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In einer von Pandemien und Umweltkatastrophen gezeichneten Stadt unternimmt ein Professor alles, um die Bücher aus der verfallenden Universitätsbibliothek zu retten. Unter widrigsten Umständen verwendet ein Geigenbauer sein halbes Leben darauf, einer hochbegabten Violinistin ein Instrument zu bauen, das ihrer Spielkunst gerecht wird. Inmitten eines Landes, in dem Waldbrände und Überschwemmungen zum Alltag geworden sind, wächst eine Baumkathedrale empor, Zeichen der Hoffnung und der Beharrlichkeit des menschlichen Daseins. Ein visionärer Mosaikroman, der in sechs poetischen Erzählungen einen Ausblick auf die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts eröffnet und schildert, wie es gelingen kann, auch schwierigsten Bedingungen selbstbestimmt und in Würde zu leben.
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2025
Aus dem kanadischen Englisch
von Barbara Slawig
Impressum
Titel der Originalausgabe: Arboreality
Erstmals erschienen 2022 bei Stelliform Press
in Hamilton, Ontario
© 2022 by Rebecca Campbell
© der Übersetzung 2025 by Barbara Slawig
© dieser Ausgabe 2025 by Carcosa Verlag, Wittenberge
Alle Rechte vorbehalten
»An Important Failure« erschien zuerst im August 2020 in CLARKESWORLD 167 // Wir danken der Transatlantic Literary Agency, Toronto, und der Liepman Literary Agency, Zürich, für die gute Zusammenarbeit
Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von
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Lektorat: Hannes Riffel
Korrektorat: Sünje Redies
Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]
E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz
ISBN: 978-3-910914-30-8 (Buchausgabe)
ISBN: 978-3-910914-31-5 (E-Book)
Inhalt
Impressum
SONDERSAMMLUNGEN
(Special Collections)
KONTROLLIERTES ABBRENNEN
(Controlled Burn)
EIN BEDEUTENDER FEHLSCHLAG
(An Important Failure)
REISER UND WURZELSTÖCKE
(Scions and Root Stocks)
KNEIPENESSEN
(Pub Food)
DIE BAUMKATHEDRALE
(The Cathedral Arboreal)
Danksagung
CARCOSA
Für David Bourne
SONDERSAMMLUNGEN
Jude gab seine Kurse in Technikdesign und Kommunikation schon so lange online, dass sich der temporäre virtuelle Seminarraum wie eine dauerhafte Einrichtung anfühlte. Alle ein, zwei Jahre schlug jemand aus dem Fachbereich Präsenzunterricht vor, aber Jude war nicht weiter überrascht, wenn der Ausnahmezustand dann doch wieder um ein Jahr verlängert wurde und sie weiter vergeblich auf eine Rückkehr zur Normalität warteten.
Sein Büro besuchte Jude nur noch selten. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten, die er regelmäßig an Eighteenth-Century Speculum schickte, brauchte er jedoch nach wie vor Bücher. Daher machte er sich an einem regnerischen Dienstag auf den Weg zum Campus, vorbei an einstmals ganz in Gold erstrahlenden, inzwischen völlig dunklen Wohntürmen. In den 90ern, als er hier studiert hatte, war der Campus üppig bewaldet gewesen. Heute stand dort sterbender Rhododendron, und vom Waldrand her rückte Brombeergestrüpp auf den Universitätsclub vor.
Jude vermisste die vertrauten Landmarken seiner eigenen Studienzeit. Trommelgruppen. Ausstellungen von Schreckensbildern. Kreidelinien, die den Meeresspiegel im Jahr 2100 markieren sollten. Einmal war er, maßlos breit, mitten auf dem Innenhof eingeschlafen, Überwachen und Strafen aufgeschlagen auf der Brust, während ringsum der Tag begann und verging. Als er sich endlich zum Bus schleppte, war es fünf Uhr, und die Sonne hatte ihm das Buch in die Haut gebrannt.
Seinen Studierenden erschien dieses vergangene Zeitalter unglaublich, ja sogar empörend, ein frivoler Lebensstil, für den sie einen entsetzlich hohen Preis zahlten. Sie dagegen strebten Abschlüsse in Katastrophenmanagement oder experimenteller Landwirtschaft an und absolvierten Praktika in den Sümpfen der ehemaligen Tundra, fest entschlossen, das zu überleben, was auf die Welt zukam. Falls es ihnen nicht gelang, sie zu retten.
Inzwischen war er daran gewöhnt, dass sie per E-Mail oder im Chat zunehmend wütende Fragen stellten: Was spielt es für eine Rolle, ob Subjekt und Verb zusammenpassen, wenn es mir um Qualitätskontrolle in einem Kernkraftwerk geht? Was bitte bedeutet mir das aristotelische Ethos, wenn ich Photovoltaik-Anlagen auf der Schnellstraße nach Fort Mac oder einen Windpark auf dem Eriesee baue? Vor zwanzig Jahren hatte er ihnen noch Vorlesungen über Standards der Kommunikation bei komplexen Infrastrukturprojekten gehalten und ihnen erklärt, dass sie ihr gesamtes Berufsleben mit Schreiben verbringen würden und es daher gründlich lernen sollten. Jetzt hatte er keine Antworten mehr zu bieten, mit denen sie etwas anfangen konnten.
Der Lichtschalter im Flur funktionierte nicht. An dem Schwarzen Brett neben seiner Bürotür hing ein Plakat für eine Vorlesung, die vor sechs Jahren stattgefunden hatte. Er hatte hingehen wollen. War aber nicht hingegangen.
Die Bibliothek hatte wundersamerweise geöffnet. Drinnen setzte er den Fuß auf die Treppe zum Freihandbereich …
»He, Sie!«
Er drehte sich um. Eine Frau zeichnete sich als Schatten gegen den hellen Eingang ab. Sie hatte beide Hände voll: Eiscremebehälter, Putzeimer, einer noch mit dem alten Logo von Canadian Tire.
»Weiter«, sagte sie und ging an ihm vorbei. »Nach oben, solange noch Zeit bleibt. An der Südwestecke sickert es schon rein. Wir werden alles von Deleuze und Guattari verlieren.«
Wortlos nahm er die Gefäße, die sie ihm in die Hände drückte, und folgte ihr. Es war lange her, dass er mit jemandem geschwatzt hatte, dem er zufällig begegnete, ein kurzes Nicken, wenn man sich über den Weg lief, das Versprechen, demnächst einen Kaffee zusammen zu trinken. Ihm wurde bewusst, dass er noch gar nichts gesagt hatte. »Sind Sie jeden Tag hier?«
»Mehr oder weniger. Was suchen Sie denn?«
»Oh.« Er musste nachdenken, den Blick auf den Stapel Eiscremebehälter in seinen Armen gerichtet. »Band sieben der Twickenham-Ausgabe von Pope.«
Es war schön, mit jemanden zu plaudern, wie es früher üblich gewesen war, bevor die Welt in diesen schrecklichen Zustand geriet, jede Begegnung Risiken barg und die jungen Leute angesichts des geballten Leids der Welt die Freude am Gespräch verloren.
»Warum tragen wir Eimer nach oben?«
Als sie das oberste Stockwerk erreichten, sah er eine zerbrochene Fensterscheibe, die jemand mit Müllsäcken und Pappe repariert hatte. Berenice. So hieß sie. Einen Doktortitel in Informationstheorie von irgendeiner großen amerikanischen Uni. Sie führte ihn in einen Winkel, wo die Decke aufgequollen war und schwarz verfärbt.
»Es hat sich vermutlich wochenlang angesammelt, und heute ist es durchgebrochen. Ich habe die ganze Nacht Eimer geleert.«
Es roch nach altem, feuchtem Papier. Unter den dumpfen, erdigen Gerüchen lag aber auch etwas Frisches. Regen. Hier drinnen hatte es noch nie nach Regen gerochen.
»PR3620.F03«, rief sie ihm über die Schulter zu.
»Natürlich.« Er stellte die Eisbehälter ab und ging an den Regalen entlang bis PR3620. Seine Schritte schienen ihm so laut, dass er vorsichtig auftrat, als könnte er Studierende stören. Dabei besuchte längst niemand mehr den sonnigen Winkel dort am anderen Ende, den mit der Bank, auf der man sich – wenn man früh genug kam – zu einem Schläfchen ausstrecken konnte. Bei den PR3600ern war es fast trocken. In dieser Ecke, fiel ihm plötzlich ein, hatte er sich einmal mit einer Freundin gestritten, sie hatten sich in lautem Flüsterton Beleidigungen an den Kopf geworfen, bis jemand, der sich auf ein Examen vorbereitete, sie gestresst zum Schweigen gebracht hatte. Die Twickenham-Ausgabe hatte überlebt, war aber vor Feuchtigkeit gewellt. Die kurze Illusion von Normalität löste sich auf. Hinter der nächsten Ecke trieben womöglich Enten zwischen den Arbeitstischen, oder die Fluchttreppe war zum Wasserfall geworden.
Berenice saß im Erdgeschoss an einem mit Papier übersäten Schreibtisch beim Fenster. Ihr Laptop leuchtete.
»Weiß denn niemand Bescheid?«, fragte er, während er die Bücher ablegte.
»Ich habe es gemeldet, aber es ist kein Geld da, und ich bin nicht mal sicher, ob es noch jemand gibt, der antworten könnte. Vermutlich stapeln sich die Nachrichten irgendwo in einem riesigen Postfach voll ungelesener Berichte über den Verfall der McPherson-Bibliothek.«
»Dann sind Sie die Einzige hier?«
»Ein paar Studierende helfen aus. Manchmal kommt auch jemand von den Fakultäten vorbei. Erinnern Sie sich an Dr. Cho? Der Milton-Experte? Als es im September so stark regnete, hat er die verstopften Abflüsse im Untergeschoss mit der Spirale traktiert. Der Ärmste war tagelang völlig durchnässt, aber er hat es geschafft. Ich hätte das nicht gekonnt.«
Er setzte sich auf den staubigen Plastikstuhl neben dem Schreibtisch. »Und was machen wir jetzt?« Er kam sich hilflos vor und merkte zugleich, dass sein Tonfall, völlig grundlos, etwas vorwurfsvoll klang.
Sie schien auf die Frage vorbereitet zu sein, und ihre Antwort war schmerzhaft ehrlich: »Die Sammlung als Ganzes lässt sich nicht erhalten. Ein paar Leute im Ruhestand wollen aushelfen. Und Studierende, die noch in der Stadt sind. Ich arbeite an einer Liste. Wir müssen alles dokumentieren, und wir brauchen einen Plan, wie wir Exemplare auf mehrere Orte verteilen. Wir sollten davon ausgehen, dass wir vieles ganz verlieren.«
»Ich könnte Ihnen mit den undichten Stellen helfen«, sagte er, als hätte er nicht genau verstanden, wovon sie sprach, »wir könnten durch die Decke nach oben steigen …«
»… aber das Gebäude ist nicht zu retten.« Sie sagte es erstaunlich sanft. »Nicht wenn wir langfristig denken. Und wir sollten übers nächste Semester hinausdenken, oder auch übers nächste Jahr. Selbst wenn die Satelliten funktionieren, werden die Verbindungen immer wackliger – Sie wissen doch, was nach dem letzten Erdrutsch im Landesinneren passiert ist. Wir werden wieder Bücher brauchen, zumindest für einige Zeit. Vielleicht auf Dauer. Aber dann dürfen die Bücher nicht zu Brei geworden und auf dem Campus weggesperrt sein.«
»Und was retten wir? Außer Pope natürlich?«
»Pope. Und alles über Tierhaltung. Geographie. Geologie. Wie man Zähne zieht. Wie man einen Bauernhof führt.« Jetzt lachte sie. »Einen Einödhof!«
Jude fröstelte, aber es war kein neues Frösteln: Es begleitete ihn seit Jahren. Die Kälte war ihm unter die Haut gekrochen, als er begriffen hatte, dass die Welt, für die er geschaffen war, rings um ihn zerfiel. Und er würde mit ihr untergehen, er würde immer noch von Cafés und WLAN träumen, während sich die jungen Leute darauf einstellten, in den neuen Wäldern zu leben, die schon jetzt die verlassenen Wohnblöcke am Stadtrand überwucherten.
Im ersten Winter ihrer verschworenen Gemeinschaft fühlte Jude sich beflügelt und erschöpft zugleich. Trotz Dr. Chos Einfallsreichtum verloren sie während der Regenfälle im April das Untergeschoss und sperrten die Galerien, die alte Kompaktanlage und den Mikrofiche-Bereich dauerhaft zu.
Die Bibliothek verfiel, und die Verbindungen über die Berge nach Alberta wurden mit jedem Hochwasser und jedem Erdrutsch unzuverlässiger. Aber dann dachte er daran, wie es sich anfühlte, Kindred oder The Fleece zu lesen oder eins von tausend anderen Büchern, und eine zarte, strahlende Hoffnung erfüllte sein Herz. Er dachte an die nie digitalisierten Tonaufnahmen im Archiv in der Innenstadt, auf Meereshöhe, all die Stimmen, und fragte sich, was wohl aus ihnen werden würde; er stellte sich vor, wie die Kellerräume unter dem alten Museum überflutet wurden, sah die Feuchtigkeit aus den Betonwänden sickern und die langen Tische, die weißen Handschuhe, die winzigen Bleistifte, die Garderobenschränke im Nebenraum im Wasser stehen, erst knöchelhoch, dann kniehoch, und dann würde dieses wässrige Dunkel ganz leicht zu schimmern beginnen, weil der aufgelöste Beton eine noch nicht entstandene Art Phytoplankton ernährte.
Zweimal die Woche lief Jude an den Regalen entlang und arbeitete Listen ab, die er auf die Rückseiten alter Seminararbeiten schrieb. Während er Bücher aus den Fächern zog und einpackte, um sie in die Welt hinauszutragen, fühlte er sich zum ersten Mal seit Jahren verschwenderisch reich.
Der Gezeitentümpel, eine Vertiefung in der dicken Schicht Quarzdiorit am Westufer des Saanich Inlet, fasst 2,35 Liter Salzwasser. Es gibt ihn seit dem Morgen des 26. Januar 1700, als das letzte Megathrust-Erdbeben ihn an seinen Platz gerüttelt hat. Alle zwölf Stunden und vierundzwanzig Minuten überspült die Flut den niedrigen Rand im Südosten und füllt den Tümpel mit 2,35 Litern frischem Wasser. Im Lauf der drei Jahrhunderte hat er sich die Bucht mit Muschelgärten, Müllbergen, Strandpartys, Kahlschlagholz und Fischfangflotten geteilt, mit übersäuertem Meerwasser, Jetskis und Lachsschwärmen. Die Lebewesen im Tümpel haben – aus der Ferne – beobachtet, wie Schmalzlocken bei Männern und skandalöse zweiteilige Badeanzüge bei Frauen modern wurden. Meeresschnecken, Seepocken und Napfschnecken leben darin, Einsiedlerkrebse ernähren sich von der üppigen Schicht Biomasse, die den Boden überzieht.
An diesem Julitag ist es so windstill, dass sich das Wasser kaum bewegt und die Luft an den Erdbeerbaum-Ästen über dem Tümpel aufgehängt scheint. Um zwei Uhr nachmittags erreicht die Temperatur 31ºC. Dem Granit macht das natürlich nichts aus, aber das Wasser verdunstet und hinterlässt eine dünne Schicht Salz an den Tümpelrändern. Eine Woche lang wird es an jedem Nachmittag wärmer. 32. 35. In Cowichan Valley stehen die Leute früh auf, tränken ihre Vorhänge mit Wasser und bleiben im Dunkeln. 37. Die Wälder sind trocken. Rehe und Hirsche sind so still, als hätten sie schon einen Hitzschlag. Die Kaninchen sind verschwunden.
Von Tacoma bis Port Hardy vertreibt Hochdruckwetter die Wolken und lässt die Temperatur der verdichteten Luft weiter ansteigen. 39. 42.
Auf den Betonflächen in den baumlosen Stadtvierteln fühlt sich die Luft wie Isolierglas an, dick und von dunklem Gold. Der blaue Himmel brennt in den Augen.
43. 46. In Victoria träumt ein armes Mädchen in ihrem billigen Zimmer vom Regen. Eines Nachts flackert das Stromnetz und fällt aus. Überall an den Stränden liegen Fremde Seite an Seite schlafend in der Dunkelheit. In der ersten Nacht sterben zwölf Kinder, außerdem dreiundvierzig Todkranke in einem Pflegeheim. Familien, die es sich leisten können, flüchten in ein Kino mit Klimaanlage außerhalb der Stadt, das alle Herr der Ringe-Filme im Director’s Cut zeigt; Kinder dösen, klebrig von Süßigkeiten, mit dem Kopf im Schoß ihrer Eltern und betteln darum, nach Haus in ihre Betten zu dürfen.
Frühmorgens ist das Wasser im Tümpel und der umgebende Fels noch kühl. Die Seepocken sind am Kopf mit dem Boden verwachsen, sie scheiden eine Kalkmasse aus, die sowohl ihre Schale bildet als auch den Klebstoff, der sie hält. Zur Mittagszeit fühlt sich das Wasser heiß an, 51ºC, und im Laufe des langen, stillen Nachmittags beginnt das Eiweiß im Körper der Seepocken zu denaturieren. Die Zellen können ihre lebenswichtigen Aufgaben nicht mehr erfüllen. Bei Ebbe riecht der gesamte Strand nach Verwesung, nach den offenen Mündern der Miesmuscheln.
In Victoria beobachtet eine fünfundachtzigjährige Frau aus dem Südfenster einer Wohnung in der Fort Street den Sonnenaufgang und denkt: Dieser Tag wird unerträglich. Sie ist jetzt schon dehydriert, das Blut in ihrem Körper wird dicker. In ihrem winzigen, stickigen Zimmer sind es 47 Grad. Sie hat die Vorhänge mit warmem Leitungswasser besprüht. Ihre Beine sind so geschwollen, dass sie nicht mehr gehen kann. Sie sitzt nah am Fenster und denkt an einen Tag im Jahr 1945, als sie ein kleines Kind war und in einem Gezeitentümpel im felsigen Bett des Saanich Inlet stand. In ihrer Wohnung sind es 48 Grad. Sie denkt an Wasser, sieht sich über Felsen voller Seepocken klettern. 49 Grad. Es sind 50 Grad. Sie müsste aufpassen, dass sie sich nicht schneidet, aber das Wasser um ihre Füße ist schon rot. In ihrem Gehirn gerinnt das verdickte Blut. Sie blutet. Sie blutet.
Regentage, an denen der Duft des Wassers aus dem Untergeschoss emporstieg. Drückende Tage, an denen sich der Weg die Treppe hinauf wie ein Aufstieg in die Hölle anfühlte. Raucherfüllte Tage und dunkle Tage, an denen das Stromnetz flackerte und er sich fragte, ob es je wieder stabil laufen würde. An all diesen Tagen sammelte Jude Bücher ein, trug sie aus der Bibliothek zu Berenice’ altem Auto und brachte sie gemeinsam mit ihr zu gleichgesinnten Menschen überall in der Stadt.
Bodenkunde. Tierhaltung. Erste Hilfe. Krankheiten des Huhns, der Ente, des Schweins. Love and Rockets. Krankheiten der Kartoffel und die Grundlagen des Destillierens. Die Gefahren von Methanol.
Naturfarben. The Faerie Queene. Optik. Anzeichen eines Schlaganfalls. Diabetes. Die blutige Geschichte imperialer Eroberung in Nordamerika. Das Immunsystem. Nützliche Schimmelpilze. Gefährliche Schimmelpilze. Die Geschichte des Kajaks. Die ausgestorbene Großfauna Nordamerikas.
Baumethoden und Architektur der Küsten-Salish.
Aber es gab viel mehr Bücher als Orte, wohin man sie gefahrlos bringen konnte, jetzt, nachdem das Feuer Sooke überrollt und die Große Entvölkerung von Vancouver Island begonnen hatte. Mit jedem Jahr wählte Jude strenger aus:
Beethovens Kreutzer-Sonate oder »Where Does That River Run?« oder »Don’t Get Around Much Anymore« oder »1. Gymnopédie« oder Company?
Die Geschichte des Westküsten-Punk in Zeitzeugenberichten oder lieber eine brauchbare Abhandlung über den Zweiten Weltkrieg?
Die sieben Leuchter der Baukunst oder Die Seelen der Schwarzen?
Die Baghavad Gita oder Die Reise nach Westen oder Krieg und Frieden?
Detektorradios. Sir Thomas Brownes Abhandlung über Bestattungsriten. Morsen. Das Lymphsystem. Körper von Gewicht.
Eine Biographie von de Sarasate. Die Geschichte der Geige und Grundlagen des Geigenbaus. Tischlerei. Wagoya.
Das Herstellen von Hämmern aus Metall und aus Stein.
Er fragte sich, was er der Zukunft wohl vorenthielt – irgendetwas, das man in zwanzig Jahren unbedingt brauchen würde: Wie man ein Solarpaneel reparierte, ein gebrochenes Bein richtete, Krupp heilte, einen Smoker baute.
Er war müde, und in dem feuchten, sonnenlosen Saal war es kalt. An diesem Januartag, mehrere Jahre nachdem Berenice und er mit dem Auflösen der Sammlung begonnen hatten, machte er bei SB469-476.4 Halt. Landschaftsarchitektur. Er nahm ein Buch aus dem Regal, das voller Zeichnungen und Fotos von Bäumen war: Stockausschlag und Verwachsungen, italienische Baumhecken und am Spalier gezogene Pfirsichbäume in provençalischen Gärten, Tanzlinden in deutschen Dörfern und Baubotanik-Türme in Dänemark. Die lebenden Wurzelbrücken von Meghalaya. Zuschauerränge aus Gummibaumwurzeln, auf denen junge Männer mit gereckten Hälsen ein Cricketspiel verfolgten. Möbel, die nicht aus totem Holz, sondern aus den Ästen lebender Bäume bestanden. Plötzlich konnte er sich eine Zukunft vorstellen, in der so etwas normal war, in der die Menschen auf Ästen lebten, umgeben von Laub.
Das Buch war zu schwer, um es auf der Flucht vor einer Seuche oder einer Überschwemmung mitzunehmen – so hatte Berenice es einmal ausgedrückt. Trotzdem packte er es in die Kiste für eine Freundin in Cowichan Valley, die ihnen ein ganzes Zimmer für ihr Vorhaben angeboten hatte.
Er kannte Berenice jetzt schon seit Jahrzehnten, ihre Strenge, ihr Engagement, ihren knochentrockenen Humor. Inzwischen war er jeden Tag aufs Neue erleichtert, dass sie immer noch hier lebte und nicht in eine der großen Bergbaustädte im Osten oder Norden gezogen war, wo die Leute im Kriebelmücken-Sommer in Cafés zusammensitzen und die Rauchwolken der Waldbrände beobachten konnten. Sie hätte hinziehen können. Ihr ältester Sohn war Geoingenieur. Bestimmt gab es Enkelkinder. Aber Berenice war immer noch da, mitsamt dem ironischen Lächeln, das für schnöselige Studierende und übergriffige Verwaltungsleute reserviert war.
»Hast du gehört?«, fragte sie bei ihrem nächsten Treffen. »Die Uni Toronto hat sich die erste Quarto-Ausgabe aus der Parlamentsbibliothek unter den Nagel gerissen. Mich überrascht das nicht. Die waren schon immer so.«
Er lachte. »Wir können ja auch gierig sein. Was möchtest du haben?«
Sie waren im zweiten Stock, weiße Handschuhe an den Händen; über ihnen flackerten die letzten drei Leuchtstoffröhren.
»Lieber nicht.«
Das zu hören tat weh. »Ich finde, die Sachen sollten in der Nähe bleiben. Wir möchten doch alles wieder zusammenbringen, wenn …« Das ließ ihn verstummen. Er versuchte es noch einmal: »Wahrscheinlich sollte es auch nach Cowichan geschafft werden.«
Er nahm eine Karte der Salish Sea aus dem neunzehnten Jahrhundert in die Hand, eine von vielen, die sie heraufgeholt hatten, bevor das Untergeschoss ganz überschwemmt worden war. Die Uni Toronto hatte sie beim Leerräumen der Sondersammlungen liegen gelassen.
»Die solltest du nehmen«, sagte Berenice.
»Ich habe jetzt schon zu viel. Falls mein Haus zerstört wird, verlieren wir fast das ganze achtzehnte Jahrhundert.«
»Aber wir sollten auch belohnt werden, oder? Nimm die Karten.«
An diesem Abend fiel der Strom aus, und er betrachtete die alten Karten und erinnerte sich an die früheren Umrisse der Inseln von Desolation Sound bis Oak Harbor. Inzwischen war die Mündung des Fraser beim Stadtteil Delta viel breiter, und Lulu Island ging allmählich unter. Salzwasser strömte nach Nordosten und folgte der alten Uferlinie von False Creek. Das Anthropologie-Museum der Universität von British Columbia rutschte die Sandhänge zum Wreck Beach hinunter. Er suchte die Eckpunkte der Welt auf, die er als Kind gekannt hatte, als junger Mann, und berührte die Kreuzung in Kitsilano, die er an warmen Abenden so geliebt hatte. Seine Wohnung in der Fraser Street, im Dachgeschoss eines baufälligen Hauses voller Streifenhörnchen. Seminarräume. Bedeutungslose Geisterkarten, dachte er – lohnt es sich überhaupt, sie aufzuheben? Die alten Knicke, die abgenutzten Stellen, die feinen handschriftlichen Anmerkungen in Tinte.
Er rollte sie zusammen und stellte sie in seinen alten Rucksack, den er oben offen ließ wie einen Köcher voller Pfeile.
Geographie hatte Dr. Tremblay unterrichtet. Er war ein freundlicher Mann gewesen. Jetzt lebte er bei seinen Enkelkindern am Hang von Mount Newton, oberhalb der niedrig gelegenen Vororte auf der Halbinsel Saanich. Jude hatte die Adresse in eine dieser Apps eingegeben, die einem die zukünftige Küstenlinie nach einem oder auch zehn Metern anzeigten. Man lebte dort sicherer als in vielen anderen Teilen von Victoria.
Es war ein staubiger, stiller Tag. Einen unerwarteten Vorteil hatte diese langsame Apokalypse, fand er: dass man nicht ständig einer Trommelgruppe oder einem Filmteam ausweichen musste, wenn man den Campus überquerte. Inzwischen genoss er die Sonntagsruhe, die jetzt dauerhaft über der gesamten Stadt lag.
Er setzte den Rucksack auf und ging in die von Rauch erfüllte Luft hinaus. Bis zu dem Tor neben dem goldenen Erdbeerbaum brauchte er drei Stunden, und die Zufahrt war so steil, dass er vom Fahrrad stieg und schob.
»Goldene Erdbeerbäume habe ich noch nie gesehen«, sagte er an der Haustür. Tremblay bat ihn nicht herein, sondern setzte sich zu ihm auf die Eingangsterrasse, wo Jude ein Glas Wasser trank. Irgendwo spielten die Enkelkinder.
»Ich weiß auch nicht, wo die herkommen. Irgendeine Mutation, vielleicht auch eins der gentechnischen Projekte, die Guillaume von der Forstwissenschaft betrieben hat. Manchmal hat er Pflanzen mit nach Hause gebracht.«
»Ist er …«
»Seit drei Jahren. Bei der letzten Seuche.«
»Das tut mir leid.«
»Sie unterrichten vermutlich von zu Hause? Seitdem?«
»Genau.«
»Wann ist die Wiedereröffnung geplant?«
Diese Frage stellte sonst niemand mehr. »Irgendjemand hat etwas von Ende des Jahres gesagt, aber sehr wahrscheinlich ist das nicht.«
Der Himmel im Westen färbte sich violett. Der Rauch verlieh den letzten Sonnenstrahlen die Farbe von dunklem Bernstein. Sie schauten beide hangabwärts, zwischen vertrocknenden Alaska-Zedern und den toten Ästen halb verdursteter Erdbeerbäume hindurch.
»Wussten Sie eigentlich«, sagte Dr. Tremblay, »dass das Volk der Saanich während der Flut von einem Erdbeerbaum gerettet wurde?«
»Flut … letztes Jahr? Als Elk Lake …«
»Nein. Während der großen Flut.« Jude hörte ihm gern zu, es war wie eine Abschweifung zu den hydrologischen Mythen der Salish während einer Geographie-Vorlesung für Erstsemester. »Jedenfalls – das Wasser stieg immer höher und hatte schon das ganze Dorf überschwemmt, also kletterten sie in ihre Kanus und steuerten den einzigen Gipfel an, der noch zu sehen war – Mount Newton – genau hier. Bis sie dort ankamen, ragte nur noch ein Erdbeerbaum aus dem Wasser. Deswegen ist niemand verloren gegangen. Sie haben ihre Kanus an einem Erdbeerbaum auf dem Gipfel dieses Berges festgebunden, bis das Wasser zurückging.«
»An einem von denen?« Jude blickte zu dem goldenen Baum weiter unten.
»Von der alten Sorte, der da. Arbutus menziesis. Nicht von der neuen, wie auch immer sie heißt.«