Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 153
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Andrea von Lehn stand am Fenster. Sie hatte ihren Sohn Peterle auf dem Arm. »Warte nur, Peterle, wenn du erst laufen kannst, werden wir nicht so oft im Haus sein«, redete sie auf den Jungen ein. »Ich freue mich ja schon so darauf, mit dir im Tierheim von einer Box zur anderen zu marschieren. Alle werden deine Freunde sein. Unser alter Esel Benjamin, die Bärenmutter Isabell mit Taps und Tölpl, unsere zwei frechen Affen, der junge Esel und alle, die wir gerade bei Waldi & Co. aufgenommen haben.«
Der kleine Junge tapste seiner Mutter ins Gesicht und krähte vergnügt, als habe er sie verstanden.
»Die Hunde sind ja schon deine Freunde, Peterle. Severin und Waldi wetteifern miteinander, dich zu bewachen.« Andrea lauschte in die Diele hinaus. »Ich glaube, das Telefon läutet. Da müssen wir hingehen, Peterle. Dein Vati ist draußen.«
Etwas gleichgültig nahm Andrea den Hörer ab. Aber kaum hatte sie einige Sekunden gelauscht, da rötete sich ihr Gesicht vor Erregung. »Ja, ja, mein Mann wird sofort losfahren«, sagte sie. Rasch legte sie auf und lief zur Haustür. Während sie Peterle fest an sich drückte, rief sie mit einer Stimme, die weithin zu hören war: »Hans-Joachim! Hallo, Hans-Joachim, komm schnell!«
Der junge Tierarzt kam aus der Garage gelaufen. Er sah erschrocken aus.
»Was ist denn los, Andrea?«
Jetzt kam die Dogge Severin über den Hof geprescht und kläffte laut. Ihr folgten der Dackel Waldi mit seiner Frau Hexe. Die beiden hatten große Mühe, mit ihren kurzen krummen Beinen nicht allzu weit hinter der Dogge zurückzubleiben. Aber im Gekläff standen sie nicht hinter ihr zurück.
Dr. von Lehn hielt sich die Ohren zu und schimpfte: »Da soll man ein Wort verstehen.« Er lief zu seiner Frau. »Auch ohne das Gekläff der Hunde hättest du dich zu mir bemühen können«, tadelte Andrea. »Du wirst immer bequemer. Am liebsten hättest du es, wenn ich dir mit Peterle immerzu nachliefe, damit du nur ja keinen Schritt zu viel zu tun brauchst.«
»Ach, wäre das schön, Andrea.« Hans-Joachim legte den Arm um die Schultern seiner Frau. »Sehr aufregend scheint aber das, was du mir zu sagen hast, nicht zu sein, sonst würdest du nicht zuvor einen Streit mit mir anfangen.«
»Du forderst mich ja dazu heraus, wenn du vor der Garage stehen bleibst und nur schreist: ›Was ist denn los, Andrea?‹ Beeile dich, du musst sofort nach Maibach fahren. Dort ist etwas Schreckliches passiert. Knapp vor dem Bahnhof hat sich ein Pony den Huf in einer Schiene eingeklemmt. Bis jetzt konnte niemand das arme Tier befreien.«
»Was es nicht alles gibt«, sagte Hans-Joachim.
»Mein Gott, nun wundere dich doch nicht erst. Fahre lieber gleich los, Hans-Joachim«, sagte Andrea ungeduldig. »Die Leute dort sind in Todesangst, weil bald der nächste Zug kommt.«
Der junge Tierarzt lief ins Haus. »Den Führerschein werde ich mir ja wenigstens noch holen dürfen«, rief er zurück.
»Woran du noch denken kannst, wenn es brennt. Ich wäre jetzt einfach losgefahren.« Andrea folgte ihrem Mann ins Haus. Dort gab sie ihm einen Kuss. »Dann wird die Zeit dazu auch noch reichen.« Sie lachte.
»Ja, sogar zu einem zweiten Kuss.« Hans-Joachim küsste seine Frau, strich über Peterles Wange und lief hinaus.
»Aber fahre vorsichtig«, rief Andrea ihm nach. Sie stand jetzt mit Peterle auf der Schwelle und machte ein bedrücktes Gesicht. Früher hatte sie ihren Mann immer begleiten können, wenn etwas so Aufregendes passiert war. Aber seit es Peterle gab, musste sie doch mehr im Haus bleiben.
Jetzt ging Andrea ins Freigehege. Dort arbeitete der Tierpfleger Helmut Koster an der Bärenrutsche. Er lachte. »Wie oft werde ich die noch reparieren? Diese übermütige Gesellschaft kriegt alles kaputt. Da, sehen Sie, Taps und Tölpl warten nur darauf, dass ich fertig bin.«
»Ja, und sie machen sehr vorwurfsvolle Gesichter. Allem Anschein nach arbeiten Sie ihnen zu langsam.«
»Wohin ist der Herr Doktor gefahren?«, fragte Helmut Koster.
Andrea erzählte, was passiert war.
»Das kann bös ausgehen«, sagte der Tierpfleger. »Hoffentlich muss das Pony nicht erschossen werden.«
»Machen Sie mir doch nicht solche Angst. Es wäre furchtbar, wenn ein sonst gesundes Tier getötet werden müsste, weil es sich die Fessel verletzt hat.«
Andrea ging durch das Freigehege zurück zur Villa. Der Dackel Waldi begleitete sie. Severin stand jetzt beim Tor. Das tat er meistens, wenn sein Herr weggefahren war.
*
Dr. Hans-Joachim von Lehn fuhr nicht direkt nach Maibach. Knapp vor dem Kinderheim Sophienlust bog er von der Straße ab und benutzte einen holperigen Feldweg, der zum Rosshof führte. Der junge Tierarzt wollte den alten Janosch mitnehmen. Der wusste immer Rat, wenn es um Pferde ging. Nicht umsonst war er so lange Csiskós in der Puszta gewesen. Auf dem Rosshof hatte er zusammen mit der jungen Ilona auch schon einige Pferde ausgeheilt, denen die Tierärzte keine Chance mehr gegeben hatten.
Als Hans-Joachim von Lehn in die Senke hinunterfuhr, in der das Wohnhaus und die Nebengebäude des Rosshofes standen, sah er den alten Janosch von der Koppel kommen. Er hatte seinen schwarzen Filzhut in den Nacken geschoben, denn es war ein warmer Tag.
Aus dem Haus kam Ilona gelaufen. Sie hatte das dunkle Haar aufgesteckt und eine buntbekleckste Arbeitsschürze umgebunden. Ihre Lieblingsbeschäftigung war das Anstreichen aller Dinge, die irgendwie Farbe vertrugen. Auf diese Weise hatte sie aus dem Rosshof schon ein Schmuckkästchen gemacht. Janosch wich ihr aber oft aus. Er behauptete, eines Tages werde sie auch noch ihn anstreichen.
Ilona kam an den Wagen gelaufen und begrüßte den Tierarzt. Er und seine Frau gehörten zu ihren besten Freunden.
»Ich will Ihnen Janosch entführen, Ilona«, sagte Hans-Joachim von Lehn. »Es könnte sein, dass ich ihn sehr nötig brauche.« Er erzählte, was passiert war.
Janosch hatte das mitgehört. Er stieg sofort in den Wagen ein. »Dann aber schnell, Doktor«, drängte er, »damit wir dem armen Tier noch helfen können. Ich weiß doch, wie wenig Rat sich die Leute wissen, wenn einem Pferd etwas Unvorhergesehenes passiert.«
Jetzt machte Ilona genauso ein Gesicht wie zuvor Andrea. Als sie ins Haus zurückging, murmelte sie vor sich hin: »Ich verstehe schließlich auch etwas von Pferden. Aber ob ich mitfahren will, danach bin ich gar nicht gefragt worden.«
Ilona ging an eines der kleinen Fenster des Rosshofes. Und nun hellte sich ihr Gesicht wieder auf, als sie zur Pferdekoppel sah. Dort tummelten sich ihre Lipizzanerstute Sissy, der Hengst Sandor und drei andere Pferde, die sie im Augenblick in Pflege genommen hatte.
Es war schön, im Rosshof zu leben und zu wissen, dass sich so mancher Traum schon erfüllt hatte. Das gab Kraft zum Weiterschaffen.
Hans-Joachim von Lehn und der alte Janosch sahen schon von Weitem die Menschenansammlung beim Bahngleis. Man hatte das Pony also noch nicht befreien können.
Die Leute bildeten eine Gasse, als sie den Tierarzt erkannten.
Jetzt erst sah er, dass das Pony auf dem Boden lag und von mehreren Männern festgehalten wurde.
»Wir haben es erst vor ein paar Minuten geschafft, den Huf aus dem Gleis zu lösen«, sagte der eine der Männer.
Hans-Joachim von Lehn kniete neben dem Pony nieder. Er besah sich den schwer verletzten Huf. Dann blickte er zu Janosch, der neben ihm stand. »Das sieht bös aus.«
»Das Pony wird erschossen werden müssen. Die Fessel scheint auch verletzt zu sein«, sagte jemand. »Aber besser ein Gnadentod, als von der Lokomotive zermalmt zu werden. Das wäre ja das Schicksal des Pferdes gewesen, wenn wir es nicht rechtzeitig hätten befreien können.«
Das Gesicht des alten Janosch rötete sich. »Warum ruft ihr den Tierarzt, wenn ihr das Pony erschießen wollt? So ein Unsinn.« Er wandte sich an Dr. von Lehn. »Bringen wir es in den Rosshof. Wir pflegen es zusammen gesund, Doktor. Ich weiß da eine ganz gute Salbe für den Huf.«
Hans-Joachim von Lehn stand auf. Er sah sich um. »Und wem gehört das Pony?«
Die Leute zuckten die Schultern. Jemand sagte: »Das weiß kein Mensch. Auf einmal ist es auf dem Bahngleis entlanggeprescht, bis es in der Schiene hängen blieb.«
»Wenn es niemandem gehört, nehmen wir es erst recht mit«, sagte Janosch. Seine Stimme hörte sich erfreut an. Nun beugte er sich zu dem schimmelfarbenen Pony hinab. Es hatte eine dunkle Mähne und einen dunklen Schweif. Seine großen Augen sahen Janosch anklagend an.
Der alte Mann klopfte dem Pony den Hals. »Ja, ja, du hast Schmerzen. Und Angst hast du auch ausgestanden. Du bist ein ganz schönes Connemara-Pony. Und du siehst gepflegt aus.«
Die Stimme des alten Janosch ging im Rollen des herannahenden Zuges unter. Das Pony wollte aufspringen.
Nur mit ganzer Kraft konnten es die Männer auf den Boden drücken.
Jetzt donnerte der Zug vorbei. Alle sahen ihm nach, weil sie daran dachten, was geschehen wäre, wenn sie das Pony nicht zuvor hätten befreien können.
»Gehen Sie zum Bahnhof, Doktor«, sagte Janosch, »und rufen Sie Herrn von Schoenecker an. Er soll mit einem Wagen kommen. Aber nicht mit dem Pferdeanhänger, sondern mit einem richtigen Wagen, damit sich das Pony ausstrecken kann.« Jetzt kam es dem Alten doch etwas merkwürdig vor, dass er hier Befehle erteilte. Er sah den jungen Tierarzt betroffen an. »Entschuldigen Sie, Doktor, aber mir dauert das alles viel zu lang. Ich möchte das arme Tier bald behandeln können.«
»Recht hast, Janosch. Aber selbst wenn ich telefoniere, wird noch eine gute Weile vergehen, ehe mein Schwiegervater hier sein kann.«
»Aber er kommt. Er kommt ganz gewiss«, sagte Janosch. »Das weiß ich. Er ist genauso ein Pferdenarr wie ich, und er hat schon manches Pferd für uns zum Rosshof transportiert.«
Die Leute gingen jetzt auseinander. Viele waren ohnehin nur aus Sensationslust hergelaufen. Aber jetzt gab es ja nichts Aufregendes mehr zu erleben.
Auch die Männer, die dem Pony geholfen hatten, waren jetzt schon auf dem Sprung. Als Janosch das merkte, sagte er: »Ihr könnt alle gehen. Ich komme schon allein mit dem Pony zurecht.«
Die Männer blickten ihn zweifelnd an. Bis jetzt hatten sich alle zusammen anstrengen müssen, um das Pony festzuhalten.
Janosch kniete sich neben das Pony. Er strich ihm über den Kopf. Und plötzlich sprach er Ungarisch. Langsam und bedächtig, aber sehr eindringlich. Dann sah er kurz zu den wenigen Leuten, die noch neben ihm standen. »Mit einem Pferd muss man reden. Man muss es trösten, wenn es Schmerzen hat.«
Jemand sagte im Weggehen: »Na, ob das Pony Ungarisch versteht, das weiß ich nicht.« Es klang spöttisch, arrogant.
Janosch hatte es genau verstanden. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Diese dummen Menschen. Was spielt denn die Sprache für eine Rolle? Sie selbst würden es auch spüren, wenn es jemand gut mit ihnen meinte und ihnen helfen wollte, egal, in welcher Sprache er mit ihnen reden würde. Aber ein Pferd soll Ungarisch können, um das zu verstehen.« Er fuhr dem Pony mit beiden Händen von den Nüstern bis zur Stirn. Dort ließ er seine Hände liegen. »Sei ganz ruhig. Und ärgere dich jetzt nicht, dass du nicht davonlaufen kannst. Da würdest du nämlich den Rosshof nie kennenlernen. So aber wirst du sehen, wie schön es dort ist und wie gut es dir gehen wird. Was glaubst du, wie Ilona sich freuen wird, wenn sie dich pflegen kann.«
Hans-Joachim von Lehn kam zurück. Er schlug Janosch auf die Schulter. »Du bist wirklich ein Zauberer, alter Janosch. Jetzt bändigst du das Pony ganz allein.«
Janosch sah zu ihm empor. Seine dunklen Augen glänzten. »Ich bändige es nicht, Doktor, ich habe es nur sehr lieb.« Er schmunzelte. »Zeitlebens habe ich nur die Pferde geliebt. Für eine Frau hat deshalb meine Liebe nicht mehr gereicht.«
»Und Ilona?«, fragte Hans-Joachim von Lehn.
»Ja, Ilona, das ist doch etwas ganz anderes. Sie ist schon als kleines Kind mit ihrer Mutter zu mir in die Puszta gekommen. Ich habe dem jungen Mädchen das Reiten beigebracht, und jetzt habe ich Ilona in Deutschland suchen müssen. Das ist wirklich eine ganz andere Liebe. Über die sollte man besser nicht sprechen. Die fühlt man nur hier.« Er legte die Hand auf sein Herz. Dann fragte er: »Kommt Herr von Schoenecker?«
»Ich habe ihn nicht erreichen können, Janosch, aber ein Knecht von Schoeneich wird jetzt schon mit dem Wagen unterwegs sein.« Der junge Tierarzt besah sich noch einmal den Huf des Ponys. Danach die verletzte Fessel. »Die bandagiere ich am besten gleich, Janosch. Ich hole meine Tasche aus dem Wagen.«
Das Pony ließ sich jetzt alles gefallen. Nur das Klagen in seinen Augen blieb.
Eine halbe Stunde später kam der Wagen von Schoeneich. Es lag eine dicke Strohschicht darin. Gemeinsam legten die Männer das Pony darauf. Janosch setzte sich zu ihm.
Hans-Joachim von Lehn ging zu seinem Wagen. »Ich fahre nur kurz nach Hause, um meiner Frau Bescheid zu sagen, Janosch. Dann komme ich gleich zum Rosshof«, rief er zurück.
*
Ilona stand vor dem Rosshof. Es dauerte ihr schon viel zu lange, bis Janosch zurückkam. Sie fürchtete, dass man das Pony doch hatte erschießen müssen.
Um so erfreuter war sie, als sie einen Wagen die Senke herunterkommen sah. Sie lief ihm sofort entgegen.
Janosch winkte ihr zu. »Wir bringen einen Patienten, Ilona«, rief er. Das hörte sich an, als rufe er ihr eine Freudenbotschaft zu.
Jetzt kam auch Dr. von Lehn.
Ilona packte mit an, als das Pony vorsichtig vom Wagen gehoben und in den Stall getragen wurde. Sie blieb auch bei ihm und streichelte es unentwegt, als Dr. von Lehn den ausgerissenen Huf beschnitt, eine Injektion in die Fessel gab und sie neu bandagierte.
Kaum hatte der Tierarzt den Rosshof verlassen, verschwand auch Janosch.
Er kam erst nach einer halben Stunde in den Stall zurück. In der Hand hatte er drei Tiegel.
»Willst du gleich alle deine Mixturen auf einmal ausprobieren, Janosch?«, fragte Ilona etwas skeptisch.
»Genau das will ich tun. Und du wirst mir jetzt nicht dreinreden, Ilona. Das tut nicht einmal der Tierarzt. Glaubst du, wir hätten in der Puszta nicht auch Pferde gehabt, die sich die Hufe aufgerissen oder gequetscht hatten? Was meinst du, was da manchmal passiert ist. Einmal ist …«
Ilona stand auf. Sie streckte beide Hände aus. »Erzähle mir das am Abend, Janosch. Da haben wir mehr Zeit dazu. Ich gehe jetzt und vertraue dir mein Pony an.« Sie ging zur Stalltür.
Janosch sah ihr entrüstet nach. »Dein Pony?«, fragte er. »Ist es jetzt schon dein Pony? Ich habe es schließlich auf den Rosshof gebracht.«
Ilona lief zurück und gab ihm einen Kuss auf die bärtige Wange. »Unser Pony, Janosch. Hoffentlich meldet sich niemand, der es uns wegholen will.«
Als Ilona den Stall verlassen hatte, redete Janosch wieder einmal mit sich selbst. »Das wünscht sie sich bei jedem Pferd. Wenn diese Wünsche immer in Erfüllung gingen, würden uns die Pferde bald armfressen. Es geht ohnehin schon knapp genug zu im Rosshof.« Er wickelte die Bandage des Tierarztes wieder ab und strich ganz dick Salbe auf die Fessel des Ponys. »Na ja, aber verargen kann ich Ilona diese Wünsche nicht. Mir geht es ja genauso wie ihr. Ich möchte das Pony auch nicht mehr hergeben.«
*
Im Kinderheim Sophienlust wurde nur noch von dem kranken Pony gesprochen. Darüber, was ihm auf dem Bahngleis hätte passieren können, und vor allem darüber, wem es gehören mochte.
Drei Tage später hatte sich noch niemand gemeldet, der das Pony haben wollte. Das kam allen sehr mysteriös vor. Die kleine Heidi sagte: »Es wird eben von ganz weither gekommen sein. Ponys können doch so schnell laufen.« Als die anderen jedoch nicht gleich ihre Meinung teilten, regte sie sich sehr auf. »Denkt ihr denn, wenn jemandem ein Pony weggelaufen ist, dass er es dann nicht sucht? Ich würde überall nach ihm fragen. Aber ganz weit fortkönnte ich nicht gehen, weil ich mich dann verlaufen würde. Und so wird das auch bei dem Kind sein, dem das Pony gehört.«
»Muss es denn gerade einem Kind gehören?«, fragte Henrik. »Es gibt doch auch große Leute, die ein Pony im Garten haben.«
»Nein, das Pony gehört einem Kind«, sagte Heidi mit sehr hartnäckigem Ton in der Stimme. »Das weiß ich.«
»Du bist immer so schlau«, stichelte Henrik. Er hätte sich gern wieder einmal mit der kleinen Heidi angelegt. Aber sie ließ ihn stehen, lief zu Schwester Regine und fragte: »Wann dürfen wir endlich zum Rosshof? Das Pony ist schon drei Tage dort, und wir haben es noch nicht gesehen, Schwester Regine.«
»Es sollte zunächst Ruhe haben, Heidi.« Schwester Regine strich dem kleinen Mädchen über den Kopf. »Schau, wenn du krank bist, dann ist es auch nicht gut für dich, wenn du zu viel Besuch bekommst.«
Heidi sah sie verständnislos an. »Das ist nicht wahr, Schwester Regine. Als ich Fieber hatte und im Krankenzimmer liegen musste, habe ich immerzu gewartet, dass jemand zu mir kommt. Das Pony wird sicher auch darauf warten. Es will doch nicht immerzu nur Ilona und Janosch sehen.«
Schwester Regine lachte. »Dann werden wir wohl Tante Isi fragen müssen, ob wir morgen zum Rosshof gehen dürfen.«
Die Kinder brachen in Jubel aus. Sie wussten, ihre Tante Isi schlug ihnen so schnell keine Bitte ab.
Nick schlich sich jetzt davon. Er hatte die ganze Zeit kaum zugehört. Seine Gedanken waren zwar auch im Rosshof, aber weniger bei dem kranken Pony als bei Ilona.
Nick hatte sich in das schöne, rassige Mädchen verliebt. Gleich an jenem Abend, als er es mit seiner Mutter vom Bahnhof in Maibach abgeholt hatte. Es war ihm schwergefallen, seine Gefühle zu verbergen. Aber dann war Ilona nach Ungarn gefahren, und der alte Janosch hatte ihm erzählt, dass sie dort auch ihren Jugendfreund Imre besuchen wolle.
Das war für den fünfzehnjährigen Nick eine große Ernüchterung gewesen. Viel mehr als die Tatsache, dass er sich immerzu vorrechnen musste, wie alt Ilona war und wie alt er selbst. Die vier Jahre Altersunterschied hatte er am liebsten wegmogeln wollen, aber dass Ilona ihr Herz schon verschenkt hatte, dieser Tatsache musste er sich stellen.
In den Wochen, die Ilona nicht auf dem Rosshof gewesen war, hatte Nick sich wieder etwas mehr den großen Mädchen von Sophienlust angeschlossen. Besonders Pünktchen, mit der ihn schon immer eine innige Freundschaft verbunden hatte. Pünktchen war darüber sehr glücklich gewesen. Sie hatte erkannt, welche große Rolle Ilona bei ihm gespielt hatte.
Aber dann war Ilona zurückgekommen. Sehr traurig und ohne die Zuversicht, die sie früher ausgestrahlt hatte. Ihr Jugendfreund Imre war gestorben.
Der alte Janosch hatte zu Nick gesagt: »Jetzt müssen wir ihr alle helfen, damit sie Imres Tod allmählich vergisst.«