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Arisu Suzuki erbt eine Pension auf Hokkaido, wo sie nicht nur ihre Albträume und ihre verlorene Vergangenheit ergründen kann, sondern auch in eine Welt voller übernatürlicher Wesen gezogen wird. Als Akeno, ein charmanter Kitsune, ihr dabei hilft, muss sie schnell lernen, sich gegen die Bedrohung zu verteidigen, die hinter ihr her ist. Wird sie ihre Vergangenheit aufdecken und ihr Trauma überwinden oder wird ihre Neugier ihr zum Verhängnis? Ein spannender Fantasy Romance-Roman voller Magie, Gefahren und Geheimnisse, der den Leser in eine Welt voller Fabelwesen entführt.
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Seitenzahl: 317
Veröffentlichungsjahr: 2023
Der Zauber des Berges Kamui
Band 1:
Kitsune
Chinuna Takahashi
© 2023 Chinuna Takahashi
Coverdesign von: Annette Droste
Satz & Layout: Annette Droste
Lektorat: Droste
ISBN Softcover:
978-3-347-89806-6
ISBN Hardcover:
978-3-347-89807-3
ISBN E-Book:
978-3-347-89808-0
ISBN Großschrift:
978-3-347-89809-7
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
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Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Tag 1
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Tag 2
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Tag 3
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Vorschau Band 2
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Prolog
Kapitel 34
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Prolog
Tiefste Finsternis umhüllte mich. Mit rasendem Herz versuchte ich die Umgebung zu ertasten. Wo war der Lichtschalter? Nach der Nachttischlampe suchend, griff ich ins Leere. Was geschah hier?
Zitternd betastete ich den Boden. Nichts außer einer glatten schwarzen Fläche war dort.
»Arisu…«
Wer hatte mich gerufen? Ich versuchte zu antworten, doch meine Stimme versagte. Die Finsternis erdrückte mich.
»Arisu?«
Ich richtete mich auf und kam torkelnd zum Stehen. Des Sprechens unfähig blieb mir nur eine Möglichkeit, der Stimme entgegengehen. Sie klang warm und vertraut, nett und kindlich. Ich klammerte mich an dem Gedanken fest: Das Kind würde mir helfen.
»Arisuuuuu, lass uns spielen!«
Ein kalter Schauer ließ die feinen Härchen auf meinen Armen sich aufstellen. Warum klang es so gefährlich?
Das Herz rutschte mir fast in die Hose. Adrenalin pumpte durch meine Venen. Ich schluckte den harten Klos hinab. Geradeaus blickend erschien urplötzlich ein Busch. Er war dämmergrau und hob sich kaum von der Schwärze ab. Daher kam die Stimme. Weitergehen oder nicht? Es war ja nur eine Kinderstimme. Ich war erwachsen. Wie kindisch, sich vor der Dunkelheit zu fürchten.
»Arisuuuuu lass uns spielen! Ich zähle, ja? 1, 2, 3, 4, 5…«, setzte der Busch mit einer schaurigen Stimme an. Mein Blut gefror in den Adern. Was würde passieren, wenn der Junge mit Zählen fertig war? Vorsichtig wich ich ein paar Schritte zurück. Da kamen über dem Buschwerk spitze, mit Fell überzogene Tierohren zum Vorschein. Sie zuckten erregt, bevor die Stimme wieder ertönte: »Arisuuuuu du darfst erst loslaufen, wenn ich bei 10 angelangt bin!«
»Flieh!«, schrie es in mir, aber meine Füße schienen festgefroren. Ich zog und zerrte an ihnen, doch ich kam nicht von der Stelle. Die Tierohren ragten immer mehr heraus, bis schlagartig ein menschenähnliches Gesicht auftauchte: »6, 7, 8, 9 und…«
Ich erstarrte und riss heftig an den Beinen. Leuchtende Augen starrten mich an. Gleichzeitig mit der letzten Zahl, stockte mein Herz: »10! Lauf Arisu, lauf, jetzt komme ich!«
Wie ein panisches Reh versuchte ich zu entkommen und stürzte. Ohne zu überlegen, rappelte ich mich auf und rannte.
›Je mehr Abstand ich zu ihm aufbaue, umso besser‹, impfte ich mir ein. Mein Bauchgefühl genügte mir, um zu verstehen, wie gefährlich dieses jagende Etwas war.
Mit hämmerndem Herz und rauschenden Ohren verengte sich meine Sicht auf einem Tunnelblick. War er mir weiterhin auf den Fersen? Ich schlug Haken. Hoffentlich gab er auf. Doch da hörte ich ihn wieder: »Arisuuu, gleich habe ich dich!«
Wie schaffte er das? Immer mehr trieb mich die übermächtige Angst voran. Ich stolperte über eine Baumwurzel. War ich in einem Wald?
Vor mir erschien schlagartig ein pechschwarzer Baum. Im letzten Moment wich ich aus. Den darauffolgenden nahm ich um Haaresbreite mit. Über immer mehr auftauchende Schatten stolpernd, schürfte ich mir die Arme an Ästen und Zweigen auf. Auf die Lippen beißend rannte ich weiter.
Dann passierte es unverhofft. Endlich. Ich sah vor mir ein Licht durch das enggewachsene Dickicht schimmern. Der Ausgang! Neuer Lebensmut erfasste mich. Schnell wirbelte ich um einen Baum. Es war nicht der rettende Hafen, sondern rotbrennende Augen, die mich erwarteten. Mein Herz setzte ein weiteres Mal aus.
Panisch ausweichend, rutschte ich auf dem matschigen Boden aus und fiel.
»Arisuuu, jetzt habe ich dich!«
Die Stimme ertönte haarsträubend hinter mir. Ich drehte mich rasch um. Aber zu spät. Lange Tierohren und hell leuchtende Augen versperrten meine Sicht. Es setzte zum Sprung an. Ich war verloren.
Im letzten Moment riss ich die Arme hoch. Schützend verbarg ich das Gesicht und kniff mit rasendem Herz die Augen zu.
Ein lautes Ratschen ertönte. Ein höllischer Schmerz folgte an meinem Handgelenk. Alles um mich herum wurde schwarz und blutrot. Ich schrie wie am Spieß. Hier würde es enden…
Kapitel 1
Schweißnass riss ich die Augen auf. Jeden Tag aufs Neue. Warum verfolgte mich dieser Albtraum? Mein Herz schlug heftig.
Erschöpft strich ich mir die goldblonden, klebrig nassen Strähnen aus dem Gesicht. Nach diesem Traum war es schwierig, den Morgen zu begrüßen. Er drängte sich quälend durch die dicken Vorhänge meines winzigen Fensters.
Ich musterte genervt die vier Wände, die seit einer geschlagenen Woche mein Zuhause waren. Fünfzehn Quadratmeter, gefüllt von Unmengen an Umzugskartons. Bisher hatte ich es nicht gewagt, sie auszupacken, weswegen das einzig nutzbare Möbelstück aus meinem Bett bestand. Der Rest war zugestellt.
Ich brummte leise vor mich hin, drehte mich um und schob die nackten Füße über die Bettkante. Ein kühler Hauch strich über die Zehenspitzen, bevor ich in pinke, überaus flauschige Pantoffeln schlüpfte. Sie waren kitschig und ließen mich jedes Mal aufs Neue lächeln.
›Warum wurde ich nur so gestraft? Ist mein Karma denn so desaströs oder warum geriet mein Leben so aus den Fugen?‹
Seufzend stand ich mit Schwung auf und streckte mich gen Decke, nur, um wie fast jeden Morgen, gegen die tief herabhängende Deckenleuchte zu krachen.
»Argh…«, fluchte ich schmerzverzerrt und rieb mir den brummenden Schädel. Wieso hingen diese Dinger in Japan immer so tief? Mein Blick glitt zu dem Lampenschirm, den ich des tätlichen Angriffs beschuldigte.
»Unmöglich«, knurrte ich leise. Angefressen stupste ich den Papierschirm an. Er schwang daraufhin freudig hin und her. Diese Lampen waren gemeingefährlich und sollten verboten werden. Am liebsten hätte ich sie gleich heruntergerissen, doch mir gehörte diese Wohnung nicht.
›Warum wohnt mein Vater in solch einer schäbigen Wohnung? Es ist eng, stickig, weist nur kleine Fenster auf und… es sieht nicht einladend aus.‹
Ich verstand nicht, wieso er mit seinem Gehalt nichts Schickes, so wie mein früheres Loft, mietete. Leider redete ich da nur gegen eine Wand. Er war genauso ein Dickkopf wie ich.
Meine flauschigen Pantoffeln schlurften auf dem Weg zur Tür über den Boden. Langsam schob ich sie auf und starrte nur auf eine weiße, triste Wand, die schon an einigen Stellen vergilbt war.
Rasch sah ich mich um. Mein ganzer Körper war angespannt, bis ich bemerkte: Vater hielt sich bei einer seiner Vorlesungen in der Uni auf. Somit war ich erst einmal sicher vor meinem mich bemutternden Vater. Dabei war ich kein Kind mehr, sondern 27 Jahre alt. Eine erwachsene Frau.
Geschwind nutzte ich die freie Schussbahn und stürmte zum Bad, entledigte mich meines weißen, langen Seidennachthemdes und riss den Wasserhahn auf. Mit einem Satz sprang ich ins kühle Nass. Der Wasserdruck war so unregelmäßig. Man hielt ihn für einen Duschmassagekopf. Wenn es nur so wäre…
Ich keuchte gequält auf. Eiskaltes Wasser floss über Kopf und Glieder. In meiner alten Wohnung hatte ich immer direkt Heißes, doch hier war es anders.
Wie ein nasser Hund schüttelte ich mich, bevor meine Körperwäsche anfing, um einen Tod durch Erfrieren zu verhindern. Heiß duschen, war in dieser Wohnung ein Fremdwort. Zu Beginn meines Einzugs hatte ich versucht, an das heiße Nass zu gelangen, doch ich scheiterte.
Gratulation, ich war vom Regen in die Traufe gekommen.
Es vergingen fünf Minuten, bevor ich den Hahn schnell zudrehte und einmal tief durchatmete. Einen Vorteil hatte das kalte Wasser, es hatte meinen Albtraum gänzlich verjagt. Ich hatte ihn zusammen mit dem Angstschweiß fortgespült.
In meinem Leben war ich schon vielen Psychiatern begegnet. Allesamt waren an dem Traum gescheitert. Nach dessen Meinung handelte es sich um ein Kindheitstrauma, dem ich zu entfliehen versuchte.
Fast jede Nacht besuchte es mich. Das schwarze Monster mit den leuchtenden Augen und den gefletschten Zähnen.
Niemand hatte es geschafft, meine verschollene Vergangenheit zu ergründen. Noch heute blieb mir verwehrt, mich direkt an dieses besagte Trauma zu erinnern. Nicht mal mein Vater verlor ein Wort darüber, was damals geschehen war. Ich verabscheute ihn manchmal dafür, diese Zeit totzuschweigen. Aus seiner Sicht war es für mich angeblich das Beste, obwohl ich nicht mehr sein kleines Mädchen war.
Schwerfällig stolperte ich aus der Dusche zum Waschbeckenspiegel. Was ich dort sah, war erschreckend. Nein, besser ausgedrückt, ich sah schrecklich aus. Vorsichtig näherte ich mich dem Schauermonster im Spiegel und versuchte es, mit einem freundlichen Lächeln, zu vertreiben.
»Guten Morgen, Arisu Suzuki«, hauchte ich zuckersüß.
Meine Mutter, die Götter hatten sie selig, war eine waschechte Japanerin gewesen. Sie studierte damals an der Uni, in der mein Vater als Dozent gearbeitet hatte. Er war Amerikaner, durch und durch, doch was war ich? Ich war halb Japanerin – halb Amerikanerin. Die Gene meines Vaters hatten sich in vielerlei Aspekten durchgesetzt. Darunter waren meine langen blonden Haare, die sich in schwungvollen Wellen am Körper entlang bewegten, wie die azurblauen Augen und die Tatsache: Mit 1,80 m war ich größer als die meisten Japanerinnen und Japaner.
Nur die Hautfarbe stammte eher von meiner Mutter. Ich war blass, während die Haut meines Vaters an Karamell erinnerte. Ein Grund dafür, warum ich Lichtschutzfaktor 50 ständig bei mir trug, um keinen Sonnenbrand zu bekommen.
Zuletzt waren da meine Augen. Die Form war ein Mischmasch aus beiden Elternteilen und verlieh mir diesen orientalischen Touch. Zum Glück waren die Menschen heutzutage aufgeschlossen. Trotzdem fühlte ich mich immer wieder wie eine Fremde.
Schon zu Schulzeiten war es extrem. Ein blondes kleines Mädchen zwischen lauter schwarzhaarigen Kindern. Ein weißes Schaf in einer schwarzen Herde. Sofort hatte man mich zu einer Draufgängerin erklärt. Ich fand Gefallen daran. Aber mein Aussehen hatte im gewissen Maße negative Elemente, denn genug Männer starrten mich unentwegt an. Einerseits gefiel es mir, doch manchmal war es störend, wenn man meine Qualitäten aufs Äußere reduzierte.
Langsam wanderte mein Blick tiefer zu meiner üppigen Oberweite. Ein Geschenk der Gene meines Vaters. Diese Größe entsprach nicht der japanischen Norm. Sogar meine Hüften hatten einen gewissen Schwung. Gefährliche Kurven.
Viele Frauen waren neidisch auf mein Aussehen und schwärmten davon, doch mit meinen 1,80 m war die Partnerwahl um einiges schwerer.
Manchmal hatte ich einen Partner der körperlichen Art, doch darüber hinaus gab es selten etwas. Wenige Männer standen auf Riesinnen und ehrlich? Ich sehnte mich selbst nach einem großen Mann, der mich auf Händen trug.
Schmollend frottierte ich mein Haar mit dem Handtuch, bevor ich dieses elegant um meinen Körper wickelte. Gemächlich durchquerte ich den tristen Flur, bis ich mein Zimmer erreichte. Dort stülpte ich mir einen alten, verblassten, grauen Pulli über. Danach zwängte ich mich in einen mausgrauen Slip und eine schwarze Jogginghose.
»Fertig«, murmelte ich in mich versunken und betrachtete nachdenklich den überfüllten Raum. In dem Moment kam es mir wieder hoch, kurz vor 30 und lebte bei meinem Vater. Grandios. Diese Tatsache allein würde es mir verwehren, überhaupt einen Mann abzuschleppen. Mein Vater war einer dieser Männer, die mit Schrotflinte bewaffnet, die Individuen betrachtete, die man nach Hause brachte. Zumindest vermutete ich das, denn er hatte einen Waffenschein und eine eingeschlossene Schrotflinte. Zum Glück gab es bisher nie einen Moment, wo ich ihm jemanden vorstellte.
Wieso verlor ich meinen Job? Dabei war alles so bewundernswert vonstattengegangen. Bis vor Kurzem hatte ich bei einem Zeitungsverleger gearbeitet. Ich hatte mich ins Zeug gelegt, aber … Glückwunsch! Mein Chef hatte Gefallen an mir gefunden. Nicht, weil ich hochwertige Arbeit leistete, sondern in einer völlig anderen Hinsicht. Er war einer dieser Männer, die durch mein Äußeres nur an das eine dachten. Meine daraus resultierende Ablehnung war nur verständlich, doch zog es eine Kündigung nach sich, da er sich in seinem Stolz verletzt fühlte.
Kurz darauf verlief es bei mir steil abwärts. Ohne Job hatte ich nicht mehr genug Geld, um meine schicke Wohnung zu halten. Die Miete war zu hoch und die Ersparnisse zu gering. Am Ende blieb mir nur der Ausweg, zu meinem Vater zu ziehen. Dieser kam mit so einer kleinen Wohnung aus, da er sein Leben meistens in der Uni fristete und manchmal Nachtschichten einlegte.
Sein Büro bestand gefühlt zu 50% aus Büchern, die in riesigen Regalen an der Wand eingeordnet waren. Überall blitzten die bunten Buchrücken auf. Sie verliehen dem Raum etwas Magisches. In dieser Wohnung lagen sie chaotisch auf dem Boden.
Genervt warf ich mich rücklings auf mein reizloses Bett aus soliden Holzpfosten, bevor ich zu meinem Laptop auf dem Nachttisch schielte. Heute würde ich weitere Bewerbungen schreiben. Und danach? Motive für Fotos suchen? Theoretisch sollte ich diese freie Zeit ausnutzen, doch die Laune war im Keller. Es gab etwas in meinem Leben, was mich von anderen abgrenzte.
Es war wie eine verfluchte Gabe. Ich sah Wesen – laut Psychiater Hirngespinste – die mir das Leben erschwerten. Oft entdeckte ich sie. Kleinere und größere Wesen, doch keiner glaubte dem damals jungen Mädchen. Ich hielt irgendwann den Mund, um nicht in einer Anstalt zu enden oder mit Drogen vollgepumpt zu werden.
~ ring ~
Kapitel 2
Überrascht prüfte ich mein weißes Smartphone. Ein weiteres ~ ring ~ kündigte den Eingang eines Telefonats an.
Womöglich eine Zusage für ein Vorstellungsgespräch! Innere Vorfreude packte mich. Ich riss das Handy an mich und checkte begierig die Anruferkennung. Da war die Laune im Keller. Seufzend berührte ich mit meinem Finger das Display und schob den Kreis zum grünen Hörer.
»Hi Dad«, würgte ich hervor.
»Good Morning, Alice!«, flötete eine, im Gegensatz zu mir, begeisterte Stimme. Wie immer sprach er meinen Namen amerikanisch aus, da Arisu nur die japanisch umschriebene Form von Alice war.
Mir blieb nicht das leise Knacken des Festnetzanschlusses verborgen. In seinem Büro stand ein altes analoges Telefon mit einer Drehscheibe. Wie nannte er es? Ach ja »Feeling« …Er wusste zum Glück nicht, wie er mir damit auf den Keks ging…
»Was gibt’s?«, fragte ich zuckersüß. Eine Gänsehaut bildete sich. Was tat man nicht alles dafür, nicht vom Vater umsorgt zu werden. Überhaupt wäre das bei ihm katastrophal und würde mit einem Vatertochter Gespräch enden, worauf ich zurzeit verzichten könnte.
»Du hast heute Morgen Post bekommen. Ich habe dir den Brief auf den Küchentisch gelegt. Er scheint von einer Anwaltskanzlei zu sein. Hast du etwas angestellt? Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid, du weißt, ich habe ein paar Kontakte.«
Sprachlos zwinkerte ich mehrmals mit den Augen. Warum schrieb mir eine Kanzlei? Hatte ich mir etwas zu Schulden kommen lassen?
»Warte, ich sehe nach!«, erwiderte ich konfus, sprang auf und rannte wie von der Tarantel gestochen zum Küchentisch. Meine Gedanken schlugen Purzelbäume. Mit laut schlagendem Herz riss ich die Seite des Briefumschlages auf. Zitternd zerrte ich den Brief heraus.
»Und? Bist du in Schwierigkeiten?«, fragte mein Vater besorgt, was mich nur mit den Augen kreisen ließ. Wie immer ein Übervater.
»Nein Dad. Warte doch mal, bis ich es gelesen habe.«
Schnell überflog ich das Schriftstück, nur um am Ende der letzten Zeile meine Stirn in Falten zu legen. »Es ist ein Testament meiner verstorbenen Großmutter. Weißt du etwas darüber? Vom Nachnamen schließe ich auf meine Großmutter mütterlicherseits.«
Schweigen, nichts als Schweigen auf der anderen Seite des Telefons. Einzig das Knacken durchbrach die Stille.
Es war einfach, eins und eins zusammenzuzählen, um zu begreifen: Meine Vergangenheit war der Auslöser. Die schwieg er zu gerne tot. Ein Geschichtsprofessor, der die Familiengeschichte vertuschte.
»Dad?«
»Ja… Also ja… es wäre möglich, kleine Alice. Es ist schon sehr lange her. Damals, als du noch ein kleines Küken warst, haben wir manchmal deine Oma in ihrem Anwesen besucht. Doch seit deine Mutter gestorben ist, … nun ja… du weißt schon … hatten wir keinen Kontakt mehr zu ihr. Natürlich will ich dir nicht verwehren, zur Testamentsverlesung zu gehen.
Soll ich dich hinfahren, Alice? Voraussichtlich sind es nur Kleinigkeiten. Du musst es nicht annehmen. Ich will nicht, das alte Wunden aufreißen.«
Gedankenverloren betrachtete ich die Adresse des angegebenen Sitzes der Kanzlei. Mir prangte der Ort Tokyo entgegen. Mit der U-Bahn ein Katzensprung. »Passt schon, da finde ich allein hin. Es ist nicht sehr weit. Nur ein paar Stationen.«
»Willst du wirklich allein hinfahren?«
Warum fragte er das? Wie konnte man nur so fürsorglich sein? Manchmal hörte mein Vater die Flöhe husten.
»Ja.« Ich lauschte. Ein lautes Seufzen ertönte. Würde der Besuch in der Kanzlei Licht ins Dunkel bringen? Zumindest hoffte ich das, wenn man bedachte, wie er auf die Situation reagierte.
Betrübt warf ich einen Blick auf mein Handgelenk. Eine hauchdünne Narbe zeichnete sich ab. Sie lag seitlich: Fünf Linien mit geringem Abstand zueinander. Oft erinnerten sie mich an Krallenspuren. Mein Bauchgefühl verkündete mir: Diese Narbe hing mit meiner vergessenen Vergangenheit zusammen. Das Monster mit den leuchtenden Augen.
»Alice?«
»Ja, Dad?«, fragte ich gedankenverloren und konnte es mir nicht nehmen, mein Handgelenk ein weiteres Mal von allen Seiten zu betrachten.
»Ich werde immer für dich da sein, wenn du mich brauchst. Vergiss das nie. Wenn du also Hilfe brauchst, kannst du dich immer an mich wenden. Egal worum es geht.«
Schweigend nickte ich. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen.
»Keine Sorge, Dad, ich bin schon ein großes Mädchen. Wenn was sein sollte, komme ich sofort darauf zurück.«
Bevor mein Vater weitere Fragen stellte, legte ich schnell auf. Er würde es schon verstehen. Er wusste Bescheid, wie ich Abschiede verabscheute. Immer wieder nahm er es hin, wenn ich ihn in Gesprächen abwürgte.
Kurzerhand schnappte ich mir ein vorbereitetes Sandwich aus dem Kühlschrank. Ich riss die Frischhaltefolie herunter und steckte es mir genüsslich in den Mund.
»Gut, auf, auf!«, feuerte ich mich entschlossen an.
Die Wohnung verlassend, warf ich einen letzten Blick in den Spiegel. Erschrocken stolperte ich rückwärts. Ich hatte meine bequeme Hauskleidung an.
Schnell stürmte ich ins Schlafzimmer und riss einen der herumstehenden Kartons mit der Aufschrift Kleidung auf. Ich entschied mich für eine beige, ärmelfreie Seidenbluse und eine enge, dunkelblaue Jeans.
Es dauerte keine fünf Minuten, da war ich angezogen. Ich flocht die leicht wirren, blonden Haare zu einem Zopf. Er reichte bis zu meinem Po. Darum legte ich ihn über die Schulter. Zuletzt suchte ich die weißbeige kleine Handtasche. Doch da fehlte was.
Ich schielte grübelnd zur Decke, als es mir auffiel. Meine Brille. Geschickt fädelte ich das Etui aus der Tasche und schob sie mir auf die Nase. Normalerweise trug ich Kontaktlinsen, aber das stand aufgrund des Preises im Augenblick nicht zur Debatte. Ich musste sparen und ehrlich? Die Brille ließ mich gebildeter erscheinen. Sie bestand nur aus Glas und wurde oben von einem etwas breiteren Gestell gehalten.
Kurz prüfte ich mein Aussehen im Spiegel, bevor ich den Hausschlüssel vom Schlüsselkasten nahm. Ich zog mir ein paar hochhackige beige Sandalen an.
Der Sommer war heiß und vielleicht traf man einen hübschen, ambitionierten Mann. Meine Mundwinkel zogen sich fast automatisch hoch, doch dieses Hochgefühl war nur von kurzer Dauer. Ein genervter Gedanke durchzuckte mich: ›Hatte ich es schon so nötig?‹
Ein Blick in den Spiegel verriet mir die Antwort. Ja, definitiv ja.
Von mir selbst angewidert, schüttelte ich den Kopf, drückte die Klinke und verließ diese deprimierende Wohnung. Hoffentlich war dies mein erster Schritt in eine bessere Zukunft. Ich war eine Kämpferin und gespannt, was im Testament stand!
Kapitel 3
Tokyos Straßen waren wie an jedem Werktag von tausenden von Menschen bevölkert. Jetzt um zwölf Uhr mittags war Rushhour. Für das Getümmel auf den Fußwegen eine völlig untertriebene Bezeichnung. Geschickt wich ich den ganzen Passanten aus, da ich ja unbedingt gegen den Strom schwimmen musste.
Ich kaufte mir ein Ticket an einem der vielen Automaten und passierte das Drehkreuz, bevor ich mich in die U-Bahn presste. Wie immer war es eng und stickig.
Zu viele nutzten diese Möglichkeit des Fahrens aus, um ihre perversen Gedanken auszuleben. Kaum war ich in die überfüllte Bahn eingestiegen, spürte ich eine Hand am Hintern.
Nicht mit mir Freundchen!
Genervt zog ich meinen Arm an und stieß den Ellenbogen nach hinten, genau in die Magengrube eines dieser Perversen. Er ließ die Hand sofort sinken und krümmte sich, bevor er in der Menschenmasse untertauchte.
Ein paar Stationen später stieg ich dann endlich aus. Ich drängte mich durch die Massen und atmete auf der obersten Treppenstufe tief durch, bevor ich weiterging.
Später überkam mich eine Gänsehaut in den fast leeren Straßen. Jetzt galt es, sich der Andersartigkeit erneut zu stellen.
Mein Blick wanderte vorsichtig hin und her, darauf bedacht, niemanden ins Visier zu nehmen. Mir fiel es schwer, sie nicht anzustarren. Teilweise farbenprächtige Geschöpfe bewegten sich ungeniert voran.
Mein Herz schlug immer lauter. Überall fand man sie, doch vermehrt an ruhigeren Orten. Womöglich war ein Grund dafür: Sie hassten den Krach der überfüllten Straßen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie bemerkten, wenn ich ihre wahre Gestalt sah. Nur in vereinzelten Fällen sprachen die Wesen mich an, da ich sie oftmals ungeniert angestarrt hatte. Bei ihnen gab es Rangunterschiede. Höhergestellte und niedrigere.
In meinem ganzen Leben hatte mich nie eins dieser hochrangigen Wesen eines Blickes bedacht. Es war ihnen egal. Sie ignorierten mich, ein vergängliches Menschlein, das ihre Mühe nicht wert war. Zumindest hatte mir dies eines dieser Wesen gesagt, nachdem ich es angesprochen hatte. Einer der peinlichsten Momente in meinem ganzen Leben.
Meine Füße trieben mich zur Hauptstraße und verursachten eine laute Geräuschkulisse, die von der aufkommenden Flut an Menschen verschluckt wurde. Ich verschwand in dem Schwarm und schien wieder einer von ihnen zu werden. Vergänglich und unbedeutend.
Kopfschüttelnd vertrieb ich schnell den Gedanken. Ich beeilte mich, die hinter der Menge auftauchenden Treppenstufen zur Kanzlei hochzustürmen. Es war ein Wunder, sie nicht übersehen zu haben. Sie war wie fast alles auf Augenhöhe. Grau und trist.
Wo waren nur die Farben? Für mich fehlten sie überall. Sogar die Zeitungen, für die ich recherchiert und geschrieben hatte, waren grau. Aber was erwartete ich von meinem Leben? Ich war normal und sollte es akzeptieren, aufhören zu träumen, etwas anderes zu sein.
Als ich die letzte Stufe überwand, blieb ich vor der gläsernen Tür stehen und betrachtete mein Spiegelbild. Eine blonde Frau mit strahlend blauen Augen, die fest ihre Tasche umklammerte.
Was würde passieren, wenn ich diese Tür durchschritt?
Würde es mein Leben verändern?
Es gab einen Spruch: Wenn sich eine Tür schloss, öffnete sich eine andere dafür.
Ich würde nicht vor meiner Vergangenheit weglaufen und würde ein Zeichen setzen.
Tief einatmend streckte ich die Brust raus, presste meine nackten Handflächen gegen das warme Metall des großen Griffs und drückte die Tür langsam auf.
Sie schwang mit einem leisen Quietschen auf und offenbarte mir das Innere der Kanzlei. Meine Füße trugen mich über rote und weiße Kacheln, die sich in einem stetigen Karomuster ihren Weg zum Tresen bahnten.
Fast von selbst trieb es mich zu der Rezeptionistin. Sie begutachtete mich wie ein Stück Fleisch, bis ich vor dem Tresen stehen blieb. Ein weiteres Mal atmete ich tief durch.
»Willkommen, womit kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Guten Tag, ich habe diesen Brief erhalten. Es geht um den Nachlass meiner verstorbenen Großmutter«, erklärte ich mutig und beobachtete ihre feingliedrigen Hände. Sie entzog mir geschickt das Schreiben.
Sie war kleiner als ich. Die Haare pechschwarz, wie bei den meisten Japanerinnen. Gleich käme die eine Frage.
»Können Sie sich ausweisen?«
Wusste ich es doch!
»Natürlich, kein Problem«, hauchte ich leicht genervt und holte den Personalausweis hervor. Elegant reichte ich ihn ihr. Sie drehte jenen um und bestaunte den Ausweis. Vorsichtshalber nannte ich meine Daten: »Suzuki, Arisu. 27 Jahre alt, geboren in Tokyo.«
Die Rezeptionistin glich kurz das Foto mit mir ab. Neugier funkelte in ihren Augen.
»Mein Vater ist Amerikaner.«
Es war mir egal, falls sie meine Abscheu ihr gegenüber bemerkte. Ich hasste diese Menschen. Zumindest in dieser Hinsicht ähnelte ich den Wesen, die ich einst so schamlos angestarrt hatte.
Dann hatte ich halt die Gene meines Vaters geerbt. Na und? In welcher Zeit lebten wir denn? Nur weil sie zur älteren Generation gehörte, hatte sie kein Recht, mich so zu mustern.
»Ich gebe Bescheid«, murmelte sie endlich nach einer gefühlten Ewigkeit und verschwand mit meinem Personalausweis und dem Brief.
Kapitel 4
»Miss Suzuki?«
Mein Herz setzte einen Schlag lang aus. Stocksteif riss ich die Augen auf. Das war überraschend fix. Ich sah auf und erkannte: Eine der Türen hinter dem Tresen war aufgegangen.
»Ja!«, quietschte ich und stolperte auf dem Weg zur Tür prompt über meine eigenen Füße. Dort stand sie, die Rezeptionistin, die mich schon mit einem breiten Grinsen empfing:
»Bitte treten Sie ein.«
Ich nickte ihr manierlich zu und betrat das Büro, dessen Tür fast im selben Moment hinter mir zufiel. Mein Blick schweifte rasch umher. Ich entdeckte viele Pflanzen in einem sonst edel eingerichteten Büro. Wie ein Roboter marschierte ich langsam auf einen Ebenholzschreibtisch zu. Vor diesem wartete ein aus echtem Leder gepolsterter Sessel. Definitiv underdressed. Meine Nervosität steigerte sich.
Bevor ich mich setzte, lächelte ich dem Anwalt zu. Hoffentlich bemerkte er nicht die fehlerhaft sitzende Bluse.
Der Mann im feinen Zwirn legte einige Unterlagen auf den Tisch. Meine Kehle schnürte sich zu.
Benötigte man immer so viele Papiere für ein paar Habseligkeiten?
Was vermachte meine Großmutter mir?
Verwunderlich war die schnelle Bearbeitung. Ich wurde langsam nervös und presste die Hände auf meine Oberschenkel, damit sie aufhörten zu zittern.
Der Mann lächelte mich zuversichtlich an. Er schien meine Unsicherheit zu bemerken und versuchte sie mit seiner Freundlichkeit zu verscheuchen.
»Sehr erfreut, Miss Suzuki«, schmunzelte der ältere Japaner mit ergrautem Haar und legte mir meinen Personalausweis auf den Tisch. »Ihre Großmutter verstarb vor zwei Wochen. Dieses Testament wurde vor einigen Jahren aufgesetzt und ist somit bindend. Jedoch gibt es Auflagen, sofern Sie Ihr Erbe antreten möchten. Ich bitte Sie, erst bis zum Ende zuzuhören und dann Fragen zu stellen.«
Sacht nickte ich, um mein Einverständnis mitzuteilen. Leider erinnerte ich mich nicht an meine Großmutter. Wieso vermachte sie mir etwas? War ich die einzige Erbin?
»Ihrem fragenden Blick entnehme ich: Sie wundern sich über die Umstände, warum nur Sie von dem Erbe betroffen sind. Ihre werte Großmutter hatte neben ihrer Mutter keine anderen direkten Nachkommen.
Bisher gab es im ganzen Stammbaum immer nur eine Tochter in der Familie, so als wäre es genetisch. Doch ich schweife ab. Machen wir weiter.
Die Summe, die Sie erben beträgt 50 Millionen Yen [*ca. 350.000€], wie auch eine Residenz auf dem Berg Kamui in Hokkaido.«
Ich fiel aus allen Wolken und riss die Augen tellergroß auf. Es war kaum zu begreifen. Mein Kopf rotierte. Hokkaido?
Die Region war ein Ferienort. Viele Japaner verbrachten ihren Urlaub dort. Einzig im Kindesalter war ich mit meinen Eltern dorthin gefahren, doch seit dem Tod meiner Mutter nie wieder.
Verwirrend war: Oma vererbte mir nicht nur eine Residenz, sondern dazu einen Haufen Geld. Handelte es sich womöglich um ein riesiges Anwesen? Doch was war der Haken daran?
»Kommen wir zu der Bedingung, um dieses Erbe anzutreten: Die Residenz sollen Sie bewohnen und verwalten. Bei dem Geld handelt es sich um ein Startkapital. Dieses Gebäude wurde vor einigen Jahrhunderten erbaut und wechselte nie die Familie. Ihrer Großmutter war es sehr wichtig, den Besitz in der Familie zu belassen.«
Mein Mund klappte fast wie von selbst auf.
›Umziehen? Nach Hokkaido?‹
Alle Gedanken drehten sich um diese Bedingungen. Es handelte sich um eine hohe Geldsumme und eine Immobilie. Ferienhaus, Pension oder Familienhaus mit Werkstatt?
Der Ausdruck Startkapital war gefallen. Ich hatte keine Ahnung davon, was mich verunsicherte.
»Habe ich eine Bedenkzeit? Sonst wollte ich noch fragen, ob es ein Eigenheim oder eine teilweise vermietete Immobilie ist.«
Nachdem die Frage über meine Lippen geglitten war, schluckte ich leicht und presste die feuchten Hände so fest auf die Oberschenkel, bis es wehtat. Ich war nicht komplett gegen diese Idee, aber es wäre eine monströse Veränderung im Leben.
Der Anwalt fuhr sich durch sein graues Haar, bevor er mir ein charmantes Lächeln zuwarf:
»Es handelt sich um eine Pension, deren Zimmer teilweise vermietet sind. Bedenkzeit erhalten Sie, aber in einer anderen Form. Ihnen werden zwei ganze Monate eingeräumt, welche Sie in der Residenz auf Probe verbringen sollen.
Danach können Sie entscheiden. Ihre Großmutter erhoffte sich durch diese Möglichkeit, Ihre Vergangenheit und Wurzeln zu erkunden und sich für dieses Leben zu entscheiden. Damals hat Sie bei dem Aufsetzen des Testaments sogar den Wunsch geäußert, gerne mit Ihnen in direkten Kontakt zu treten. Doch sie wusste nicht wie.«
Kurz ließ ich es sacken. Der letzte Satz blieb mir im Halse stecken. Was hatte das schon wieder zu bedeuten? »Was meinen Sie damit, sie wusste nicht wie?«
»Nun, Ihr Vater hat ein Kontaktverbot erwirkt. Als Sie ein Kind waren, sei wohl etwas Schlimmes an diesem Ort geschehen.«
›Mein Vater hatte was veranlasst?!‹
Ich schnaubte kurz und grub die Fingernägel in den dunkelblauen Jeansstoff. Was erlaubte er sich? So ein Übervater!
Wer wusste, wie viele Stunden er mir beim Psychiater erspart hätte. Mein Herz raste vor Wut, bevor die Wörter aus mir herausplatzten:
»Ich mache es! Zumindest diese zwei Monate.«
›Endlich erfahre ich, was damals geschah. Rückfall hin oder her. Ich will es wissen!‹
»Aber ich hätte doch noch eine weitere Frage, da ich zurzeit arbeitslos bin. Wenn ich auf Probe wohne, werde ich keinen Zugriff auf das Erbe erhalten, das weiß ich, doch –«
»Da unterbreche ich Sie gleich. Ihre Großmutter stellt Ihnen fünf Millionen Yen [*ca. 35.000€] vorab zur Verfügung. Des Weiteren erhalten Sie vor Ort Unterstützung, was die Handhabung der Mieter betrifft.«
Weiter hörte ich nicht mehr zu. Mein Puls raste. Ich nahm nur ein Rauschen wahr. Es war unbegreiflich, was sich vor mir für eine Riesenchance auftat.
In diesem Moment verfluchte ich nicht meine Arbeitslosigkeit, sondern hielt sie für eine göttliche Fügung. Zwei Monate würde ich in Hokkaido verbringen. Es wäre wie Urlaub und ich könnte den Kopf klar bekommen.
Ideen sprudelten aus mir heraus. Wie wäre es, einen Bildband von Hokkaido zu erstellen? Mit der Kamera kein schweres Unterfangen!
Ich war so aufgeregt! So viele Fragen kreisten in meinem Kopf umher.
Würde man mich freundlich empfangen? Wo genau stand die Pension? Welche Möglichkeiten könnten sich mir in der Zukunft eröffnen?
Damals wusste ich nicht, wie mein Leben auf den Kopf gestellt würde. Im Traum hätte ich dies nie erwartet.
Tag 1
Kapitel 5
Wenige Tage später war ich für mein kleines Abenteuer bereit. Endlich heraus aus diesem Käfig.
»Zwei Monate in einer richtigen Residenz auf einem Berg in Hokkaido wohnen«, tagträumte ich. Egal wie das Gebäude aussah, es hätte seinen eigenen verführerischen Charme. Topmodern war es durch das Alter nicht. Aber es störte mich nicht.
Außerdem war alles besser als dieser Krach vor dem Apartment meines Vaters. Tokyo war ein lauter Ort, der mich manchmal um den Verstand brachte. Dahingegen wäre die Stille an diesem abgelegenen Berg, welche nur vom Zwitschern der Spatzen und den Geräuschen der Natur unterbrochen würde, himmlisch.
Zumindest vermutete ich ein isoliertes Fleckchen, denn ich hatte die Karte studiert. Keine Stadt weit und breit. Doch zum Glück gab es eine Bushaltestelle für eine Aussichtsplattform, die sich unweit der Residenz erstreckte.
Nur eine Frage hatte mich in dieser Woche beschäftigt. Was wäre, wenn ich das Angebot ablehnte? Ich war nach Angaben des Anwalts die einzige Nachfahrin. Ich schüttelte den Kopf. Nicht nachdenken!
Der Bildband von der Landschaft war schon vorgemerkt, womöglich kam mir sogar eine Idee für einen Roman oder Reiseführer. Es gab viele Möglichkeiten, denen ich in diesen zwei Monaten eine Chance gäbe.
Im Spiegel sprang mich ein breites Grinsen an. Ich bürstete das goldene Haar, um es in Form zu bringen. Die Wellen schimmerten im Sonnenlicht, welches durch das offene Fenster hereinströmte. Meine Lippen erstrahlten in einem zarten Rosa.
Für die lange Reise hatte ich mir eine bequeme Bermudahose in Khaki ausgesucht und trug dazu ein weißes T-Shirt. Zusätzlich wählte ich Wanderschuhe in Braun.
Wie viele Bewohner Tokyos besaß ich kein Auto, denn die U-Bahnen brachten einen an jeden Ort. So sparte man sich das Geld für einen teuren Autostellplatz. Dafür benötigte ich jetzt aber einen Shinkansen und einen Bus, was mich mehr als elf Stunden kostete. Zuletzt kam eine Wanderung zum Domizil.
Mit etwas Glück gab es dort ein Auto, um Einkäufe zu erledigen. Oder gab es einen Lieferservice? Leider wusste ich dies, wie so vieles anderes, nicht. Ich hatte definitiv nicht genug Informationen.
Seufzend schielte ich zur Tasche. Es war nur eine Reisetasche, aber die würde fürs Erste reichen. Ich hatte mit meinem Vater abgesprochen: Er schickte mir mehr Kleidung nach, sofern ich den Aufenthalt verlängerte. Einen Koffer den Berg hoch schleppen war nicht drin. Schlimmstenfalls kaufte ich mir im nächsten Ort etwas Stylishes.