Arsène Lupin - Der Kristallstöpsel - Leblanc Maurice - E-Book

Arsène Lupin - Der Kristallstöpsel E-Book

Leblanc Maurice

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Beschreibung

Bei einem misslungenen Einbruch Arsène Lupins in die Villa des Abgeordneten Daubrecq geschieht ein Mord und zwei seiner Gehilfen werden als Verdächtige verhaftet. Der berühmte Gentleman-Einbrecher muss nun herausfinden, was eigentlich passiert ist und welche mysteriösen Kräfte es sind, die ihm immer einen Schritt voraus sind und ständig seine Pläne durchkreuzen. Der Gegenstand, um den mehrere Parteien im Geheimen ringen, ist ein einfacher Flaschenstöpsel aus Kristallglas. Kann Lupin das Geheimnis des Kristallstöpsels ergründen und seine Freunde vor der Guillotine bewahren? Neuübersetzung des klassischen Kriminalromans von Maurice Leblanc durch den bekannten Krimi- und Jugendbuchautor Henry Seymour. Die 'Arsène Lupin' - Romane sind jeweils in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Maurice Leblanc

Arsène Lupin

Der Kristallstöpsel

Kriminalroman

BE

Belle Époque Verlag

Aus dem Englischen neu übersetzt von Henry Seymour.

Neuausgabe des Belle Époque Verlags, Inh. G. Pahlberg, Wiesenstraße 7, 72135 Dettenhausen.

Originalausgabe: Le Bouchon de cristal (1912)

Lektorat: Christian Reichenbach

Umschlaggestaltung: Belle Époque Verlag

ISBN: 978-3-96357-230-2

1. KAPITEL: DIE VERHAFTUNG

Die zwei Boote an dem kleinen Steg, der vom Garten in den See hinausführte, schaukelten sanft in den Wellen. Hier und da flimmerte verschwommen der Schein erleuchteter Fenster durch den dünnen Nebel, der über dem Seerand hing. Am anderen Ufer widerspiegelten sich die Lichter des Enghien-Casinos im Wasser, obwohl die Saison jetzt, gegen Ende September, fast schon vorüber war. Vereinzelte Sterne funkelten durch die Wolken. Ein leichter Wind kräuselte das Wasser.

Arsène Lupin verließ das Sommerhäuschen mit der halb gerauchten Zigarre und beugte sich über den Stegrand.

»Grognard?«, rief er leise. »LeBallu? … seid ihr da?«

Je ein Mann erhob sich in jedem der zwei Boote. Einer von ihnen antwortete: »Hier, Chef.«

»Macht euch bereit! Das Auto mit Gilbert und Vaucheray ist bald da.«

Er durchquerte den Garten, vorbei an einem halb erbauten Haus, und öffnete vorsichtig eine Pforte, die zur Avenue de Ceinture führte. Er hatte sich nicht geirrt.

Lichter blendeten ihn, als ein kleiner Lastwagen um die Kurve kam und vor ihm anhielt. Zwei Männer, die Kragen ihrer Mäntel hochgeschlagen, stiegen aus.

Es waren Gilbert und Vaucheray, der Erstere zwanzig oder vielleicht zwei Jahre mehr, gut aussehend und mit sportlicher Figur. Vaucheray war älter, mit grau gesprenkeltem Haar über einem blassen, ungesunden Gesicht.

»Na?«, fragte Lupin. »Habt ihr ihn gesehen, den Abgeordneten?«

»Ja, Chef«, erwiderte Gilbert, »er nahm die Bahn nach Paris um sieben Uhr vierzig, genau wie wir angenommen hatten.«

»Dann können wir also anfangen?«

»Ohne Frage. Die Villa Marie-Therese ist jetzt unser Spielplatz.«

Der Fahrer war auf seinem Sitz geblieben. Lupin gab ihm seine Befehle.

»Bleib nicht hier. Das könnte Aufsehen erregen. Komm um halb zehn zurück, damit wir laden können, es sei denn, etwas geht schief.«

»Was könnte schon schiefgehen?«, fragte Gilbert.

Das Auto fuhr los und Lupin wandte sich zum See hin, gefolgt von seinen Begleitern.

»Weil ich nicht den Plan gemacht habe, und wenn ich das nicht selbst erledige, bin ich meiner Sache einfach nicht sicher.«

»Unsinn, Chef! Ich arbeite jetzt schon drei Jahre für Sie und weiß langsam, wie der Hase läuft.«

»Ich weiß, mein Junge. Aber es kann immer etwas schiefgehen. Komm, steig ein! Vaucheray, du nimmst das andere Boot … gut so … und jetzt los Jungs, aber so wenig Lärm wie möglich.«

Grognard und LeBallu, die beiden Ruderer, peilten das gegenüberliegende Ufer an, etwas seitlich vom Casino. Unterwegs begegneten sie einem Boot mit zwei Liebenden, eng umschlungen, und einem zweiten, von dem nicht ganz nüchterner Gesang herübertönte.

Lupin beugte sich zu seinem Begleiter. »Sag mir, Gilbert, ist dieser Dreh dein Einfall oder stammt er von Vaucheray?«

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht mehr; wir haben schon wochenlang darüber gesprochen und nachgedacht.«

»Ich frage nur, weil ich Vaucheray nicht so recht vertraue. Er ist ein übler Kerl, wenn man ihn richtig kennenlernt. Ich verstehe selbst nicht so recht, warum ich ihm nicht längst schon den Laufpass gebe …«

»Aber Chef!«

»Na, es ist doch wahr; er ist ein gefährlicher Bursche und hat schon so manche schlimmen Dinge auf dem Gewissen.«

Als er keine Antwort erhielt, schwieg er kurz, bevor er weiter sprach. »Bist du ganz sicher, dass das Daubrecq, der Abgeordnete, war, der wegfuhr?«

»Ich lege die Hand dafür ins Feuer, Chef.«

»Und du bist sicher, er hat eine Verabredung?«

»Er geht ins Theater.«

»Also gut, aber die Dienstboten sind noch immer in der Villa …?«

»Der Koch wurde weggeschickt. Leonard, sein Diener und Vertrauensmann, wartet auf ihn in Paris. Sie werden Paris vermutlich gegen Mitternacht verlassen, aber …«

»Aber was?«

»Wir wissen nicht, ob Daubrecq unerwartet seine Pläne ändert oder früher zurückkehrt. Deshalb ist es angebracht, dass wir alles innerhalb einer Stunde erledigen und verschwinden.«

»Wann hast du das alles erfahren?«

»Heute Morgen. Vaucheray und ich dachten sofort, das ist unsere Chance. Ich erkannte, dass der Garten des im Bau befindlichen Hauses die günstigste Ausgangsstelle ist, weil das Haus nachts nicht bewacht ist. Ich habe zwei Freunde für die Boote eingespannt und Sie angerufen. Das war doch in Ordnung, oder …?«

»Hast du die Schlüssel?«

»Für die Haustür an der Vorderseite.«

»Ist das die Villa, die man von hier sehen kann?«

»Ja, die Villa Marie-Therese. Die beiden anderen, deren Gärten an sie angrenzen, sind seit der letzten Woche unbewohnt. Wir können also alles, was wir wollen, in Ruhe mitnehmen, und ich schwöre, Chef, es wird sich lohnen.«

»Das klingt alles zu einfach«, murmelte Lupin. »Kein Risiko, kein Spaß.«

Sie landeten an einer kleinen Bucht, von der ein paar überdachte Stufen zum Garten führten. Lupin kam zu der Überzeugung, es stellte kein großes Problem dar, die Möbel in die Boote zu laden.

Doch plötzlich flüsterte er: »Da ist jemand in der Villa! Schau … da ist Licht!«

»Das ist nur das Gaslicht im Eingang, Chef. Das Licht brennt zu gleichmäßig.«

Grognard blieb bei den Booten, mit der Anweisung, die Augen offen zu halten, während LeBallu, der andere Ruderer, zu der Pforte an der Avenue de Ceinture eilte. Lupin und seine Begleiter huschten zu den Schatten der Villa. Gilbert schlich zur Tür und tastete in der Dunkelheit herum, bis er das Schlüsselloch fand. Einen Augenblick später öffnete er die Tür und sie traten ein. Ein Gaslicht flackerte in der Halle.

»Sehen Sie, Chef«, sagte Gilbert triumphierend.

»Ja, ja«, erwiderte Lupin flüsternd, »aber ich meinte, das Licht kam nicht von hier.«

»Woher sollte es dann kommen?«

»Das kann ich nicht sagen. Ist das hier der Salon?«

»Nein«, antwortete Gilbert, der seiner Sache so sicher war, dass er laut sprach. »Vorsichtshalber befindet sich alles von Wert im ersten Stock. In seinem Schlafzimmer und den beiden angrenzenden Zimmern.«

»Und wo ist die Treppe?«

»Rechts, hinter dem Vorhang.«

Lupin streifte den Vorhang zur Seite, als sich plötzlich vier Stufen höher eine Tür öffnete. Ein bleiches Männergesicht mit erschrockenen Augen erschien.

»Hilfe! Mörder!«, schrie der Mann und rannte in das Zimmer zurück.

»Das ist Leonard, der Diener!«, rief Gilbert.

»Wenn er Lärm macht, bring ich ihn um«, knurrte Vaucheray.

»Du wirst ihm kein Haar krümmen, hörst du mich, Vaucheray!«, befahl Lupin und hetzte hinter dem fliehenden Diener her. Vor ihm lag das Speisezimmer, wo eine Lampe, Teller und eine Flasche auf dem Tisch angerichtet waren. Leonard hatte sich in die Speisekammer geflüchtet, wo er vergeblich versuchte, das Fenster zu öffnen.

»Halt! Rühr dich nicht sonst …«

Lupin warf sich zu Boden, als er sah, dass der Diener den Arm hob. Drei Schüsse hallten in der Speisekammer wider, bevor Lupin ihn bei den Beinen packte, so dass der Gegner zu Boden fiel. Mit einem Griff riss er die Waffe aus der Hand des Dieners und packte ihn an der Kehle.

»Erschießen willst du mich, du Lump!«, grollte er. »Beinahe hättest du mich erwischt. Vauchery, sorg’ dafür, dass er keinen Unsinn anstellt.«

Er ließ die Taschenlampe aufblenden und beleuchtete Leonards Gesicht, bevor er lächelte.

»Nicht eben die schönste Visage und wahrscheinlich auch nicht das beste Gewissen, wenn du für Daubrecq arbeitest. Vaucheray, worauf wartest du noch? Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

»Es besteht keine Gefahr, Chef«, erklärte Gilbert.

»Wirklich? Glaubst du, niemand hat die Schüsse gehört?«

»Unmöglich.«

»Selbst wenn das stimmt, müssen wir uns beeilen. Vaucheray, bring die Lampe. Wir gehen nach oben.«

Er nahm Gilbert am Arm und zog ihn nach draußen.

»Du Idiot!«, sagte er vorwurfsvoll. »Ist das deine Art den Dreh auszukundschaften? Waren meine Zweifel nicht berechtigt?«

»Tut mir leid, Chef. Aber ich konnte doch nicht wissen, dass er seine Pläne änderte und zurückkam, um zu essen.«

»Man muss alles genau wissen, wenn man die Ehre hat, in anderer Leute Häuser einzubrechen, du Dummkopf. Ich werde mich an dich und Vaucheray erinnern … großartiges Paar vom Fach …«

Doch der Anblick der Möbel und Bilder im Speisezimmer besserte seine Laune. Er begann seine Inventur mit der Leidenschaft eines Sammlers auf der Suche nach wertvollen Kunstwerken.

»Großer Gott! Nicht sehr viel, aber alles erstklassig. Drei Stiche von Gouttieres … ein echter Fragonard und ein falscher Nattier, für den so mancher amerikanischer Millionär ohne Fragen ein Vermögen zahlt. Und da gibt es Meckerer die behaupten, man findet nur noch gefälschte Kunstwerke! Sie sollten meinem Beispiel folgen und sich genauer umsehen.«

Gilbert und Vauchery folgten seinen Anweisungen, um die größeren Möbel zu entfernen. Das erste Boot war innerhalb einer halben Stunde voll bepackt, und es wurde beschlossen, dass Grognard und LeBallu alles in den wartenden Wagen schaffen sollten.

Nachdem die beiden Ganoven ihre Fahrt mit dem schwer beladenen Boot begonnen hatten, kehrte Lupin zum Haus zurück. Kaum hatte er die Halle betreten, kam es ihm so vor, als hörte er eine Stimme von der Speisekammer her. Beunruhigt eilte er ihr nach und fand Leonard auf dem Bauch liegend am Boden, allein, die Hände auf dem Rücken gefesselt.

»Was brummst du denn vor dich hin? Reg’ dich nicht auf! Wir sind bald fertig. Aber wenn du zu viel Lärm machst, sehe ich mich gezwungen, dir das Maul zu stopfen. Es hört dich sowieso niemand.«

Als er wieder die Treppe hinaufstieg, hörte er die Stimme erneut. Er blieb stehen und lauschte auf die Worte der heiseren, verzerrten Stimme. Sie kam zweifellos aus der Speisekammer.

»Hilfe … Mörder … Sie werden mich umbringen … informiert die Polizei.«

»Der Kerl ist total verrückt«, murmelte Lupin. »Die Polizei um neun Uhr zu stören, ist der Gipfel seiner Hoffnungen, selbst wenn sie ihn hören sollten.«

Er machte sich wieder an die Arbeit. Sie dauerte länger als erwartet, denn sie fanden mehrere wertvolle Gegenstände in den Schubladen, die sie nicht zurücklassen wollten. Vaucheray und Gilbert suchten in der Zwischenzeit mit kaum nachvollziehbarem Eifer weiter.

Endlich war es vorbei mit seiner Geduld.

»Das reicht!«, entschied er. »Wir gehen nicht das Risiko ein, länger zu bleiben. Die besten Stücke haben wir schon. Macht Schluss! Wir verschwinden.«

Sie hatten schon das Seeufer erreicht, als ihn Gilbert zurückhielt.

»Chef, wir wollen noch ein paar Minuten lang suchen. Fünf Minuten, nicht länger.«

»Wieso denn, verflucht noch mal?«

»Also, Chef, wir haben gehört, es soll da noch ein Reliquien-Kästchen vorhanden sein, sehr alt und herrlich.«

»Und?«

»Wir haben es nicht gefunden und mir ist eingefallen, da ist noch ein Schrank mit einem großen Schloss in der Speisekammer. Ich will nur noch schnell nachschauen, ob das stimmt.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte zu der Villa zurück. Vaucheray war ihm hart auf den Fersen.

»Zehn Minuten«, rief ihnen Lupin nach. »Keine Sekunde länger. Danach verschwinde ich.«

Die zehn Minuten vergingen und er blickte seine Uhr.

»Viertel nach neun«, murmelte er. »Das ist doch Wahnsinn.«

Er erinnerte sich daran, dass Gilbert und Vaucheray sich recht sonderbar benommen hatten, als sie die Beute gesammelt hatten. Es war, als hätten sie wenig Vertrauen zueinander gehabt. Was war da im Gange?

Lupin kehrte voller Unruhe zum Haus zurück, obwohl er sich nicht erklären konnte, was da nicht stimmte. Gleichzeitig lauschte er auf die Geräusche die von Enghien her zu kommen schienen. Vielleicht waren es nur Leute, die einen nächtlichen Spaziergang machten, hoffte er.

Er pfiff kurz eine Warnung, bevor er zur Gartenpforte eilte, um die Avenue zu inspizieren. Doch als er schon das Tor öffnen wollte, vernahm er einen Schuss vom Haus her, gefolgt von einem Schmerzensschrei. Er fuhr herum, rannte mit langen Sätzen zum Haus und stürzte die Treppe hinauf zum Speisezimmer.

»Was, zum Teufel, ist hier los? Seid ihr wahnsinnig?«

Gilbert und Vaucheray rollten eng umschlungen und fluchend am Boden herum, von Blut besudelt und ohne seine Gegenwart wahrzunehmen. Lupin sprang hinzu, um sie zu trennen, doch Gilbert hatte bereits die Oberhand gewonnen und riss einen schattenhaften Gegenstand aus der Hand seines Gegners. Vaucheray, der aus einer Wunde an der Schulter blutete, stöhnte noch einmal, bevor er das Bewusstsein verlor.

»Hast du ihn angeschossen, Gilbert?«, stieß Lupin beschuldigend hervor.

»Nicht ich, sondern Leonard.«

»Leonard? Wie denn? Er war doch gefesselt!«

»Er hat sich irgendwie befreit und seinen Revolver gefunden.«

»Der Halunke! Wo ist er?«

Lupin nahm die Lampe und eilte zur Speisekammer.

Der Diener lag auf den Rücken, die Arme ausgebreitet. Ein Messer ragte aus seiner Kehle, und ein dünner Blutfaden tröpfelte noch immer von seinem Mundwinkel herab.

»Verflucht!«, stieß Lupin hervor. »Er ist tot.«

»Sind Sie sicher? Ganz sicher?«, stammelte Gilbert mit verzerrter Stimme.

»Er ist tot, keine Zweifel.«

»Es war Vaucheray. Vaucheray hat ihn umgebracht.«

Lupin bebte voller Zorn, als er Gilbert an der Schulter packte.

»Vaucheray war es, behauptest du und willst unschuldig sein? Du warst dabei und hast nichts unternommen, um seinen Tod zu verhindern. Du weißt, ich erlaube keine Gewalttaten. Na, es sieht verdammt übel für dich aus, mein Junge. Die Guillotine winkt dir schon!«

Er schüttelte den Jüngeren mit unkontrollierbarem Zorn.

»Warum? Weshalb hat er ihn umgebracht?«

»Er wollte seine Taschen durchsuchen und ihm den Schlüssel zum Schrank wegnehmen. Als er sich über ihn beugte, sah er, dass der Diener die Arme befreit hatte und griff zum Messer. Er bekam es mit der Angst zu tun und alles geschah so rasch, dass ich nichts unternehmen konnte.«

»Aber ich habe doch einen Schuss gehört!«

»Das war Leonard … er hatte den Revolver in der Hand und gerade noch genug Kraft, um den Finger zu krümmen, bevor er starb.«

»Und der Schrankschlüssel?«

»Vaucheray nahm ihn an sich …«

»Öffnete er den Schrank?«

Gilbert nickte.

»Und fand er, was ihr beide gesucht habt?«

»Ja.«

»Und du wolltest ihm seinen Fund wegnehmen? Was für ein Ding war es denn überhaupt? Das Reliquien-Kästchen? Nein, es war zu klein, um das zu sein. Was war es also? Raus damit! Hörst du!«

Gilberts Gesicht verriet, dass er die Wahrheit nicht so leicht preisgeben würde.

»Ich warne dich!«, rief Lupin und schüttelte einen anklagenden Finger. »So wahr ich Lupin heiße, komm ich dahinter. Aber jetzt ist es wichtiger, dass wir schleunigst verschwinden. Hilf mir, wir müssen Vaucheray zum Boot schaffen. Die Wahrheit muss bis später warten …«

Sie waren zum Speisezimmer zurückgekehrt, und Gilbert beugte sich über den Verletzten, als ihn Lupin bei der Schulter packte.

»Hörst du das?«

Sie blickten einander bestürzt an. Jemand sprach in der Speisekammer, eine tiefe, verzerrte Stimme, die weit entfernt klang. Sie eilten dorthin, aber es befand sich niemand in der Kammer, außer dem Toten.

Und wieder konnten sie die Stimme hören, schriller diesmal, erregt und furchtsam. Die Worte waren verzerrt, unverständlich.

Lupin spürte den Schweiß, der sich auf seiner Stirn bildete. Es war, als ob die verworrene, geisterhafte Stimme aus einem Grab stammte. Ein kaltes Schaudern lief über seinen Rücken.

Er zwang sich dazu, sich über den Toten zu beugen. Die Stimme schwieg ein paar Sekunden lang, dann begann sie wieder.

»Licht!«, befahl er.

Er begann zu zittern, erfüllt von einer unerklärlichen Panik, deren er nicht Herr wurde, denn als Gilbert den Lampenschirm entfernte, war ihm klar, dass die Stimme von der Leiche stammte, auch wenn der Tote keine Bewegung der Lippen oder des Körpers zeigte.

»Chef, ich habe Angst«, gestand Gilbert.

Es war, als antwortete die geisterhafte Stimme in einem unverständlichen Flüstern.

Plötzlich lachte Lupin erleichtert auf und rollte die Leiche zur Seite.

»Ha! Habe ich es mir nicht gedacht!« Er griff nach dem Ding aus poliertem Metall, das unter dem toten Diener gelegen hatte. »Hat lang genug gedauert, bis ich dahinter gekommen bin.«

Was er in der Hand hielt, war der Telefonhörer, dessen Kabel zu dem Apparat führte, der an der Wand hing.

Lupin hielt ihn an das Ohr. Stimmen wurde laut, diesmal jedoch ein Gewirr, als sprachen mehrere Menschen auf einmal, Fragen, Ausrufe, verwirrte Anweisungen: »Hallo! Sind Sie am Apparat! Sprechen Sie doch … Nichts … Er antwortet nicht … Sie müssen ihn umgebracht haben … Hallo! … wenn Sie hören … Hilfe ist unterwegs … Polizei … Soldaten … Hallo …!«

»Verflucht!«, sagte Lupin und ließ den Hörer fallen.

Die Wahrheit dämmerte ihm mit erschreckender Klarheit. Gleich am Anfang, als sie damit beschäftigt gewesen waren, die Beute wegzubringen, musste Leonard, dessen Fessel wohl nicht sicher genug gewesen waren, sich irgendwie hochgerappelt haben.

Vielleicht hatte er die Zähne benützt, um den Hörer abzuheben und die Telefon-Zentrale in Enghien von seiner Not zu benachrichtigen.

Er erinnerte sich noch an dessen Worte, nachdem das erste Boot abgefahren war: »Hilfe … Mörder … sie werden mich umbringen …«

Und das war das Resultat. Die Polizei war hierher unterwegs. Er dachte an die Geräusche, die er noch vor kurzer Zeit im Garten vernommen hatte. Vielleicht waren die Rechtshüter schon hier?

»Polizei! Nimm die Beine unter den Arm!«

»Und Vaucheray?«, fragte Gilbert verwirrt.

»Wir können ihm nicht helfen. Tut mir leid.«

Doch Vaucheray, der gerade wieder zu Besinnung gekommen war, flehte ihn an, als er schon zur Treppe laufen wollte.

»Lass mich nicht zurück, Chef.«

Lupin hielt trotz der drohenden Gefahr an und half dem Verwundeten, sich aufzurichten. Sogar Gilbert beugte sich herunter, bevor von der Tür her ein lautes Hämmern ertönte.

»Zu spät!«, rief er.

Jetzt krachte es auch schon an der Rückseite des Hauses. Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah eine Anzahl dunkler Schatten, die das Haus umzingelten. Selbst wenn es ihm wie durch ein Wunder gelang, das Haus zu verlassen, er konnte niemals das Seeufer unentdeckt erreichen.

Er versperrte die Tür und schob den Riegel vor.

»Wir sitzen in der Falle, und jetzt geht es uns an den Kragen!«, flüsterte Gilbert.

»Sei still!«, ermahnte ihn Lupin.

»Aber sie haben uns schon gesehen, Chef. Da, sie klopfen schon!«

»Sei still!«, wiederholte Lupin. »Kein Wort! Keine Bewegung!«

Er selbst erschien vollkommen gelassen, wie ein Mensch, der seine Lage ganz genau überdacht hatte und wusste, was zu tun war. Er war, wie er es nannten, auf dem ‘Gipfel seines Bewusstseins’, in einem Zustand, in dem sich die ganze Erfahrung und Gerissenheit, die er besaß, kumulierte. Wie immer in einer drohenden Lage, begann er lautlos und langsam zu zählen – »Eins … Zwei … Drei … Vier … Fünf … Sechs …« bis sein Herzschlag wieder normal und ruhig war. Nun war er bereit, sein Problem mit Schnelligkeit, Bedacht und kühlem Verstand zu analysieren. Alle Faktoren dieser Krise wurden plötzlich klar.

Er sah seine Zukunft. Er verstand alles. Und er sah die Lösung mit all seiner Logik und aller Gewissheit.

Nach etwa einer halben Minute, während die Männer draußen an die Türen hämmerten und ihre Schlösser bearbeiteten, sagte er zu seinem Begleiter: »Folge mir!«

Sie kehrten zum Speisezimmer zurück, wo er die Vorhänge zur Seite schob und vorsichtig das Fenster öffnete. Unter ihm war eine Gruppe von Menschen, die sich ständig vergrößerte, so dass an Flucht nicht zu denken war.

Er beugte sich nach draußen und rief mit atemloser Stimme: »Hierher! Ich habe sie! Kommt schnell!«

Er hob seinen Revolver und feuerte zwei Schüsse in die Baumwipfel. Dann beugte er sich über Vaucheray und beschmierte sein eigenes Gesicht und die Hände mit dessen Blut. Dann fuhr er herum und packte Gilbert, um ihn mit aller Gewalt zu Boden zu schleudern.

»Was machst du, Chef! Das ist doch …«

»Sei ruhig und lass mich tun, was notwendig ist«, befahl Lupin eindringlich. »Ich kümmere mich um alles und um euch beide. Sei still, was immer ich auch tue oder sage. Ich erspare euch beiden die Gefängnishaft, aber um das fertig zubringen, muss ich frei bleiben.«

Von unter dem Fenster klangen erregte Stimmen herauf.

»Hierher!«, rief er. »Ich habe sie. Ich brauche Hilfe!«,

Und leise, zu Gilbert gewandt: »Denk genau nach. Hast du mir etwas zu sagen? Etwas das uns helfen kann?«

Gilbert war zu verwirrt, um Lupins Absichten zu erkennen und bäumte sich verzweifelt hoch. Vaucheray zeigte mehr Verständnis und dank seiner Verwundung erkannte er, dass er niemals entkommen konnte. So zischte er: »Lass den Chef tun, was er will, du Idiot! Solang er nicht verhaftet wird, kann er uns vielleicht helfen. Das ist unsere einzige Chance.«

Plötzlich erinnerte sich Lupin wieder an den kleinen Gegenstand, den Gilbert seinem Genossen entrissen hatte. Er durchsuchte mit einer Hand die Taschen des jüngeren Diebes.

»Nein, nicht das, das gehört mir!«, japste Gilbert und riss sich los.

Lupin drückte ihn mit aller Kraft auf den Boden, gerade als zwei Männer an der Tür erschienen. Gilberts Widerstand erschlaffte und Lupin spürte, wie eine Hand einen Gegenstand gegen seine Finger presste. Er packte ihn und ließ ihn in der eigenen Tasche verschwinden, als Gilbert flüsterte: »Nimm es, Chef. Ich erkläre alles später.«

Er hatte keine Zeit, um mehr zu sagen, denn plötzlich war der Raum voller Polizisten, Soldaten und Zivilisten, die durch die Tür strömten und Lupin zu Hilfe kamen. Gilbert war der Erste, dem die Handschellen angelegt wurden, und Lupin richtete sich auf.

»Gott sei Dank, dass ihr gekommen seid«, sagte er mit gespielter Erleichterung. »Der Bursche hat mich viel Mühe gekostet. Ich habe den anderen verletzt aber der …«

»Haben Sie den Diener gesehen? Haben sie ihn getötet?«, fragte der Kommissar.

»Ich habe keine Ahnung.«

»Keine Ahnung …?«

»Ich kam doch mit dem Aufgebot aus Enghien, als der Alarm eintraf. Bin dann sofort um das Haus gelaufen und durch ein offenes Fenster gestiegen. Keinen Augenblick zu früh, denn die Verbrecher standen im Begriff zu verschwinden. Ich habe einen angeschossen, bevor mich der andere da ansprang.«

Er hoffte, das wilde Durcheinander und seine Blutflecken untermauerten seine Erklärungen. Die Ankunft der Polizei hatte so manche Leute aus der Umgebung angelockt, so dass die Rettungsaktion zu einer sinnlosen Panik ausgeartet war. Doch ein halbes Dutzend Leute hatten seinen heroischen Kampf gegen einen Gegner und seine blutbespritzte Erscheinung gesehen, was irgendwelche Zweifel an seiner Erklärung beseitigen würde. Sogar jetzt noch immer rannten fremde Menschen durch das ganze Haus, auf der Suche nach weiteren Übeltätern, so dass eine Überprüfung seiner Angaben erschwert wurde.

Als man dann auch die Leiche des Dieners in der Speisekammer entdeckt, wurde der Kommissar sich endlich seiner Pflichten bewusst. Er befahl seinen Beamten, die Leute aus dem Haus zu schaffen und ließ das Gartentor durch zwei Polizisten bewachen. Dann inspizierte er die Mordstelle und begann seine Untersuchung. Vaucheray gab seine Personalien an, Gilbert weigerte sich mit der Erklärung, er würde jegliche Aussage nur in der Gegenwart eines Rechtsanwaltes abgeben. Aber als er des Mordes beschuldigt wurde, klagte er Vaucheray an, der wiederum sich durch die Denunzierung des Anderen aus der Klemme zu ziehen versuchte. Ihre ständigen Widersprüche erforderten viel Zeit und Fragen. Als der Kommissar sich endlich an Lupin wenden wollte, um seine Bestätigungen zu erhalten, musste er feststellen, dass der Fremde sich entfernt hatte.

Ohne Hintergedanken wandte er sich an einen Polizisten: »Finden Sie den Herrn und sagen Sie ihm, ich hätte noch ein paar Fragen an ihn.«

Die Polizei machte sich auf die Suche nach dem Herrn. Jemand behauptete. Er sei nach draußen gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Dann hörte man, er habe Zigaretten unter den Soldaten verteilt und sei zum Seeufer gegangen, mit der Anweisung, ihn zu rufen, wenn der Kommissar weitere Fragen für ihn hatte.

Sie riefen nach ihm. Niemand antwortete.

Doch dann lief ein Soldat herbei und berichtete, der Herr habe vor kurzer Zeit ein Ruderboot bestiegen und sei längst schon in dem dünnen Nebel über dem See verschwunden.

Der Kommissar starrte Gilbert ernüchtert an und erkannte, dass er zum Narren gehalten worden war.

»Lasst ihn nicht entkommen!«, rief er erzürnt. »Schießt auf ihn, wenn er nicht zurückkehrt! Er ist einer von der Bande.«

Er rannte nach draußen, gefolgt von zwei Polizisten. Der Rest blieb zurück, um die Gefangenen zu bewachen. Als sie das Seeufer erreichten, sahen sie das Boot ganz verschwommen durch den Nebelschleier. Lupin hatte den Hut abgenommen.

Der Wind trug verschwommene Worte zu der kleinen Gruppe. Der Herr sang, während er ruderte.

Ohne zu denken, hob einer der Polizisten die Waffe und feuerte.

Der Kommissar blickte suchend um sich. Der Entfernung war zu groß für einen Schuss. Doch er sah ein kleines Ruderboot, das an einem benachbarten Steg vertäut war. Er befahl den Soldaten, die ihm gefolgt waren, das Ufer zu bewachen und den Flüchtling festzunehmen, wenn er umkehren sollte, bevor er mit seinen Polizisten über eine niedrige Hecke kletterte und zu dem Ruderboot rannte. Atemlos warfen sie sich auf die Ruderplätze und stießen ab, um Lupin zu verfolgen.

Mit zwei Männern an den Rudern war es nicht allzu schwer, dem Fliehenden zu folgen, der Kurs nach rechts – in Richtung des Dörfchens Saint-Gratien – genommen hatten. Dank des leichteren Bootes und der Kraft zweier Männer konnte der Kommissar bald feststellen, dass sich der Abstand zwischen dem Flüchtling und seinen Verfolgern rasch verringerte. Nach zehn Minuten hatten sie schon die Hälfte des Abstands aufgeholt.

»Bald haben wir ihn!«, rief er voller Genugtuung. »Wir kriegen ihn, bevor er landen kann. Ich will mir den Burschen so richtig vornehmen.«

Sonderbarerweise verkürzte sich Distanz zu dem Flüchtenden erstaunlich schnell, fast als habe er eingesehen, dass die Flucht sinnlos war. Die Polizisten legten sich schwer in die Ruder und das Boot schien über das Wasser zu fliegen. Nur noch hundert Meter, dann hatten sie ihn geschnappt, dachte er.

»Halt!«, rief er.

Der Feind, dessen verschwommene Gestalt er vernehmen konnte, bewegte sich nicht mehr. Die Ruder hingen bewegungslos im Wasser. Diese Mangel an Bewegung war sonderbar, beinahe alarmierend. War es möglich, der Verbrecher lag auf der Lauer gegen seine Verfolger mit der Absicht, sie niederzuschießen, bevor sie ihn entwaffnen konnten?

»Ergeben Sie sich!«, rief der Kommissar.

Keine Antwort.

Der Himmel verdunkelte sich und erschwerte die Sicht. Die drei Männer beugten sich ganz tief herunter, um ein kleineres Ziel zu bilden. Es war, als spürten sie die Gefahr, die ihnen drohte.

Ihr eigener Schwung trug sie auf ihr Ziel zu.

»Das muss eine Falle sein«, ahnte der Kommissar. »Er hat eine letzte Chance, dann schießen wir.«

»Ergeben Sie sich … wenn nicht …«

Alles blieb still.

Der Feind bewegte sich noch immer nicht.

»Aufgeben! Sofort! Heben Sie die Hände! Wenn nicht, schießen wir! Eins … zwei …«

Die Polizisten warteten nicht auf das nächste Wort. Sie feuerten beide mehrmals, bevor sie sich in die Ruder legten und das andere Boot rammten.

Der Kommissar richtete sich auf, den Revolver in der Hand.

»Eine falsche Bewegung und Sie sind tot. Das ist die letzte Warnung.«

Doch der Feind rührte sich noch immer nicht, und als die Polizisten das andere Boot zu dem eigenen hinzogen, auf einen harten Kampf vorbereitet, verstand der Kommissar den Mangel an irgendeinem Widerstand. Das Boot war leer! Der Verbrecher war über Bord gesprungen und schwimmend entkommen.

Zur Tarnung hatte er seine Jacke, ein paar Gegenstände des Raubes und den Hut zurückgelassen, Dinge die in der Dunkelheit leicht für eine kauernde Figur gehalten werden konnten.

Beim Schein einer Lampe musterten sie die Kleidungsstücke, die der Flüchtende zurückgelassen hatte. Der Hut wies kein Namensschild auf. Die Jacke enthielt weder Papiere noch ein Notizbuch. Erst als der Kommissar eine unerwartete Entdeckung machte, waren die Schicksale Gilberts und Vaucherays besiegelt. Er blickte auf die Visitenkarte, die in einer Rocktasche gefunden hatte und nun in der Hand hielt … Sie stammte von Arsène Lupin!

***

Fast zur gleichen Zeit, in der die Polizei mit dem leeren Boot im Schlepptau die fruchtlose Suche nach seinem Insassen fortsetzte und die Soldaten am Ufer vergeblich nach dem Geflüchteten Ausschau hielten, erreichte Arsène Lupin still und leise das Seeufer an dem gleichen Ort, den er zwei Stunden zuvor verlassen hatte.

Hier fand er Grognard und LeBallu unruhig wartend vor. Mit ein paar Worten der Erklärung warf er sich in den Wagen zwischen Daubrecqs Stühle und Bilder, wickelte sich in seinen Mantel und drängte zur raschen Abfahrt. Auf verlassenen Landstraßen erreichten sie ungehindert sein Warenlager in Neuilly, wo er ausstieg. Nach einem kurzen Weg fand er ein Taxi, das ihn zu der Kirche Saint-Philippe-du-Roule brachte. Nicht weit von ihr, in der Rue Matignon, befand sich seine Wohnung. Ein privater Zugang durch das Erdgeschoss führte zu ihr, und er atmete erleichtert auf, als er sie erreichte und eintrat.

Als Erstes entledigte er sich seiner nassen Kleidung und rieb sich trocken, denn trotz seiner robusten Konstitution zitterte er vor Kälte. Bevor er zu Bett ging, leerte er seine Taschen und legte ihren Inhalt wie üblich auf den Kaminsims – erst dabei, neben den Schlüsseln und seiner Brieftasche, sah er zum ersten Mal den Gegenstand, den Gilbert im letzten Augenblick in seine Hand gedrückt hatte.

Sein Anblick erweckte Erstaunen und Enttäuschung zugleich. Es handelte sich um einen Kristallstöpsel, ein kleiner Gegenstand, der zum Verschließen von Likör- oder Cognacflaschen diente und bei genauerer Musterung keinen großen Wert darzustellen schien. Das einzig besondere an ihm war der geschliffene Knauf, der als Griff diente und bis zum eigentlichen Stöpsel goldfarben schimmerte. Das allein jedoch schien diesem sonderbaren Gegenstand keinen besonderen Wert zu geben.

»Wie ist es möglich, dass Gilbert und Vaucheray diesem Ding soviel Wert zugeschrieben haben, dass sie sich darüber in die Haare gerieten?«, wunderte er sich. »Seinetwegen kam der Diener ums Leben, kämpften sie miteinander, verschwendeten wertvolle Zeit und riskierten Verhaftung, Verurteilung und vielleicht sogar das Schafott …«

Trotz der aufregenden Ereignisse war er jedoch zu müde, um lang darüber nachzugrübeln. Stattdessen legte er den Stöpsel zu seinen Dingen auf der Kaminumrandung und ging zu Bett.

***

Er träumte, Gilbert und Vaucheray knieten in ihrer Zelle, ihre Hände hilfesuchend nach ihm ausgestreckt, ihre Stimmen angstvoll.

»Hilfe! Hilfe!«, jammerten sie.

Doch er konnte sich nicht rühren. Es war, als würde er von ungesehenen Fesseln niedergehalten. Zitternd beobachtete er die fürchterlichen Vorbereitungen der zum Tode Verurteilten: das Abschneiden der Haare und der Hemdkragen, die Hoffnungslosigkeit in ihren Augen. Es war entsetzlich.

»Heiliger Himmel!«, stieß er hervor, nachdem er endlich aus seinen Alpträumen erwacht war.

»Das sind doch furchtbare Aussichten. Zum Glück bin ich nicht abergläubisch. Außerdem haben wir ja noch immer einen Talisman, der, Gilberts und Vacherays Benehmen nach zu schließen, wohl helfen wird. Das sollte ausreichen, zusammen mit meinen Verbindungen, um das Unheil abzuwenden und sie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Am besten schau ich mir das Ding noch einmal genauer an!«

Er sprang aus dem Bett und eilte zur Kaminumrandung. Dort dann stieß er einen wüsten Fluch aus. Der Kristallstöpsel war verschwunden.

2. KAPITEL: ACHT VON NEUN, BLEIBT EINS

Trotz meiner freundlichen Beziehungen zu Lupin und den vielen vertraulichen Gesprächen zwischen uns bleibt da ein blinder Fleck, eine dunkle Stelle, auf die niemals ein erhellender Lichtstrahl gefallen ist.

Es ist die Organisation seiner Bande.

Dass diese Bande existiert, kann nicht bezweifelt werden. Viele seiner Aktionen können nur durch die Aufopferung, Energie und Einwilligung einer großen Zahl von ergebenen Gefolgsleuten in die treibende Kraft seines Willens erklärt werden. Doch wie werden seine Anordnungen ausgeführt? Durch welche Mittelsmänner und Untergebenen? Diese Frage kann ich nicht beantworten. Lupin behält seine Geheimnisse, und was Lupin für sich behält, ist undurchschaubar.

Ich kann nur annehmen, dass seine Bande zahlenmäßig sehr klein und deshalb umso gefährlicher ist, weil sie von Zeit zu Zeit durch unabhängige, freischaffende Kriminelle und Informanten aus jeder Schicht und Klasse des Landes und der ganzen Welt verstärkt werden kann. Sie sind die Agenten eines ihnen oft unbekannten Zahlmeisters. Sie sind die Werkzeuge, die treuen Anhänger, die Lupins Anweisungen ausführen.

Gilbert und Vaucheray gehörten ganz offensichtlich zu seiner Bande. Und das war auch der Grund dafür, dass die Gesetzeshüter so konsequent gegen sie vorgingen. Endlich hatten sie zwei seiner Komplizen in ihrer Gewalt – identifizierte, auf der Tat ertappt Komplizen, die einen Mord begangen hatten. Sollte dieser Mord geplant gewesen sein und diese Anklage ohne jegliche Zweifel bewiesen werden, so konnte er nur am Schafott gesühnt werden. Ein Beweis war ganz klar vorhanden: der Hilferuf Leonards, der wenige Minuten vor seinem Tod über das Telefon vermittelt worden war.

»Hilfe … Mörder … sie werden mich töten.«

Dieses verzweifelte Flehen war von zwei Beamten gehört worden: dem Telefonisten und seinem Mitarbeiter, und beide legten einen Eid darauf ab. In Konsequenz dieses Anrufes war der Kommissar informiert worden und war sofort mit seinen Beamten und einer Anzahl Soldaten zur Villa Marie-Therese gefahren.

Lupin war sich von Anfang an der Gefahr bewusst, in der er schwebte. Sein Kampf gegen die Gesellschaft hatte somit ein neues und gefährliches Stadium erreicht. Sein Glück hatte ihn verlassen. Es war nicht mehr ein Angriff auf andere, sondern seine Selbstverteidigung und Rettung seiner Mitstreiter.

»Unbestreitbar ist, dass Gilbert und Vauchery mich hinters Licht geführt haben. Der Einbruch in Enghien war zwar als Diebstahl geplant, hatte jedoch einen zweiten – heimlichen – Grund. Dieser Grund trieb sie an, so dass sie während der Durchsuchung der Villa nur nach einem Objekt suchten: dem Kristallstöpsel. Ich muss deshalb als Erstes erforschen, welche Bedeutung darin liegt. Zweifellos gibt es eine Erklärung, weshalb das sonderbare Stück ihrer Meinung nach solch einen unschätzbaren Wert besitzt. Nicht nur ihrer Meinung nach allein, denn in der vergangenen Nacht war jemand so frech und geschickt, meine Wohnung zu durchsuchen und das anscheinend wertvolle Glasobjekt zu stehlen.«

Dieser Diebstahl war ein Rätsel für Lupin. Zwei Probleme, deren Lösung außerordentlich schwierig erschien, erfüllten dabei seine Gedanken. Das Erste war die Frage, wer dieser geheimnisvolle Besucher gewesen war. Gilbert, den er für ganz verlässlich hielt und der als sein Privatsekretär wirkte, war der Einzige, der von der Wohnung in der Rue Matignon Kenntnis hatte. Doch Gilbert saß zurzeit in einer Zelle. War es möglich, dass Gilbert ihn verraten hatte und ihm die Polizei auf den Hals gejagt hatte? Warum hatten die Beamten sich dann mit dem Diebstahl des Kristallstöpsels zufrieden gegeben, ohne ihn zu verhaften?

Etwas stimmte nicht an dieser Theorie: Selbst wenn es den Polizisten gelungen war, die Wohnungstür aufzubrechen – und es gab keine Zeichen dafür – wie waren sie in sein Schlafzimmer gelangt? Er hatte den Schlüssel umgedreht und den Riegel, wie üblich, vorgeschoben. Trotzdem – zweifellos war der Kristallstöpsel verschwunden, ohne dass die Tür geöffnet worden war. Und obwohl Lupin sonst schon durch das leiseste Geräusch geweckt wurde, hatte er nichts bemerkt.

Er zwang sich dazu, nicht länger darüber nachzugrübeln. Diese Fragen würden im Verlauf der Zeit und der kommenden Ereignisse beantwortet werden. Trotzdem war er beunruhigt und beschloss, die Wohnung in der Rue Matignon zuzusperren und nie wieder zu betreten.

Dann erst beschäftigte er sich mit der Frage, wie er mit Gilbert und Vaucheray korrespondieren sollte. Dabei stieß er rasch auf ein Hindernis: Im Gefängnis La Santé und am Gerichtshof war entschieden worden, dass jeglicher Kontakt zwischen Lupin und den Gefangenen resolut verhindert werden musste. Dieser Entschluss der Präfektur und die Maßnahmen zur Verhinderung ihrer Umgehung wurden jeden Beamten und den Wächtern mitgeteilt. Eine Anzahl erfahrener Polizisten erhielten die Aufgabe, Gilbert und Vaucheray auf Schritt und Tritt, Tag und Nacht, zu beobachten.

Lupin, der zu dieser Zeit noch nicht den Gipfel seiner Karriere als Chef der Kriminalpolizei erklommen hatte[1], war deshalb nicht in der Lage, seine Pläne zu verwirklichen. Nach zwei Wochen sah er sich gezwungen, sich geschlagen zu geben. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Zorn und wachsender Unruhe.

»Die Schwierigkeit dieser Probleme«, sagte er öfters halblaut zu sich, »bedeutet nicht das Ende ihrer Auflösung, sondern den Anfang.«

Nur: Wo sollte er beginnen? Wie sollte er eine Lösung finden?

Seine Gedanken beschäftigten sich wieder mit Daubrecq, dem Abgeordneten, dem früheren Besitzer des Kristallstöpsels, der sicherlich dessen Wichtigkeit gekannt hatte. Andererseits blieb die Frage, woher Gilbert so genau Kenntnis über das Leben und Schaffen Daubrecqs gewonnen haben konnte. Wie hatte er seine Schritte beobachtet? Wer hatte ihn darüber informiert, wie und wo Daubrecq die Nacht des Einbruches verbringen würde? Diese Fragen erfüllten Lupin mit Ungeduld.

Daubrecq war sofort nach dem Einbruch in sein Winterquartier in Paris umgezogen und lebte nunmehr in seinem Haus an der linken Seite des kleinen Platzes Lamartine am Ende der Avenue Victor Hugo.

Lupin verkleidete sich als älterer, wohlhabender Herr, der, den Gehstock in der Hand, die Umgebung erkundete, auf den Bänken des Platzes und der Avenue ausruhte oder die Tauben fütterte.

Schon am ersten Tage machte er eine Entdeckung. Zwei Männer, als Arbeiter verkleidet, aber ohne eine erkennbare Beschäftigung, beobachteten offensichtlich ebenfalls das Haus. Verließ Daubrecq sein Heim, so folgten sie ihm; kam er wieder zurück, so waren sie nicht weit hinter ihm. Nachts, wenn die Lichter ausgingen, verschwanden sie.

Doch dann folgte ihnen Lupin – es waren zwei Detektive.

»Nanu!«, sagte er sich. »Das habe ich eigentlich nicht erwartet. Es sieht so aus, als steht Daubrecq ebenfalls unter Verdacht.«

Doch am vierten Tag, bei Anbruch der Dunkelheit, erschienen noch sechs Andere, so dass die Gruppe auf acht Personen anschwoll, die in den dunkelsten Ecken des Platzes auf etwas zu warten schienen. Ein Mann unter ihnen erweckte Lupins Erstaunen. Seine Figur und Benehmen waren ihm bekannt. Es handelte sich um den berühmten Prasville, der frühere Rechtsanwalt, Sportler und Forscher, ein Favorit im Élysée-Palast, der aus geheimnisvollen Gründen als Generalsekretär in das Hauptquartier der Polizei geschleust worden war.

Bei dieser Erkenntnis fiel Lupin plötzlich ein, dass Prasville und Daubrecq zwei Jahre zuvor eine persönliche Auseinandersetzung am Place du Palais-Bourbon gehabt hatten. Es war zu einem großen Skandal gekommen, obwohl niemand den Grund dafür nennen konnte. Prasville hatte seine Sekundanten noch am gleichen Tag zu Daubrecq geschickt, der jedoch ein Duell abgelehnt hatte. Nicht lange danach war Prasville zum Generalsekretär ernannt worden.

»Sehr sonderbar«, murmelte Lupin in Gedanken versunken, während er Prasville weiterhin beobachtete.

Um sieben Uhr entfernte sich die Gruppe in Richtung der Avenue Henri-Martin. Die Gartenpforte rechts des Hauses öffnete sich und Daubrecq erschien. Als er sich zur Rue Taitbout hin begab und dort in die Straßenbahn stieg, folgten ihm zwei der Detektive im letzten Augenblick.

Prasville überquerte sofort den Platz und drückte auf den Klingelknopf. Vom Haus her erschien die Pförtnerin und öffnete das Tor. Nach kurzer Unterredung ließ sie Prasville und seine Begleiter eintreten.

»Eine Hausdurchsuchung«, murmelte Lupin. »Geheim und illegal. Um die Höflichkeit zu wahren, sollte ich ebenfalls eingeladen werden. Meine Gegenwart ist unerlässlich.«

Ohne Zögern ging er auf das Haus zu, dessen Tür nicht geschlossen war, und als die Pförtnerin den Kopf nach draußen streckte, fragte er atemlos, als sei er zu spät gekommen.

»Sind die Herren schon bei ihrer Aktion?«

»Ja, sie sind im Arbeitszimmer von Monsieur.

---ENDE DER LESEPROBE---