Arkham Horror: Dunkle Ursprünge 1 - Dave Gross - E-Book

Arkham Horror: Dunkle Ursprünge 1 E-Book

Dave Gross

0,0

Beschreibung

Die Alten Götter kommen, um unsere Welt zu verschlingen, und nur die mutigen Ermittler von Arkham Horror stellen sich ihnen in dieser schaurigen Novellensammlung entgegen.   Die Suche nach ihrer Schwester führt Jenny Barnes in die dunkelsten Ecken von Arkham. Bundesagent Roland Banks wird in einem bizarren Fall mit den übernatürlichen Schrecken Arkhams konfrontiert. Bei einem sonderbaren Experiment erregt Astronom Professor Norman Withers die Aufmerksamkeit einer seltsamen Kreatur. Und Seemann Silas Marsh muss sich in Innsmouth seinen schlimmsten Albträumen stellen, nachdem ein altes Buch ihm das Ende der Welt prophezeit hat.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 687

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ARKHAMHORROR

DUNKLE URSPRÜNGE

DIE GESAMMELTEN NOVELLEN BAND 1

DAVE GROSS • GRAEME DAVISRICHARD LEE BYERSCHRIS A JACKSON

Ins Deutsche übertragen vonANNE BERGEN

Die deutsche Ausgabe von

ARKHAM HORROR: DUNKLE URSPRÜNGE · DIE GESAMMELTEN NOVELLEN · BAND 1

wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Anne Bergen;

verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust;

Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Layout: Sina Keller; Cover-Illustration: Anders Finér;

Printausgabe gedruckt von CPI book GmbH, Leck. Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

ARKHAM HORROR: DARK ORIGINS · THE COLLECTED NOVELLAS · VOLUME 1

First published by Aconyte Books in 2021

Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd

Copyright © 2022 Fantasy Flight Games. All rights reserved.

Arkham Horror and the FFG logo are trademarks of Asmodee Group or affiliates.

German translation copyright © 2022 Cross Cult.

Print ISBN 978-3-96658-951-2 (Oktober 2022)

E-Book ISBN: 978-3-96658-952-9 (Oktober 2022)

WWW.CROSS-CULT.DE

INHALT

Die Stunde der Jägerin von Dave Gross

Das Klagelied der Vernunft von Graeme Davis

Der Zorn der Leere von Richard Lee Byers

Das Tor in der Tiefe von Chris A Jackson

DIE STUNDEDER JÄGERIN

DAVE GROSS

KAPITEL 1

Der schrille Ton der Pfeife riss sie aus einem Albtraum von einer Irrenanstalt. Zugleich drohte ein Rütteln sie zu Boden zu werfen, bevor sie die Armlehne zu fassen bekam. Für einen endlosen Augenblick war sie sich nicht sicher, ob sie Izzie war, gefangen in einem unfreiwilligen Dampfbad, oder Jenny, eine Passagierin in einem langsamer werdenden Zug.

»Endstation!«, rief der Schaffner. »Arkham, Massachusetts.«

Jenny setzte sich auf. Ihr Herz raste und sie bemühte sich, ihre Atmung zu beruhigen. »Halt durch, Izzie«, murmelte sie. »Ich komme.«

Dampf waberte an den Waggonfenstern vorüber. Die Bremsen quietschten und die Lokomotive hörte auf zu schnaufen. Die anderen Passagiere, allesamt Männer, hatten sich bereits von ihren Sitzen erhoben. Mit ihren braunen Anzügen und Drahtgestellbrillen sahen sie aus wie Bankangestellte, die von Terminen aus Boston zurückkehrten.

Keiner hatte während der Fahrt versucht, ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Unter diesen Umständen empfand Jenny das als Erleichterung. Dennoch ließ es die Frage in ihr aufkommen, wie zerzaust sie wohl aussehen musste. Als einzige Frau im Waggon hatte sie zumindest mit etwas Aufmerksamkeit gerechnet. In Paris hatte Jenny kaum von ihrer Wohnung zum Café laufen können, ohne drei Annäherungsversuche und einen Antrag abwehren zu müssen.

Izzies Briefe waren aus der Literaturzeitschrift herausgefallen, während Jenny gedöst hatte. Das Magazin lag auf ihrem Schoß, aufgeschlagen auf der letzten Seite von Hemingways »Berge wie weiße Elefanten«. Am Tag, als sie Paris verlassen hatte, hatte sie ein halbes Dutzend Geschäfte abgeklappert, um zu erfahren, was der Herausgeber mit Ernests jüngster Schöpfung gemacht hatte. Schließlich hatte sie ein Exemplar bei Shakespeare and Company erstanden, zusammen mit ein paar Packungen Gauloises.

Als Jenny die heruntergefallenen Seiten von Izzies Briefen aufsammelte, fiel ihr Blick auf einen beunruhigenden Abschnitt:

…abdrücke in den Wäldern. Ich meine, es war ein Mann in einem dunklen Umhang! Er stand einfach da und sah mich an, während diese entsetzlichen Schreie immer weiter und weiter und …

Jenny faltete den Brief zusammen. Es war verrückt.

Natürlich hatten die Ärzte das Gleiche über Izzie gesagt, als sie sie eingewiesen hatten.

Nachdem sie ihre Schwester über Monate hinweg im Sanatorium besucht hatte, war Jenny ihrem Familiendrama entflohen, um bei ihrer Tante in Paris zu leben. Izzie hatte ihre eigene Flucht wesentlich später unternommen, nachdem ihr Psychiater sie unter Vorbehalten entlassen hatte. Trotz ihrer Schuldgefühle darüber, Izzie zurückgelassen zu haben, hatte Jenny ihr geschrieben. Nach Monaten des gekränkten Schweigens hatte Izzie dann schließlich angefangen, ihr zu antworten. Allmählich waren sie wieder zu Vertrauten geworden, wie sie es als Kinder gewesen waren. Doch gerade als Jenny angefangen hatte zu glauben, das Schlimmste wäre überstanden, hatten die seltsamen Ereignisse, die Izzie in ihren letzten Briefen beschrieben hatte, Jennys Hoffnungen zerschlagen.

Der Zug kam zum Stehen. Jenny verstaute die letzte Seite bei den restlichen Briefen und steckte das Magazin zurück in ihre Handtasche.

Als der Bahnhofsvorsteher die Tür öffnete, eilten die Männer hinaus. Jenny rief ihnen hinterher: »Ihr Jungs wisst wirklich, wie man das Selbstvertrauen eines Mädchens erschüttert!«

Keiner blickte zurück. Das war gut so. Wenn Jenny sich niedergeschlagen fühlte, munterte eine freche Bemerkung sie stets auf, auch wenn diese unbeachtet blieb.

Die Männer hetzten über den Bahnsteig, um sich am Taxistand gegenseitig beiseitezudrängen. Die Sonne war untergegangen und das elektrische Licht des Bahnhofs verlieh ihren angespannten Gesichtern eine kränkliche Blässe.

»Was ist denn in die gefahren?«, fragte Jenny sich. Wenn jemand Grund zur Eile hatte, dann sie. Unglücklicherweise hatte sie keine klare Vorstellung davon, wo das Hotel zu finden war, in dem sie von Boston aus ein Zimmer reserviert hatte. Schlimmer noch, sie hatte keine Ahnung, wo in Arkham Izzie untergekommen war. Der Absender hatte lediglich »postlagernd« besagt.

Jenny stieg aus dem Zug. Der grauhaarige Bahnhofsvorsteher bot ihr seine Hand an. Mit der anderen berührte er den Rand seiner Schirmmütze und verbeugte sich, wobei er auf seinen Rücken achtgab. »Miss.«

Jenny schenkte ihm ein Lächeln. Trotz ihrer Mitreisenden schien Zuvorkommenheit in Arkham nicht ganz ausgestorben zu sein.

Eine Brise verstreute Blätter über den Bahnsteig. Rotahorn und Gelbe Eiche schwirrten um ihre Füße herum, zusammen mit einem zerknitterten orangen Handzettel. Jenny schnappte sich das Flugblatt und hielt es ins Licht.

ARKHAMS ERNTEDANKFEST22.–30. OktoberIndependence SquareParade & FestzugErntedankkönig & -königinFormeller BallHeuwagenfahrtenErntedank-FestessenEin Spaß für die ganze FamilieFreiwillige können die Vorsitzende kontaktieren,Mrs. Winthrop Olmstead

Der Text war keineswegs ungewöhnlich, doch Jenny schluckte bei dem dazugehörigen Bild. Es war eine vereinfachte Zeichnung vom Gesicht eines Mannes, die so grob war, als wäre sie vor langer Zeit in einen längst erodierten Stein gemeißelt worden. Die Haare und der Bart des Mannes schienen geflochten zu sein, doch Jenny wusste, dass das, was in diesem schlechten Druck wie Zöpfe anmutete, Weidenblätter waren. Sie kannte das Bild von einem Medaillon, das sie besaß, eines, das sie von einem Marseiller Juwelier für Izzie hatte duplizieren lassen. Es gab zwei davon – und soweit Jenny wusste –, nur zwei.

Jennys Hand wanderte zu ihrem Hals, ertastete dort jedoch lediglich ihren Reiseschmuck. Bevor sie in Panik ausbrechen konnte, erinnerte sie sich daran, dass sie das Medaillon in ihrem Gepäck eingeschlossen hatte. In einem ihrer Briefe hatte Izzie gefragt, ob sie es noch immer trug, also hatte Jenny es als Glücksbringer eingepackt. Womöglich hatte es ihr Glück gebracht, denn sein Auftauchen auf dem Flugblatt bestätigte, dass Izzie sich in Arkham befand.

»Ich sagte, sind Sie wegen des Fests hier, Miss?«, fragte der betagte Bahnhofsvorsteher.

»Oh!« Jenny verlor das Flugblatt bei einem Windstoß. »Nein, ich bin hier, um, äh, meine Schwester zu besuchen.« Sie verkniff es sich, »meine Schwester zu finden« zu sagen.

Hinter dem Bahnhofsvorsteher entfernte sich ein Lastwagen vom Taxistand, auf der Ladefläche türmte sich Gepäck. Jenny erkannte ihren mit dem Monogramm »gBe« versehenen Koffer, auf dem Aufkleber aus ganz Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika klebten.

»Ist das …?«, sagte Jenny.

»Keine Sorge, Miss. Bill Washington bringt sie ins Hotel. Sie brauchen nur noch ein …« Es warteten keine Taxis mehr in der Schlange. Der Bahnhofsvorsteher sah auf seine Uhr und runzelte die Stirn. »Ich bin mir sicher, dass gleich wieder eins da sein wird.« Er schlurfte zurück zu seinem Schalter.

Der zweifelnde Ton des Mannes trug nicht gerade dazu bei, Jenny zu beruhigen. Sie fragte sich, wie lange sie würde warten müssen. Die einzige andere übrig gebliebene Person auf dem Bahnsteig war ein stämmiger junger Bursche in einem ölverschmierten Overall. Er hatte einen Beiwagen aus dem Zug ausgeladen und befestigte diesen an einem roten Motorrad. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber er hatte Schultern, die einen Rugby-Spieler neidisch gemacht hätten. Eine blaue Rauchwolke stieg über seiner Ballonmütze auf.

Ein neuerlicher Windstoß wehte über den Bahnsteig. Jenny rieb sich die Arme und wünschte sich, einen Pullover angezogen zu haben. Von irgendwoher aus der Dunkelheit, die sie umgab, vernahm sie einen herzzerreißenden Schrei. Zunächst klang er menschlich, doch als er erneut ertönte, entschied sie, es müsse ein Tier sein, womöglich ein Lamm. Jenny dachte darüber nach, was das Erntedankfest für das Vieh bedeutete.

»Viel Glück, dem Esstisch zu entkommen, Kleiner.«

Als die Lok ihr langsames Tuckern begann, um loszufahren, bewegte sich der Mechaniker auf die andere Seite des Motorrads. Jenny erhaschte einen Blick auf einen großen Schraubenschlüssel im Klammergriff einer Faust, die nur aus Knochen und Sehnen bestand. Das Licht am Schalter des Bahnhofsvorstehers erlosch. Einen Moment später taten dies auch die Lichter auf dem Bahnsteig.

»Hey, Charley!«, brüllte der Mechaniker mit hoher Stimme. »Ich arbeite hier!«

»Entschuldige, Lonnie.« Die Bahnsteigbeleuchtung ging wieder an. Einen Moment später kam Charley aus dem Schalter heraus, schloss die Tür ab und wollte aufbrechen.

»Verzeihung!«, rief Jenny. »Wohin gehen Sie?«

»Entschuldigung, Miss. Das war der letzte Zug, also habe ich Feierabend.«

»Sie erwarten doch nicht etwa von mir, dass ich allein auf ein Taxi warte, oder?«

»Lonnie wird ein Auge auf Sie haben, bis das nächste Taxi vorbeikommt. Nicht wahr, Lonnie?«, erwiderte der alte Mann.

Der große Schraubenschlüssel tauchte hinter dem Motorrad auf und winkte zustimmend.

Jenny gefiel das nicht, aber sie sah keine andere Alternative, als die Art von Aufstand zu machen, die sie als unter ihrer Würde betrachtete. Abgesehen davon war es ja nicht so, als könnte sie nicht auf sich selbst aufpassen, sollte dieser Lonnie übermütig werden.

Jedenfalls redete sie sich das gern ein.

Jenny fischte das Zigarettenetui aus ihrer Handtasche und fummelte an der Zigarettenspitze herum. Nach einer weiteren Bö gab sie es jedoch auf, eine anstecken zu wollen. Als sie alles zurück in ihre Handtasche stopfte, bemerkte sie eine Gestalt, die an der gegenüberliegenden Ecke des Bahnhofs stand.

In Schatten gehüllt wirkte die Gestalt größer und aufrechter als Charley. Außerdem hatte Jenny den Bahnhofsvorsteher in die entgegengesetzte Richtung davongehen sehen.

»Wer ist da?« Sie ließ ihre Hand in der Tasche und hoffte, ein möglicher Triebtäter würde annehmen, sie hätte eine Deringer.

Der Mann machte einen Schritt nach vorn. Es war etwas Seltsames an der Art, wie er sich bewegte. Nur seine Schulter und ein Bein kamen ins Licht. Die Schatten bündelten sich unterhalb seines Mantels und ein Bein schien krumm zu sein. Dort, wo sein Fuß sein sollte, konnte man sich beinahe einen Huf einbilden.

Jenny erinnerte sich an das Gedicht von E. E. Cummings über den Frühling mit seinem bocksfüßigen Ballonmann. Im Gegensatz zu dem pfeifenden Faun im Gedicht blieb die Gestalt auf dem Bahnsteig still. Als Nächstes kamen ihr die Zeilen aus Izzies Brief ins Gedächtnis: … es war ein Mann in einem dunklen Umhang! Er stand einfach da und sah mich an … Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter.

Angst zu zeigen ermutigte böse Männer lediglich, also trieb Jenny ihren Bluff noch weiter. Während sie mit ihren Fingern eine Pistole formte, richtete sie ihre Handtasche auf den Fremden. »Zeigen Sie sich.«

Es war schwierig, bedrohlich zu wirken, ohne die Waffe zu ziehen, die nicht in ihrer Handtasche war. Für einen langen, eisigen Moment verharrte die Gestalt in Reglosigkeit.

Dann machte sie einen Schritt nach vorn.

»Ich warne Sie«, sagte Jenny. Sie verdrängte das ängstliche Zittern aus ihrer Stimme, doch es steckte in ihrer Kehle fest, wie eine Taube, die in einem Schornstein gefangen war.

Der Fremde tat einen weiteren Schritt.

Eine Hand legte sich auf Jennys Schulter. Sie wirbelte herum und die Taube entwischte. »Aaah!«

Ein großer Schraubenschlüssel polterte auf den Bahnsteig. Lonnie kreischte ebenfalls, höher und länger als Jenny. Die Zigarre prallte vorn am ölverschmierten Overall ab und verteilte Funken auf dem Bahnsteig. Jenny konnte den Mechaniker zum ersten Mal richtig in Augenschein nehmen.

Lonnie war ganz und gar kein großer, stämmiger Bursche. Sie war ein großes, stämmiges Mädchen. Diese Enthüllung trug allerdings nicht dazu bei, die von ihrer großen Faust ausgehende Gefahr abzumildern, die neben ihrem sommersprossigen Kinn zitterte, bereit, zuzuschlagen.

»Entschuldigung«, riefen beide Frauen.

»Ich wollte Sie nicht erschrecken, Miss.« Lonnie ließ ihre Faust sinken. Ihre Wangen röteten sich – ob vor Aufregung oder Scham, konnte Jenny nicht sagen.

»Da ist ein Mann«, sagte Jenny. Sie zeigte auf die Stelle, wo er gestanden hatte, doch da war niemand. »Oh, er ist weg.«

»Immer die gleiche Geschichte, was?«, Lonnie hob ihre Zigarre auf. Als sie sich wieder aufrichtete, entblößte ihr schiefes Grinsen einen fehlenden Eckzahn.

Jenny seufzte, wobei die Anspannung von ihren zitternden Armen abfiel. Sie kämpfte einen Moment lang, bevor sie die »Pistole« aus ihrer Tasche herauswinden konnte. »Mit dieser Art Geschichte kann ich umgehen«, sagte sie. »Nur mit diesem Wind und der Dunkelheit und dem Windstoß und den Blättern …«

»Ja. Gespenstisch.« Lonnie sah zu ihr hinab. Die Mechanikerin war gut ein Meter achtzig groß. Ihr Arbeitsshirt spannte sich über dicke Bizepse. Wenn sie grinste, standen die Muskeln an ihrem Nacken hervor. »Hören Sie, es macht mir nichts aus, länger zu bleiben, aber ich glaub nicht, dass noch ein Taxi kommen wird. Sie sind nicht die Einzige in Arkham, die dieser Tage nervös ist.«

»Oh?«, sagte Jenny. »Wie das?«

»Ich schätze, für die aus der Großstadt ist das ein alter Hut, aber in einer Kleinstadt wie Arkham sind die Leute erschüttert, wenn junge Mädchen verschwinden.«

Jenny ballte die Hand zur Faust, um das Zittern zu unterbinden. Sie wusste nicht, ob Angst oder Wut die Ursache war.

»Mädchen, Plural?«, sagte Jenny. »Wie lange geht das schon so?«

»Seit Ende des Sommers, glaub ich.«

Jenny überschlug die Zustellungsdauer interkontinentaler Post. Izzie konnte kein Opfer der gegenwärtigen Entführungswelle gewesen sein – es sei denn, sie wäre ihr erstes Opfer gewesen. Sie überlegte, die Stimmung etwas aufzuhellen, indem sie Wildes Sinnspruch paraphrasierte, dass mehr als einen Elternteil zu verlieren nachlässig sei, entschied jedoch, dass jetzt nicht der richtige Moment für einen Scherz wäre.

»Hören Sie, Miss …?«, sagte Lonnie.

»Barnes.«

»Lonnie Ritter. Ritter Sanitär und Automobilwerkstatt. Warten Sie, ich hab eine Karte.« Sie kramte in der Brusttasche ihres Overalls herum und holte ein rechteckiges schmuddeliges Stück Papier hervor. Sie wischte mit ihrem Handballen darüber, reichte es aber dann Jenny, als offensichtlich wurde, dass sie es nur noch schlimmer machte.

»Sagen Sie, Lonnie«, sagte Jenny und ließ die Karte in ihrer Tasche verschwinden. »Würden Sie sich gern was dazuverdienen?«

»Ehrlich?« Lonnie tippte Asche von ihrer Zigarre und musterte Jennys französisches Kleid von oben bis unten. »Hat eine schicke Lady wie Sie denn keine Angst, in einem Beiwagen mitzufahren?«

»Ich fahre das Motorrad sogar selbst, wenn Sie mir nur sagen, wie ich zum Continental Hotel komme.«

»Keine Chance! Papa hat diese Sonderanfertigung angefordert. Wenn irgendjemand dem Big Chief auch nur einen Kratzer zufügt, dann bringt er denjenigen um. Und mich gleich mit! Hüpfen Sie rein.«

Jenny stieg in den Beiwagen, wobei sie der großen Werkzeugkiste auswich, die Lonnie auf dem Boden abgestellt hatte. Lonnie setzte sich rittlings auf das Motorrad und zog den Schirm ihrer Kappe tiefer ins Gesicht. »Ich wünschte, ich hätte eine Pilotenbrille«, seufzte sie. »Zusammen mit einer Fliegerhaube würd ich wie Amelia Earhart aussehen.«

»Wer ist das?«

»Wer Amelia Earhart ist?! Ach, nur die Pilotin des The Canary, die den neuen Höhenweltrekord für Frauen aufgestellt hat! Ich hab ihr in Boston die Hand geschüttelt.«

Jenny richtete einen pointierten Blick auf Lonnies heldenhafte Arme. »Und ist Miss Earhart wieder in der Lage, Gebrauch von dieser Hand zu machen?«

»Ha!« Lonnie umfasste die Lenkergriffe. Sie startete den Motor beim zweiten Kick. Mit einem Brüllen rauschte die Maschine vom Bahnsteig hinunter und auf die Straße. Lonnie spuckte ihre Zigarre aus. Jenny hielt ihren Hut fest.

Als sie die erste Ecke umrundeten, hob ein Rad des Beiwagens vom Boden ab. »Was wiegen Sie?«, rief Lonnie. »Klatschnass neunzig Pfund?«

Jenny bemühte sich zu lächeln, als hätte sie ein Kompliment bekommen, spürte jedoch, wie sich ihr der Magen umdrehte. Sie umklammerte den Haltegriff und hoffte, es wäre nicht zu offensichtlich, dass sie sich daran festhielt, als hinge ihr Leben davon ab.

Sie fuhren an mehreren Fabriken und Lagerhäusern vorbei, die, abgesehen von ein paar einsamen Warnleuchten an den Wächterhäuschen, dunkel dalagen. Schwarze Schatten ballten sich unter Ladezonen und Wassertürmen. Das einzige Gebäude, dessen Büroräume noch immer erleuchtet waren, war in großen weißen Buchstaben mit »Arkham Advertiser« beschildert. Jenny roch Tinte. Sie hörte das Brummen und Scheppern einer Druckerpresse.

Die Industriegebäude wurden von Wohnhäusern abgelöst. Wäscheleinen verliefen kreuz und quer zwischen den Ziegelsteinhäusern durch die düsteren Gassen. Jenny versuchte, keine riesengroßen Spinnweben darin zu sehen. Als Lonnie an einer Reihe von Schaufenstern vorbeifuhr, streiften die Scheinwerfer des Motorrads ein Schild, auf dem »Kuriositätenladen« stand.

»Wie reizend«, sagte Jenny, aber Lonnie hörte sie über das Motorbrüllen des Big Chief nicht.

Sie passierten ein Schild mit der Aufschrift »Miskatonic River« und fuhren auf eine erhöhte Brücke. Zu beiden Seiten reflektierte das Kräuseln der dunklen Strömung das Licht der Straßenlaternen am Ufer.

Auf der Südseite des Flusses ging Lonnie etwas langsamer in die nächste Kurve – eine Maßnahme, die ihnen das Leben rettete.

Eine gehörnte Gestalt tauchte kreischend vor ihnen auf. Lonnie bremste so stark, dass sich das Hinterrad zusammen mit dem Beiwagen aufbäumte. Der Wagen schwenkte herum und beförderte Jenny Auge in Auge mit dem Störenfried.

»Blaaaah!« Kiefer voller Zähne klafften vor Jenny auf, von denen ein bestialischer Gestank ausging.

»Was zum Teufel …?«, bellte Lonnie.

»Naaaah!«, blökte der Ziegenbock. Sein Fell war schwarz, abgesehen von einem rostroten Flecken um ein Auge und ein Horn. Ein Seil hing von seinem Hals herab, das ausgefranste Ende war nass von Speichel.

Jenny wich vor dem Stallgestank des Tiers zurück. Seine Schnauze folgte ihr in den Beiwagen und neigte sich nach unten, um nach etwas Essbarem zu stöbern. Sie brachte ihre Handtasche in Sicherheit und kletterte auf den Sitz. Der Ziegenbock knabberte an den Spitzen ihrer Spangenpumps. Sie verpasste ihm einen Tritt, allerdings nicht zu fest, da sie Angst hatte, das Biest zu verärgern. »Kusch! Weg mit dir, du Schuft!«

Lonnie brach in schallendes Gelächter aus. »Geht man in der Stadt so mit geilen Böcken um?«

»Das hier ist nicht gerade die Sorte, der ich normalerweise in Paris über den Weg laufe.«

»Paris? Oh, là, là!«

Zunächst konnte Jenny nicht sagen, ob Lonnies Ton bewundernd oder höhnisch gemeint war. Ein Blick auf das zahnlückenhafte Grinsen der großen Frau überzeugte Jenny von deren Aufrichtigkeit.

Jenny sprang aus den Beiwagen. »Aber wenn ich so darüber nachdenke, ist der hier längst nicht so behaart wie der eine oder andere Franzose, dem ich begegnet bin. «

Die Frauen blieben für eine Weile stehen und erlaubten dem Ziegenbock, im Beiwagen herumzuschnüffeln, während Lonnie sich von ihrem jüngsten Lachanfall erholte. Es war ein ansteckender Klang, doch Jenny war dem gegenüber seltsamerweise immun. Sie fragte sich, wie nah Izzie war. Wenn Jenny ihren Namen rief, würde sie es hören?

Jenny blickte zu den Piers, die jenseits der Uferstraße in den Fluss hineinragten. Ihr erster Eindruck war, dass sie in einer der kleinen Städte entlang der Seine nicht fehl am Platze gewirkt hätten. Dann bemerkte sie ein knallbuntes Logo an der Seitenwand einer Transportfirma und ein weiteres über der Tankstelle nebenan. Wo auch immer in dieser amerikanischen Stadt sie Anzeichen des Fortschritts erblickte, kamen sie in Form von greller Reklame daher. Wenn Werbung schon sein musste, bevorzugte sie die Darstellungen des Jugendstils.

Ein Plakat, das an einer Straßenlaterne in der Nähe angeklebt war, stach ihr ins Auge. Auf dem Anschlag war das von der Sonne ausgebleichte und vom Regen fleckige Bild eines Mädchens mit hellen Zöpfen und einem Karokleid abgebildet. »VERMISST: ANGELA HOUSTON«, lautete der Titel. Darunter, in kleinerer Schrift, besagte das Plakat: »WENN SIE SIE SEHEN, RUFEN SIE IM BÜRO DES SHERIFFS AN.«

Das Motorengeräusch eines näher kommenden Automobils riss Jenny aus ihrem Tagtraum. Ein Polizeiwagen kam auf der anderen Seite des Ziegenbocks schlitternd zum Stehen. Ein uniformierter junger Mann sprang heraus. Er nestelte an seinem Deputy-Hut herum, bevor er ihn auf den Vordersitz warf. »Lonnie! Geht’s dir gut?«

»Natürlich geht’s mir gut, Gal«, sagte sie. »Hab deinen Ziegenbock.«

»Er ist nicht mein Ziegenbock.« Das Seufzen des Hilfssheriffs ließ vermuten, dass er diesen Scherz bereits zuvor gehört hatte. »Schon das zweite Mal diese Woche, dass dieser Schlingel von Schraders Farm entwischt ist.« Gal rückte näher und griff nach dem abgetrennten Seil. Als er Jenny bemerkte, wanderte seine Hand nach oben, um den Hut abzunehmen, den er nicht länger trug. »Guten Abend, Miss. Entschuldigen Sie, dass ich … Uff!«

Der Ziegenbock rammte seinen Bauch. Gal krümmte sich. Als er sich aufrichtete, glühten seine Wangen. Erleichtert stellte Jenny fest, dass der junge Mann nicht den Anschein machte, durchbohrt worden zu sein.

Gal drohte dem Ziegenbock mit einer Faust. »Du mieses, widerspenstiges …« Mit einem beschämten Blick zu Jenny ließ er den Rest unausgesprochen.

»Zeig’s ihm, Gal!« Lonnie legte einen Arm um die Hinterbeine des Tiers und hielt es von der Seite fest, um einen Tritt zu vermeiden. »Beeil dich, schnapp dir seine Vorderbeine!«

Gal packte die Beine und den Hals des Bocks und drückte dabei seinen Kopf auf den Nacken des Tiers, um den Hörnern zu entgehen. Gemeinsam hievten sie das Vieh von seinen Hufen und verfrachten es auf den Rücksitz des Polizeiwagens. Lonnie schlug die Tür zu. Der Bock blökte protestierend und streckte seinen Kopf über den Vordersitz.

»Oh, nein, das wirst du nicht!« Gal duckte sich hinein, um seinen Hut zu retten. Mit einem erleichterten Seufzer drehte er sich zu den Frauen. »Danke, Lonnie.«

»Du weißt, es macht mir nichts aus, auf dich aufzupassen, Gal«, sagte sie. »Na, Miss Barnes, würden Sie mir glauben, dass Galeas Morgan hier damals, als wir auf der Grundschule waren …«

»Lonnie, nicht.«

Lonnie ließ sich nicht unterbrechen. »… der kleinste Junge in unserer Klasse war? Manchmal haben sich ihn die anderen Jungs nach dem Rechenunterricht geschnappt …«

»Lonnie«, flehte Gal. Seine tiefe Stimme erinnerte Jenny an einen Bariton, den sie im Teatro alla Scala getroffen hatte. Er war ein paar Zentimeter größer als Lonnie und so dünn, dass Jenny vermutete, er ließ die eine oder andere Mahlzeit aus.

Jenny kam der Gedanke, sie würde einen freundlichen Hilfssheriff bei ihrer Suche nach Izzie gebrauchen können. Es würde das Beste sein, wenn sie sich mit diesem hier gut stellte. »So klein er als Junge auch gewesen sein mag«, sagte Jenny, »mir scheint, wir können uns alle darauf einigen, dass er prächtig gewachsen ist. Danke für Ihre Hilfe, Deputy Morgan.«

Gals Augen strahlten vor Dankbarkeit.

Lonnie zuckte mit den Schultern, schwang ein Bein über das Motorrad und erweckte es mit einem Kick wieder zum Leben. »Wir sollten uns lieber auf die Socken machen.«

Gal setzte seinen Hut auf und berührte die Krempe. »Genießen Sie das Erntedankfest, Miss …?«

»Barnes.«

»Sagen Sie, Miss Barnes, Sie haben heute Nacht nicht zufälligerweise einen schwarzen oder grünen Truck gesehen, oder?«

»Ich komme direkt vom Bahnhof«, sagte sie. Sie überlegte, ob sie die seltsame Gestalt auf dem Bahnsteig erwähnen sollte, entschied dann aber, es wäre besser, nicht wie ein Nervenbündel zu wirken. Dennoch gewann die Neugier die Oberhand. »Warum fragen Sie?«

Gal setzte zu einer Antwort an, aber ein reißendes Geräusch aus dem Polizeiwagen lenkte ihn ab. Der Ziegenbock hatte seine Zähne in der Polsterung vergraben.

»Hey, lass das, du Teufel!« Gal stürzte zurück zum Wagen.

»Kommen Sie, Miss Barnes«, sagte Lonnie. »Papa macht sich Sorgen, wenn ich zu spät komme.«

Während sie sich das Lachen über Gals lächerlichen Kampf gegen den Bock verkniff, den sie nunmehr als »Teufel« abgespeichert hatte, kehrte Jenny zum Beiwagen zurück.

»Viel Glück, Gal!«, schrie Lonnie, als sie davonsausten.

Jenny rief über das Brüllen des Motors hinweg: »Warum hat er nach dem Truck gefragt?«

Lonnies Grinsen verschwand. »Jemand hat einen in der Nähe des letzten Vermisstenfalls gesehen. Sheriff Engle hat alle aufgefordert, danach Ausschau zu halten.«

Sie fuhren am Ufer entlang, bis Lonnie die Maschine ins Herz der verschlafenen Stadt lenkte. Sie wurde langsamer, als sie sich einem Haus im Kolonialstil mit einer großen Veranda im Erdgeschoss näherten. Gelbes Licht flackerte in ein paar Gaubenfenstern. Der halb heruntergelassene Rollladen an einem davon verlieh dem Gebäude ein hochnäsiges Äußeres, während es auf die kreisrunde Einfahrt hinabblickte. Auf einem Schild im Rundgarten stand »Continental Hotel«.

Der Pförtner verengte seine Augen beim Anblick des Motorrads, als Schotter unter dessen Rädern knirschte. Dann erblickte er Jennys Perlen und hastete nach vorn.

Beim Aussteigen bemerkte Jenny: »Ich habe keinen Ring an Gals Finger gesehen.«

»Was?«

»Ich meine, er ist doch ein begehrter Junggeselle, oder?«

Lonnie zog die Augenbrauen hoch. »Sie wollen doch nicht …? Ich meine, eine Lady wie Sie ist doch nicht etwa an einem Kerl wie ihm interessiert …?«

Jenny lächelte, erfreut darüber, dass Lonnie angebissen hatte. Jenny hatte ein Talent dafür, Zuneigung zu erkennen, die als Schikane getarnt war. Als Mädchen war sie genauso vorgegangen. »Es kommt mir einfach merkwürdig vor«, sagte sie, »dass ein gut aussehender junger Mann wie er ohne Frau oder zumindest Verlobte sein sollte. Vielleicht eine Geliebte?«

»Ha!« Lonnie schlug sich mit ihrer Kappe auf den Oberschenkel. »Gal ist viel zu sehr damit beschäftigt, nach seiner Ma und seinen Schwestern zu schauen. Seit sein Pa und seine älteren Brüder … Sie wissen schon.«

»Der Krieg«, nickte Jenny, die bedauerte, in welche Richtung sich die Unterhaltung entwickelt hatte. In Europa war es viel schlimmer gewesen, aber sie kannte viele in den Staaten, die jemanden im Großen Krieg verloren hatten. Sie reichte Lonnie fünf Dollar. »Danke fürs Mitnehmen.«

Lonnie starrte den Schein unverwandt an. »Miss Barnes, das ist zu viel.«

»Schluss jetzt mit dem ›Miss Barnes‹.« Jenny stopfte den Schein in Lonnies Overalltasche. »Meine Freunde nennen mich Jenny.«

KAPITEL 2

Nachdem sie ausgepackt und sich frisch gemacht hatte, zog sich Jenny ein glitzerndes schwarzes Chanel-Abendkleid an. Sie musterte sich im Spiegel und beschloss, dass es etwas zu formell war. Also tauschte sie es gegen ein gelb-grünes Moiré-Kleid von Paquin ein. Es war keineswegs unauffälliger als das Chanel, aber wesentlich frivoler. Sie tuschte sich die Wimpern und legte Rouge auf. Zuletzt trug sie Lippenstift auf und hauchte sich selbst einen Kuss im Spiegel zu.

Ihre Handtasche tauschte sie gegen eine perlenbestückte Pochette ein und zog die passenden ellbogenlangen Handschuhe an. Als sie die notwendigsten Dinge aus ihrer Handtasche umräumte, erspähte sie das Medaillon mit dem Grünen Mann, das neben Izzies Briefen auf dem Bett lag.

Sie hob es auf, wie immer überrascht von seinem Gewicht. Die kreisrunde Scheibe maß im Durchmesser etwas mehr als fünf Zentimeter und war einen guten halben Zentimeter dick. Grünspan verdeckte die feineren Details, doch die erhabensten Kanten schimmerten in einem kräftigen Bronzeton.

Auf der einen Seite war das Gesicht eines Mannes abgebildet, die Weidenblätter, aus denen sein Haar und sein Bart bestanden, schienen in einem starken Wind erfasst zu sein. Seine Gesichtszüge wirkten vage südländisch. Seine Augen waren nach oben gerichtet, während sein Mund offen stand, als würde er singen – oder schreien.

Die andere Seite war weitaus stärker mit der grünen Patina bedeckt. Am Rand entlang konnte Jenny das Muster der Weidenblätter ausmachen. Innerhalb der Blätter zeichneten sich konzentrische Kreise oder eine kontinuierliche Spirale ab. Jenny konnte sich nie entscheiden, was von beidem es war. Sie betrachtete das geheimnisvolle Muster eingehend, versuchte, selbst die winzigsten Formen zu erkennen, die seine Linien bildeten, und folgte ihnen immer tiefer in ihr Zentrum. Ihr wurde schwindlig und sie wandte ihren Blick ab.

Jenny hatte das Medaillon in einer Ausgrabungsstätte gefunden, die sie in der Nähe von Turin finanziert hatte. Schlechte Unternehmensleitung und Arbeitsverhältnisse, die durch politische Unruhen noch verschlimmert worden waren, hatten zu einem absoluten Fiasko geführt. Zumindest hatte Jenny ein Souvenir aus dem ganzen Ärger mitgebracht, zusammen mit ein paar Anekdoten, um die anderen Auswanderer, die mit ihr in Paris waren, in helle Aufregung zu versetzen. Überdies gefiel ihr die Ikonografie des Grünen Mannes, eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen ihr Geschmack sich mit der Obsession ihres Vaters mit der Artuslegende überschnitt. Sie schickte Izzie eine Nachbildung davon, inklusive einer Zusammenfassung ihrer desaströsen Investition.

Jenny wollte gerade das Medaillon in ihre Pochette gleiten lassen, hielt dann jedoch inne. Die Farbe passte nicht perfekt, aber sie biss sich nicht mit dem Paquin, also legte sie sie sich um den Hals. Sie verstaute Izzies Briefe unter ein Paar Kleidern in der Kommode.

Izzie hatte erwähnt, im Frühjahr aus einer Fremdenpension ausgezogen zu sein, jedoch keine Adresse genannt. Jenny verfügte lediglich über ein paar Namen von Freunden und Orten. Und von denen konnte sie zu so später Stunde am Abend nur einen besuchen. Wenigstens handelte es sich dabei um eine der etwas interessanter klingenden Lokalitäten.

Jenny zog sich ihren Mantel über und rauschte aus dem Raum.

In der Lobby fand sie den Concierge reglos hinter einem eichengetäfelten Tresen. In seinem altmodischen Anzug und mit seinem gewellten Haar, das zu einem Mittelscheitel frisiert war, hätte man ihn mit dem Gemälde eines Puritaners verwechseln können. Jennys Ansicht nach fehlte ihm lediglich ein breitkrempiger Hut mit einer großen Kupferschnalle.

»Entschuldigen Sie«, sagte Jenny. »Könnten Sie mir sagen, wo ich den Tick-Tock Club finden kann?«

Der Kopf des Mannes schwenkte auf einem Hals herum, der kaum dicker als ein Bleistift war. Er bedachte sie mit einem eisigen Blick. »Das weiß ich ganz und gar nicht, Miss. Auch wenn Sie möglicherweise an europäische Gepflogenheiten gewöhnt sind, ist die Prohibition nach wie vor Gesetz in den Vereinigten Staaten von Amerika.«

Offensichtlich kannte er den Ort durchaus, von dem sie sprach. In Paris gab es immer eine Möglichkeit, die Wogen mit einem hochnäsigen Angestellten zu glätten. Jenny legte eine Hand auf den Tresen und spreizte die Finger, um die Farbe des Geldes darunter zu enthüllen.

Die Eisigkeit breitete sich über das Gesicht des Concierge aus.

Jenny beschloss, ihr Glück mit dem Taxifahrer zu versuchen, sollte sie einen auftreiben können. Als sie an dem jungen Pförtner vorbeikam, flüsterte dieser: »Sie finden das Tick-Tock zwei Blocks weiter in dieser Richtung, Miss. Beim Uhrmacher um die Ecke und dann die Treppe runter.«

»Natürlich.« Jenny steckte ihm den Schein zu, den sie dem Concierge angeboten hatte. »Gibt es ein Passwort?«

»Mir wurde gesagt, es ist immer Mitternacht im Tick-Tock.« Bevor Jenny ihn bitten konnte, das zu erläutern, fügte er hinzu: »Sie werden eine Eskorte brauchen, Miss. Frauen ohne Begleitung werden nicht eingelassen.«

»Oh, ich bin nie ohne Begleitung, nicht mal, wenn ich völlig allein bin.« Jenny ging davon und ließ den Pförtner über den Sinn ihrer Worte grübeln, während sie über die seinen nachsann. Sie genoss es, ein Rätsel gegen das andere auszutauschen. Es war ein guter Ersatz fürs Flirten, wenn kein geeigneter Partner zur Verfügung stand.

Einen halben Block vom Hotel entfernt war Jenny froh darüber, ihren Mantel mitgenommen zu haben. Sie konnte den Dunst spüren, der vom Fluss nur ein paar Blocks weiter aufstieg. Während ihres Spaziergangs fuhr nur ein Auto vorbei, was sie daran erinnerte, wie ruhig der Rest der Stadt zu sein schien. In Paris konnte man selbst mitten in der Nacht stets Musik in der Ferne hören, Gelächter oder die Geräusche eines Liebesspiels.

Als sie beim Uhrengeschäft um die Ecke bog, entdeckte Jenny drei am Bordstein aufgereihte Taxis, deren Fahrer beieinanderstanden und rauchten. Beim Klang ihrer Schritte erschraken sie. Einem der Taxifahrer fiel die Zigarette aus dem Mund.

»Hier verstecken Sie sich also«, sagte Jenny.

Bevor einer von ihnen ihr eine Mitfahrgelegenheit anbieten konnte, wandte sich Jenny ab, um die nahe gelegenen Stufen hinabzusteigen. Sie warf einen flüchtigen Blick zurück, als sie den Taxifahrer murren hörte. Er holte sich seinen heruntergefallenen Stummel zurück und steckte ihn sich wieder zwischen die Lippen.

»Geschieht dir recht«, murmelte Jenny, verärgert darüber, sie hier vorzufinden, wo sie ein Taxi am Bahnhof gebraucht hätte. Andererseits war ihre Fahrt mit Lonnie wesentlich aufregender gewesen.

Ein talentierter Künstler hatte eine dynamische Uhr auf die Tür gemalt. Ihr ovales Ziffernblatt und die geschwungenen Zeiger spielten auf das schnelle Verstreichen der Zeit an.

»Muss spaßig da drin sein.« Jenny hörte leise Musik von irgendwo aus dem Inneren. Als sie die Tür öffnete, wurde diese lauter. Vor ihr lag ein Flur mit drei Türen, die als Personaleingänge gekennzeichnet waren. Die Schilder verwiesen auf das Uhrengeschäft, einen Floristen sowie einen Schuster.

Am gegenüberliegenden Ende befand sich eine Standuhr. Jenny näherte sich der Uhr. Sie stellte fest, dass die Zeiger auf acht Uhr zweiundzwanzig gestellt waren, was ihres Erachtens in etwa stimmen musste.

»Es ist immer Mitternacht im Tick-Tock.« Jenny lächelte bei dem Hinweis. Auf Zehenspitzen stehend öffnete sie die Glasfront, drehte den Minutenzeiger vorwärts und nahm dabei auch den Stundenzeiger mit, bis beide auf der Zwölf standen. Statt einer Reihe von Glockenschlägen vernahm sie ein metallisches Klicken. Während die Zeiger sich von selbst auf die richtige Uhrzeit zurückbewegten, schwang die Uhr nach außen auf.

Dahinter befand sich ein Vorzimmer, das mit burgunderroten Samtvorhängen drapiert war. Ein kräftig gebauter Mann erhob sich von einem Stuhl, eine zusammengefaltete Zeitung in der einen Hand, einen Bleistiftstummel in der anderen. Er runzelte die Stirn, als er sah, dass sie allein war.

»Keine Damen ohne Begleitung«, sagte er und klang dabei genau so, wie Jenny sich einen von Al Capones Chicagoer Gangstern vorstellte. »Verduften Sie, Missy.«

»Aber mein Begleiter ist genau hier.« Jenny holte eine Zehndollarnote aus ihrer Pochette hervor. »Erlauben Sie mir, Ihnen Mr. Jackson vorzustellen.«

Der große Mann sah verärgert aus. Eine Sekunde lang hatte Jenny das Bild im Kopf, wie er sie sich über die Schulter warf und sie auf dem Bürgersteig abstellte. Die Taxifahrer würden brüllen vor Lachen.

Stattdessen schnappte sich der Türsteher den Schein und machte eine Bewegung mit dem Daumen über seine Schulter. »Reinspaziert.«

Jenny warf beim Vorbeigehen einen flüchtigen Blick auf seine Zeitung. »Töle.«

»Wie war das?«, knurrte er.

Sie blickte über ihre Schulter zurück. »Vierzehn abwärts. Vier Buchstaben für ›Köter‹.«

Der Türsteher blickte auf das Kreuzworträtsel. »Oh, ja.« Er radierte »Rüde« aus kritzelte die richtige Antwort hin.

Jenny trat in einen verqualmten Raum. Ziffernblätter schmückten jeden freien Zentimeter der Wand, von denen alle in einem anderen Stil gehalten waren. Manche hatten Zeiger, die wie Friedhofszäune aussahen, andere wiederum Zeichentrickarme mit großen weißen Handschuhen als Zeiger. Die Zahlen erschienen in römischen oder arabischen Ziffern, in Würfelpaaren oder Nummern, die von einem von Muchas unzähligen Imitatoren gezeichnet waren. Jede Uhr zeigte eine andere Uhrzeit an.

Jedes Ziffernblatt erzählt eine andere Lüge.

Jenny zuckte bei dem geschmacklosen Boden zusammen und rümpfte ihre Nase bei dem Geruch nach billigem Tabak, doch bei der Musik horchten ihre Ohren auf. Die sich windende Melodie der Klarinette reichte aus, um der Flüsterkneipe die anderen Unzulänglichkeiten nachzusehen.

Eine Eichentheke erstreckte sich entlang der rechten Wand, deren Barhocker frei waren. Halb leere Gläser füllten etwa fünfzehn Tischchen, die im Kreis um eine kleine Tanzfläche positioniert waren, auf der die Gäste eher enthusiastisch denn anmutig herumzappelten. Jenny erkannte ein wenig Charleston, ein wenig Turkey Trot und eine Menge Fummelei.

Hinter den Tänzern erspähte Jenny eine sechsköpfige Jazzband auf einer winzigen, keilförmigen Bühne. Der Pianist schien den Ton anzugeben, aber der Klarinettist vollführte gerade ein Solo. Sein Hahnentrittanzug spannte an den Schultern und saß überall sonst zu locker. Er schloss seine Augen, während seine dunklen Finger über die Tonlöcher tänzelten.

Jenny verscheuchte die Garderobendame und wandte sich erneut nach vorn, um die Musik zu genießen, bis das Solo endete. Bevor die Tänzer die Plätze in Beschlag nehmen konnten, schnappte sie sich einen leeren Barhocker. Sie tat so, als würde sie die neugierigen Blicke nicht bemerken, die ihr als einzige Frau ohne Partner in dieser Lokalität zugeworfen wurden. Sie schob eine Dollarnote über die Theke. Wie ein Geist in einem Spiegel tauchte der Barkeeper auf.

»Was darf’s sein, Miss?« Er sprach mit dem warmen, singenden Tonfall der Iren.

»Welche Sorte Cognac haben Sie?«

»Bourbon, Rye, Rum und Gin.« Sein Ton wurde kühler.

Jenny erkannte ihren Fehler. Abgesehen von der Prohibition hatte Arkham wenig mit Paris oder sogar Boston gemeinsam. Außerdem sollte sie ihre Rückkehr in die Vereinigten Staaten mit einem echten amerikanischen Drink würdigen. »Ich nehme nicht an, Sie können einen perfekten Manhattan mixen?«

»Rye oder Bourbon?«

»Bourbon, bitte.«

Die Band stimmte einen neuen Song an, während der Barkeeper ihren Drink zubereitete. Jenny wurde davon ermutigt, als sie sah, dass er französischen Vermouth und Angostura Bitter von unterhalb der Theke hervorholte. Er schüttelte den Cocktail und goss ihn in ein Martiniglas. Sie beschwerte sich nicht, als er ihn mit einer kandierten Kirsche statt einer Zitronenscheibe garnierte.

Der Barkeeper sah ihr dabei zu, wie sie daran nippte. Der Drink war ein klein wenig süßer, als sie es gewohnt war, aber er schmeckte ihr. Sie hob anerkennend ihr Glas und er nickte. Das war noch nicht gerade eine überschwängliche Bekanntschaft, aber sie hoffte, es würde für ein paar Fragen reichen.

»Komme ich Ihnen vielleicht bekannt vor?«, fragte sie.

Er zog eine Augenbraue in die Höhe.

Sie nahm ihren Hut ab. »Stellen Sie sich mein Haar etwas heller und gelockt vor. Und ich bin zwei Jahre jünger.«

Er blinzelte, die Mundwinkel verständnislos verzogen.

»Und mein Name ist Isabelle.« Außer Jenny nannte niemand ihre Schwester Izzie. Isabelle bevorzugte ihren Taufnamen, während Jenny den ihren nicht ausstehen konnte.

Die Ratlosigkeit des Barkeepers verwandelte sich in Erkenntnis. »Ihre Schwester, nicht wahr?«

»Isabelle Barnes. Sie erwähnte diesen Club in ihren Briefen. Haben Sie sie kürzlich gesehen?«

Statt zu antworten, warf er einen Blick auf eine schlichte runde Uhr über dem Eingang, von der Jenny annahm, sie würde die tatsächliche Zeit anzeigen, acht Uhr dreiundvierzig. Mitten im Song der Band streckte er die Hand aus, um eine Messingglocke in einem charakteristischen drei-zwei-drei-Rhythmus zu läuten. »Letzte Runde!«

Eine Welle von Männern stürzte zur Bar, während die Ladys sich am Eingang der Damentoilette einreihten. Jenny bedachte den Barkeeper mit einem fragenden Blick, aber der war damit beschäftigt, Getränke auszuschenken und abzukassieren.

»Ich schätze, ich hätte mir mehr Mühe geben müssen, dass er mit mir warm wird«, grummelte Jenny.

»Du kannst dafür sorgen, dass es mir warm wird, Puppe.«

Jenny drehte sich um, um einem Mann ins Auge zu sehen, der ihr viel zu nah war. Im Stehen war er nur ein wenig größer als sie auf ihrem Barhocker. Er war glatt rasiert und hatte markante Gesichtszüge, die recht ansprechend ausgesehen hätten, wenn da nicht dieses spöttische Grinsen seine schmalen Lippen umspielt hätte. Er war der einzige Mann an diesem Ort, der einen Hut trug, einen Fedora, der zu seinem blauen Anzug und seiner Krawatte passte. Rote Haarbüschel ragten an allen Seiten heraus.

»Gerne doch«, sagte Jenny. »Haben Sie ein Streichholz?«

Er griff in eine Tasche, bevor er den Witz verstand. »Reizend«, sagte er. »Und neugierig, wie mir scheint.« Jenny bemerkte die Ausbeulungen von Pistolen unter seinen beiden Armen. Er und der Barkeeper nickten einander zu.

Jenny realisierte, dass der Barkeeper dieses charmante Individuum gerufen haben musste, um ihr auf den Zahn zu fühlen. Für einen Rausschmeißer war er viel zu klein, also schätzte sie, er dürfte der Besitzer sein – oder ein Alkoholschmuggler. Wenn sie im Tick-Tock an irgendwelche Informationen kommen wollte, würde sie diese unglücklicherweise wohl von diesem Mann beziehen müssen. Sie versuchte, eine andere Richtung einzuschlagen.

»Ich bin Jenny Barnes.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Die Hände des Mannes waren klein, selbst für einen so kurz geratenen Kerl. Und sie waren feucht. Jenny war froh, dass sie ihre Handschuhe trug. »Dainty Donohue«, sagte er. Seine grünen Augen bohrten sich in ihre und forderten sie heraus, über seinen Spitznamen zu lachen. Mit einem großen Freund an ihrer Seite hätte sie ihn womöglich noch weiter zurechtgestutzt, aber sie war nicht ins Tick-Tock gekommen, um sich mit diesem Kobold Wortgefechte zu liefern.

»Mr. Donohue, ich habe soeben den Barkeeper gefragt, ob er meine Schwester kennt, Isabelle.«

»Isabelle?« Donohue zuckte mit den Schultern, aber bei der Erwähnung ihres Namens fuhr er zusammen.

Jenny gab den einzigen anderen relevanten Hinweis aus Izzies Briefen preis. »Sie war möglicherweise mit jemandem namens Auggie hier.«

»Der Typ mit den klebrigen Fingern?« Donohue nahm Platz.

»Wäscht er sich etwa nicht?«, stutzte Jenny.

»Nicht doch«, sagte Donohue. Er griff nach ihrer Pochette, als wolle er seine Finger hineingleiten lassen. »Er macht gern lange Finger«, erklärte er. »So in etwa.«

Jenny brachte die Handtasche aus seiner Reichweite. »Izzie würde sich nicht mit einem gewöhnlichen Taschendieb abgeben.«

Noch während sie die Worte aussprach, wusste sie, dass das nicht stimmte. Izzie hatte kein gutes Urteilsvermögen, wenn es um Männer ging. Das hatte sie noch nie gehabt.

»Falls es dich tröstet, er war nicht gerade gewöhnlich. Er war ziemlich aufgeblasen, gut betucht. Ich schätze, er war auf den Nervenkitzel aus«, sagte Donohue. »Und er hatte ein gutes Händchen dafür. Er hat die Menge wochenlang geschröpft, bevor wir davon Wind bekamen.«

»Was haben Sie mit ihm gemacht?« Jenny zuckte zusammen, als eine Frau sie im Vorbeigehen streifte, während sie über etwas kicherte, das ihr Date gesagt hatte. »Was ist mit Izzie passiert?«

»Werd mal nicht sauer.« Dainty tätschelte ihre Schulter. Jenny schauderte es bei der feuchten Berührung. »Wir haben seine Taschen geleert und ihn rausgeworfen. Niemand hat seine Flamme angerührt. Ist nicht ihre Schuld, wenn sie ’nem üblen Kerl auf den Leim geht.«

Jenny stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Wo kann ich diesen Auggie jetzt finden?«

Statt zu antworten, nahm Donohue die Geldkassette vom Barkeeper entgegen und begann zu zählen. »Servier uns ein paar deiner Spezialcocktails, Pat. Dann kannst du Feierabend machen.«

»Sofort, Dainty.« Der Barkeeper fing an, ein paar Getränke hinter dem Tresen zu mixen.

Donohue wandte sich wieder Jenny zu. »Also, ich mag deinen Akzent. Woher kommt der?«

»Benimmschule.« In anderen Sprachen neigte sie dazu, sich die lokale Sprechweise anzueignen, doch wann immer sie Englisch sprach, verfiel sie in den Mid-Atlantic-Akzent der Oberschicht, der sich weder den USA noch Großbritannien zuordnen ließ. Doch so leicht ließ sie sich von ihm nicht ablenken. »Mr. Donohue, ich muss meine Schwester finden. Verraten Sie mir wenigstens Auggies Nachnamen.«

Donohue hielt beim Zählen inne. »Den hab ich nie rausgefunden. Sechzig, siebzig … Abgesehen davon ist er aufgeflogen. Er ist uninteressant. Ich will mehr über dich wissen.«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, Mr. Donohue …«

»Fünfundneunzig, einhundert … Nenn mich Dainty. Das tun alle Mädchen.«

»Hören Sie, Dainty, ich habe meine Schwester seit Jahren nicht gesehen. Jetzt steckt sie in Schwierigkeiten und ich bin aus Paris zurückgekommen, um ihr, so gut ich kann, zu helfen …«

Während die letzten Gäste sich durch den Ausgang drängten, beendete die Band ihre Darbietung mit einem blamablen Quietschton aus der Klarinette.

»Packt zusammen, ihr Clowns«, schrie Dainty. »Und kommt ja nicht zurück, bis Reggie sich daran erinnert, wie man diese Lakritzstange spielt.«

Die Musiker glucksten in der sich selbst herabwürdigenden Manier von Angestellten, die es gewohnt waren, schlecht behandelt zu werden – alle außer dem Klarinettisten. Er starrte Jenny mit grimmigem Gesichtsausdruck an.

Pat stellte ein paar Drinks auf dem Tresen ab, einen neben Dainty, den anderen vor Jenny. Es waren irgendwelche Whisky-Cocktails mit Zitrusöltropfen auf der Oberfläche. Jenny warf einen flüchtigen Blick hinüber zu Reggie, dem Klarinettisten. Sein Blick schnellte zu ihrem Drink. Er schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf.

Donohue war fertig mit dem Zählen. Er verglich seine ausgezählte Summe mit den Zetteln in der Kasse und nickte. »Nacht, Pat. Schließ ab, wenn du gehst.«

In Jennys Ohren klang das nicht gut. Was immer Donohue geplant hatte, sie rechnete nicht damit, dass das Beantworten ihrer Fragen über Izzie dazugehörte.

»Nacht, Boss.« Pat schlich davon und wich dabei Jennys wütendem Blick aus.

Donohue lächelte breit. Er tastete nach Jennys Knie. »Jetzt können wir einander kennenlernen.«

Jenny unterdrückte den Impuls, seine Hand wegzuschlagen, und sah zur Bühne. Pat und Reggie gingen durch eine Dienstbotentür hinaus. »Wohin gehen sie?«

Als Donohue sich umdrehte, um nachzusehen, tauschte Jenny ihre Getränke aus. Sie verschüttete etwas vom Cocktail auf der Theke. Donohue wandte sich wieder ihr zu, bevor sie es wegwischen konnte.

»Mach dir um die keine Sorgen. Dieser Ort ist voller Ecken und Winkel«, sagte Donohue. »Da hinten kann man sich verirren. Es ist ein richtiges Labyrinth.«

»Sie waren wohl noch nie auf dem Chan el-Chalili, was?« Jenny hatte das Gefühl, dass dieser Mann noch nicht einmal einen Reisepass besaß.

Nach einem verständnislosen Blick sagte Donohue: »Doch, natürlich bin ich dort gewesen. Andauernd.«

Donohue nahm den Drink neben Jenny in die Hand. Aus Angst, er könnte ihren Trick durchschaut haben, fing sie an, sich einen Plan zurechtzulegen, der vorsah, die Barhocker umzustoßen und zur Tür zu rennen. Doch anstatt zu trinken, reichte Donohue den Cocktail Jenny. Er erhob sein eigenes Glas, um einen Toast auszusprechen. »Auf den Connell Collie.«

»Den Connell Collie!«, pflichtete Jenny bei und unterdrückte ein Lachen angesichts Donohues Ignoranz. Er war auf ihren Trick hereingefallen und das machte Jenny Mut. Sie stieß mit ihm an. Donohue sah ihr dabei zu, wie sie ihren Drink hinunterkippte.

»Wow! Eine Dame nach meinem Geschmack!« Er leerte sein Glas.

Jenny fächelte sich mit einer Hand Luft zu. »Der ist ganz schön stark.«

Donohue blinzelte. Jenny ging davon aus, dass der Besitzer einer Flüsterkneipe trinkfest sein würde, was immer Pat also untergemischt hatte, es musste stark sein.

»Zu schade, dass Sie Pat weggeschickt haben«, sagte Jenny. »Ich könnte noch einen vertragen.«

»Ach ja? Ich auch«, erwiderte Donohue. Er glitt vom Barhocker, schwankte und hielt sich fest. »Oder ein Glas Wasser.«

»Wasser?«, gab Jenny in ungläubigem Ton von sich. »Was für ein Mann trinkt Wasser, während er einem Mädchen einen Drink zubereitet?«

Während er die Bar umrundete, wirbelte Donohue herum und brachte einen Finger nach oben, wie ein Professor, der etwas verdeutlichen wollte. »Wie recht du hast.« Er rutschte aus und hielt sich am Rand des Tresens fest.

»Vorsichtig, Dainty.«

Er stieß mehrfach gegen die Klappe zur Bar, bevor ihm klar wurde, dass er sie aufmachen musste. »So was, Pat muss sie verwechselt haben …« Er durchbohrte Jenny mit einem Blick, in dem sich Erkenntnis widerspiegelte. »Moment mal …«

Er sackte hinter der Bar zusammen.

Jenny zog sich auf den Tresen hinauf, drehte sich auf ihrem Hinterteil herum und hüpfte neben Donohue auf den Fußboden. Er brabbelte ein paar weitere Silben vor sich hin, die zu einer Speichelblase heranwuchsen und mit einem traurigen kleinen Knall verschwanden.

»Sie haben gut reden.« Jenny durchsuchte seine Taschen nach den Schlüsseln. Triumphierend hob sie sie in die Luft. »Aha!«

Ein gedämpfter Knall ertönte jenseits der Dienstbotentür. Jenny fürchtete, Pat wäre zurückgekommen.

Donohue rührte sich. Jenny sah, dass er unter sein Jackett griff.

»Oh nein, das werden Sie nicht tun.« Sie rollte ihn zur Seite und zog eine glänzende 45er-Automatik aus seinem Holster.

Donohue packte ihr Handgelenk und drückte mit überraschender Stärke zu. Sie rammte ihm den Griff der Pistole gegen das Kinn.

»Pat!«, rief er. Er fasste in die andere Seite seines Jacketts.

»Ich kann es zwar nicht ausstehen, mich an jemandem zu vergreifen, der kleiner ist als ich«, sagte Jenny, »aber in Ihrem Fall werde ich eine Ausnahme machen.«

Sie schlug auf seine Stirn ein, aber er wehrte sich weiterhin. Zwei weitere Versuche waren nötig, um ihn ruhigzustellen. Dann hielt sie ihm einen Finger unter die Nase. Als sie seinen Atem spürte, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus.

Sie nahm seine zweite Pistole an sich, ein Gegenstück zur ersten. Die gravierte Nickelbeschichtung war wunderschön, doch der keilförmige Griff gefiel ihr noch besser. Sie hatte schon zuvor großkalibrige Pistolen abgefeuert, dabei jedoch festgestellt, dass die Griffe zu klobig für ihre Hände waren. Diese hier passten perfekt.

Ein weiteres Geräusch von hinten erschreckte sie. Jenny jonglierte mit den Pistolen, ihrer Pochette und den Schlüsseln. Als sie versuchte, nur die Pistolen in den Händen zu halten, fiel ihr alles auf den Boden. Bei dem Gepolter zuckte sie zusammen, aber wenigstens waren die Waffen nicht losgegangen. Sie hob eine auf und stützte sie auf dem Tresen ab, als die Bühnentür sich öffnete.

KAPITEL 3

Als ein Mann auf die Bühne trat, war Jenny geistesgegenwärtig genug, die Waffe zu entsichern. Er erblickte sie und hob in seinem Hahnentritt-Jackett die Hände.

»Nicht schießen!« Trotz seiner Beunruhigung war Reggie so umsichtig, in einem deutlich hörbaren Flüstern zu sprechen.

Jenny ließ die Pistole sinken. »Ich dachte, Sie wären Pat. Ihr Name ist Reggie, nicht wahr?«

Reggie nickte. »Pat hat abgeschlossen und ist nach Hause gegangen.«

»Wie sind Sie wieder reingekommen?«

»Toilettenfenster«, sagte er. »Ich hatte gehofft, ich könnte Mr. Donohue ablenken, bevor er … Nun ja, ich dachte mir, Sie würden hier rauswollen.«

Jenny sammelte ihre Pochette, die Schlüssel und die zweite Pistole auf. »Sie sind hier, um mich zu retten.«

»Sieht so aus, als hätten Sie sich selbst gerettet«, sagte er. »Das ist gut, denn ich weiß nicht, ob ich es mit Mr. Donohue hätte aufnehmen können.«

»Tja, meiner Meinung nach sind Sie ein Held.«

»Wir sollten lieber von hier verschwinden. Sagen Sie, sind das Mr. Donohues Waffen?«

Jenny hielt sich eine Pistole über die Schulter und nahm eine Pose ein. »Ich denke, sie stehen mir besser als ihm. Finden Sie nicht auch?«

»Sie haben doch nicht …?« Reggie spähte unbehaglich zur Theke.

»Nein, obwohl er es verdient hätte, diese Ratte.«

Reggie seufzte erleichtert. »Einem solchen Ärger hätte ich nicht entkommen können.«

»Das gilt für uns beide«, sagte Jenny. »Lassen Sie uns gehen.«

Reggie schickte sich an, sie zurück zu den Toiletten zu führen. Sie zeigte ihm die Schlüssel, woraufhin er sie stattdessen zur Hintertür geleitete. Sie schloss ab, während Reggie seinen Klarinettenkoffer aufsammelte. Gemeinsam hasteten sie die Straße hinter der Flüsterkneipe hinunter.

»Eine Frau sollte nicht allein an so einen Ort gehen«, sagte Reggie.

»Ich war nicht allein«, entgegnete Jenny. »Sie waren dort.«

»Das habe ich nicht damit gemeint, Miss.«

Der manische Humor, der Jenny in Schreckensmomenten aufrecht hielt, verebbte. »Ich muss meine Schwester finden. Sie erwähnte den Tick-Tock Club. Dainty sagte, sie wäre mit jemandem namens Auggie dort gewesen.«

Reggie nickte.

»Sie kennen ihn?«

»Nicht wirklich.«

»Wissen Sie, wo er wohnt?«

»Eines Nachts sind er und sein Mädchen in ein großes Auto gestiegen. Möglicherweise hat er dem Fahrer gesagt, er solle sie zurück ins Französische Viertel bringen.«

»Was ist das?«

Er deutete nach Osten. »Es liegt auf der anderen Seite der Stadt. Dort leben die Reichen.«

»Woran können Sie sich noch erinnern? Eine Adresse? Haben Sie die Frau mit ihm gesehen? Hat sie mir geähnelt?«

Er rieb sich über den Nacken. »Vielleicht ein wenig. Ich kann mich nicht erinnern.«

»Denken Sie genau nach«, drängte Jenny. »Wenn es Izzie war – Isabelle Barnes –, dann steckt sie in Schwierigkeiten. Trug sie ein Medaillon wie dieses hier?«

Reggie warf einen verstohlenen Blick auf das Medaillon, aber nur für einen Augenblick, bevor er wieder wegsah. »Tut mir leid, Miss. Mr. Donohue ermahnt uns ständig, die Frauen im Club nicht anzustarren.«

Ihre Wut wich Verlegenheit, als Jenny klar wurde, in welcher Situation sich Reggie befand. Er war ein Risiko eingegangen, indem er sie vor den Drogen in ihrem Drink gewarnt hatte. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass Reggie in Paris ein besseres Leben führen könnte, wo die Wertschätzung talentierter Musiker rassistische Bigotterie überwog.

Zumindest manchmal.

Sie gingen durch die verlassenen Straßen. Die Fensterläden der Häuser waren fest verriegelt und die Türen lagen in tiefen Schatten. Nur die gelben Straßenlaternen an jeder Ecke spendeten ein bisschen Licht.

Als sie in die Straße einbogen, die zum Hotel zurückführte, blieb Reggie stehen. Von der anderen Straßenseite starrte der Pförtner des Continental zu ihnen herüber.

»Ich lasse Sie jetzt lieber allein weitergehen, Miss.«

»Jenny«, sagte sie. »Jenny Barnes.«

Reggie legte die Stirn in Falten.

»Was ist?«

»Die Scheune«, sagte er. »Die hätte ich beinahe vergessen.«

Hoffnung keimte in Jennys Herz auf. »Was meinen Sie?«

»Mr. Donohue sagte, Auggie hätte einen Ort namens ›Die Scheune‹ erwähnt. Mr. Donohue nahm an, es wäre eine weitere Flüsterkneipe, aber er hatte nie zuvor davon gehört. Er wollte wissen, wo sie ist.«

»Hat er es herausgefunden?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Miss Barnes.«

»Danke, Reggie.« Sie streckte ihm die Hand entgegen, aber er wich zurück, als er das Geld in ihrer Hand erblickte.

»Ich hab nichts getan, außer aufzutauchen, nachdem Sie sich selbst gerettet hatten.«

»Sie haben Ihren Hals riskiert, um mir zu helfen, und das hat Sie Ihren Job gekostet.«

Er betrachtete die Scheine in ihrer Hand, versucht, aber zu stolz. »Das ist zu viel.«

»Teilen Sie’s mit der Band. Die werden auch einen neuen Job brauchen, wenn Sie nicht mehr da sind, um den Takt anzugeben.«

»Das stimmt schon.« Reggie gestattete sich selbst ein kleines stolzes Lächeln bei dem Kompliment. Er nahm das Geld an und ließ es in seiner Tasche verschwinden. »Danke, Miss Barnes.«

»Jenny!«, beharrte sie.

Er wartete, bis sie die Straße überquert hatte, bevor er in die Richtung zurückging, aus der sie gekommen waren.

Als Jenny die Lobby betrat, hatte sich der Concierge neben den Pförtner gesellt. Er hatte einen Stapel gefalteter Flugblätter im Arm, die das Erntedankfest bewarben. Im Gegensatz zu dem, das Jenny am Bahnhof gesehen hatte, war auf diesen ein junges Mädchen abgebildet, das auf einem Strohballen saß.

Während der Pförtner so viel Anstand besaß, beschämt dreinzuschauen, weil er ihr nachspioniert hatte, starrte der Concierge Jenny an, als würde er eine Erklärung erwarten. Bevor er etwas sagen konnte, holte sie zum Erstschlag aus. »Haben Sie in letzter Zeit irgendwelche Hexen verbrannt?«

Der Concierge schluckte. Der Pförtner presste sich die Faust an die Lippen, um sich das Lachen zu verkneifen.

Der Concierge antwortete in abgehackten Silben. »Auch wenn ich keinen Zweifel daran hege, dass die Belegschaft in französischen Hotels die Augen vor derlei unangemessener Verbrüderung verschließt, Madam, so ist der Ruf des Continen…«

»Miss«, sagte Jenny.

»Wie meinen?«

»Ich bin keine Madam«, erklärte Jenny. »In keinem Sinne des Wortes.«

Der Pförtner zog sich zurück und versuchte dabei wenig erfolgreich, sich das Lachen zu verkneifen.

Der Concierge rümpfte die Nase über seinen Untergebenen, bevor er den Blick erneut auf Jenny richtete. »In dem Fall, Miss, ist Ihr Verhalten umso skandalöser.« Jenny wurde sich der Pistolengriffe, die aus ihrer Pochette herausragten, bewusst.

Sie drehte sich, um eine trotzige Haltung einzunehmen, die gleichzeitig die Waffen verbarg. »Zweifellos kann ich darauf zählen, dass Sie allem, was in dieser rückständigen Kleinstadt als Klatschblatt durchgeht, darüber Bericht erstatten werden.« Unter anderen Umständen hätte sie diese spitze Bemerkung womöglich bereut, doch es gab ihr Genugtuung, dass sie gesessen hatte. Sie wollte einzig und allein Izzie finden und dieser kleinkarierten Stadt entkommen.

Bevor der Concierge etwas erwidern konnte, winkte Jenny zum Abschied über die Schulter und stieg die Stufen hinauf.

Die Lampen in der Nähe ihres Zimmers waren ausgeschaltet, sodass der Flur im Dunkeln lag. Vor ihrer Tür angekommen, wühlte sie in ihrer überfüllten Pochette nach dem Schlüssel.

»Ich hätte die Holster mitnehmen sollen«, murmelte sie. Doch als sie darüber nachdachte, kam sie zu dem Schluss, dass sie diese mit keinem der Kleider, die sie mitgebracht hatte, würde tragen können. Eine Idee hellte ihre üble Laune auf. »Ich könnte mir welche anfertigen lassen!«

Sie öffnete die Tür und legte den Lichtschalter um. Das Zimmer blieb dunkel. Sie knipste den Schalter mehrfach an und aus, doch nichts geschah. Jenny spürte ein flaues, kribbelndes Gefühl auf ihrem Brustbein unterhalb des Medaillons.

Eine kühle Brise ließ die Vorhänge flattern. Draußen spendete die Straßenlaterne an der Ecke ein wenig gelbes Licht. Sie hörte das leise Knarren einer Diele, als ein Eindringling, den sie nicht sehen konnte, das Gewicht verlagerte.

Instinktiv trat Jenny zurück, bereit, die Treppe wieder nach unten zu stürmen. Sie würde lieber all ihre Juwelen verlieren, als gegen einen Einbrecher zu kämpfen, der gerissen genug war, die Lichter sowohl innerhalb des Zimmers als auch im Flur auszuschalten. Der einzige Gegenstand, den Jenny nicht ertragen könnte zu verlieren, war das Medaillon, denn es war ein konkreter Hinweis auf die Anwesenheit ihrer Schwester in Arkham.

Aber da waren auch noch Izzies Briefe.

Jenny holte eine Pistole aus ihrer Pochette und entsicherte sie. »Zeigen Sie sich.« Ihre Stimme bebte. »Vor dem Fenster, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich würde den Wänden nur ungern einen neuen Anstrich verpassen.«

Nichts als Stille antwortete auf ihre Herausforderung.

Während sie die Pistole schussbereit hielt, klemmte sie sich die Pochette unter den Arm und griff nach der Leuchte neben der Tür. Sie tastete unter dem Lampenschirm nach der Glühbirne und fand sie locker in der Fassung steckend. Bevor sie sie wieder festdrehen konnte, versetzte der Einbrecher der Tür einen Stoß, wodurch sie gegen den Türpfosten gestoßen wurde. Die Pistole flog ihr aus der Hand und polterte irgendwo auf der anderen Seite des Raums zu Boden.

Jenny versuchte zu schreien, doch die Hand des Mannes legte sich auf ihren Mund. Seine Finger waren wie eine Schraubzwinge und pressten ihre Wangen fest gegen ihre Zähne. Er schmetterte ihren Kopf gegen die Wand. Sie schmeckte Blut. Er fummelte an ihrer Brust herum, bevor sich seine groben Finger um das Medaillon schlossen.

Jenny packte die Kette des Medaillons mit beiden Händen. Sie versetzte ihm einen tiefen Tritt. Ihr Fuß traf hart auf etwas Hölzernes, wo sein Bein hätte sein sollen.

Jenny ließ die Kette los und schaffte es, ihre Hand um den Lauf der zweiten Pistole in ihrer Pochette zu legen. Der Einbrecher riss das Medaillon los und schleuderte Jenny aufs Bett.

Sie landete auf der Kante eines offenen Koffers. Schmerz schoss durch ihre Hüfte, aber sie hielt die Pistole fest. Sie rollte sich zur Seite und verhedderte sich dabei in den Kleidern, die sich auf der Matratze häuften. Die Körpermasse des Einbrechers folgte ihr aufs Bett, eine Hand umfasste ihren Knöchel.

Sie trat zu. Zur Belohnung bekam sie ein wütendes Grunzen. »Nervensäge!« Jenny erkannte das deutsche Wort.

Während sie vom Bett herunterrollte, schüttelte sie einen Seidenstrumpf von der Pistole herunter und hob die Waffe. Ihre Augen hatten sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt und nun befand sich das Fenster in ihrem Rücken. Auf der anderen Seite des Bettes konnte sie den Umriss eines großen Mannes in einem langen Mantel ausmachen, der sich aufrappelte. Sie zielte auf seinen Kopf.

»Da haben Sie Ihre Nervensäge!« Sie drückte ab.

Der Rückstoß der Pistole war heftiger, als sie in Erinnerung hatte, aber im Aufblitzen des Mündungsfeuers sah sie, wie eine Masse von der Größe eines Kopfes zurückflog und gegen die Wand prallte. Der Körper des Mannes fiel zu Boden. Einen entsetzlichen Augenblick lang bereute Jenny ihre Bemerkung darüber, die Wand mit Blut zu besudeln.

Sie war überrascht zu hören, wie er über den Boden kroch und dabei weitere deutsche Flüche vor sich hin murmelte. Er stand auf und seine Gestalt war in dem schwachen Licht des Fensters verschwommen zu erkennen. Er setzte sich seinen Hut wieder auf – ein Homburg mit einem Loch von der Größe einer Kugel in der Krone – und wandte sich ihr zu. So wie er den Kopf drehte, fürchtete sie, er könnte sie klar und deutlich in der Dunkelheit sehen. Das Einzige, was sie erkennen konnte, war, dass er das Medaillon nicht mehr hatte.

Genau das schien auch ihm klar zu werden. Er ging in die Hocke und tastete den Boden ab.

»Hände hoch, Freundchen«, sagte Jenny.

Rufe und herbeieilende Schritte näherten sich dem Zimmer. Der Concierge brüllte: »Was geht da drinnen vor?«

»Kommen Sie herein!«, schrie Jenny.

Im selben Augenblick hechtete der Einbrecher über das Bett. Die Pistole fest mit beiden Händen umklammert, feuerte Jenny und zielte dann, um erneut abzudrücken, doch der Mann war bereits an ihr vorbeigestürmt. Er sprang mit dem Kopf voran durch das offene Fenster.

Jenny rannte zum Fenster. Der Mann war auf dem Dach nirgends zu sehen, aber sie hörte ihn grunzen, als er auf dem Boden aufkam. Seine unregelmäßigen Schritte entfernten sich vom Hotel.

Die Tür flog auf. Der Pförtner spähte in den dunklen Raum hinein, der Concierge duckte sich hinter ihm. Ein Mann in Pyjama und Nachtmütze hatte sich zu ihnen gesellt.

»Sie kommen etwas spät«, sagte Jenny. Sie tastete im Dunkeln herum, bis sie eine weitere Leuchte fand, und schraubte die Glühbirne fest. Alle zuckten zusammen, als die plötzliche Helligkeit sie blendete.

Als sein Sehvermögen zurückgekehrt war, schnappte der Concierge nach Luft. »Um Himmels willen, was haben Sie getan?«

Das Zimmer war ein heilloses Durcheinander. Die Sofakissen waren in die Ecken geworfen worden. Jennys Kleider lagen kreuz und quer auf dem Bett und dem Boden. Kommodenschubladen waren im Zimmer verteilt. Jenny suchte so lange, bis sie eine Ecke von Izzies Lieblingsbriefpapier entdeckte, die unter einem Satinslip hervorlugte. Sie schleuderte die Kleider beiseite und erblickte die restlichen Briefe ihrer Schwester, die darunter verstreut waren. »Gott sei Dank!«

»Ich verlange eine Erklärung für dieses Gezänk«, fuhr der Concierge sie an. »Für dieses Herumgeballere!«