panorama, das ich von der Neuropsychiatrie aus noch sehen konnte. Das Fenster, an dem ich stand, kann ich nicht mehr identifizieren.

Sitze am Wasser mit Salinger. Jogger im T-Shirt, eine Frau, die sich auf der Bank ausgestreckt sonnt, Skater mit Slalomhütchen und Zeitmessanlage.

Jetzt zeig mal, was du kannst, Karnofsky. Los.

23. 3. 2010 6:55

In der Bestrahlung vor mir ein etwa gleichaltriger Mann mit einer senkrechten Narbe auf der Stirn. Sieht deutlich attraktiver aus als bei mir, wo ich vorgestern beim Haareschneiden feststellen musste, dass meine Seite wirkt wie ein von Andy Warhol gestaltetes, von behinderten Kindern abgezeichnetes Rolling-Stones-Cover.

23. 3. 2010 17:10

Eine Stunde warten auf die zweite Bestrahlung. Zeichne einen Mitwartenden mit Kugelschreiber in mein Notizbuch. Erstes Porträt seit, ich glaube, Tiina, fünfzehn Jahre ist das her. Nicht gut, ich habe den abstrakten Zugang zu den Linien und Winkeln nicht mehr, aber dass ich überhaupt wieder Freude am Zeichnen verspüre: eine der vielen Merkwürdigkeiten der letzten Wochen.

24. 3. 2010 16:39

Der Jugendroman, den ich vor sechs Jahren auf Halde schrieb und an dem ich jetzt arbeite, ist voll mit Gedanken über den Tod. Der jugendliche Erzähler denkt andauernd darüber nach, ob es einen Unterschied macht, «ob man in 60 Jahren stirbt oder in 60 Sekunden», usw. Wenn ich das drinlasse, denken alle, ich hätte es nachher reingeschrieben. Aber soll ich es deshalb streichen?

24. 3. 2010 18:49

Noch mal googeln: eine Hypericin-Studie an Mäusen mit gutem Erfolg. Eine Chloroquin-Studie an Menschen vom National Institute of Neurology and Neurosurgery of Mexico, 2005: Die Chloroquin-Gruppe überlebt im Schnitt 24 Monate, die Placebos 11 Monate. Dreißig Teilnehmer, und etwas verwirrend: die randomisierte Chloroquin-Gruppe ist durchschnittlich fünf Jahre jünger, bei gleichem Karnofsky. Was mir nicht ganz unerheblich vorkommt. Folgestudien?

Ansonsten wenig zu Chloroquin, außer dem Treffer in der «Blume von Tsingtao». Da wirft der Erzähler sich damit zu, nachdem er seinen Fieberanfall hatte und in einer Gedankenschleife aus der Welt zu verschwinden glaubte.

Apoptoseauslöser: Das Protein CD95 ist ein wichtiges Schaltmolekül, um den programmierten Zelltod auszulösen, wofür sich die Krebsforschung logischerweise interessiert. Schalter anschalten, und der Krebs macht sich selber weg. So die Idee. Martin-Villalba vom Deutschen Krebsforschungszentrum findet 2008 (?) heraus, dass die Aktivierung von CD95 beim ausgerechnet Glioblastom zu explosionsartigem Wachstum des Tumors führt.

Jetzt in Heidelberg in der Entwicklung: APG 101 von Apogenix, das den Apoptoseschalter CD95 über die Neutralisierung des Liganden CD95L auszuknipsen versucht. Verträglichkeit des Medikaments erwiesen, zurzeit Phase-II-Studie an Rezidiven in Heidelberg.

«Ligand CD95L», «Rezeptor mit pleiotroper Funktion» – mittlerweile gehen mir die Worte so leicht über die Lippen wie «Schmetterlinge im Bauch». Ich weiß sogar teilweise, was sie bedeuten.

Laut Apogenix-Website überleben weniger als 30 % der Glioblastome das erste Jahr. Bisher waren es immer siebzig. Dreißig, siebzig, whatever: Old Karnofsky und ich fahren eh mit dem Taxi.

26. 3. 2010 10:00

Nach einer Woche Chemo und Bestrahlung keine Nebenwirkungen, vielleicht ein leicht benommenes Schwindelgefühl.

28. 3. 2010 21:44

Die letzten Tage den Jugendroman gesichtet und umgebaut, Übersicht erstellt, einzelne Kapitel überarbeitet, neue entworfen. Jetzt von Anfang an: jeden Tag mindestens ein Kapitel. In spätestens 52 Tagen ist es fertig. Heute: Kapitel 1.

28. 3. 2010 22:30

Je länger man googelt, desto sicherer sinkt die Wahrscheinlichkeit, ein Jahr zu überleben, unter 50 Prozent. Immer noch ohne Schlafmittel.

The survival of patients treated with TMZ plus radiotherapy according to MGMT promoter status.[1]

29. 3. 2010 12:30

Termin bei Prof. Moskopp und ein Treffer im Gen-Lotto: Ich hab die Scheißmethylgruppe. Ich bin hypermethyliert. Der entscheidende Marker dafür, ob der Körper auf Temodal wahrscheinlich überhaupt anspricht. Und jetzt fick dich in deinen kleinen, gottlosen, unhypermethylierten Arsch, du Dreck von einem Krebs. Die Wahrscheinlichkeit war 45 %. Die Folge sind ein paar Wochen oder Monate. Statistisch. Statistisch ist es aber auch so: Nach zwei Jahren wird die Kurve flach.

Auf dem Rückweg von Moskopp sehe ich aus der Straßenbahn Holms Büro am Alexanderplatz. Ich steige aus, um ihn zu besuchen, kann das Bürogebäude aber nicht mehr finden.

29. 3. 2010 22:25

Der vielleicht senilste Sack der deutschen Literatur redet eine Stunde lang über sein bevorzugtes, seit dem Ende des Judenthemas einziges Thema: Wie ungerecht er um 1924 herum einmal kritisiert worden sei von der Kritik für seinen Roman «Hans» oder «Dörte», während aufmerksame Geister doch schon auch damals und von den Übelmeinenden leider verdeckt und überschattet hinter ihm gestanden hätten wie selbstverständlich auch jederzeit sein Publikum, beispielsweise jener Studienrat aus München, von dem es folgende herzstärkende Anekdote zu erzählen gebe, wodurch in diesem ganzen Prozess nicht zuletzt auch noch einmal der demokratische Gedanke selbst gegen die Verschwörung der Cliquen sich ausgedrückt und ihn seelisch aufgebaut und sein Tun abermals zu Recht bestätigt habe usw.: Walser auf 3sat. Vielleicht sollte er zu dem Judenthema zurückkehren, das war irgendwie noch weniger anstrengend.

30. 3. 2010 13:09

Sechs Kohlenstoff, sechs Wasserstoff, sechs Stickstoff, zwei Sauerstoff zu zwei Ringen gebogen: Temozolomid. Fünf Tabletten 1189,17 Euro. Danke, AOK. Im Ernst: Ich weiß nicht, wie das Gesundheitssystem ausgesehen hat, bevor alle anfingen, sich zu beschweren, wie sehr runtergerockt es nun sei, aber was dieses System schon in die Errettung und Erhaltung einer flackernden Kerze investiert hat, die sich um das Bruttosozialprodukt dieses Landes bisher auch noch nicht so verdient gemacht hatte: erstaunlich.

Danke, Staat, danke, Gesellschaft, danke, AOK, danke, danke.

2. 4. 2010 8:00

«Du wirst sterben.»

«Ja, aber noch nicht.»

«Ja, aber dann.»

«Interessiert mich nicht.»

«Aber, aber.»

Der Komödienstadel führt sein tägliches Stück zum Weckerklingeln auf, fünf Sekunden später beendet der Intendant die Vorstellung. Work!

2. 4. 2010 12:37

Krebs und Reiki: der tägliche Irrsinn der Mailingliste.

Ich kann nicht mehr googeln, es zieht mich runter. Organspendeausweis im Portemonnaie gefunden und weggeworfen. Der genetische Schrott, der meinen Geist beherbergt, ist jetzt wertlos.

4. 4. 2010 20:00

Prassnik. Normalität. Gut.

5. 4. 2010 17:30

Vor zwei, drei Wochen war ich wieder bei meinem Nachbarn unten, der mich seit Jahren mit Lärm foltert und den keine Botschaft erreicht, und habe ihm die Lage erklärt und warum ich jetzt keinen Lärm mehr brauche. Bat ihn am Ende, sich eine neue Wohnung zu suchen oder Kopfhörer zu kaufen. Ein paar Tage war Ruhe, jetzt ist es wieder wie immer. Ich meine, ich muss nicht unbedingt den Diktator einer Bananenrepublik nehmen. Ich kann die Welt auch ein kleines bisschen schöner machen, indem ich mit dem Tranchiermesser ein Stockwerk tiefer gehe.

6. 4. 2010 19:02

Es gibt wenig, was unsichtbarer wäre als Denkmäler. Aber wenn man so durch die Straßen läuft wie ich zurzeit, fallen sie einem doch auf. Imperatorenpose, weißer Marmor, Hannoversche Straße: «Dem siegreichen Führer im Kampfe gegen Seuche und Tod» Robert Koch. Es rührt einen deutlich mehr, wenn man gerade unter einem der modernsten Linearbeschleuniger gelegen hat, als wenn nicht.

7. 4. 2010 7:20

Clinac 3 fährt nicht hoch, ein Techniker und ein Physiker sitzen ratlos vor der Maschine. Ich werde in den Keller geführt, warte vor dem Gammatron-Schaltraum und denke an den letzten Coen-Film. Wie hieß die Formelsammlung des Verrückten noch mal? Aber Clinac 2 will mich auch nicht, ich kann nach Hause gehen.

Zwei bis drei Termine am Tag und stundenlange Wartezeiten: So kann ich nicht arbeiten. Acht Kapitel in zwölf Tagen.

Im Projekt Regression noch mal Wackenroder gelesen: «Was soll ich aber von jenen sagen, die mir immer am verdrießlichsten gefallen sind und die meiste Langeweile erregt haben? – Die als Knaben mit unnützer Hitze und wilder Eitelkeit über Kunst und Wissen fielen und alles wie Blumen pflückten und rissen, um sich damit zu putzen; die als Jünglinge noch Knaben blieben, und sich bald mutlos dem Eigennutze, der Sorge für ihre dürftige Wohlfahrt überließen, die sie ihr Schicksal, ihr Verhängnis nannten? – Immer tiefer in das Leben hineingelebt, fällt es wie Mauern hinter jedem ihrer Schritte, den sie zurückgelegt haben; sie sehn auch nur vorwärts, ihrem Gewinne, ihren Titeln, ihrer Ehrerbietung entgegen, die ihnen andre bezeigen, immer enger wird ihr Weg zu beiden Seiten, immer mehr schrumpft ihr Herz zusammen, und das, woran sie leiden, ist ihr Stolz, ihre Krankheit ist ihr Glück, die sie Erfahrung und Weisheit nennen. Sie billigen mit einschränkendem Bedauern die Begeisterung, weil sie sie für das Jünglingsfeuer halten, an dem sie sich als Kinder auch verbrannten, um sich nachher desto mehr davor zu hüten: sie behandeln den Enthusiasten gern wie einen jüngern unmündigen Bruder, und sagen ihm, wie mit den Jahren alles, alles schwindet, und wie er dann das eigentliche Leben, die eigentliche Wahrheit kennenlernt. So unterweist der Schmetterling den Adler, und will, daß er sich doch auch einmal, wie er getan, einspinnen soll, und dem Fluge und der tändelnden Jugend ein Ende machen. So wahr ist es, daß viele in der Unerfahrenheit der Jugend noch am besten sind, daß die Klugheit der Jahre sie erst mit dem dichtesten Nebel überhängt, und daß sie dann den Glanz der Sonne leugnen.»

9. 4. 2010 8:10

Auf Wiedersehen, Haare.

Vier

9. 4. 2010 22:30

Abends bei Ulrikes Buchvorstellung zu müde, um viel mitzukriegen. C. bringt mich ins Bett.

12. 4. 2010 13:18

Die bestrahlungsfreien Wochenenden erweisen sich als irgendwie schwieriger als die Werktage. Vielleicht liegt es am Mangel an Struktur. Vielleicht brauche ich auch die Stromzufuhr, wie der Held in Crank 2. Toller Film übrigens, beste King-Kong-Szene aller Zeiten.

14. 4. 2010 8:25

Ist der Artikel aus der Ärzte Zeitung[1] ein Argument, es vielleicht doch mit ein paar ungewöhnlichen Medikamenten zu versuchen?

14. 4. 2010 17:28

«Nach Therapieende bitten wir Sie, die nicht mehr benötigten Enten in den Mülleimer zu werfen.» Neben dem Waschbecken ein viereckiges Plastikfläschchen Sterillium zum Händedesinfizieren, darauf ein durchsichtiges Firmenschildchen von Bode Chemie Hamburg, Melanchthonstraße 27. Vierundzwanzig Jahre ist es her, dass ich immer mit dem VW-Bus zu dieser Adresse fuhr, um diese Schildchen auszuliefern, die ich zuvor als Druckvorlagen auf dem Leuchttisch zusammengeklebt hatte. Und die immer ganz genau kontrolliert wurden, Bode war einer der drei wichtigsten Kunden. Wenn da nur ein Komma angebröselt war, wurde anstandslos die ganze Ladung neu gedruckt.

Ein halbes Jahr Praktikum in der Druckerei, das brauchte man angeblich fürs Kunststudium in Nürnberg, ein halbes Jahr harte Arbeit, das verschwendetste halbe Jahr meines Lebens. Das war zu der Zeit, als diese Passfotos entstanden, auf denen ich mich selbst nicht erkannte, und meine Mutter eines Tages fragte: Du willst dich nicht umbringen, oder?

Jeden Tag stand ich in der Dunkelkammer, drei Minuten, während der Film entwickelte, spürte, wie mein IQ nach unten zählte, und sagte mir Gedichte auf. Lange tot und tiefverschlossen. Alles, was ich so kannte.

Aber guter deutscher Mittelstand: Wulf Offset gibt’s noch immer, und ich stelle mir vor, wenn’s die immer noch gibt, ist Bode Chemie wahrscheinlich immer noch Kunde, und irgendwo in einem alten Fotokarton in der Wiesenstraße lagern noch immer die Signets, die ich damals sorgfältig umkopiert habe, und sie finden noch immer ihren Weg auf die Etiketten und in die Krankenhäuser und über die Waschbecken, wo sie mich treu begleiten.

Eine Gedichtzeile von Eich, die ich immer gut fand: Gruß dir, du Gruß von drüben, wo einst die Welt geschah.

15. 4. 2010 12:30

Der Onkologe Dr. Vier nimmt die Studie zu Cilengitid, Oncovir und Talampanel auseinander, die ich ihm ausgedruckt habe. Phase-II-Studie mit noch nicht zugelassenen Medikamenten, warum ist das am Ende nicht mal nach Medikament aufgeschlüsselt? Okay, alles zu weit weg. Er spricht von Avastin, ebenfalls Angiogenesehemmer und ohne Zulassung in Deutschland, das er, wenn es so weit ist, mit Ausnahmeregelungen bei der Krankenkasse beantragt. Aber es ist gut, dass ich gefragt habe. Ich habe das Gefühl, in guten Händen zu sein und mich mit der Sache nicht mehr befassen zu müssen. Der Verlust an Lebensqualität, der durch die Beschäftigung mit dem Elend eintritt, wird durch das Ergebnis nicht aufgewogen. Ende des Googelns. Schön nur die neuesten Zahlen, die Kai mir geschickt hat, dort überleben mittlerweile in meiner RPA-Klasse 28 % vier Jahre, und 28 % erreichen die Fünfjahresgrenze: praktisch ewiges Leben. Damit kann man arbeiten.

16. 4. 2010 12:44

Meine Chronik des Jahres 99 wiedergelesen, was ein Elend. Glücklich war ich auch nur, wenn ich nicht verliebt war. Im Vergleich zu 1986 und 1999 nimmt sich 2010 nachgerade prächtig aus.

16. 4. 2010 19:49

Ich kann mich nicht erinnern, wie diese zwei Nerd-Statuszeilen hießen, die manche Leute vor zehn Jahren unter ihren Mails hängen hatten und wo man in verschlüsselter Form über ihre gesamte Biographie, ihre wirren Vorlieben und ihr Verhältnis zu Bill Gates informiert wurde. Aber auch auf der Hirntumorliste ist es üblich, Chiffren an seinen Namen zu hängen, die zu den Ansichten über Strahlen, Haarausfall und Boswellia serrata hinzuaddiert werden müssen: «LG Karen AA III/07» oder «Heinz Astro 2.2003». Wenn «Christina 35, GBM IX/03» postet, hört man, wie die anderen Glioblastome in Deutschland die Luft anhalten.

19. 4. 2010 13:17

C. hat mir ein vom Sand und Blut des Irakkriegs gereinigtes Militärkäppi für meine Frisur gekauft. Wenn ich mit meinem Sichtfeldausfall jetzt Leute anremple, fangen sie an, sich bei mir zu entschuldigen.

Am besten geht’s mir, wenn ich arbeite. Ich arbeite in der Straßenbahn an den Ausdrucken, ich arbeite im Wartezimmer zur Strahlentherapie, ich arbeite die Minute, die ich in der Umkleidekabine stehen muss, mit dem Papier an der Wand. Ich versinke in der Geschichte, die ich da schreibe, wie ich mit zwölf Jahren versunken bin, wenn ich Bücher las.

Liste der Bücher, die mich in verschiedenen Phasen meines Lebens aus unterschiedlichen Gründen am stärksten beeindruckt haben und die ich unbedingt noch einmal lesen will:

Der Seeteufel

Aquis submersus

Jane Eyre

Arthur Gordon Pym

Sommer in Lesmona

Im Schatten junger Mädchenblüte

Hunger

Der Idiot

Schuld und Sühne

In Cold Blood

Dies ist kein Liebeslied

Wobei von Stendhal über Nabokov bis Salinger alle fehlen, die ich in den letzten ein, zwei Jahren schon erledigt hab. Und für den ganzen Proust reicht’s halt nicht noch mal.

21. 4. 2010 23:00

Bayern–Lyon bei Cornelius. Nachdem mich die 22 Akteure auf dem Rasen lange Wochen nicht wirklich interessierten, ist jetzt alles wie gehabt. Cornelius erklärt den Totalen Fußball, ich trinke Tee, und Holm, Tim und Philipp bewundern Cornelius’ neueste Sesselanschaffungen auf eBay, die er offenbar in Staatsaktionen mit der U-Bahn durch Berlin kutschiert. Man hatte sich ja immer gefragt, was der Mann eigentlich macht.

Neben Passig und Hubrich ist Cornelius derjenige, bei dem es mich am meisten schmerzt, nicht zu wissen, wo er in zehn Jahren sein wird. Dieses unfassbare Potenzial, das nirgends hinsteuert. Vielleicht sitzt er dann bei Alexander Kluge. Oder versackt in Princeton. Oder redet weiter im Prassnik Leute an die Wand.

Per Leo ist auch noch so einer. Aber da sieht man’s wenigstens schon ungefähr.

22. 4. 2010 11:07

Zu meiner Überraschung ist die Strahlentherapie heute schon zu Ende, ich hatte nicht mitgezählt. 41 Termine, 60 Gray. Ein bisschen Haarausfall, eine Schwummrigkeit und die letzten Tage mitunter Konzentrationsstörungen, mitunter starke Konzentrationsstörungen. Offenbar zeige ich wieder die falsche Reaktion: Ich freue mich nicht. Ich mochte es, dass da auf diese Stelle in meinem Kopf geschossen wurde. Gibt es eigentlich Versuche mit Placebo-Strahlentherapie?

22. 4. 2010 11:38

Bischof Mixa hat’s versenkt. Dass ich das noch erleben darf. Jetzt noch den Papst, Deutschland Fußballweltmeister und der Jugendroman mit mehr als 3000er-Auflage, bitte.

Fahrrad reparieren: Es ist ungeheuer, was man im Lauf seines Lebens an Weltwissen und Kulturtechniken sich aneignet und mit sich herumschleppt, und man kann mit dem meisten doch nicht viel mehr anfangen, als es irgendwann weiterzugeben. Ich weiß nicht, warum es mir beim Fahrradreparieren immer so besonders auffiel. Aber ich hab in meinem Leben keinen Reifen geflickt und wieder aufgezogen, ohne beim Sichern des Ventils die Worte meines Vaters zu hören, gesprochen in einem Keller am Möhlenbarg vor fünfunddreißig Jahren: Wenn das da wieder reinrutscht, war alles umsonst. Und ziemlich oft habe ich mir auch vorgestellt, ich selbst würde diesen Satz eines Tages zu einem Zehnjährigen sagen.

23. 4. 2010 13:01

Das Wesen der Zeit mag unerfindlich sein, und was ich über Präsentismus, Blockzeit und Possibilismus auf Wikipedia nachlesen kann, verstehe ich bestenfalls als Konzept. Aber in meinen täglichen und nächtlichen Gedanken gewinnt die Vorstellung der Unendlichkeit und des Nichts, zu dem unsere Existenz ihr gegenüber zusammenschrumpft, so sehr an Plastizität, dass ich manchmal glaube, alles verstanden zu haben. Alles verstanden zu haben. Die Gewissheit kommt schlaglichtartig und ist nicht so hundertprozentig wie in den Momenten der größten Verrücktheit. Aber irgendwas ist hängengeblieben. Gestern beim Fahrradreparieren alle zwei Minuten eine Erleuchtung.

Als Tony Soprano einmal im Krankenhaus liegt, ich glaube, wo er angeschossen wurde, liest er ein Kinderbuch über Dinosaurier. Er ist auf tonyhafte Weise sichtlich ergriffen, Christopher kommt rein:

TONY: «Get this … It says here that if the history of the planet was represented by the Empire State Building, the time that human beings have been on earth would only be a postage stamp at the very top. You realize how insignificant that makes us?»

CHRISTOPHER: (pauses for a second and then): «I don’t feel that way.»

23. 4. 2010 13:15

Wir treffen uns wieder in meinem Paradies

Und Engel gibt es doch

In unseren Herzen lebst du weiter

Einen Sommer noch

Noch eine Runde auf dem Karussell

Ich komm’ als Blümchen wieder

Ich will nicht, dass ihr weint

Im Himmel kann ich Schlitten fahren

Arbeit und Struktur

25. 4. 2010 8:52