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Die weiße Königin überzieht Arenlai mit todbringender Kälte, um so ihre Herrschaft auszuweiten. Pan soll sich dem entgegenstellen. Doch die Unsterblichkeit ängstigt sie und ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten sind schwer zu kontrollieren. Immer wieder ergreift tiefe Traurigkeit Pan und sie findet sich in der neuen Rolle nicht zurecht. Wird sie den Umgang mit ihrer ungewohnten Gestalt erlernen? Kann sie der gefährlichen Monarchin Gards etwas entgegensetzen? Oder wird am Ende ganz Arenlai im Eis versinken?
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Seitenzahl: 287
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Fantasy und Poesie dafür schlägt mein Herz, damit kann man Träume einfangen und jede Facette des Lebens spiegeln.
Alex C. Weiss
Pans Reise führt in die Dunkelheit,
nicht jeder Lesende ist dazu bereit.
Eine Inhaltswarnung findest du zum Schluss,
weil jede Person selbst entscheiden muss,
was ihr gut tut und was nicht gefällt,
was sie vonArenlais Themen hält.
Pass auf dich auf, geh nicht zu weit,
mach dich für die Reise bereit.
1. Eissplitter
2. Die weiße Ebene
3. Verwirrung
4. Einsamkeit
5. Begegnungen
6. Erkenntnis
7. Wut
8. Erwachen
9. Aufbruch
10. Akzeptanz
11. Kanuras
12. Zurna
13. Bekanntschaften
14. Gegenpol
15. Verbundenheit
16. Gard
17. Schatten
18. Rettung
19. Alte Freunde
20. Gemeinschaft
21. Steigerung
22. Gerüchte
23. Rückzug
24. Emotionsüberschuss
25. Berührung
26. Eklantas
27. Schattenalben
28. Gard
29. Kerker
30. Der weiße König
31. Streit
32. Kalte Gegener
33. Verzweiflung
34. Gemeinsame Pläne
35. Die Falle
36. Pans Kinder
37. Familie
Über der weißen Stadt erhob sich der Sturm. Eklantas sah ihn aus der Ferne und spürte die Kälte, die von ihm ausging. Schon brachen die ersten Flüchtigen durch das Stadttor. Der Nachtalb zog sich zurück in die Schatten. Die nahe Stadt war hell erleuchtet und das Licht schmerzte ihn. Hier zwischen den Bäumen war er mit seiner schwarzen Haut kaum sichtbar. Nur seine gelben Augen leuchteten aus der Dunkelheit. Sein langer Schwanz, den Nachtalben auch verwendeten, wenn sie sich in den Wäldern von Baum zu Baum bewegten, blieb bewegungslos. Er wollte nicht gesehen werden.
Es schien, als würde der Sturm die Menschen verfolgen. Kaum hatte er sie erreicht, schrien die ersten gepeinigt auf. Ihre Augen weiteten sich in Todesangst und sie liefen, von Panik getrieben, hinaus in die Schneeebenen vor der großen Stadt Gard. Der Sturm schien nicht mehr nur aus kalter Luft zu bestehen. Eiskristalle bildeten sich in ihm, die wie Dolche auf die Fliehenden einprasselten. Schon fielen die Ersten getroffen zu Boden. Blutstropfen färbten den Schnee und ließen ihn aussehen, als verteilten sich die Beeren der Blutrebe darauf. Als hätte der Sturm einen Gebieter, bewegte er sich im Kreis um die Menschenmenge und kesselte sie ein. Die mit Eis angereicherte Luft sperrte die Menschen ein. Eklantas sah sie nur noch schemenhaft. Wie eine riesige bewegte Mauer aus Schneekristallen umschloss der unnatürliche Sturm die Gardener. Das Tosen des seltsamen Wetterphänomens erstickte die Schreie der Eingesperrten. Nun manifestierte sich vor dem Stadttor eine Gestalt. Zuerst war nur heller Nebel zu erkennen. Aus ihm heraus bildete sich der Körper einer Frau. Sie war weiß wie der Schnee und eine Krone aus Eiskristallen zierte ihr Haupt. Langes Haar wallte, vom Wind in Bewegung gesetzt, über ihre zarten Schultern. Winzige Kristalle schmückten ihre Haut und glänzten in ihrem Haar und auf ihrem Kleid. Ein Lachen durchbrach die Stille und eine einzelne Handbewegung der weißen Königin gebot dem Sturm Einhalt. Eis und Schnee fielen zu Boden und ließen einen kreisrunden niedrigen Wall zurück, der die entsetzten Gardener umschloss. Haar und Kleid der weißen Königin legten sich fügsam und glatt über ihren Körper. Sie war klein, wirkte fast wie ein Kind, ein junges Mädchen nur und doch witterte Eklantas Gefahr. Kälte breitete sich von ihr aus und ließ die Menschen erschaudern.
Die Stimme der Königin war klar und hallte weithin durch die Nacht. „Ihr seid die Abtrünnigen, die meine Stadt in Verrufenheit gebracht haben. Ihr habt sie geöffnet für die niederen Völker, habt euch mit ihnen vermischt und so die Gefahr für uns hereingelassen. Beinahe wäre mein Plan gescheitert und ihr seid dafür verantwortlich.“
Stumm und erstarrt standen die Leute vor ihrer Königin. Niemand wagte es, ein Wort zu sagen. Eklantas sah aus der Ferne zu. Er hatte die Menschen nie verstanden, die Gardener am wenigsten. Ein seltsames Volk waren sie, rein äußerlich spiegelten sie die Schneebenen wieder. Alle hatten sie weißes Haar, weiße Haut und sie trugen ausschließlich weiße Kleidung. Der Nachtalb war das absolute Gegenteil. Nicht nur äußerlich unterschied er sich von ihnen. Er liebte die Dunkelheit, die Gardener verehrten das Licht.
Die Königin fuhr fort: „Die von euch, die reinen gardenischen Blutes sind, erhalten nun die Möglichkeit, sich mir erneut anzuschließen und die Bande zu den Gefahren der Außenwelt zu kappen. Wir werden ein neues Gard aufbauen, ein sicheres Gard, größer und schöner als es je gewesen ist. Ich werde diese Welt in Kälte und Eis hüllen und alle Gefahren hinwegspülen. Ein weißer Schutzwall wird die Krusten Arenlais überziehen und das helle Licht Arins und Ifras spiegeln. Wir werden die Dunkelheit zurückdrängen, so wie Osar es wollte und für eine helle neue Welt sorgen. Für Gard, für alle Gardener, für unsere Kinder, die in Sicherheit aufwachsen sollen, ohne Gefahren. So viele Entbehrungen habe ich für euch in Kauf genommen, für eure Sicherheit. Nun kann ich euch auf ewig beschützen. Folgt mir und ihr werdet niemals wieder Angst haben müssen.“
Eklantas erschauderte. Das war es, was sie wollte? Die Dunkelheit auslöschen? Alles in eine weiße Hülle einwickeln? Das sollte Sicherheit geben? Das sollte die Angst vertreiben? Sie war es doch, vor der man sich fürchten musste. Eine Stadt sicherer als das jetzige Gard? Drei Stadtmauern und ein Berg, in dem sich der Adel versteckte, waren nicht genug? Der Nachtalb bewegte sich nicht. Er stand im Schatten der Bäume und betrachtete die Szene weiter aus der Ferne. Wie gerne wäre er in die Stadt gegangen, hätte Pan gesucht und seine Herrin Gaszra. Aber Gard war so hell erleuchtet, dass ihm ein Eindringen unmöglich war. So blieb ihm nichts anderes übrig, als hier untätig zu warten.
„Wer mir folgen möchte und in Sicherheit und Wohlstand leben, der soll näherkommen und vor mirknien.“
Einen Moment lang standen die Menschen unbeweglich, dann teilten sie sich in zwei Gruppen. Die einen stapften nach vorne und knieten sich vor die Herrscherin in den Schnee. Die anderen und es waren erheblich weniger, blieben stehen oder versuchten, sich unauffällig davon zu schleichen.
Einen Augenblick lang dachte Eklantas, die Königin würde es zulassen, sie würde die Leute frei lassen und nur ihre Anhänger mit sich nehmen. Doch genau in diesem Momenthob sie die Hände, nur sanft, kaum merklich. Der Wind erhob sich und nahm die Eiskristalle, die gerade noch auf dem Boden gelegen hatten in sich auf. Kalte Eissplitter, die scharf und glatt durch die Luft sirrten, ließen ein hohes Geräusch entstehen. Schnell entschieden sich einige der Menschen dazu, nach vorne zu treten und das Knie zu beugen. Die Königin ließ den Übrigen nicht viel Zeit, umzudenken. Zuerst hob sie ihre Hände, der Sturm folgte der Bewegung. Dann stießen beide Arme abrupt nach unten und mit ihnen prasselten die Eissplitter auf die Menschen herab, die sich gegen eine Folgschaft entschieden hatten. Sie fielen getroffen zu Boden. Und als der Morgen graute und ein flammendes Licht über den Bergkamm schickte, tauchte das Blut der freien Gardener den Schnee in sein helles Rot.
Die weiße Königin wandte ihren Blick gen Himmel. Als würden die Wolken ihren Gedanken gehorchen, fielen die ersten Schneeflocken herab. Schnell wurde daraus ein dichtes Treiben und die Leichen versanken im tiefen Schnee, als hätten sie niemals existiert. Eine unberührte weiße Schneedecke blieb zurück.
Die Königin wandte sich ab, führte ihre Gefolgschaft vorbei an der großen Stadt hinein ins Gebirge inmitten der Eiswälder. Eklantas sah sie davonziehen und mit ihnen verschwand die schützende Dunkelheit der Nacht und er war genötigt, sich vor den Strahlen Ifras zu verstecken, wie an jedem Tag seines Lebens.
Die Strahlen des leuchtenden Planeten Ifras, hatten wenig Kraft, als Seth und Liar die Mauern Gards hinter sich ließen.
Das dichte Schneetreiben hatte sich in sanften Schneefall verwandelt. Dennoch lag der Schnee höher als gewohnt und die Reittiere der beiden sanken bei jedem Schritt ein. Es waren weiße Gelan, die sie aus dem Militärring Gards gestohlen hatten. Seth hatte schon früher so ein Tier besessen. Ein wenig ähnelten sie den Irjan aus Rashland und Talru, doch einige Punkte unterschieden die beiden Arten. Die Irjan waren hochgewachsene schlanke Tiere mit kurzem rotbraunem Fell und filigranem verzweigtem Geweih. Die Gelan waren stämmiger und kleiner, ihr Haarkleid war lang und weiß, fast ein wenig zottelig und schützte sie besser vor der Kälte der Schneeebenen. Statt einem Geweih trugen sie zwei in sich gedrehte Hörner auf dem Kopf. Es war ein Leichtes gewesen, sie zu stehlen, die Stadt war wie ausgestorben. Nur die Adligen, die im Berg selbst gewohnt hatten, schienen zurückgeblieben zu sein.
„Denkst du, die Leute sind ihrer Königin gefolgt?“, fragte Liar. Er fuhr sich mit einer Hand durch das helle Haar und zog dann seine Kapuze tief ins Gesicht. In seinem Bart verfingen sich die Schneeflocken.
Seth nickte. „Ich gehe davon aus.“
Zweifelnd schüttelte Liar den Kopf.„Vielleicht sollten wir sofort nach Kanuras aufbrechen. Wir müssen die Leute warnen. Die Königin hat Großes vor, so wie ich das sehe. Denkst du wirklich, dass wir in deiner Hütte sicher sind?“
„Ich möchte sehen, was sich hier in der Gegend entwickelt. Kanuras ist zu weit weg, da kann ich nicht abschätzen, was die Königin plant.“
Liar nickte. „Vielleicht hast du Recht. Jemand sollte die Gegend hier im Auge behalten. Aber sobald wir mehr wissen, brechen wir auf nachKanuras!“
Seth presste die Lippen aufeinander und nickte Liar zu. Von seinem Gesicht war dank seiner großen Kapuze nicht viel zu sehen, nur die Augen blitzten hervor. Eine braune Haarsträhne lugte aus seiner Kopfbedeckung. Sie trabten an der Mauer entlang. Die letzten Tage steckten ihnen in den Knochen. Still ritten sie nebeneinander her. Seth versank in Erinnerungen.
Liars Stimme durchschnitt seine Gedanken: „Was Pan nun wohl macht? Denkst du sie kommt zurecht? Seltsam, wie das alles gekommen ist. Ich wusste nicht einmal dass die Schutzgeister andere unsterblich machen können. Wusstest du das?“
Seth schüttelte den Kopf. „Nein. Es war ein seltsamer Augenblick, nicht wahr? Ol und Gaszra, ein Nagur und eine Gurdor arbeiten zusammen. Damit hätte wohl niemand gerechnet. Die Schutzgeister des Lichts und die des Dunkels haben soweit ich weiß noch nie zusammen gearbeitet.“
Liar nickte. „Es war fast magisch. Als sich ihre Hände berührten war ein seltsamer Lichtschein zwischen ihren Handflächen. Und dann diese silbernen Tränen. Ich habe sowas noch nie erlebt. Pan wieder erwachen zu sehen, ar zutiefst erschreckend.“
„Ich glaube, sie selbst hat sich auch erschrocken. Zumindest sah sie so aus.“
„Sie sah überhaupt ganz anders aus. Sogar ihre Hautfarbe hat sich verändert. Ihre grüne Haut hat immer so gut zu den grünen Augen und dem schwarzen Haar gepasst. Als die Haut dann weiß wurde, sah sie fast aus wie ein Gespenst.“
Seth runzelte die Stirn. „Sie war immer noch wunderschön.“
Liar grinste, feine Lachfältchen bildeten sich um seine blauen Augen: „Schon gut, schon gut. Natürlich war sie immer noch wunderschön.“
Ifra, der strahlende Stern, der Arenlai an jedem Morgen das Licht des Tages brachte, wanderte am Firmament nach oben. Die weißen Mauern Gards entfernten sich, bis sie nur noch ein undeutlicher Umriss in der Ferne waren. Seths Gedanken kreisten weiterhin um Pan. Nie im Leben würde er den Schrecken in ihrem Gesicht vergessen, als sie realisierte, was geschehen war.
Er sah zu Liar hinüber. „Pan schien nicht begeistert davon zu sein, die Unsterblichkeit bekommen zu haben.“
Liar lachte auf. „Nicht begeistert ist wohl untertrieben. Sie wollte es ganz eindeutig nicht. Naja, damit muss man wohl auch erst einmal zurecht kommen. Sie ist ja auch noch so jung. Ein junges Mädchen, gerade erst erwachsen geworden, fast noch ein Kind. Sie wird eine Weile brauchen, um das zu verarbeiten.“
„Ich hoffe sehr, dass sie lernt, damit umzugehen. Sie ist so eine wundervolle junge Frau. Aber sie war schon immer etwas melancholisch, nicht wahr?“
„Sie geht dir wohl gar nicht aus dem Kopf, was? Ja, sie war immer ein wenig still und suchte die Einsamkeit. Aber sie ist stark. Sie wird das schon verkraften, da bin ich sicher.“
Seth war sich nicht so sicher.
Hatte er ihre Melancholie unterschätzt? Sie hatte nie hilfsbedürftig gewirkt, im Gegenteil. Meist hatte sie Hilfe eher abgelehnt. Er hätte darauf bestehen sollen, hätte bei ihr bleiben sollen. Er hätte sie niemals allein in diese Gänge tief in den Bergen Gards gehen lassen dürfen. Vielleicht hätte er die weiße Königin aufhalten können. Vielleicht hätte er Pan vor dem Tod und damit auch vor dieser Transformation, bewahren können. Doch was sollte er jetzt noch ändern? Sie war fort.
„Denkst du sie kommt wieder?“
Liar sah ihn nachdenklich an. „Sie wird Zeit brauchen. Aber ja, ich denke, sie kommt wieder.“
Als die beiden endlich an Seths alter Jagdhütte ankamen, dämmerte es bereits. In der Ferne hörte er vertrautes Heulen. Es erinnerte ihn, an den gemeinsamen Ritt mit Pan und den anderen Gefährten auf den riesigen Wölfen Galsars. Damals hatte sie sich frei gefühlt, zumindest für einen Moment, da war er sich sicher. Doch nun waren alle, die bei diesem Rittdabei gewesen waren, tot, fort oder auf die Seite des Feindes gewechselt. Die Zeiten ändern sich, dachte er bei sich. Das war schon immer so. Damit muss man zurechtkommen. Sie kümmerten sich zuerst um die beiden Gelan, sattelten sie ab, rieben sie trocken und brachten sie in den kleinen Stall neben der Hütte. Schnell füllte Seth Heu in eine alte Futterrinne. Sie hatten Glück, es war noch genug Heu da, um die Tiere eine Weile zu versorgen.
Als Seth mit Liar die Hütte betrat, überfluteten ihn erneut die Erinnerungen an Pan. Hier war er ihr das erste Malbegegnet.
Wieder versuchte er, die Gedanken abzuschütteln. Er holte einige Holzscheite und schichtete sie im Kamin auf. Es dauerte eine Weile, bis er mit seinen klammen Fingern ein Feuer entfacht hatte.
Erst dann legte er seinen Mantel ab und schüttelte vor den Flammen sein hellbraunes Haar aus. Feine Eiskristalle klebten in den Strähnen und fingen nun an zu tauen. Die Kälte saß in seinen Gliedern und ließ sich nicht so schnell vertreiben.
Er sah sich um. War alles an seinem alten Platz? War in der Zwischenzeit jemand hier gewesen? Diese Art der Bestandsaufnahme hatte er immer nach Reisen gemacht und das gewohnte Ritual beruhigte ihn.
„Alles in Ordnung?“, fragte Liar.
Seth nickte und sein Begleiter drang nicht weiter in ihn.
In dieser Nacht kam der Schlaf nur zögerlich und er fand sich in seltsamen Träumen wieder von dunklem Nebel und goldenen Augen.
Die nächsten Tage brachten sie die Hütte wieder in Schuss. Liar bei sich zu haben war ein Segen. Gemeinsam jagten sie, nahmen die erlegten Tiere aus und legten das Fleisch in Salzlake ein. Sie sammelten Beeren und Wurzeln und hielten dabei die Augen immer offen. Doch es gab keine Anhaltspunkte für eine Veränderung oder irgendwelche Neuigkeiten über die weiße Königin. Auch Edelsteine und Heilpflanzen fand Seth zur Genüge. Er war sicher, er würde sie bald brauchen. Im Grunde war vieles wie zu früheren Zeiten, doch die alte Gewohnheit wollte sich nicht einstellen. Seine Gedanken kamen nicht wie sonst zur Ruhe.
An manchen Tagen ritt er in Richtung Gard und holte Erkundigungen ein, doch es war nicht viel zu erfahren. Ein paar wenige Menschen waren zurückgekehrt in die weiße Stadt, jedoch blieben die meisten verschwunden. Der Militärgürtel war seltsam leer. ImHändlerviertel waren nur wenige der Häuser besetzt und es gab kaum etwas zu kaufen. Nur im Armenviertel waren mehr Menschen anzutreffen. In den Berg selbst, der von den Adligen bewohnt war, kam er nicht hinein. Die Türen waren verschlossen und niemand reagierte auf sein Klopfen und Rufen. Vielleicht besser so. Vielleicht war die Königin zurückgekehrt. Wer wusste schon, wie lange man sich überhaupt noch gefahrlos in die weiße Stadt begeben konnte.
Und dann kam die Kälte. Es war schon immer kühl gewesen in den Ebenen und Wäldern vor Gard, doch diese Kälte war etwas anderes. Kein Feuer konnte die kleine Hütte mehr erwärmen. Eis bedeckte die winzigen Fenster und einige Tage später war die gesamte Behausung mit weißen Eisblumen überzogen. Die Äste der Bäume erstarrten und brachen ab, sobald man sie berührte. Jeder noch so kleine Windstoß schmerzte wie tausend Nadelstiche auf der Haut. Eines Tages fand Seth einen Schneefuchs steifgefroren im Wald. Er war ansonsten völlig unversehrt. Die Kälte musste ihn getötet haben. Es war wie ein Weckruf. Würden sie hierbleiben, so würden sie bald wie dieser Fuchs enden.
Seth packte alles Notwendige in seine Satteltaschen, hier würde er vielleicht nie wieder herkommen und machte sich daraufhin selbst für die Reise bereit. Seinen Körper und sein Gesicht rieb er mit einem speziellen Fett ein, das vor der Kälte schützte. Dann zog er drei Hosen an, schichtete vier Hemden übereinander und legte seinen Mantel an. Ein riesiges wollenes Tuch wickelte er sich zusätzlich zu seiner Pelzmütze über den Kopf und zog es hoch, um Nase und Mund zu schützen.
Liar tat es ihm gleich. „Wir hätten schon früher aufbrechen sollen.“
„Dann hätten wir aber nicht gewusst, was die Königin im Schilde führt, dann hätten wir diese Kälte niemals gespürt und ihre Gefahr nicht erkannt.“
„Du magst recht haben, aber wer weiß, ob wirunter diesen Umständen Kanuras überhaupt noch erreichen und irgendjemanden warnen können.“
Liar hatte nicht unrecht, das wusste Seth. Er hatte hierbleiben wollen, hatte gehofft, Pan würde ihn hier finden. Fadenscheinig waren seine Begründungen und er war sich sicher, das Liar das schon vor längerer Zeit durchschaut hatte.
Ihren Gelan legten sie wärmende Decken unter die Sättel. Jeder Atemzug in der Kälte schmerzte und die Feuchtigkeit, die sie ausatmeten, kristallisierte sofort zu winzigen Eisklümpchen, die auf ihrer Kleidung und ihrer Haut hängen blieben. Ein letztes Mal sah Seth sich um, richtete den Blick auf die kleine Hütte, ließ ihn über den Platz davor und die Bäume, die er in- und auswendig kannte, schweifen, bevor er sich endgültig abwandte. Nur eine Bewegung seiner Fersen und schon trabte das sanfte Gelan los. Liar folgte ihm wortlos.
Über Pan leuchtete Arin am dunklen Nachthimmel, doch sein Licht drang nicht bis zu ihrem Geist durch. Einst hatte ihr Eklantas erzählt, dass Esher selbst den hellen Stern Arin erschaffen hatte. Arenlai hatte seinen Namen von ihm, da die Welt in seinem silbernen Schimmer entstanden war. Doch nun konnte dieses wundersam sanfte Licht ihren Geist nicht erhellen. Finsternis hatte ihre Seele befallen, so tief wie sie sie nie gekannt hatte. Eine einzelne silberne Träne bahnte sich ihren Weg an ihrer Wange entlang, an ihrem Mundwinkel vorbei und über ihr Kinn. Sie löste sich nur langsam und fiel dann glänzend auf den moosbewachsenen Waldboden. Sobald die Träne das Moos benetzte, veränderte es sich. Die dunkelgrünen Ästchen wurden silbern und wuchsen so schnell, dass in Windeseile eine größere verästelte Pflanze daraus entstand. Silberne Blüten formten sich an den Zweigen, starben ab und bildeten kurz darauf ebenso silbern schimmernde Beeren. Pan beachtete es nicht. In den letzten Wochen hatte sie dieses Schauspiel so oft gesehen, dass die Verwunderung längst nachgelassen hatte. Seit jenem Tag, an dem die beiden Schutzgeister Ol und Gaszra sie mit ihren silbernen Tränen vor dem Tod gerettet hatten und Pan damit unsterblich werden ließen, waren ihre eigenen Tränen ebenfalls silbern und sie weinte sie zu oft. Sie beweinte vor allem ihre Möglichkeit zu sterben. Die Unendlichkeit ihres Lebens bereitete ihr eine tiefe, quälende Angst, die sie nicht von sich schieben konnte. Der Tod war ihr immer als tröstendes Ende erschienen und als eine Erlösung. Das Leben hingegen empfand sie oft als eine Bürde. Die Schwermut trug sie schon lange mit sich. Doch bisher hatte Pan sie wie einen alten Bekannten behandelt, der sie immer begleitete. Nun aber war die Traurigkeit zu einem Ungetüm gewachsen. Sie war ein schwarzes riesiges Monster, das in ihr wohnte und drohte sie auszulöschen. Dazu kamen die Stimmen, die sie seit ihrer Transformation ununterbrochen in sich hörte. Pan hatte es immer geliebt, vollkommen allein zu sein. Das waren die einzigen Momente, in denen sie sich nicht beurteilt, ja sogar verurteilt fühlte. Nun war sie keine Sekunde ihres Lebens mehr allein. Sie war mit den anderen Unsterblichen Arenlais auf seltsame Weise verbunden und hörte sie ständig zu sich sprechen. Allerdings verständigten sie sich in einer uralten Sprache, die Pan nicht verstehen konnte. Hin und wieder erkannte sie zwei bekannte Stimmen, die Galsars und die Gaszras, die in ihrer eigenen Sprache Kontakt aufzunehmen versuchten. Beide Schutzgeister hatte sie auf ihrer Reise durch Arenlai kennengelernt. Gaszra war eine der Gurdor, dunkel und sanft erschien sie ihr damals. Und Galsar hatte ihr mit ihren Wölfen zur Seite gestanden. Wolfsfrau wurde die Nagur auch genannt. Pan hörte die beiden hin und wieder im Chaos ihres Geistes, doch sie verstand ihre Worte in dem Stimmengewirr nicht. Es waren nicht nur die Stimmen, die auf Pan eindrangen. Durch die Verbindung zu den Schutzgeistern konnte sie jetzt an all ihren Erfahrungen teilnehmen. Es war eine Flut an Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühlen und Worten, die Pan ungefiltert durchflossen. Es ließ sie fast wahnsinnig werden. In einem Moment blitzte das Bild einer dunklen Kugel auf, die jemand in der Hand hielt. Kurz darauf sah sie sich selbst sterben. Dann wieder wanderte sie scheinbar endlose Schneefelder entlang. Einen Moment später hörte sie schrille Schreie. Sie sah riesige Vögel über ein brennendes Meer fliegen. Sofort wechselte die Szene. Winzige Blüten, die im Dunkel leuchteten, erblühten in Windeseile. Auch dieses Bild zerbrach und Pan sah vier menschliche Leichen neben einem Fluss liegen. Dazu redeten ununterbrochen zahlreiche Stimmen auf sie ein. Ein Kauderwelsch, dass nicht zu verstehen war. Es fiel Pan schwer, zu unterscheiden, was Realität war und was sie durch die Verbindung zu den Unsterblichen sah. Zusätzlich hatte sie dieselbe geistige Wechselbeziehung zu der Katze, die an jenem Tag während ihrer Transformation auf sie gesprungen war und ihr Schicksal teilte. Schatten war ihr Name. Pan hatte sie einst nach dem Spitznamen Gaszras so getauft. Diese Verbindung hingegen verschaffte Pan zumindest manchmal ein wenig Ruhe. Wenn sie sich auf die Katze konzentrierte, wurden die anderen Stimmen in ihr leiser. Schatten war von wildem Gemüt, voll auf ihre eigenen Triebe ausgerichtet. Pan lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Tier, um einen Moment auszuruhen. Zusammen mit der Katze witterte sie die Moose des Waldes und die feuchten Spuren einer kleinen Maus, der Schatten nachjagte. Durch die Augen der Katze sah sie den Waldboden dahinrasen. Sie setzte zum Sprung an und landete genau auf der Beute. Die Tatzen hatten das kleine Tier erfasst und nun begann das Spiel, das Pan früher angeekelt beobachtet hatte. Jetzt, da sie die Triebe des Tieres selbst fühlte, da sie den Durst nach Blut kannte und den instinktiven Jagdtrieb, den die Bewegungen des Beutetieres hervorriefen, ekelte es Pan nicht mehr. Die Maus wurde hochgeworfen, wieder eingefangen. Die Katze biss leicht, fast spielerisch in das graue Fell des Tieres, schleuderte es dann von sich, nur um es zum wiederholten Male einzufangen. Erst als die Maus reglos am Boden lag, fanden die Zähne der Katze endlich ihr Ziel und Pan schmeckte Blut. Sie schüttelte sich und ihre Aufmerksamkeit ließ nach. Sofort wurden die Stimmen wieder lauter.
Rastlos wanderte Pan durch den Wald auf der Suche nach eben jenem Trost, den er ihr in früheren Zeiten immer gespendet hatte. Doch diesmal übertrug sich die Ruhe des Ortes nicht auf sie. Sie presste die Hände auf ihre Ohren, um die Stimmen zum Schweigen zu bringen. „Hört auf!“, flüsterte sie immer wieder. „Bitte hört auf!“ Wie so oftseit jenem Tag versuchte sie sich zu entmaterialisieren und zu Gaszra zu gelangen. Ein einziges Mal war es ihr gelungen, so zu reisen, gleich nach ihrer Rettung, aber damals war es vollkommen unbewusst geschehen und Pan versuchte es seitdem vergebens. So wanderte sie zwischen den hilflosen Versuchen immer weiter, doch zu Fuß würde sie niemals nach Zurna gelangen. Wenn nur diese Stimmen nicht wären, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Panrah!“
Pan sah auf. Woher war das gekommen? Verwirrt blinzelte sie in die Dunkelheit des nächtlichen Waldes. Nur eine der Stimmen in ihr.
Doch da war es wieder: „Panrah!“ Sie hörte Äste knacken, in den Bäumen näherte sich etwas. Da sah sie gelbe Augen leuchten und fiel erleichtert Eklantas um den dünnen Hals. Sofort befiel eine Flut aus Gedanken und Erinnerungen des Nachtalben Pan. Sie sah ihn gemeinsam mit Gaszra über zwei tote Artgenossen gebeugt. Das Bild wechselte. Neben ihm stand eine Nachtalbenfrau. Sie strich ihm liebevoll über die Wange.
„Lass das!“, zischte Eklantas erschrocken.
Pan ließ ihn abrupt los. „Entschuldige, ich weiß nicht, wie man das kontrolliert!“, wieder liefen die Tränen, fielen auf den Boden und verursachten erneut das Wachstum silberner Pflanzen.
Der dunkle Alb stützte die Hände in die Hüften. Sein langer Schwanz bewegte sich ungeduldig hin und her. Sein sehniger dünner Körper war so dunkel, dass er im nächtlichen Wald kaum zu sehen war. Nur die gelben schmalen Augen ließen ihn sichtbar werden. „Was machst du? Hör auf damit Panrah!“, rief der dunkle Alb empört. „Du verschwendest deine Kraft sinnlos!“
Sie blaffte ihn wütend an. „Meine Kraft? Sinnlos? Das sind nur ein paar Tränen! Darf ich jetzt nicht mal mehr heulen, wenn mir danach ist?“
„Du machst das schon viel zu lange Panrah! Jetzt wird es Zeit nach vorne zu sehen und etwas gegen die weiße Königin zu unternehmen. Was machst du denn hier in diesem Wald?“
Pan riss die Augen auf. „Was ich hier mache? Frag das doch am besten Gaszra! Sie hat mich verwandelt und nun hab ich keine Ahnung wie man mit diesem Körperund mit diesen angeblich so wunderbaren Fähigkeiten überhaupt umgeht! Ich komm nicht mal hier weg! Und dauernd hab ich diese Stimmen in mir und diese Bilder! Ich kann dich nicht mal umarmen. Ich will das nicht! Ich will nur Pan sein! So wie früher!“ Sie konnte die Tränen erneut nicht zurückhalten und sank hilflos auf den Boden. Aller Ärger war verraucht und zurück blieb nur die Verzweiflung und die Angst.
Der Alb kniete sich vor sie hin. „Panrah, du bist doch immer noch Pan. Du musst dir nur vertrauen! Dann kannst du das alles schaffen.“
„Ich kann gar nichts schaffen! Ich will das einfach nicht! Bitte bring mich zu Gaszra! Sie muss mir helfen.“
Der Alb schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Es ist zu weit für uns beide. Du musst es selbst machen und kannst mich dann mitnehmen.“
„Ich kann es nicht!“, schrie Pan Eklantas an.
Sanft berührte er mit seiner Stirn die ihre. Sofort mischten sich seine Bilder wieder mit den Stimmen. „Ich helfe dir!“, flüsterte er in ihrem Kopf. „Hör mir zu, folge einfach meiner Stimme. Konzentriere dich nur auf mich. Nur Panrah und Eklantas Genefirat!“ Ausgerechnet dieser Name riss Pan aus ihrer Lethargie. Genefirat! Er hatte immer auf diesen zweiten Namen bestanden und sie hatte ihn nur Eklantas genannt. Ein einsames Lächeln huschte über ihr gequältes Gesicht.
„So ist es gut, Panrah. Nur wir beide. Alle anderen werden leiser. Sie sind nicht von Bedeutung. Nur du und ich.“
Die Stimmen wurden ruhiger und die des Alben trat in den Vordergrund. Es war eine Erlösung für Pan. Es tat so unbeschreiblich gut, dass sie aufpassen musste, diesmal nicht vor Erleichterung zu weinen. Doch sie hielt die Tränen zurück und konzentrierte sich auf Eklantas. Er zeigte ihr die dunklen Nebel rund um Zurna. Er führte sie in die Höhlen im Gebirge und rief ihr Gaszras Gesicht in Erinnerung. „Nun musst du dich auf Gaszra konzentrieren. Suche ihre Stimme! Zwischen den anderen ist auch ihre. Wenn du sie findest, kann sie uns beide zu sich holen!“
Pan horchte auf die Sprachmelodien, die leiser im Hintergrund murmelten. Eklantas löste seine Stirn, von der ihren und die Stimmen wurden lauter. Es tobte ein Chaos in ihr, das kaum zu bewältigen war. Warum nur mussten sie alle durcheinandersprechen? Wo war Gaszra? Pan versuchte, die Bilder auszublenden und sich nur auf die Stimmen zu konzentrieren. Sie schloss die Augen und blieb völlig unbeweglich auf dem Waldboden sitzen. Eine Ewigkeit suchte sie in sich, folgte mal der einen, mal einer anderen Stimme, bis sie endlich die der Gurdor fand. Den Schatten nannten die Menschen sie, Schutzgeist der Dunkelheit. Gaszra. Sie hörte sie plötzlich deutlich. Die Gurdor suchte nach ihr.
„Gaszra! Hier bin ich doch! Bitte hol mich zu dir.“, flüsterte sie in ihrem Kopf.
Gerade noch konnte Eklantas ihre Hand ergreifen, um mit ihr zu reisen, da löste sich Pan auch schon auf und verschwand.
Der kurze Augenblick ihrer Reise war für Eklantas fast unerträglich. Millionen von Bildern, Gefühlen und Stimmen übertrug Pan ohne jegliche Kontrolle auf ihn und gleichzeitig nahm er ihre essenzielle Angst und diese tiefe schwarze Traurigkeit wahr. Nie zuvor hatte der Alb etwas Derartiges empfunden und erst jetzt verstand er Pan wahrlich. Als sie in Zurna ankamen, blieb Pan neben ihm liegen. Besorgt sah er auf sie herab. Pan lag gekrümmt in der dunklen Höhle mitten imZurnagebirge vor Gaszra. Es wäre eine lange Reise gewesen von den Wäldern Talrus herüber ins Gebirge von Zurna. Nicht nur das Land Talru, nein auch Rashland und ein ganzer Ozean lagen zwischen den beiden Orten. Sie hätten den Silberwald durchqueren müssen und die unbewohnten Ebenen, die das Zurnagebirge umgaben. Doch Gaszra hatte sie transformiert, hatte ihre Körper in Nebel gehüllt und innerhalb eines Augenblickes ins dunkle Gebirge geholt. Manchmal wünschte Eklantas, er wäre selbst fähig, auf diese Art zu reisen.
Noch immer beobachtete der Nachtalb Pan. Ihr Körper zuckte und krümmte sich, wie von Schmerzen heimgesucht. Für Eklantas war der Ausdruck auf Gaszras Gesicht noch erschreckender als der Anblick seiner früher menschlichen Begleiterin. Die Gurdor sah Pan völlig ratlos und aufgewühlt an. Hochgewachsen stand sie vor ihm. Ihre Haut war vollkommen schwarz, genau wie ihr langes glattes Haar. Goldene Augen leuchteten auf Pan herab. Gaszra hob die Schultern, so als wüsste sie nicht, was zu tun ist.
Eklantas kniete sich neben Pan. „Panrah! Panrah! Sieh mich an!“
Die Gurdor schüttelte den Kopf. „Sie nimmt dich nicht wahr, sie ist gar nicht wirklich hier angekommen. In sich selbst ist sie nun gefangen.“ Ihre Stimme klang so kraftlos, wie er es bei seiner Herrin nie gehört hatte. „Vielleicht war es ein Fehler sie zurückzuholen. Vielleicht ist ein Mensch nicht fähig mit unseren Fertigkeiten, mit der Unsterblichkeit umzugehen.“
„Nein!“, entfuhr es dem Nachtalb so entschlossen, wie er es noch nie gegenüber seiner Herrin gewagt hatte. Er folgte ihr, so lange er denken konnte durch die Zeit und sie hatte immer gewusst, was zu tun war. Doch diesmal irrte sie sich, da war er sicher.
Gaszra sah den Alb erstaunt von oben herab an. „Ich kann es nicht mehr ändern. Niemand kann das. Wenn sie nicht lernt damit umzugehen, wird sie in diesem Zustand bleiben. Ich kann nicht zu ihr durchdringen. Sie hört mich nicht.“
„Aber ich kann es.“, sagte Eklantas entschlossen. Er wusste, wenn er sie berührte, würde er erneut diese schrecklichen Gefühle in sich aufnehmen, doch das war es ihm wert. Das war Pan ihm wert. „Ich bleibe bei ihr!“
Vielleicht war es seine Entschlossenheit, die Gaszra zustimmen ließ. Sie zog sich zurück, blieb aber in der Höhle und beobachtete, wie der Alb sich Pan näherte. Er flüsterte leise: „Panrah. Ich bin hier. Eklantas und Panrah, so wie vorher. Ich zeig dir den Weg. Du kannst das. Ich weißes.“
Pans Zustand veränderte sich nicht. Eklantas legte sich neben sie auf den Boden. Bei Gaszra erschienen weitere Gurdor. In der Dunkelheit der Höhle waren sie ebenso wie der Nachtalb fast unsichtbar. Nur ihre goldenen Augen leuchteten und beobachteten ihren Helfer. Sie waren größer als der Alb, schlanke hochgewachsene Wesen, die reglos bei Gaszra standen. Jeder von ihnen hatte schwarze Haut, doch manche waren von Mustern durchzogen oder schimmerten in verschiedenen Farben. Es gab neun Gurdor, neun Schutzgeister der Dunkelheit und sie alle waren anwesend. Sie alle beobachteten den dunklen Alb und das einstige Menschenwesen, dass nun zu ihnen gehören sollte.
Eklantas beachtete sie nicht. Er rückte näher an Pan heran, nahm sanft ihr Gesicht in seine Hände und berührte mit seiner Stirn die ihre. Sofort überkam ihn die Traurigkeit und die Bilder überfluteten ihn. Der Alb brauchte eine Weile, um in dem Chaos zu sich selbst zurückzufinden. Er bemerkte, wie Gaszra in Gedanken seinen Geist suchte, auch sie nahm das Wirrsal in Pan wahr. Wieder sagte sie ihm, er solle sie allein einen Weg finden lassen.
Doch der Nachtalb ignorierte die Stimme der Gurdor.
„Nur Eklantas und Pan!“, flüsterte er. Dann suchte er in dem Durcheinander der Gefühle und Bilder solche, die zu Pan gehörten. Er sah sie als kleines Mädchen. Ihre Mutter stand neben ihr. Die beiden waren sich wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hatten das typische Aussehen der Bewohner Talrus, hellgrüne Haut, grüne Augen und schwarzes Haar. Ihre Gesichtszüge glichen sich ungemein. Gemeinsam sahen sie einem Schmetterling zu, der sich auf einer Blume niedergelassen hatte. Von hinten kam ein Mann heran, sein Gesicht war vor Wut verzerrt. Er schlug Pans Mutter ohne Vorwarnung hart gegen den Rücken. Sie fiel zu Boden. Eklantas erlebte die Verzweiflung und die Hilflosigkeit mit Pan. Sie kniete stumm neben ihrer verletzten Mutter, unfähig etwas zu unternehmen.
Die Szene wechselte und der Alb sah Pan ein paar Jahre später. Ihre Mutter winkte ihr lächelnd zu und verließ das Haus.
Dann kniete Pan mit einem Mal auf dem Fußboden in der Küche. Sie schrubbte die Holzbretter. „Sie ist wegen dir gegangen. Mit so einem kleinen Aas wie dir kann man es doch nicht aushalten. Sie wird sicher nie wieder kommen. Sie ist froh dich los zu sein.“
Erneut erlebte Eklantas, wie die finstere Traurigkeit aufstieg. Sie verdrängte alles andere. Es fiel dem Alb schwer, sich nicht selbst in dieser Schwärze zu verlieren.
Und doch erkannte er in dieser Erinnerung einen Hoffnungsschimmer. Es war Pans Hoffnung, die Hoffnung, ihre Mutter würde eines Tages zurückkommen, und sie abholen. Die Hoffnung, dass sie irgendwo auf den passenden Moment wartete, Pan endlich wieder bei sich zu haben.
Eklantas sah, wie Pans Vater sie gegen den Tisch schubste, er erlitt mit ihr den Schmerz, als der betrunkene Mann Pan hart ins Gesicht schlug. Er beobachtete, wie sie übersät von blauen Flecken aus dem Haus lief und gegen Abend heimkehrte.
In jeder dieser Szenen erspürte Eklantas neben dem Leid einen Hoffnungsfunken. Pan hatte nie aufgegeben. Warum nur hatte sie jetzt diese Hoffnung verloren? Was hatte diesen Hoffnungsschimmer vertrieben?