Armance: Geschichte aus einem Pariser Salon im Jahre 1827 - Stendhal - E-Book

Armance: Geschichte aus einem Pariser Salon im Jahre 1827 E-Book

- Stendhal

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Beschreibung

Dieses eBook: "Armance: Geschichte aus einem Pariser Salon im Jahre 1827" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Marie-Henri Beyle (1783 - 1842) besser bekannt unter seinem Pseudonym Stendhal, war ein französischer Schriftsteller, Militär und Politiker. In seiner Zeit eher als Journalist, Kritiker und Essayist bekannt, gilt er heute durch die analytischen Charakterbilder seiner Romane als einer der frühesten Vertreter des literarischen Realismus. 1827 publizierte Stendhal seinen ersten Roman, Armance, die zarte, um 1820 in Paris spielende Liebesgeschichte der armen jungen Adeligen Armance und des reicheren, offenbar impotenten Octave. Aus dem Buch: "Kaum zwanzigjährig, verließ Octave die Polytechnische Hochschule. Sein Vater, der Marquis von Malivert, wünschte seinen einzigen Sohn in Paris zu behalten. Sobald Octave sich klar war, daß dies der beständige Wunsch seines verehrten Vaters und seiner leidenschaftlich geliebten Mutter war, verzichtete er auf sein Vorhaben, bei der Artillerie einzutreten. Gern hätte er ein paar Jahre gedient und dann seinen Abschied genommen, bis zum ersten Kriege, den er mitgemacht hätte, einerlei, ob als Leutnant oder Oberst. Dies ist ein Beispiel für seine Wunderlichkeiten, die ihn bei den Durchschnittsmenschen verhaßt machten. Viel Geist, hoher Wuchs, edler Anstand und große schwarze Augen, die schönsten auf der Welt, hätten ihm seinen Rang unter den vornehmsten jungen Leuten gesichert, hätte nicht in seinem sanften Blick etwas Düsteres gelegen, dessentwegen man ihn eher bedauerte als beneidete."

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Stendhal

Armance: Geschichte aus einem Pariser Salon im Jahre 1827

Ein Roman und ein Frühwerk des Autors von Rot und Schwarz, Die Kartause von Parma und Über die Liebe

e-artnow, 2014
ISBN 978-80-268-2494-7

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Eine Frau von Geist, doch ohne bestimmtes Urteil über literarisches Verdienst, hat mich Unwürdigen gebeten, den Stil dieses Romans zu verbessern. Ich bin weit entfernt, gewisse politische Anschauungen zu teilen, die in die Erzählung verwebt scheinen; das mußte ich dem Leser sagen. Der liebenswürdige Verfasser ist in manchem ganz anderer Ansicht als ich, aber die sogenannten »Anspielungen« sind uns beiden gleich zuwider. In London schreibt man sehr anzügliche Romane, »Vivian Grey«, »Almaks High life«, »Matilda« usw., die eines Schlüssels bedürfen. Es sind sehr ergötzliche Karikaturen von Personen, denen der Zufall der Geburt oder des Vermögens eine beneidete Stellung gab.

Diese Art »literarischer« Verdienste lehnen wir ab. Der Verfasser hat den ersten Stock der Tuilerien seit 1814 nicht mehr betreten; er besitzt soviel Stolz, daß er nicht mal die Namen der Leute kennt, die in gewissen Kreisen zweifellos eine hervorragende Rolle spielen.

Aber er läßt Industrielle und Privilegierte auftreten und schreibt eine Satire auf sie. Fragte man die Tauben, die auf den hohen Baumwipfeln girren, nach Neuigkeiten aus dem Tuileriengarten, so sagten sie: »Er ist eine grüne Weite mit dem schönsten Sonnenschein.« Wir Spaziergänger würden antworten: »Er ist eine köstliche, schattige Promenade, wo man vor der erdrückenden Mittagsglut im Sommer Schutz findet.«

So urteilt jeder über die gleiche Sache von seinem Standpunkt verschieden. So widersprechen sich auch in ihren Urteilen über den gegenwärtigen Gesellschaftszustand gleich achtbare Leute, die nur verschiedene Wege einschlagen, um uns zum Glück zu führen. Aber jeder zieht die gegnerische Partei ins Lächerliche.

Wittert man etwa eine boshafte Absicht des Verfassers in den übelwollenden und falschen Beschreibungen, die jede Partei von den Salons der Gegenpartei entwirft? Verlangt man von leidenschaftlichen Menschen abgeklärte Lebensweisheit, d. h. Leidenschaftslosigkeit? Im Jahre 1760 mußte man Grazie und Esprit besitzen, aber weder launisches Wesen noch Ehrenhaftigkeit, wie der Regent zu sagen pflegte, wenn man die Gunst des Gebieters und der Mätresse gewinnen wollte.

Zur Nutzbarmachung der Dampfmaschine bedarf es der Sparsamkeit, zäher Arbeit, Gründlichkeit und eines nüchternen Kopfes. Das ist der Unterschied zwischen dem Zeitalter, das 1789 zu Ende ging, und dem, das um 1815 begann.

Auf dem Marsche nach Rußland summte Napoleon beständig diese Worte aus der »Molinara«, die er von Porto so schön vernommen hatte:

Si batte nel mio cuore L'inchiostro e la farina In meinem Herzen streiten sich die Tinte und das Mehl, d. h.: Soll man Müller oder Notar werden?.

Das könnten sich viele junge Leute wiederholen, die sowohl Geburt wie Geist besitzen.

Bei diesen Worten über unser Zeitalter finden wir, daß wir zwei Hauptcharaktere der folgenden Novelle skizziert haben. Kaum zwanzig Seiten davon kommen in Gefahr, als satirisch zu erscheinen, aber der Verfasser will auf etwas andres hinaus. Das Zeitalter ist trübsinnig und launisch; man muß sich bei ihm vorsehen, selbst wenn man nur ein Buch veröffentlicht, das binnen sechs Monaten vergessen sein wird, wie die besten ihrer Art. Das habe ich dem Verfasser bereits gesagt.

Inzwischen bitten wir um ein wenig von der Nachsicht, die man den Verfassern des Lustspiels »Trois Quartiers« gewährt hat. Sie haben dem Publikum einen Spiegel vorgehalten. Können sie dafür, wenn in diesem Spiegel häßliche Gestalten erschienen? Zu welcher Partei gehört ein Spiegel?

Man wird im Stil dieses Romans naive Redensarten finden, die zu ändern ich nicht den Mut habe. Für mich ist nichts so langweilig wie der deutsche romantische Schwulst. Der Verfasser pflegte zu sagen: »Ein allzu großes Trachten nach vornehmen Wendungen ruft schließlich Respekt und Kälte hervor. Eine Seite liest man wohl gern, aber diese reizende preziöse Art führt dahin, daß man das Buch nach dem ersten Kapitel zuklappt, und wir möchten doch, daß man möglichst viele Kapitel liest. Lassen Sie mir also meine bäurische oder spießbürgerliche Schlichtheit.«

Man beachte, daß der Verfasser in Verzweiflung wäre, wenn ich ihm einen spießbürgerlichen Stil zutraute. In seinem Herzen wohnt großer Stolz. Dies Herz gehört einer Frau, die sich um zehn Jahre gealtert fühlte, wenn man ihren Namen erführe. Und zudem, solch ein Gegenstand! ...

Saint-Gigouf, 24. Juli 1827.
Stendhal

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

It is old and plain, It is silly sooth And dallies with the innocence of love.

Twelfth Night, Act II

Kaum zwanzigjährig, verließ Octave die Polytechnische Hochschule. Sein Vater, der Marquis von Malivert, wünschte seinen einzigen Sohn in Paris zu behalten. Sobald Octave sich klar war, daß dies der beständige Wunsch seines verehrten Vaters und seiner leidenschaftlich geliebten Mutter war, verzichtete er auf sein Vorhaben, bei der Artillerie einzutreten. Gern hätte er ein paar Jahre gedient und dann seinen Abschied genommen, bis zum ersten Kriege, den er mitgemacht hätte, einerlei, ob als Leutnant oder Oberst. Dies ist ein Beispiel für seine Wunderlichkeiten, die ihn bei den Durchschnittsmenschen verhaßt machten.

Viel Geist, hoher Wuchs, edler Anstand und große schwarze Augen, die schönsten auf der Welt, hätten ihm seinen Rang unter den vornehmsten jungen Leuten gesichert, hätte nicht in seinem sanften Blick etwas Düsteres gelegen, dessentwegen man ihn eher bedauerte als beneidete. Schon sein Wunsch zu reden hätte Aufsehen erregt, aber Octave hegte keine Wünsche; nichts schien ihm Leid oder Freude zu bereiten. Als Kind war er kränklich gewesen. Seit er Kraft und Gesundheit erlangt hatte, hatte er sich stets ohne Wanken dem gefügt, was die Pflicht ihm zu gebieten schien. Aber man konnte sagen: wäre die Stimme der Pflicht nicht gewesen, er hätte in sich keinen Antrieb zum Handeln gefunden. Vielleicht hatte sich seinem jungen Herzen ein seltsamer Grundsatz tief eingeprägt, der im Widerspruch zu den Ereignissen des wirklichen Lebens stand, so wie sie sich vor seinen Augen abspielten. Und dieser Grundsatz bewog ihn dazu, sich sein künftiges Leben und seine Beziehungen zu den Menschen in zu düsteren Farben zu malen. Welchen Grund seine tiefe Schwermut aber auch haben mochte, Octave schien vor der Zeit ein Misanthrop. Sein Onkel, der Komtur von Soubirane, sagte eines Tages in seinem Beisein, er sei erschreckt über diesen Charakter.

»Warum soll ich mich anders geben als ich bin?« entgegnete Octave kalt. »Dein Neffe wird stets auf dem Wege der Vernunft bleiben.«

»Aber nie diesseits noch jenseits davon«, erwiderte der Komtur in seiner provenzalischen Lebhaftigkeit. »Woraus ich schließe, daß du entweder der von den Juden ersehnte Messias oder Luzifer in Person bist, der eigens wieder auf die Welt kommt, um mir das Hirn zu zermartern. Wer zum Teufel bist du? Ich verstehe dich nicht. Du bist die eingefleischte Pflicht.«

»Wie glücklich wäre ich, nie gegen die Pflicht zu verstoßen!« versetzte Octave. »Wie gern wollte ich dem Schöpfer meine Seele so rein zurückgeben, wie ich sie empfing.«

»Ein Wunder!« rief der Komtur aus. »Das ist seit einem Jahre der erste Wunsch, den ich von dieser Seele höre, die vor lauter Reinheit zu Eis erfroren ist.«

Und höchst zufrieden mit seiner Phrase verließ er flugs den Salon.

Octave blickte seine Mutter zärtlich an: sie wußte, ob seine Seele zu Eis erfroren war.

Man konnte Frau von Malivert noch für jung halten, obwohl sie nahe an fünfzig Jahre alt war. Nicht nur, weil sie noch schön war; bei ihrem höchst eigenartigen, regen Geiste hatte sie sich auch eine lebhafte, dienstwillige Sympathie für die Interessen ihrer Freunde, ja selbst für die Leiden und Freuden der Jugend bewahrt. Ungezwungen ging sie auf deren Hoffnungen und Befürchtungen ein und schien sie bald selbst zu teilen. Dieser Charakter verliert seine Anmut, seit die öffentliche Meinung ihn von den nicht bigotten Frauen in vorgerückten Jahren zu verlangen scheint. Aber bei Frau von Malivert war er niemals konventionell.

Seit einiger Zeit fiel es ihren Leuten auf, daß sie in einer Droschke ausfuhr und oft nicht allein heimkehrte. Johann, ein alter, neugieriger Diener, der seiner Herrschaft bei der Emigration gefolgt war, wollte wissen, wer der Herr sei, den Frau von Malivert mehrmals mit nach Hause gebracht hatte. Am ersten Tage verlor er den Unbekannten in der Menge; beim zweiten Versuch war seine Neugier erfolgreicher. Er sah den Mann, dem er nachging, in die Charité eintreten und erfuhr vom Pförtner, daß es der berühmte Doktor Duquerrel sei. Frau von Maliverts Dienstboten entdeckten, daß ihre Herrin nach und nach die berühmtesten Pariser Ärzte mitbrachte und fast stets Gelegenheit fand, ihnen ihren Sohn zu zeigen.

Betroffen über Octaves seltsames Wesen, fürchtete sie, er möchte brustkrank sein, aber sie glaubte, daß sie das Übel nur beschleunigte, wenn sie das Unglück hatte, richtig zu raten und diese grausame Krankheit bei Namen zu nennen. Einsichtige Ärzte sagten Frau von Malivert, ihr Sohn habe kein andres Leiden als die unzufriedene, abschätzige Schwermut, die die jungen Leute seiner Zeit und seiner Stellung kennzeichne, aber sie ermahnten sie, ihre eigne Brust aufs äußerste zu schonen. Diese schlimme Kunde verbreitete sich im Hause durch die Lebensweise, der sie sich unterwerfen mußte, und Herr von Malivert, dem man den Namen der Krankheit umsonst zu verheimlichen suchte, sah sich auf seine alten Tage bereits allein.

Der Marquis von Malivert war vor der Revolution ein Leichtfuß und sehr reich gewesen. Er war erst 1814 im Gefolge des Königs nach Frankreich zurückkehrt und sah sich infolge der Gütereinziehungen auf 20-30 000 Franken Rente beschränkt. Er hielt sich für bettelarm. Dieser Kopf, der nie sehr klug gewesen, hatte fortan nur eine Beschäftigung, Octave zu verheiraten. Aber da er noch mehr an der Ehre hing als an dem fixen Gedanken, der ihn quälte, verfehlte der alte Marquis von Malivert nie, seine Eröffnungen in der Gesellschaft mit den Worten zu beginnen: »Ich kann einen schönen Namen bieten, einen sicheren Stammbaum vom Kreuzzug Ludwigs des Kindes an, und ich kenne in Paris nur dreizehn Familien, die ebenso erhobenen Hauptes einherschreiten können; im übrigen aber sehe ich mich dem Elend und den Almosen ausgesetzt. Ich bin ein Bettler.«

Bei einem alten Manne ist diese Anschauungsweise nicht geeignet, jene sanfte, philosophische Resignation hervorzurufen, die dem Alter Heiterkeit verleiht, und ohne die Streiche des alten Komturs von Soubirane, eines etwas tollen und ziemlich boshaften Südfranzosen, wäre Octaves Elternhaus selbst im Faubourg Saint-Germain durch seine Trübseligkeit aufgefallen. Frau von Malivert, die sich von der Sorge um die Gesundheit ihres Sohnes durch nichts ablenken ließ, nicht mal durch ihre eigene Gefahr, benutzte ihren kränklichen Zustand zum dauernden Verkehr mit zwei berühmten Ärzten. Sie wollte deren Freundschaft gewinnen. Da der eine dieser Herren das Haupt, der andre einer der eifrigsten Anhänger zweier sich bekämpfender Schulen war, fand Frau von Malivert, deren Geist lebhaft und wißbegierig geblieben war, bisweilen Vergnügen an ihren Diskussionen, so traurig deren Gegenstand auch für jeden war, der nicht durch das wissenschaftliche Interesse oder das zu lösende Problem gefesselt wurde. Sie brachte beide zum Sprechen, und auf diese Weise erhob doch wenigstens hin und wieder jemand seine Stimme in dem so vornehm ausgestatteten, aber so düsteren Salon des Hauses Malivert.

Eine mit Goldornamenten überladene Wandbekleidung aus grünem Samt schien eigens dazu da, um alles Licht abzudämpfen, das aus zwei mächtigen Fenstern mit Spiegelglasscheiben hereinströmte. Sie gingen auf einen einsamen Garten, der durch Buchsbaumeinfassungen in wunderliche Felder geteilt war. Eine jährlich dreimal beschnittene Reihe von Linden schmückte seinen Hintergrund; ihre unbeweglichen Formen erschienen wie ein lebendiges Abbild des geistigen Lebens dieser Familie. Das Zimmer des jungen Vicomte, das über dem Salon lag und der Schönheit dieses Hauptraumes geopfert war, hatte kaum die Höhe eines Zwischenstocks. Octave hatte einen Graus davor, und doch hatte er es vor seinen Eltern zwanzigmal gelobt. Er fürchtete, sich durch einen unfreiwilligen Ausbruch zu verraten und zu zeigen, wie unerträglich ihm dies Zimmer und das ganze Haus sei.

Er sehnte sich lebhaft nach seiner kleinen Zelle in der polytechnischen Hochschule zurück. Der dortige Aufenthalt war ihm lieb gewesen, weil er ihm das Bild der Zurückgezogenheit und der Stille eines Klosters vortäuschte. Lange war Octave mit dem Gedanken umgegangen, sich aus der Welt zurückzuziehen und sein Leben Gott zu weihen. Dieser Gedanke hatte seine Eltern, besonders den Marquis beunruhigt, der in diesem Plane alle seine Ängste vor einem einsamen Alter verwirklicht sah. Aber in dem Bestreben nach besserer Erkenntnis der Glaubenswahrheiten war Octave zum Studium der Schriftsteller gelangt, die zwei Jahrhunderte lang eine Erklärung dafür gesucht haben, wie das Denken und Wollen des Menschen beschaffen ist, und seine eignen Ansichten hatten stark gewechselt, die seines Vaters aber nicht. Der Marquis sah mit einer Art von Schrecken, wie ein junger Edelmann sich für Bücher begeisterte; stets fürchtete er einen Rückfall, und das war einer seiner Hauptbeweggründe für den Wunsch, Octave bald zu verheiraten.

Man genoß die letzten schönen Herbsttage, die in Paris wie ein zweiter Frühling sind. Frau von Malivert sagte zu ihrem Sohne: »Du solltest ausreiten.« Octave sah in diesem Vorschlag nur eine Vermehrung der Ausgaben, und da seines Vaters ewige Klagen ihn in den Glauben versetzten, das Vermögen der Familie sei weit mehr zusammengeschrumpft, als es der Fall war, so weigerte er sich lange. »Wozu, liebe Mutter?« fragte er stets. »Ich reite sehr gut, aber es macht mir keinen Spaß.« Frau von Malivert ließ ein prächtiges englisches Pferd in den Stall bringen, dessen Jugend und Anmut seltsam von den zwei alten normannischen Pferden abstach, die seit zwölf Jahren im Hause den Dienst versahen. Dies Geschenk brachte Octave in Verlegenheit. Zwei Tage lang dankte er seiner Mutter dafür, aber am dritten, als er mit ihr allein war und die Rede auf das englische Pferd kam, ergriff er ihre Hand und sagte, sie an die Lippen führend: »Ich liebe dich zu sehr, um dir immer wieder zu danken. Dein Sohn soll auch nicht einmal im Leben unaufrichtig gegen das Liebste sein, was er auf der Welt hat. Dies Pferd ist 4000 Franken wert. Du bist nicht reich genug, daß diese Ausgabe dir nicht schwerfiele.«

Frau von Malivert öffnete ein Schreibtischschubfach und sagte: »Hier ist mein Testament. Ich habe dir meine Diamanten unter der ausdrücklichen Bedingung vermacht, daß du ein Pferd haben sollst, solange der Erlös aus ihrem Verkauf dazu hinreicht, daß du auf meinen Wunsch manchmal ausreitest. Ich habe zwei Diamanten heimlich verkauft, um die Freude zu haben, dich bei meinen Lebzeiten im Besitz eines hübschen Pferdes zu sehen. Eins der größten Opfer, die dein Vater mir auferlegt hat, ist die Verpflichtung, diese Schmucksachen, die mir so wenig anstehen, nicht zu veräußern. Ich weiß nicht, welche nach meiner Ansicht unbegründete politische Hoffnung er hegt, aber er hielte sich für doppelt verarmt und heruntergekommen, wenn seine Frau keine Diamanten mehr hätte.«

Tiefe Schwermut malte sich auf Octaves Stirn. Er legte das Schriftstück, das ihn an ein so trauriges und vielleicht so nahes Ereignis gemahnte, in das Schubfach zurück, ergriff von neuem die Hand seiner Mutter und behielt sie zwischen den seinen, was er sich selten erlaubte. »Deines Vaters Pläne«, fuhr sie fort, »klammern sich an das Entschädigungsgesetz, von dem seit drei Jahren die Rede ist.« – »Ich wünsche von Herzen, daß es abgelehnt wird«, versetzte Octave. – »Und warum?« fragte seine Mutter, entzückt, daß er sich für etwas erwärmte und ihr diesen Beweis von Achtung und Freundschaft gab. »Warum möchtest du, daß es abgelehnt wird?« – »Erstens, weil es nicht vollständig und daher wenig gerecht zu sein scheint, und zweitens, weil ich dann heiraten muß. Ich habe leider einen seltsamen Charakter. Ich habe mich nicht selbst geschaffen; ich vermochte nur, mich kennenzulernen. Mit Ausnahme der glücklichen Augenblicke, wo ich mit dir allein bin, besteht mein einziges Glück darin, einsam zu leben, ohne daß irgend jemand das Recht hätte, mich anzusprechen.« – »Lieber Octave, dieser eigenartige Geschmack ist die Folge deiner unmäßigen Vorliebe für die Wissenschaften. Dein Studieren läßt mich zittern; du wirst enden wie Goethes Faust. Willst du mir wie am letzten Sonntag schwören, nicht lediglich schlechte Bücher zu lesen?« – »Ich lese die Bücher, die du mir angabst, liebe Mama, zugleich mit den sogenannten schlechten Büchern.« – »Ach, dein Charakter hat etwas Geheimnisvolles und Düsteres, das mich zittern läßt. Gott weiß, was du dir aus all den Büchern zusammenliest.« – »Liebe Mama, ich kann nicht umhin, das für wahr zu halten, was mir als wahr erscheint. Könnte ein allmächtiges und gutes Wesen mich strafen, weil ich dem Zeugnis der Sinne traue, die es mir selbst gab?« – »Ach, stets fürchte ich, dies furchtbare Wesen zu erzürnen«, sagte Frau von Malivert mit Tränen in den Augen. »Es kann dich meiner Liebe entreißen. Es gibt Tage, wo ich beim Lesen Bourdaloues vor Schrecken erstarre. Aus der Bibel ersehe ich, daß dies allmächtige Wesen unerbittlich in seiner Rache ist, und du beleidigst es sicher, wenn du die Philosophen des 18. Jahrhunderts liest. Vorgestern, ich gestehe es dir, verließ ich die Kirche des heiligen Thomas von Aquino in einem Zustand, der an Verzweiflung grenzte. Wäre der Zorn des Allmächtigen gegen die gottlosen Bücher auch nur ein Zehntel so groß, wie der Abbé Fay... prophezeit, so müßte ich schon zittern, dich zu verlieren. Es gibt eine abscheuliche Zeitung, die der Abbé Fay... in seiner Rede nicht mal zu nennen wagte und die du gewiß täglich liest. « – »Ja, Mama, ich lese sie, aber wie ich dir versprochen habe, lese ich gleich darauf die Zeitung, die die entgegengesetzte Lehre vertritt.«

»Lieber Octave, die Heftigkeit deiner Leidenschaften beunruhigt mich, und vor allem der Weg, den sie in deinem Herzen heimlich einschlagen. Fände ich bei dir nur ein paar Neigungen, die deinen Jahren entsprechen und dich von deinen sonderbaren Ideen ablenken, ich wäre weniger erschreckt. Aber du liest gottlose Bücher, und bald wirst du soweit kommen, selbst am Dasein Gottes zu zweifeln. Warum über diese furchtbaren Dinge nachgrübeln? Erinnerst du dich deiner Leidenschaft für die Chemie? Anderthalb Jahre lang wolltest du keinen Menschen sehen. Du hast durch dein Fernbleiben unsre nächsten Verwandten verstimmt, hast gegen die unerläßlichsten Pflichten verstoßen.« – »Meine Neigung für die Chemie war keine Leidenschaft«, versetzte Octave, »sondern eine Pflicht, die ich mir auferlegt hatte. Und Gott weiß«, fuhr er seufzend fort, »ob es nicht besser gewesen wäre, diesem Vorhaben treu zu bleiben und ein weltfremder Gelehrter zu werden.«

An jenem Abend blieb Octave bis um ein Uhr bei seiner Mutter. Umsonst drang sie in ihn, in Gesellschaft oder wenigstens ins Theater zu gehen. »Ich bleibe, wo ich am glücklichsten bin«, sagte Octave. – »Es gibt Augenblicke, wo ich dir glaube, nämlich wenn ich mit dir zusammen bin«, entgegnete seine Mutter beglückt. »Aber wenn ich dich nur zwei Tage lang unter Menschen sehe, siegt die Überlegung, daß solche Einsamkeit für einen Mann in deinen Jahren nicht das Rechte ist. Ich besitze für 74 000 Franken unnütze Diamanten, und sie werden lange unnütz bleiben, da du ja noch nicht heiraten willst. Freilich bist du noch sehr jung, zwanzig Jahre und fünf Tage!«

Frau von Malivert stand von ihrer Chaiselongue auf und küßte ihren Sohn. »Ich habe große Lust, diese unnützen Diamanten zu verkaufen, die Summe anzulegen und die Zinsen zur Vermehrung meiner Ausgaben zu verwenden. Ich würde einen Empfangstag einrichten und unter dem Vorwand meiner Kränklichkeit durchaus nur solche Personen empfangen, gegen die du nichts einzuwenden hättest.« – »Ach, liebe Mama, der Anblick aller dieser Menschen stimmt mich ebenso traurig. Ich liebe nichts auf der Welt als dich ...«

Als ihr Sohn sie verlassen hatte, konnte Frau von Malivert trotz der vorgerückten Stunde keinen Schlaf finden. Sie wurde von trüben Ahnungen gequält. Umsonst suchte sie zu vergessen, wie teuer Octave ihr war, und ihn wie einen Fremden zu beurteilen. Statt folgerichtig zu denken, verlor sich ihr Geist immerfort in romantische Vermutungen über die Zukunft ihres Sohnes. Das Wort des Komturs fiel ihr wieder ein. »Sicherlich«, sagte sie sich, »fühle ich in ihm etwas Übermenschliches. Er lebt von den Menschen getrennt wie ein Wesen für sich.« Dann kam sie wieder auf vernünftigere Gedanken und faßte es nicht, daß ihr Sohn so heftige oder doch so überspannte Leidenschaften hatte und daß ihm dabei jeder Sinn für das Tatsächliche im Leben abging. Es war, als lägen die Quellen seiner Leidenschaften woanders, als würden sie aus nichts Irdischem gespeist. Alles, selbst Octaves edle Züge, beunruhigte seine Mutter; seine schönen sanften Augen flößten ihr Schrecken ein. Sie schienen manchmal gen Himmel zu blicken und das Glück, das sie dort schauten, zu spiegeln. Und gleich darauf las man in ihnen alle Qualen der Hölle.

Nur mit einer gewissen Scheu wagt man ein Wesen zu fragen, dessen Glück so zerbrechlich scheint, und so blickte seine Mutter ihn weit öfter an, als daß sie mit ihm sprach. In ruhigeren Augenblicken schienen Octaves Augen von einem fernen Glück zu träumen, gleich als wäre seine zarte Seele durch einen weiten Raum von dem einzig geliebten Gegenstande getrennt. Octave beantwortete die Fragen seiner Mutter aufrichtig, und doch vermochte sie das Geheimnis dieses tiefen und oft erregten Träumens nicht zu ergründen. So war er seit seinem fünfzehnten Jahr, und Frau von Malivert hatte nie ernstlich an die Möglichkeit einer geheimen Leidenschaft gedacht. War Octave doch sein eigner Herr und nicht mittellos.

Sie machte immerfort die Beobachtung, daß das wirkliche Leben für ihren Sohn keine Quelle von Anregungen war, sondern ihn nur verdroß, als ob es ihn in seiner geliebten Träumerei störte und von ihr ablenkte. Abgesehen von dieser unseligen Lebensart, die ihre ganze Umgebung befremdete, mußte Frau von Malivert doch anerkennen, daß Octave eine aufrechte und starke Seele voller Geist und Ehre besaß. Aber diese Seele war sich ihrer Rechte auf Freiheit und Unabhängigkeit wohl bewußt, und ihre edlen Eigenschaften verbanden sich seltsam mit einer für sein Alter unglaubwürdigen Verstellungskunst. Diese harte Wirklichkeit zerstörte mit einem Schlage all die Glücksträume, die Frau von Maliverts Phantasie beruhigt hatten.

Ihrem Sohne, der nicht halb zu lieben und zu hassen verstand, war nichts lästiger, ja man kann sagen verhaßter, als die Gesellschaft seines Onkels, des Komturs, und doch glaubte ein jeder im Hause, daß er mit Herrn von Soubirane äußerst gern Schach spielte oder mit ihm auf dem Boulevard flanierte. Das war ein Ausdruck des Komturs, der trotz seiner sechzig Lebensjahre noch mindestens die gleichen Ansprüche erhob wie 1789. Nur war eine geistige Geckenhaftigkeit an Stelle der jugendlichen Affektiertheit getreten, die wenigstens die Entschuldigung der Grazie und des Frohsinns für sich hatte. Dies Beispiel müheloser Verstelltheit erschreckte Frau von Malivert. »Ich habe meinen Sohn gefragt, welches Vergnügen er am Verkehr mit seinem Onkel findet, und er hat mir wahrheitsgemäß geantwortet«, sagte sie sich. »Aber wer weiß, ob sich nicht irgendeine seltsame Absicht auf dem Grunde dieser sonderbaren Seele birgt? Und wenn ich ihn nicht darnach frage, wird es ihm nie einfallen, davon anzufangen. Ich bin eine schlichte Frau und weiß allein über einige kleine Pflichten Bescheid, die in meinem Wirkungskreis liegen. Wie darf ich mich da für fähig halten, einem so starken und eigenartigen Wesen zu raten? Ich habe keinen Freund von überlegenem Verstande, den ich um Rat fragen könnte. Wie dürfte ich auch Octaves Vertrauen täuschen? Habe ich ihm nicht völlige Geheimhaltung versprochen?«

Nachdem diese traurigen Gedanken Frau von Malivert bis zum Morgen gequält hatten, beschloß sie, wie gewöhnlich, all ihren Einfluß auf ihren Sohn aufzubieten, um ihn zu bewegen, oft zur Marquise von Bonnivet zu gehen. Das war ihre Kusine und Busenfreundin, eine Frau, die in höchstem Ansehen stand und in ihrem Salon oft die Auslese der guten Gesellschaft vereinte. »Meine Aufgabe ist es«, sagte sich Frau von Malivert, »den verdienstvollen Leuten, die ich bei Frau von Bonnivet treffe, den Hof zu machen, um zu erfahren, was sie über Octave denken.« In diesem Salon suchte man das Vergnügen, zum Kreise der Frau von Bonnivet zu gehören, und die Unterstützung ihres Gatten, eines betagten und mit Ehren überhäuften Hofmannes, der bei seinem Gebieter fast ebenso in Ansehen stand wie der liebenswürdige Admiral von Bonnivet, sein Ahnherr, der Franz I. zu so vielen Streichen verführt und so edel dafür gebüßt hatte. Als der Admiral am Abend der Schlacht bei Pavia sah, daß alles verloren sei, rief er aus: »Man soll nicht sagen, daß ich ein solches Unglück überlebt hätte.« Und mit geöffnetem Visier stürzte er sich mitten unter die Feinde und hatte die Genugtuung, mehrere zu töten, bevor er selbst von Stichen durchbohrt fiel.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Melancholy mark'd him for her own, whose ambitious heart overrates the happiness he cannot enjoy.

Marlowe

Am nächsten Morgen um acht Uhr machte sich eine große Veränderung im Hause Malivert bemerkbar. Alle Klingeln waren plötzlich in Bewegung. Alsbald ließ der alte Marquis sich bei seiner Gattin melden, die noch zu Bette lag. Er hatte sich selbst nicht die Zeit zum Ankleiden genommen. Mit Tränen in den Augen umarmte er sie. »Meine Liebste«, sagte er, »wir werden unsre Enkel sehen, bevor wir sterben.« Und der gute Greis weinte heiße Tränen. »Gott weiß«, fuhr er fort, »es ist nicht der Gedanke, kein Bettler mehr zu sein, der mich so erregt ... Das Entschädigungsgesetz ist sicher; du wirst zwei Millionen bekommen.« In diesem Augenblick bat Octave, den der Marquis hatte rufen lassen, eintreten zu dürfen. Sein Vater stand auf und warf sich in seine Arme. Octave sah Tränen und täuschte sich vielleicht über deren Ursache, denn eine kaum merkbare Röte überzog seine bleichen Wangen. »Macht die Vorhänge weit auf, es ist schon heller Tag!« sagte seine Mutter lebhaft. »Tritt näher, schau mich an«, gebot sie im gleichen Tone. Und ohne ihrem Gatten eine Antwort zu geben, warf sie einen prüfenden Blick auf die flüchtige Röte, die auf Octaves Wangen erschien. Aus ihren Gesprächen mit den Ärzten wußte sie, daß rote Flecken auf den Backen ein Anzeichen von Brustkrankheit sind; sie zitterte für die Gesundheit ihres Sohnes und dachte nicht mehr an die zwei Millionen Entschädigung.

Als Frau von Malivert sich beruhigt hatte, sagte der Marquis, der durch dies Zwischenspiel etwas ungeduldig geworden war, endlich: »Ja, mein Sohn, eben erhalte ich die Gewißheit, daß das Entschädigungsgesetz eingebracht wird, und wir haben 319 von 420 Stimmen sicher. Deine Mutter hat ein Vermögen verloren, das ich auf über sechs Millionen anschlage. Welche Opfer auch die Furcht vor den Jakobinern der Gerechtigkeit des Königs abnötigen wird, auf zwei Millionen können wir reichlich rechnen. Somit bin ich oder vielmehr du – kein Bettler mehr; dein Vermögen steht wieder im Einklang mit deiner Geburt, und ich kann dir jetzt eine Frau suchen und brauche sie nicht mehr zu erbetteln.« – »Aber, mein Lieber«, versetzte Frau von Malivert, »gib acht, daß dich dein allzu williger Glaube an diese große Neuigkeit nicht zur Zielscheibe der Bemerkungen unsrer Verwandten, der Herzogin d'Ancre, und ihres Kreises macht. Sie besitzt ja tatsächlich all die Millionen, die du uns versprichst; verkaufe das Fell des Bären nicht.« – »Schon seit fünfundzwanzig Minuten«, sagte der alte Marquis, seine Uhr ziehend, »bin ich sicher, daß das Entschädigungsgesetz durchgehen wird, völlig sicher.«

Er mußte wohl recht haben, denn als der gleichgültige Octave am Abend bei Frau von Bonnivet erschien, wurde er allgemein mit einer gewissen Zuvorkommenheit begrüßt. Er beantwortete dies plötzliche Interesse mit einem Anflug von Hochmut; wenigstens bemerkte dies die alte Herzogin d'Ancre. Octave empfand Mißvergnügen und zugleich Verachtung. Er sah sich in der Pariser Gesellschaft und in dem Kreise, in dem er intim verkehrte, wegen der Aussicht auf zwei Millionen freundlicher empfangen. Diese glühende Seele, die gegen andre ebenso gerecht und fast ebenso streng war wie gegen sich selbst, erhielt von dieser traurigen Tatsache den Eindruck tiefer Schwermut. Octaves Stolz ließ sich zwar nicht dazu herab, den Leuten zu grollen, die der Zufall in jenem Salon zusammengeführt hatte; er bemitleidete nur sein Schicksal und das aller Menschen. »So wenig werde ich also geliebt«, sagte er sich, »daß zwei Millionen alle Gefühle ändern, die man für mich hegte. Statt danach zu trachten, mich liebenswert zu machen, hätte ich versuchen sollen, mich durch irgendein Geschäft zu bereichern.«

Während Octave diese traurigen Erwägungen anstellte, saß er auf einem Diwan gegenüber einem kleinen Stuhle, den seine Kusine Armance von Zohiloff innehatte. Zufällig blieben seine Augen auf ihr ruhen. Er bemerkte, daß sie am ganzen Abend kein Wort an ihn gerichtet hatte. Armance war eine ziemlich mittellose Nichte der Damen von Bonnivet und von Malivert, etwa gleichaltrig mit Octave, und da diese beiden Menschen einander völlig gleichgültig waren, sprachen sie ganz offen miteinander. Seit einer Dreiviertelstunde war Octaves Herz voller Erbitterung; jetzt kam er auf den Gedanken: »Armance macht mir keine Komplimente. Sie allein teilt hier nicht das neue Interesse, das ich dem Gelde verdanke. Sie ist hier die einzige, die etwas Seelenadel besitzt.« Und es war ihm ein Trost, Armance anzublicken. »Das ist wenigstens ein achtbares Wesen«, sagte er sich, und im Laufe des Abends sah er mit einem Vergnügen, das seinem anfänglichen Grollen gleichkam, daß sie auch weiterhin nicht mit ihm sprach.

Ein einziges Mal, als ein Provinzler, ein Abgeordneter, ihm ein linkisches Kompliment über die zwei Millionen machte, die er ihm durch seine Stimme verschaffen wollte (so lautete sein Ausdruck), fing Octave einen Blick von Armance auf, der bis zu ihm gelangte. Der Ausdruck dieses Blickes war unverkennbar; wenigstens beurteilte ihn Octave in seinem überaus strengen Verstande so: dieser Blick sollte ihn beobachten und – was ihn lebhaft erfreute er war darauf gefaßt, ihn verachten zu müssen. Der Abgeordnete, der Millionen bewilligen wollte, ward Octaves Opfer; die Mißachtung des jungen Vicomte wurde selbst für einen Provinzler zu sichtbar. »So sind sie alle«, sagte der Abgeordnete zum Komtur von Soubirane, auf den er gleich darauf zutrat. »Ach, Ihr Herren vom Hofadel; könnten wir uns unsere Entschädigungen bewilligen, ohne die Euren zu bewilligen, Ihr solltet sie weiß Gott erst erhalten, wenn Ihr uns Bürgschaften gegeben hättet. Wir haben es satt, Euch wie ehedem mit dreißig Jahren als Obersten und uns mit vierzig als Hauptleute zu sehen. Von den 319 wohlgesinnten Abgeordneten gehören 212 zu jenem Provinzadel, der ehemals aufgeopfert wurde.« Sehr geschmeichelt, daß man eine solche Beschwerde an ihn richtete, begann der Komtur die Standespersonen zu rechtfertigen. Diese Unterhaltung, die Herr von Soubirane in seiner Wichtigtuerei politisch nannte, dauerte den ganzen Abend fort; trotz des durchdringenden Nordwindes fand sie in einer Fensternische statt – dem gegebenen Platz zum Politisieren.

Der Komtur verließ die Nische nur für einen Augenblick, indem er den Abgeordneten bat, ihn zu entschuldigen und auf ihn zu warten. »Ich muß nur meinen Neffen fragen, was er mit meinem Wagen gemacht hat«, versetzte er. Und er sagte Octave ins Ohr: »Rede doch; dein Schweigen fällt auf. Dies neue Vermögen darf sich bei dir nicht durch Hochmut bemerkbar machen. Bedenke doch, diese zwei Millionen sind nur eine Rückerstattung und weiter nichts. Wie würdest du dich erst benehmen, wenn der König dir das blaue Ordensband verliehen hätte!« Und flink wie ein Jüngling eilte der Komtur zu seiner Fensternische zurück und wiederholte halblaut: »Also den Wagen um halb zwölf!«

Octave begann zu reden, wenn auch nicht mit jener Leichtigkeit und Munterkeit, die den vollen Erfolg verbürgen, aber seine auffällige Schönheit und der tiefe Ernst seines Wesens gaben seinen Worten in den Augen der Damen, mit denen er sprach, doch besonderen Wert. Seine Gedanken waren klar, lebhaft und gewannen an Wert, je länger man darüber nachdachte. Allerdings brachte ihn die vornehme Schlichtheit, mit der er sie ausdrückte, um die Wirkung einiger pikanter Züge; man erstaunte erst nach ein paar Sekunden darüber. Sein stolzer Charakter erlaubte ihm nie, etwas herauszustreichen, was er hübsch fand. Er gehörte zu den Geistern, die aus Stolz in der Lage einer jungen Dame sind, die ungeschminkt in einen Salon kommt, wo das Schminken allgemein üblich ist: im ersten Augenblick läßt ihre Blässe sie trübsinnig erscheinen. Wenn Octave Erfolg hatte, so war es, weil er die geistige Regsamkeit und Erregung, die ihm oft abgingen, an diesem Abend durch bitterste Ironie ersetzte.

Diese anscheinende Bosheit veranlaßte die älteren Damen, ihm sein schlichtes Benehmen zu verzeihen, und die Dummköpfe, die Angst vor ihm hatten, beeilten sich, ihm Beifall zu spenden. Indem Octave in seiner Weise die ganze Verachtung ausdrückte, die ihn verzehrte, fand er in der Geselligkeit das einzige Vergnügen, das sie ihm geben konnte. Da trat die Herzogin d'Ancre auf den Diwan zu, auf dem er saß, und sagte zwar nicht zu ihm, aber für ihn, halblaut zu ihrer Busenfreundin, Frau de la Ronce: »Sieh doch nur die kleine Törin, die Armance. Scheint sie nicht eifersüchtig auf das Vermögen, das Herrn von Malivert in den Schoß fällt? Gott, wie schlecht steht der Neid einer Frau an!«

Die Freundin erriet die Absicht der Herzogin und fing den starren Blick Octaves auf, der alles gehört hatte, aber so tat, als sähe er nur das ehrwürdige Gesicht des Bischofs von ..., der eben mit ihm sprach. Binnen drei Minuten war Fräulein von Zohiloffs Stillschweigen erklärt, und sie war in Octaves Geist all der niedrigen Gesinnung überführt, deren man sie beschuldigt. »Großer Gott«, sagte er bei sich, »gibt es denn gar keine Ausnahme von der niedrigen Gesinnung dieser ganzen Gesellschaft! Und unter welchem Vorwand kann ich dann wähnen, die übrigen Gesellschaften seien anders als diese? Wagt man in einem der ersten Salons von Frankreich solche Verehrung für das Geld zur Schau zu tragen, hier, wo niemand ein Geschichtsbuch aufschlagen kann, ohne einen Helden seines Namens zu finden, wie mag es dann erst unter den armseligen Kaufleuten hergehen, die heute Millionäre sind, aber deren Väter noch gestern den Sack geschleppt haben. Gott, wie schäbig sind die Menschen!«

Octave flüchtete aus dem Salon der Frau von Bonnivet. Die Welt flößte ihm Abscheu ein. Er überließ den Familienwagen seinem Onkel, dem Komtur, und kehrte zu Fuße heim. Es regnete in Strömen; der Regen tat ihm wohl. Bald merkte er nichts mehr von dem Unwetter, das Paris überschwemmte. »Das einzige Mittel gegen diese allgemeine Erniedrigung«, dachte er, »wäre, eine schöne Seele zu finden, die durch die angebliche Weisheit der Herzogin d'Ancre noch nicht herabgewürdigt ist, sich für immer mit ihr zu verbinden, nur sie zu sehen, mit ihr und allein für sie und für ihr Glück zu leben. Ich würde sie leidenschaftlich lieben ... Ich würde sie lieben! ... Ich Unglücklicher! ...« In diesem Augenblick hätte ein Wagen, der im Galopp aus der Rue de Poitiers in die Rue de Bourbon einbog, Octave beinahe zermalmt. Das Hinterrad streifte hart seine Brust und zerriß ihm die Weste. Er blieb regungslos stehen: die Nähe des Todes hatte sein Blut aufgefrischt.