artgerecht – Das andere Schulkinder-Buch - Nicola Schmidt - E-Book
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artgerecht – Das andere Schulkinder-Buch E-Book

Nicola Schmidt

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Beschreibung

Der neue Band der erfolgreichen »artgerecht«-Reihe!

Die Zeit zwischen Kleinkind und Pubertät ist unendlich wertvoll! Jetzt stellen wir Eltern wichtige Weichen und vermitteln unseren Kindern Dinge, von denen sie ein Leben lang profitieren werden. Egal ob Lernen, Freunde, Selbstständigkeit, Medien, Schlafen oder Essen – Erziehungsexpertin und Bestsellerautorin Nicola Schmidt schildert humorvoll, wissenschaftsbasiert und inspirierend, wie wir diese Lebensphase artgerecht und bindungsorientiert gestalten, sodass sich nicht nur Körper und Gehirn optimal entwickeln, sondern auch der Alltag läuft. Ein unverzichtbarer Begleiter und ein Muss für alle Fans der erfolgreichen »artgerecht«-Reihe!

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Seitenzahl: 453

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»Wie wir mit unserem Schulkind in den turbulenten Jahren zwischen Kleinkindzeit und Pubertät umgehen, ist der Schlüssel für die Beziehung, die wir später mit diesem Kind haben werden.«Nicola Schmidt

Die Zeit zwischen Kleinkind und Pubertät ist unendlich wertvoll! Jetzt stellen wir Eltern wichtige Weichen und vermitteln unseren Kindern Dinge, von denen sie ein Leben lang profitieren werden. Egal ob Lernen, Freunde, Selbstständigkeit, Medien, Schlafen oder Essen – Erziehungsexpertin und Bestsellerautorin Nicola Schmidt schildert humorvoll, wissenschaftsbasiert und inspirierend, wie wir diese Lebensphase artgerecht und bindungsorientiert gestalten, sodass sich nicht nur Körper und Gehirn optimal entwickeln, sondern auch der Alltag läuft. Ein unverzichtbarer Begleiter und ein Muss für alle Fans der erfolgreichen »artgerecht«-Reihe!

Nicola Schmidt ist Wissenschaftsjournalistin und mehrfache SPIEGEL-Bestsellerautorin. Sie hilft Eltern, sich selbst als Mensch zu entdecken und so ihre Kinder besser zu verstehen. Als Gründerin des artgerecht-Projekts schult sie international Fachleute zu bindungsorientierter Erziehung. Nicola ist zweifache Mutter, ihre Bücher wurden in sieben Sprachen übersetzt.

www.artgerecht-projekt.de

Nicola Schmidt

artgerechtDas andere Schulkinder-Buch

Selbstständigkeit fördernGut durch den Schulalltag kommenDie spannenden Jahre zwischen 6 und 12

Illustriert von Claudia Meitert

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2024 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ralf Lay

Umschlag: FAVORITBUERO, München

Umschlagmotiv: Monkey Business Images/Shutterstock.com

Foto Nicola Schmidt: Diptica.com

Illustrationen: Claudia Meitert

Satz: Nadine Clemens, München

E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-28202-8V001

www.koesel.de

Inhalt

Artgerecht?!

Kleine Jäger und Sammler in der Schule•Perfekte kleine Wildniskinder

Artgerecht Schulkind sein

So geht’s: Schulkinder verstehen in drei Schritten

Schritt 1: Ein Gehirn wie ein Kinderzimmer•Schritt 2: Hormone als Unruhestifter•Schritt 3: Vorbereitet sein auf den Sturm

Umgang im Alltag: Wie wir unsere Kinder erreichen

Hätten Sie’s gewusst?

Falsche Erwartungen

Das sagt die Wissenschaft

FAQ

Artgerecht lernen

So geht’s: Wie wir die richtigen Entscheidungen treffen

Der passende Zeitpunkt zur Einschulung•Wie finde ich eine geeignete Schule für mein Kind?

Den Schulstart begleiten

Auf die Sozialkompetenz des Kindes vertrauen•Beispiel Hausaufgaben

So lernt sich’s gut

Wie Kinder lesen lernen•Lesen lernen mit Hund•Hilfe, mein Kind liest nur Comics!•Wie Kinder rechnen lernen•Wie Kinder schreiben lernen

Wie mein Kind Misserfolge besser verkraftet

Interview mit Herbert-Renz Polster: »Schulkinder wachsen durch Erfahrungen«

Interview mit Bettina Schwarz: »Ihr Kind ist nicht faul!«

Hätten Sie’s gewusst?

Falsche Erwartungen

Das sagt die Wissenschaft

FAQ

Artgerecht Freunde finden

So geht’s: Heißen wir die Freunde unserer Kinder willkommen!

Warum Freunde wichtig sind•Was Freunde unseren Kindern geben können•Wie unsere Kinder Freunde finden•»Mit dir spiel ich nicht mehr!« – Konflikte lösen•Mit ungesunden Freundschaften umgehen

So finden schüchterne Kinder Freunde

Klären wir erst: schüchtern oder introvertiert?•Schüchterne Kinder unterstützen•Wenn Kinder keine Freunde finden

Mit Gruppendruck umgehen

Interview mit Nora Imlau: »Wenn Kinder schwer Freunde finden, ist das definitiv kein Elternversagen!«

Hätten Sie’s gewusst?

Falsche Erwartungen

Das sagt die Wissenschaft

FAQ

Artgerecht Medien nutzen

So geht’s: Medienkompetenz erwerben

Ein Ende finden lernen•Medien nutzen statt konsumieren•»Minecraft« als Schulfach

Wann Mediennutzung ungesund wird

»Sucht«verhalten•Kurzsichtig durch Smartphone und Tablet?•Influencer und soziale Medien•TikTok, YouTube & Co.

Spannend und klischeefrei lesen

Interview mit Leonie Lutz: »Regeln sind Schutz«

Hätten Sie’s gewusst?

Falsche Erwartungen

Das sagt die Wissenschaft

FAQ

Artgerecht essen und schlafen

So geht’s: Essen für Schulkinder

Das Brotdosen-Dilemma•Essen, um mich besser zu fühlen

Body Positivity – den eigenen Körper lieben

Ist mein Kind übergewichtig?•Was können wir tun?•Mädchen vor sexualisierten Körperbildern schützen

So geht’s: Schlafen für Schulkinder

Gesunde Schlafhygiene für Schulkinder•Abendrituale für Schulkinder•Wie wir Albträume in den Griff kriegen•Trockene Nächte

Interview mit Jenny Böhme: »Fertigprodukte sind nicht schlecht«

Hätten Sie’s gewusst?

Falsche Erwartungen

Das sagt die Wissenschaft

FAQ

Artgerecht denken lernen

So geht’s: Wie Kinder denken lernen

Zuhören lernen•Ist das ein guter Moment?•Einen Plan machen•Mit Enttäuschungen umgehen lernen•Denkruhe für Kinder

Schulkinder und Naturverbindung

Unlearn Ungleichheit

Schulkinder und die Klimakrise

Wie wir mit Kindern übers Klima reden•Klimaglück für morgen

Kleine Aktivisten und Zivilcourage

Armut und Chancenungleichheit•News, Fake News oder besser Good News?•Diversität sichtbar machen

Was Kinder können sollten

Nicht unterschätzen!•Wie wir mit Kindern sprechen

Hätten Sie’s gewusst?

Falsche Erwartungen

Das sagt die Wissenschaft

FAQ

Artgerecht mit Geld umgehen

So geht’s: Wie Kinder lernen, für sich zu sorgen

Unsere Glaubenssätze prüfen •Finanzen sinnvoll planen•Verbindlichkeit oder Vermögen?

Interview mit Claudia Müller & Isabell Sorg: »Räumt eure Glaubenssätze auf!«

Hätten Sie’s gewusst?

Taschengeldempfehlung des Bundes für Schulkinder

Falsche Erwartungen

Das sagt die Wissenschaft

FAQ

Artgerecht Familie sein

So geht’s: Gemeinsam leben, spielen, lachen

Gemeinsam lachen•Gemeinsam spielen

Gemeinsam leben – Kinder helfen im Haushalt

Haushalt als Selbstwirksamkeitstraining•Aufräumen will gelernt sein•Ordnung und Platz für Schulkinder•Wenn die Kinder keine Lust zu alldem haben

Hätten Sie’s gewusst?

Falsche Erwartungen

Das sagt die Wissenschaft

FAQ

Artgerecht groß werden

So geht’s: Erste Schritte in die Pubertät

Zahnspange ohne Stress•Körperpflege für Anfänger•Pickel•Überall Haare!•Die erste Menstruation

Sexualität, Liebe und Identität

Was Eltern über LGBTQIA+ wissen sollten•Bienchen, Blümchen und Sexualität

Missbrauchsprävention

Mein Körper ist mein Körper•Übergriffen vorbeugen•Wie erkenne ich Missbrauch?•Noch »Doktorspiele« oder schon sexueller Übergriff?

Interview mit Mareike Brede: »Aufklärung findet im Alltag statt«

Hätten Sie’s gewusst?

Falsche Erwartungen

Das sagt die Wissenschaft

FAQ

Nachwort

Danksagung

Anmerkungen

Register

Artgerecht?!

Es kam der Tag, an dem ich zum ersten Mal ein Schulbrot in den neuen Ranzen packte, die ordnungsgemäß eingekauften Stifte und Hefte fein säuberlich sortierte und dachte: »Geschafft! Jetzt wird es cool!« Ich glaubte tatsächlich, ich könnte mich nun wieder mehr anderen Dingen widmen, da doch das große Kind jetzt in die Schule ging …

Irgendwie hatte ich erwartet, dass die Schule einen großen Teil der Erziehung und Bildung meiner Kinder übernehmen würde und ich nur noch als Begleitperson dabei sein müsste, die hin und wieder ein nettes Wort mit hinreißenden Lehrern wechseln, ihrem schlauen, gestillt-getragen-entspannten, bindungsorientiert mit viel Wildnis aufgewachsenen Kind stolz beim Rechnen zusehen und alle paar Wochen mal ein besonders gelungenes Lunchpaket als Foto auf Instagram stellen würde.

Weit gefehlt.

Als mein erstes Kind in die Schule ging, stellte ich fest, dass es einiges gab, womit ich nicht gerechnet hatte:

Die Kinder sind plötzlich nicht mehr, sondern weniger betreut als zur Kindergartenzeit.Die Betreuungsoptionen wurden nicht besser, sondern in der Qualität deutlich schlechter.Die anfängliche Begeisterung fürs Lernen verflog erstaunlich schnell und machte einem täglichen Kampf mit Hausaufgaben Platz.Was mein Kind von mir brauchte, war zwar weniger körperlich anstrengend, dafür aber sozial komplexer.Schule bringt für manche von uns auch eigene Erinnerungen hoch – und die sind nicht für alle angenehm.Vieles, was jetzt passierte, war überhaupt nicht artgerecht, und wir mussten einen Weg durch Stundenpläne, Schulpflichten und Tagesabläufe für uns finden.Mein Kind wurde in den ersten Monaten nicht selbstständiger, sondern bedürftiger als vorher.Ich musste zwar weniger Plätzchen backen, aber es wurde weiterhin viel Engagement verlangt; und ich musste nach wie vor ständig an besondere Anlässe, Bastelzeug et cetera denken, der Mental Load verstärkte sich eher noch im Vergleich zur Kindergartenzeit.Das Schulsystem in Deutschland ist bestenfalls gutwillig, schlimmstenfalls rückständig.Der Körper meines Kindes veränderte sich, und es kamen nicht nur neue Gerüche dazu.Mein Kind hatte einen viel größeren Radius – was Themen wie Geld, Sicherheit und Umgang mit Freunden und Medien mit sich brachte.Es gab für das jetzt doch ziemlich große Kind plötzlich Regeln wie »Erst Frühstück, dann Tablet – nicht umgekehrt«.

Es ist also Zeit für ein Schulkinder-Buch, das uns hilft, uns, unsere Kinder und manchmal auch die Umwelt möglichst artgerecht durch diesen neuen Lebensabschnitt zu lotsen.

Besonders geholfen hat mir in den jetzt folgenden Jahren das Konzept der britischen Autorin Sarah Ockwell-Smith, die unsere Arbeit als Eltern in »Big Parenting« und »Small Parenting« aufteilt: »Das Leben ist jetzt eine seltsame Dichotomie von großer Elternschaft (mein Begriff für die Erziehung reiferer, körperlich größerer Kinder mit komplexeren Problemen und emotionalen Bedürfnissen) und kleiner Elternschaft (Erziehung kleiner Kinder mit körperlich anstrengenden, aber relativ einfachen Bedürfnissen). Dies ist die Welt des Dazwischen. Die Brücke zwischen zwei Welten. Noch kein vollständiger Teenager, aber auch kein Kind mehr. Die Jahre dazwischen sind bittersüß: der Verlust der frühen Kindheit und doch die Verheißung einer so hellen und offenen Zukunft. Sie trauern um ihre Babytage und genießen gleichzeitig den Nervenkitzel der nahenden Unabhängigkeit. Diese Zeit kann verwirrend sein, nicht nur für Ihr Kind, sondern auch für Sie.«1

Danke, Sarah. Das zu erkennen, war so entlastend. Es erklärte auch, warum mein Schulkind manchmal nicht weniger, sondern mehr Care-Arbeit brauchte als mein Kindergartenkind – und vor allem komplexere.

Aber es ist wichtig, diese Zeit zu investieren; denn Sarah fährt fort: »All das Hin und Her ist charakteristisch für diese Phase: kleine Elternschaft, die sich mit großer Elternschaft vermischt, Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Festhalten und Loslassen. Ihre Offenheit und Unterstützung in diesen Jahren sind der Schlüssel zum Aufbau der Beziehung, die Sie in Zukunft zu Ihrem Kind haben werden.«

Da ist er wieder, der Schmidt’sche Eltern-Energie-Erhaltungssatz:2 Die Energie, die wir jetzt in die Kinder investieren, sparen wir später doppelt und dreifach wieder ein. Denn es sind die letzten Jahre, in denen wir ein Kind erziehen können. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul (1948 – 2019) sagt in seinem BuchPubertät,3 dass wir unsere Kinder erziehen können, bis sie zehn Jahre alt sind. Danach können wir nur noch Orientierung geben, da sein und auf die Grundlagen vertrauen, die wir bis dahin gelegt haben. Wenn Sie dieses Buch nach dem Kleinkindbuch lesen, ist Ihr Kind wahrscheinlich etwas über sechs Jahre alt, und wir haben noch circa vier, fünf Jahre, um die richtigen Weichen zu stellen. Wir beginnen in diesem Buch mit Vorschule und den ersten Schuljahren und schauen bis zum Alter von zwölf Jahren, wenn die Pubertät in der Regel voll eingesetzt hat. In dieser Zeit »dazwischen« sind wir Eltern Vorbilder und Begleiter, aber sie wird viel zu oft vernachlässigt. Wir lesen erst wieder Bücher über Kinder, wenn wir in der Pubertät vor vielen Fragezeichen stehen. Dabei können wir lange vorher schon vieles richtig machen!

Fangen wir also an.

Kleine Jäger und Sammler in der Schule

Das Konzept »Schule« ist entwicklungsgeschichtlich gesehen ziemlich neu. Wenn wir verstehen, was artgerecht für Kinder im Schulkindalter ist, können wir viele ihrer Verhaltensweisen eher verstehen und sie besser auf ihrem Weg unterstützen. Das heißt:

Sie werden besser lernen,sich besser mit ihren Freunden zurechtfinden,besser durch die Schule kommen,und wir können sogar jetzt schon in die Wege leiten, dass sie zum Beispiel als alte Menschen besser für sich sorgen.

Auch für unsere Schulkinder sollten wir deshalb einen Blick in die Stammesgeschichte der Menschheit werfen, um zu verstehen, wie Kinder jahrtausendelang gelebt und gelernt haben.

Gleich zurück zu den Prinzipien des Pleistozäns zu gehen – ist das nicht ein wenig extrem? Ja, definitiv, gleichzeitig hilft es sehr. Denn es zeigt uns, woher wir als Menschen kommen und was uns geprägt hat, da wir etwa 95 Prozent unserer Evolutionsgeschichte als Jäger und Sammler in der Natur lebten.

Zwei Forscher der Universität Cambridge, Nikhil Chaudhary und Annie Swanepoel, haben auf Grundlage der eigenen Beobachtungen des Bayaka-Volkes im Kongo und der umfangreichen Forschungen von Anthropologen, die andere Jäger-und-Sammler-Gesellschaften untersucht haben, deren Leben mit unserem Grundschulalter verglichen und kommen zu dem Ergebnis: »Eine stärkere Berücksichtigung der Kindheit von Jägern und Sammlern kann wirtschaftlich entwickelten Ländern helfen, Bildung und Wohlbefinden zu verbessern.«4

Ich will daher kurz umreißen, wie unsere Kinder im Schulalter (sie sind ja nicht alle Schulkinder) den größten Teil der Menschheitsgeschichte verbracht haben, und zwar von circa 2,1 Millionen Jahren vor Christus bis vor etwa zwölf- bis achttausend Jahren. Gleichzeitig habe ich dieses Buch vollgepackt mit Tipps für unsere Zeit. Denn Schule, Medien, Freunde, Lernen, Schlafen, Essen und letztlich auch Leben finden im Jetzt statt. All das ist leichter, wenn wir wissen, wie es ursprünglich mal gedacht war. Und »ursprünglich« meint eben nicht »vor hundert Jahren«, ursprünglich im Sinne von artgerecht ist das, wofür der Homo sapiens biologisch angelegt ist.

Bei Völkern, die ihre Nahrung und alles, was sie brauchen, direkt aus wilden Ressourcen gewinnen, sind Kinder freier, autonomer und gleichzeitig besser eingebettet in ein deutlich weniger gestresstes Betreuungsnetzwerk.5 Viel Arbeit, die heute wir als Eltern machen, erledigen dort andere Menschen.

Also schauen wir einmal kurz, wofür unsere Kinder ursprünglich gemacht waren – wie immer lösen sich schon dadurch viele Probleme, die wir heute sehen, von selbst.

Perfekte kleine Wildniskinder

Ich bin mir bewusst, dass Kinder, die in Jäger-und-Sammler-Gesellschaften aufwachsen, in einer ganz anderen Umgebung und unter ganz anderen Umständen leben als unsere Kinder in Industrieländern. Und sie sind mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert, die es in Industrieländern nicht gibt – wir dürfen diese Kindheiten also nicht idealisieren. Jäger und Sammler sind auch keine »lebenden Fossilien«, sondern moderne Bevölkerungen mit einer einzigartigen Kultur und Geschichte. Dennoch sind sich alle Forschenden einig, dass sie näher an dem Leben sind, für das wir ursprünglich ausgerüstet waren, als wir Menschen in den Industrienationen.

Einige Autoren weisen darauf hin, dass in Jäger-und-Sammler-Gesellschaften nur selten unterrichtet wird und dass Kinder ab dem Kleinkindalter hier hauptsächlich durch Beobachtung und Nachahmung lernen. Ab etwa zwei Jahren verbringen sie große Teile des Tages in altersgemischten Spielgruppen von Kindern bis zu sechzehn Jahren, ohne die Aufsicht von Erwachsenen. Dort lernen sie voneinander und durch aktives Spielen und Erkunden. Viele Autoren sagen, dass hier Lernen und Spielen zwei Seiten derselben Medaille sind, während wir Unterricht und Spiel in der Schule deutlich aufteilen. Die Kinder auf Madagaskar »spielen« zum Beispiel die Jagd auf Kleinsäuger und Reptilien, lernen so, tatsächlich Beute zu machen, und tragen auf diese Weise früh spielerisch zum Lebensunterhalt der Familie bei. Die beobachteten Kinder verbringen die meiste Zeit ohne Erwachsene und spielen frei in altersübergreifenden Gruppen. Lernen geschieht nebenbei, indem Kinder mit besser »ausgebildeten« Gleichaltrigen an sinnvollen, überlebenswichtigen Aufgaben zusammenarbeiten. Erst in den letzten paar Hundert Jahren (und das auch noch nicht überall) ist formale Bildung in die Kindheit eingezogen.6

Natürlich ist das, was die Kinder in diesen Gesellschaften lernen, nicht das, was Kinder in Industrieländern können müssen – wir jagen unser Essen nicht mehr selbst. »Aber Kinder verfügen möglicherweise über bestimmte psychologische Lernanpassungen, die in einigen Aspekten ihrer Schulbildung praktisch nutzbar gemacht werden können«, schreiben die Cambridge-Forscher. »Wenn Peer-Learning und aktives Lernen integriert werden können, steigert sich nachweislich die Motivation und die Leistung und verringert den Stress.«7 Dies könnte unter anderem Kindern mit dem sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) helfen, da körperliche Aktivitäten die Leistung dieser Schüler nachweislich verbessern.

Es ist nicht mein größtes Talent, meinen Kindern gutes Benehmen beizubringen – und ursprünglich war das auch nicht meine Aufgabe, denn das machen ältere Kinder und Großeltern viel besser. Auf diese Menschen hören sie, während sie bei mir eher in den Widerstand gehen. Das deckt sich mit der Erforschung, wie Kinder soziale Normen lernen. Eine Analyse von 77 Veröffentlichungen zeigte, dass die »Weitergabe von Kind zu Kind ein wichtiger Weg ist, wie Kinder kulturelle Normen lernen, und dass Nichteinmischung ein Weg sein könnte, Autonomie zu lehren«.8 Daran sehen wir, wie unsere Konflikte mit Kindern im Grundschulalter zu den Themen »Hausaufgaben« und »Gutes Benehmen« auch daraus resultieren, dass sie sich jetzt eigentlich nach außen orientieren und nicht von uns lernen würden.

Eine andere Forschergruppe wertete 58 Veröffentlichungen aus und stellt fest, dass es bei Jäger-und-Sammler-Kulturen zwar Unterricht gibt, aber sehr viel später: »Gegen Ende der mittleren Kindheit sind die meisten Kinder geübte Nahrungssammler. Doch erst im Jugendalter beginnen Erwachsene (nicht unbedingt die Eltern), den Kindern direkt komplexe Fertigkeiten wie das Jagen und die Herstellung vielseitiger Werkzeuge beizubringen« – sprich: Kinder in unserem Grundschulalter lernen durch Spielen, und alle anderen lernen von anderen Dorfmitgliedern besser als von uns Eltern.9

Ich bin noch aufgewachsen mit dem Satz »Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht«. Im Kontrast dazu beginnen Bayaka-Kinder, mit Macheten zu experimentieren, sobald sie laufen können, und beherrschen sie bereits im Grundschulalter (in dem Video »Baby Eteni« kann man sehen, wie Bayaka-Kinder, ein Baby und ein großes Geschwister, damit umgehen).10 Kinder klettern mithilfe von Lianengurten auf kleine Bäume und lernen auf diese Weise die Techniken der Erwachsenen, die auf hohen Bäumen Honig sammeln. Erwachsene sind in Reichweite, aber es gibt weder formellen Unterricht noch ständige Überwachung durch sie, sondern die Kindergruppe organisiert sich bei den meisten Völkern selbst.

Wir sehen: Das, was wir jahrtausendelang erlebt und wie wir gelernt haben, steht in großem Gegensatz zu unserem heutigen Leben in Häusern, Städten, zu Klassenzimmern in Grundschulen, zu von erwachsenen Lehrern geleiteten Gruppen, zu Zeitplänen, Medien und Musikunterricht, Autositzen und Anschnallgurten, Arztterminen und der Anforderung, »endlich mal still zu sitzen«.

Das sieht man besonders gut, wenn diese beiden Welten aufeinandertreffen: Sobald man Kinder von heute noch als Jäger und Sammler lebenden Gruppen ins formale Bildungssystem steckt, wird es kompliziert.

Eine Studie, die die vorhandene Literatur dazu auswertete, stellte 2022 fest, dass »Jäger-und-Sammler-Kindern oft eine weitreichende persönliche Autonomie zugestanden wird, was im Widerspruch zur autoritären Kultur der Schule steht«.11 Ihre Eltern gehen oft davon aus, dass man das Verhalten von Kindern nicht aktiv steuern sollte, manchmal, weil sie davon ausgehen, es würde das Kind »verderben«, oder weil aus ihrer Sicht eine höhere Macht dafür zuständig sei und nicht die Eltern. Dies steht im Gegensatz zu unserer Norm, in der Kinder ständig durch Erwachsene beaufsichtigt, belehrt und reglementiert werden.

Kinder aus diesen Kulturen spielen am liebsten mit größeren Kindern, machen gern »ihr Ding«, und lernen nach Ansicht ihrer Eltern in der Schule nichts von dem, was sie im Leben wirklich brauchen – das habe ich auch von Eltern in Deutschland schon gehört.

Was können wir tun? Wenn wir besser verstehen, welche Bedürfnisse unsere Kinder haben und wie sie sich entwickeln, woher sie kommen und was sie brauchen, können wir sie besser begleiten. Dann wird plötzlich klar, warum sie keine Hausaufgaben mit uns machen wollen, was hinter ihren für uns unverständlichen Empfindlichkeiten und irrationalen Entscheidungen steckt, warum Schule für viele schwierig ist und wie wir es leichter für sie machen können.

Auch für dieses Buch gilt: Es gibt keine Rezepte. Jedes Kind ist anders. Nur Sie kennen Ihr Kind und wissen, was es braucht. Dieses Buch wird Ihnen den Rücken stärken, damit Sie auch in schwierigen Momenten niemals den Druck der Schule oder von außen zwischen sich und Ihr Kind kommen lassen. Aber ich werde Ihnen nicht sagen können, wann es schlafen gehen soll, welches Instrument es spielen sollte und wie Sie es dazu kriegen, klaglos seine Hausaufgaben zu machen. Sie werden es herausfinden – gemeinsam mit Ihrem Kind.

Artgerecht Schulkind sein

Unsere grundlegende Natur ist rein, bewusst, fröhlich, friedlich, strahlend, liebend und weise (…) – mag sie auch gegenwärtig unter Stress und Sorge, Wut und unerfüllten Sehnsüchten verborgen liegen, so existiert sie doch weiterhin.12

Rick Hanson

Seien wir ehrlich: Wir haben eine globale Klimakrise zu bewältigen, und das Letzte, was wir wollen, sind brave, gut funktionierende Kinder, die klaglos tun, was man ihnen sagt. Wir wollen auch keine Kinder für eine Welt erziehen, die denkt, wir würden es mit noch mehr Wachstum oder mehr Technik oder vielleicht der Besiedelung des Mars doch noch irgendwie schaffen, die Belastung des Planeten ungestraft zu ignorieren.

Stattdessen wollen wir Kinder erziehen, die Mut und Hoffnung in sich tragen, die wissen, dass sie in sich gut sind – oder wie im Zitat von Rick Hanson: »fröhlich, friedlich, strahlend, liebend und weise«. Wir brauchen Menschen, die sich selbst und anderen vertrauen, die es wagen, um die Ecke zu denken, und die genug in sich tragen, um es nicht im Außen kompensieren zu müssen.

Unsere Kinder müssen in Gruppen Konflikte bewältigen und Entscheidungen treffen, gemeinsam mit anderen Projekte durchziehen können und spüren, dass sie Teil eines globalen Ganzen sind. Wir brauchen Kinder, die sich in der Natur zu Hause fühlen und mit ihr statt gegen sie arbeiten, die nicht in Knappheit aufwachsen, sondern in einem Gefühl der Sicherheit, Fülle und Gemeinsamkeit, auch wenn die Zeiten schwierig sind.

Das alles geht besser, wenn wir wissen, was unsere Kinder in diesen Jahren durchmachen – dann können wir es mit ihnen zusammen tun. Wenn unser Grundschulkind »Ist mir alles egal!« durch die Zimmer brüllt, müssen wir erst einmal verstehen, was in dem kleinen Gehirn gerade vor sich geht.

Was ich gern vorher gewusst hätte …

LEA Dass Schulkinder noch genauso viel von uns brauchen wie Kleinkinder, nur völlig anders.

gabirella86 Mich hätte als Mutter interessiert, wie es mit der Hirnentwicklung von Grundschulkindern aussieht. Ab wann kann mensch was verlangen, das Kinder können. Bsp.: Ab wann kann ein Kind seine Hausaufgaben selber organisieren über eine Woche gesehen?

Annegret Dass sich Schulkinder so unterschiedlich entwickeln – was ein Kind kann, muss das andere noch längst nicht können.

So geht’s: Schulkinder verstehen in drei Schritten

Wie ich mir ein Schulkind vorgestellt hatte, habe ich schon andeutungsweise erwähnt: Sie seien verständig und selbstständig, freuten sich aufs Lernen, machten ihre Hausaufgaben, seien in der Schule gut betreut und nachmittags mit ihren Freunden unterwegs. Sie spielten viel an der frischen Luft und würden mit Hingabe ihren Großeltern im Garten helfen.

Ich war nicht darauf vorbereitet, dass sie unempathisch und egoistisch sein würden, dass sie jetzt schon launisch, frech und gleichzeitig unendlich hilfsbedürftig wären. Was geht da vor sich?

Schritt 1: Ein Gehirn wie ein Kinderzimmer

Wie und wann das menschliche Gehirn sich entwickelt, wirkt direkt auf das Verhalten unserer Kinder. Immer wenn ein Bereich gerade »umgebaut« wird, steht er nicht zur Verfügung, und wir denken »Was ist denn jetzt schon wieder los? Gestern ging es doch noch!«.

Wenn wir wissen, welche Bereiche sich gerade verändern, können wir mit uns selbst und unseren Kindern viel nachsichtiger sein – und an den richtigen Stellen die richtigen Weichen stellen. Mit der adäquaten Begleitung entwickeln sich kleine Homo-sapiens-Gehirne ganz hervorragend – wir müssen nur wissen, was sie brauchen.

Ein Schulkind wirkt eigentlich schon in vielen Momenten wie ein ausgewachsener, kleiner Mensch: Es kann reden, laufen, klettern, verstehen, helfen, sich zurücknehmen. Aber der Schein trügt.

In seinen ersten fünf bis sieben Lebensjahren hat unser Kind eine Menge gelernt, und sein Gehirn hat etwa 90 Prozent seiner endgültigen Größe erreicht. Während das Gehirn eines Kleinkinds bereits sehr früh altruistisches, also soziales und rücksichtsvolles Verhalten ermöglicht, dauert es doch noch bis ins sechste Lebensjahr und weit darüber hinaus, bis unsere Kinder so etwas wie Impulskontrolle, moralisches Handeln und analytisches Denken beherrschen. Mit sechs bis zehn Jahren sollten unsere Kinder in der Lage sein, sich in andere hineinzudenken, ihre Absichten zu verstehen und Konflikte ohne körperliche Aggression zu lösen. Wenn es hin und wieder noch passiert, ist das kein Drama, aber bis zum sechzehnten Lebensjahr müssen wir Streit ohne Handgreiflichkeiten lösen können.

Wie funktioniert diese Entwicklung? Wenn wir in das Gehirn unseres Kindes schauen, sehen wir, dass da viele Informationen herumliegen. Manche davon sind nützlich, viele unnütz, aber vor allem liegt alles kreuz und quer; und oft findet es nicht, was es gerade braucht (wie manchmal in seinem Kinderzimmer).

Die Gehirne unserer Babys sind bei der Geburt zwar mit einer Menge Nervenzellen ausgestattet, aber sie sind noch wenig vernetzt. Erst die extrem schnelle Vernetzung der ersten zwei bis drei Lebensjahre führt dazu, dass das Kind lernt, was es in der Kultur und Klimazone lernen muss, in die es hineingeboren wurde. Anfangs vernetzt sich einfach alles und immer und ständig – man weiß ja nie, ob man diese Verknüpfung nicht doch noch mal braucht. Es ist, als würde jemand alles, womit man eventuell spielen könnte, in ein Zimmer werfen und denken: »Vielleicht benötigen wir das irgendwann mal.« Und genau so sieht es dann auch aus: voll, aber unübersichtlich. Der Höhepunkt dieser Entwicklung liegt bei etwa drei Jahren, wenn Kleinkinder dreimal so viele Verknüpfungen (Synapsen) pro Gehirnzelle (Neuron) haben wie Erwachsene. Warum können sie trotzdem nicht Auto fahren und rasten im Supermarkt an der Quengelware aus? Weil noch Chaos herrscht – so ein Gehirn kann vieles lernen, ist aber noch nicht »reif«.

Diese schnelle erste Vernetzung von sonst noch unbenutzten Nervenzellen ist eine praktische Idee der Evolution, da unsere Kinder sich so an fast alles anpassen können, was »draußen« auf sie wartet. Sie bauen ihr Gehirn einfach entsprechend um und sind sehr flexibel. Leider ist ein so hochvernetztes Gehirn aber auch sehr, sehr ineffizient – weil man in dem vollgestopften Zimmer einfach nichts findet.

Darum wird jetzt im späten Kleinkind- und Schulalter aufgeräumt: Was das Kind wirklich braucht, wird ordentlich verstaut, sodass man es auch wiederfindet; der Rest fliegt weg. Zwischen drei und acht Jahren verringert sich die Anzahl der Verbindungen das erste Mal etwa um die Hälfte. Hier lernen die Kinder Empathie, die erste Kontrolle ihrer Impulse, aber auch Motorik und Feinmotorik, Sprechen und so weiter.

Überflüssige Verknüpfungen wieder abzubauen, heißt »Synapseneliminierung«; zusammen mit der Synaptogenese (dem Aufbau neuer Synapsen) wird so die Grundlage für die lebenslange Plastizität, sprich Lernfähigkeit, und Reife des Gehirns geschaffen. Manchmal sage ich fragenden Eltern, dass sie bestimmte Verhaltensweisen nicht verstärken oder belohnen sollen, denn dann verschwinden sie nicht, weil das Gehirn denkt: »Ah, das wird belohnt, das ist wichtig, die Verknüpfung behalte ich!«

Wenn unsere Kinder in diesen Jahren die richtigen Impulse bekommen, entwickeln sie ein effektives soziales Gehirn, das irgendwann auch in stressigen Situationen die angemessenen Entscheidungen trifft.

Der zweite Schub der Synapseneliminierung und Synaptogenese findet in der Adoleszenz statt, besonders stark kurz vor der Pubertät – also in genau dem Zeitraum, um den es in diesem Buch geht. Er ist nicht ganz so stark wie der erste, und wie gesagt vernetzt und optimiert sich das Gehirn eines Kindes auch weiter bis ins 21. Lebensjahr und – etwas langsamer – noch ein Leben lang. Man kann dennoch sagen, dass wir im Schulkindalter wichtige Grundlagen dafür legen, wie unser Kind sein Leben führen wird. Denn im zweiten Schub reift vor allem der Gehirnteil aus, der für die Persönlichkeit unseres Kindes zuständig ist. Wir legen im Schulkindalter damit die »Arbeitsmodelle« an, mit denen es in Zukunft an intellektuelle Probleme, soziale Beziehungen und Konflikte herangehen wird.

Aber das volle Zimmer muss nicht nur »ausgemistet«, sondern auch sortiert werden, sodass man schnell an die Dinge herankommt. Im Gehirn ist es die Myelinisierung der Nervenverbindungen, die dafür sorgt, dass Impulse nicht nur ihren Weg finden, sondern dies auch möglichst schnell. Stellen wir uns die Synapsenverbindungen wie kleine Drähte zwischen den Gehirnzellen vor, dann wäre die Myelinisierung die Isolationsschicht um die Drähte. In diesem Fall besteht sie aus Fetten, die besonders gut von der Muttermilch geliefert werden, möglicherweise neben bestimmten Zuckermolekülen ein Grund für den leicht höheren IQ von Stillkindern. Je besser die Nervenverbindungen myelinisiert, also quasi »geschmiert« sind, desto schneller können sie Impulse weiterleiten – desto schneller findet das Gehirn also, was es sucht, und kann unmittelbarer reagieren.

Eine gute Myelinisierung hat direkte Auswirkungen auf die Motorik und das Denken unserer Kinder. Jedes Mal, wenn sie Grundlegendes lernen, zum Beispiel zu sprechen oder zu laufen, sind die dafür zuständigen Bereiche im Gehirn entsprechend myelinisiert worden. Der letzte Teil des Gehirns, der mit dieser Schicht gut versorgt wird, ist während der Schulkindzeit der Frontallappen, also der Bereich, in dem das rationale und moralische Denken, Analysieren und Planen verortet wird – und die Persönlichkeit.

Daran liegt es, dass unsere Kinder, die schon so schön laufen, sprechen, den Tisch decken und zur Toilette gehen können, oft einfach »nicht nachdenken« oder Dinge »nicht zu Ende denken«.

Mit sechs bis zwölf Jahren lernen unsere Kinder erst noch zu analysieren, moralisch zu denken, vernünftig zu sein und strategisch zu handeln. Wir müssen ihnen noch eine ganze Weile bei gewissen Denkprozessen helfen, weil sie sie allein nicht bewältigen können. Wenn unsere Schulkinder mit einer gefährlichen Situation konfrontiert sind, kann es sein, dass sie eine falsche oder risikoreiche Entscheidung treffen, da die Gehirnbereiche für logisches und rationales Denken und Handeln noch nicht so gut arbeiten. Wir dürfen also nicht denken: »Ach, der ist so groß, das versteht er schon«, und uns dann wundern, wenn das Kind eine Entscheidung trifft, die für uns völlig absurd, weil nicht zu Ende gedacht ist.

Im Alltag dauern die Denkprozesse auch manchmal ein bisschen länger, als es uns lieb wäre, besonders wenn sie den Frontallappen betreffen – wir merken das, wenn die Kinder morgens ihre Schuhe suchen und einen Nervenzusammenbruch kriegen. Dann hat der alte, emotionsorientierte Gehirnteil übernommen, weil der neue, der logische, ruhige Teil gerade nicht zur Verfügung steht. Statt konzentriert zu suchen, wird unser Kind von dem Gefühl überwältigt, seine Schuhe nicht zu finden, und macht gar nichts mehr. Jetzt ist es an uns, ihm mit unserem Erwachsenen-Gehirn ruhig und liebevoll zu helfen. Es wird noch einige Jahre dauern, bis sein Gehirn wirklich ausgereift und effektiv ist und die Persönlichkeit klarer durchscheint. Und erst dann kann unser Kind auch unter Druck vernünftige Entscheidungen treffen.

Wir alle wissen, dass dieser Prozess noch ein Leben lang weitergeht. Das heißt nicht, wir sollten jede falsche Entscheidung unseres Schulkinds mit »Ach ja, das Gehirn, macht ja nichts, das wird schon« hinnehmen. Es heißt, wir sollten seinem Gehirn beibringen, dass dies die falsche Abzweigung war. Dann können wir mit ihm erarbeiten – in Ruhe, denn so schnell geht es ja nicht –, was die richtige gewesen wäre, und ihm ein Gefühl dafür geben, welches moralische oder vernünftige Verhalten wir in dieser Welt von ihm erwarten. So wird unser Schulkind mit unserer Hilfe sein Denken und seine Persönlichkeit langsam ausbilden.

Siege, aber triumphiere nicht

Ich war sehr erstaunt, wie überselbstbewusst und empathiefrei Schulkinder sein können, wenn sie in einem Spiel gewinnen: Egal, wie traurig das andere Kind ist, manche Kinder triumphieren deutlich, lautstark und herzlos – bis zu dem Punkt, an dem das andere Kind nicht mehr weiterspielen will. Wenn man weiß, dass ihr Gehirn gerade das Empathie- und Strategie-Modul nicht gut benutzen kann, ist das zwar verständlich, aber für mich war es dennoch schwer auszuhalten.

Um nicht jedes Mal einen – sinnlosen – Mitgefühlsvortrag zu halten, habe ich mich auf eine Formel beschränkt: »Siege, aber triumphiere nicht.« So wusste mein Grundschulkind, was ich meine, ich biss mir für den Rest des Vortrags auf die Lippen, und irgendwann zeitigte die freundliche Wiederholung auch Effekte.

Schritt 2: Hormone als Unruhestifter

Im unserem unordentlichen Kinderzimmergehirn haben wir noch mehr Unruhestifter: Zunehmend flitzen dort auch Hormone und Neurotransmitter quer durch den Raum, die in diesen Jahren im Körper unserer Kinder eine immer größere Rolle spielen. Diese körpereigenen Botenstoffe motivieren uns, zu wachsen und zu lernen, Neues auszuprobieren, auf Gefahren zu reagieren, neugierig zu sein oder uns auszuruhen. Aber gleichzeitig sind auch sie in unserem Grundschulkind noch lange nicht in Balance – wie Windböen fegen sie ohne Vorwarnung durch die eben so schön sortierten Papiere und verursachen neues Chaos. Die Hormone beschäftigen unser Schulkind, schon lange bevor die Pubertät voll einsetzt. Denn ihr Gehirn ist in einem großen Um- und Ausbauprozess, wie wir gesehen haben. Schauen wir mal, womit wir es zu tun haben.

Dopamin ist kurz gesagt das »Belohnungshormon«, und wir begegnen ihm beispielsweise jedes Mal, wenn wir unserem Kind einen Bildschirm wieder wegnehmen wollen und es dabei ausflippt. Die meisten Computerspiele triggern das Belohnungszentrum im Gehirn und halten die Kinder so an den Maschinen.

Dopamin beeinflusst also die Wahrnehmung von Freude, Belohnung, aber auch Schmerz. Wenn das Kind viel davon im Blut hat, fühlt es sich glücklich. In der frühen Adoleszenz nimmt man an, dass die Konzentration des Hormons stärker schwankt, was zu Stimmungs-Hochs und -Tiefs führen kann. Außerdem zeichnet es mit dafür verantwortlich, dass unsere Schulkinder und später unsere Adoleszenten nach neuen, aufregenden Erfahrungen suchen – was zu Mutproben und zum massiven Konsum von digitalen Erfahrungen mit Dopamineffekt führen kann, gegen die das unreife Gehirn des Kindes kaum ankommt (und wir kennen viele Erwachsenengehirne, denen es genauso geht).

Gleichaltrige sind viel bessere Spielkameraden auf dieser Suche als wir, da sie mit unseren Kindern brüllend in jeden Teich springen, während Erwachsene erst mal checken, wie kalt und tief das Wasser ist. Daher spielen Gleichaltrige auch eine immer größere Rolle, je mehr die Kinder ins Teenageralter kommen.

Serotonin nenne ich gerne das »Gute-Laune-Hormon«, denn es stabilisiert unsere Stimmung. Es macht uns nicht glücklich wie Endorphin, sondern reguliert eher unsere innere Balance, unseren Schlaf-wach-Rhythmus und unseren Appetit. Das ist einer der Gründe dafür, dass Menschen, die zu wenig schlafen, mehr essen, als sie brauchen. Da schon am Anfang der Pubertät die Serotonin-Level stark schwanken, sind unsere Kinder bereits im Grundschulalter manchmal aus der Balance und treffen eigenartige Entscheidungen. »Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt«, sagt man im Volksmund, und so ist es auch hier: Sie können von einem Moment auf den anderen traurig, in sich gekehrt oder schlecht gelaunt und kratzbürstig nach außen sein, ohne dass es einen erkennbaren Grund dafür gäbe oder sie selbst sagen könnten, was sie betrübt. Sie sind plötzlich hundemüde oder gar nicht mehr müde, was uns aber unerklärlich bleibt. Weder wir noch die Kinder können etwas dafür.

Wir können ihnen helfen, wenn wir ihnen sanft Methoden anbieten, wie man mit schlechten Gefühlen umgehen kann: sich bewegen, an die frische Luft gehen, schreiben, lesen, mit jemandem kuscheln. Nicht immer sind die Strategien, die unsere Kinder aus sich heraus entwickeln, die schlauesten, zum Beispiel wenn sie sich in ein abgedunkeltes Zimmer zurückziehen und nichts tun – was den Hormonstatus aufrechterhält. Im Moment können wir nichts machen, wir werden nur Widerstand ernten, aber wenn es unserem Schulkind wieder besser geht, sollten wir gemeinsam einen Plan entwickeln, wie wir diesen Gefühlen das nächste Mal begegnen wollen.

Melatonin ist ein guter Freund – es reguliert den Schlafrhythmus und hilft uns einzuschlafen. Leider sinken die Level zum Ende des Grundschulalters, und der Rhythmus verschiebt sich, sodass unsere Schulkinder und Teenager zunehmend später müde werden und morgens nicht aus den Federn kommen. Sie simulieren nicht – es ist nachgewiesen, dass zum Beispiel ein späterer Schulstart für diese Kinder viele Vorteile hätte (mehr dazu im Kapitel »Artgerecht essen und schlafen«).

Das »Kuschelhormon«Oxytocin hat viele, viele Funktionen und wird oft etwas einseitig als »Bindungshormon« vorgestellt. Für unsere Zwecke hier reicht es tatsächlich, wenn wir uns bewusst machen, dass auch unsere Schulkinder noch Nähe, Sicherheit und Geborgenheit brauchen – wie wir alle übrigens das ganze Leben lang. Auch sie bauen ihren Stress in unseren Armen ab, aber da sie deutlich weniger getragen und oft auch weniger gedrückt werden, fällt oft erst spät auf, wenn sie eigentlich mal wieder eine Kuschel-und-Lese-Runde auf dem Sofa bräuchten. Sie wirken ja schon so groß!

Adrenalin und seine Kollegen sind für die Stressreaktion im Körper zuständig. Wenn ein Kind in einer aufregenden Situation, zum Beispiel in der Schule, ist, schüttet es Stresshormone aus, auch wenn es sich nicht bedroht oder unwohl fühlt. Es ist einfach alles neu und aufregend. Es kann bis zu einem Jahr dauern, bis Kinder in der Schule so weit angekommen sind, dass sie weniger aufgedreht nach Hause kommen. Das Problem: Kopf – und oft auch Körper – sind eigentlich müde, aber die Aufregung sitzt immer noch in den Knochen. Das Ergebnis können fehlgeleitete Stressabbaustrategien sein, etwa indem sie Geschwister ärgern oder mit den Eltern oder Freunden streiten.

Wir müssen also damit rechnen, dass unsere Kinder Entscheidungen treffen, die wir anders treffen würden, und Präferenzen haben, die wir nicht teilen. Wir dürfen uns gleichzeitig darauf einstellen, dass sie ständig hin- und herpendeln zwischen »Ich weiß das doch alles! Lass mich!« und »Hilf mir!«. Sie können viele unserer Sorgen weder rational verstehen, noch haben sie ausreichend Empathie, um einfach nur aus Mitgefühl darauf zu achten, dass sie anrufen, wenn sie später kommen. Dafür ist ihr Spaß am Herumstreunen mit den Freunden (und ihr Dopamin-Ausstoß dabei) so groß, dass sie gar nicht an uns denken, bis es dunkel wird.

Sie entwickeln zwar zunehmend logisches Denken und die Fähigkeit, kluge Entscheidungen zu treffen, aber sie können beides nicht immer abrufen; und die Hormone tun ihr Übriges, um Unruhe ins System zu bringen. Stattdessen nutzen sie oft noch den Teil ihres Gehirns, der eigentlich für Gefühle zuständig ist, und schütten Stresshormone aus, statt die Entscheidung an die rationalen Gehirnzentren zu verlagern. Das kann dazu führen, dass ein Schulkind, das seine Sportsachen nicht findet – oder schlimmer noch: sein Lieblings-T-Shirt –, einen tränenreichen Zusammenbruch hat. Für das Kind bricht die Welt zusammen, wenn es dieses T-Shirt jetzt nicht findet. Es kann Ursache und Wirkung noch nicht relativieren oder Alternativen finden. Es denkt auch nicht daran, dass es noch ärgerlicher ist, zu spät zu kommen, als das falsche T-Shirt zu tragen – das Gehirn gerät in massiven Stress, die Hormone tanzen durchs Blut, und wir beruhigen ein siebenjähriges Kind, als wäre es erst drei. Das ist nicht immer leicht, wenn wir selbst pünktlich auf der Arbeit sein müssen, und Verständnis unter Stress zu haben, ist auch nicht unsere Stärke.13

Es fällt unseren Kindern oft noch schwer, sich »abzuregen«, zu bedenken, dass man mit Ruhe besser sucht, und sie brauchen uns, damit wir sie beruhigen und mit ihnen zusammen überlegen, wo sie ihre Sachen gestern hingelegt haben. Je öfter wir solche Prozesse üben, vielleicht sogar mit gezielten Techniken wie »Erst mal atmen«, »Mach einen Trackback – wo hast du es zuletzt gesehen?«, desto eher lernen sie, damit umzugehen.

Es wird noch eine Weile so bleiben, dass die Hormonumstellungen und Gehirnprozesse das Handling unserer Kinder nicht wirklich leichter werden lassen. Sie essen und schlafen jetzt selbstständig, aber sie brauchen uns als sicheren Hafen im Alltag. Deshalb ist der dritte Schritt, um unsere Kinder gut durch diese Zeit zu bringen, der wichtigste.

Wider den Stress – Dinge finden per Trackback

Wenn wir zu Hause etwas nicht finden, wenden wir eine Methode an, die wir als »Trackback« von Wildnispädagogen gelernt haben. Es geht so: Verlieren wir draußen die Orientierung, dann überlegen wir, was der letzte Punkt war, an den wir uns erinnern: »Haben wir nicht dort vorn die Blüte bewundert?«, »War da nicht der Baumstumpf, auf dem wir Rast gemacht haben?«, »War dann dort weiter hinten der Brombeerstrauch mit der Raupe drauf?« – so finden wir den Weg zurück.

Wenn also eines meiner Kinder kurz vor der Abfahrt gestresst ruft: »Ich finde mein Buch nicht!«, ruft sofort jemand anders: »Trackback!«, und wir überlegen gemeinsam: »Wo hast du es zuletzt gesehen?«, »Wo bist du dann damit hingegangen?«, »Was war der nächste Schritt?« … Das hat gleich mehrere Vorteile: Es schult die Erinnerung, es schaltet den rationalen Teil des Gehirns an und damit den Stress ab, und es ermöglicht uns, gemeinsam zu suchen.

Schritt 3: Vorbereitet sein auf den Sturm

Sarah Ockwell-Smith schreibt zusammenfassend, wir dürften jetzt damit rechnen, dass unsere Schulkinder häufiger den Nervenkitzel suchten, mehr Risiken eingingen, diesen Kick eher bei Gleichaltrigen als in der Familie suchten, über ein geringeres Maß an rationalem und logischem Denken verfügten, weniger Impulskontrolle, dafür mehr Stimmungsschwankungen hätten, ihre Emotionen schlechter regulieren könnten, die Absichten anderer falsch interpretierten und über ein geringeres Maß an Empathie verfügten.14

Unser Alltag ist weiterhin unruhig oder unruhiger, und unsere Kinder haben Phasen, in denen wir uns Gedanken darüber machen, ob unsere Erziehung schiefgelaufen ist. Besonders als bedürfnisorientiert erziehende Mutter habe ich mich manchmal gefragt, ob ich nicht doch Fehler gemacht habe, wenn meine Schulkinder alles andere als nett zu mir und anderen, unbeherrscht oder unausgeglichen waren und so gar nicht das tun wollten, was ich für richtig hielt. Es war schwer auszuhalten, weil ich immer dachte: »Du bist alt genug, um das zu verstehen – warum verhältst du dich so?«

Die Antwort ist immer: »Weil mein Gehirn nicht reif ist, weil meine Bedürfnisse nicht erfüllt sind und ich es nicht richtig mitteilen kann, weil ich gerade selbst nicht weiß, was ich brauche, und weil in mir die Hormone tanzen und noch mehr Unruhe stiften.«

Es ist also unsere Aufgabe, den Kindern einerseits ihr Bedürfnis nach Authentizität und Integrität, nach Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit zu ermöglichen, indem wir sie eigene Entscheidungen treffen lassen, und andererseits dafür zu sorgen, dass sie sich als Mitglieder einer Familie, eines Teams, einer Gemeinschaft erleben und verhalten.

Früher war das die Aufgabe eines ganzen Stammes – heute machen wir diesen Job oft allein oder zu zweit, unterstützt von Schule und Nachmittagsbetreuung. Es ist kein Wunder, dass uns das so schwer fällt.

Wir werden unser Kind also daran erinnern, dass es vielleicht logisch klingt, nicht länger auf jemanden zu warten, wenn er zu spät kommt, aber dass es wenig wertschätzend ist und denjenigen verletzen könnte. Wir leben damit, dass wir Antworten kriegen wie: »Warum? Er weiß doch, dass wir pünktlich ins Schwimmbad gehen! Ich will jetzt rein!« Wir erinnern unser Kind daran, dass es tausend Gründe geben kann, warum jemand zu spät kommt, dass es uns auch schon passiert ist und dass wir deshalb auf unsere Freunde warten. Denn wir alle wollen wertgeschätzt werden und vertrauen können, auch wenn wir mal Fehler machen. Wir wollen Teil einer Gemeinschaft sein, und das heißt auch, aufeinander zu achten. Lernt unser Kind das im Innenverhältnis mit uns, dann wird es auch – in seinem Tempo – lernen, dies nach außen zu tragen.

Dreimal am Tag da sein

Der Alltag mit Schulkind ist oft stressig und voller Termine. Aber es gibt drei Gelegenheiten, zu denen wir ganz und gar für unser Schulkind da sein können – und so seine wichtigen Themen erfahren. Morgens, wenn es aufwacht, können wir statt einem durch die Tür gerufenen »Aufstehen! Frühstück!« zu ihm hingehen, es liebevoll wach kuscheln, uns vielleicht noch drei Minuten dazulegen, es noch einmal in den Arm nehmen und ihm sagen: »Wie schön, dass du aufgewacht bist. Guten Morgen, mein Kind!«

Wenn es aus der Schule oder der Nachmittagsbetreuung kommt, wenn wir es abholen oder es zur Tür eintritt, dann können wir uns ihm direkt zuwenden und all die spannenden Geschichten hören, die aus unserem Kind heraussprudeln. Je weniger wir sie kommentieren, desto mehr wird es uns übrigens erzählen. Es reicht, wenn wir sagen: »Ach? Ja?«, »Und dann?«, »Ach so! Hmm« – echtes Interesse und ungeteilte Aufmerksamkeit. Wenn es nichts erzählt, können wir offene Fragen stellen: »Wie war es heute? Ist etwas Lustiges passiert? Hat dich heute etwas geärgert?«, »Wenn du heute jemanden hättest auf den Mond schießen können, wer wäre das gewesen?«, »Wussten die Lehrer heute etwas, was du noch nicht wusstest?«, »Was war dein Lieblingswort heute? Wie fandest du das?« … Und dann hören wir aufmerksam zu, fragen freundlich nach: »Ach, Timo hat den Tisch bemalt?«, aber ohne die Wertung »Das darf man doch nicht!«, sondern einfach nur als Statement – unser Kind wird uns schon erklären, wie die Geschichte ausgeht, wenn wir es lassen.

Die dritte Gelegenheit, die wir mit unserem Kind verbringen sollten, ist der Abend kurz vor dem Schlafengehen. Wenn die Kinder so groß sind, ist auch die Versuchung groß, im Badezimmer schnell einen Kuss zu geben und es dann »ins Bett zu schicken« – aber so verpassen wir einen zauberhaften Moment des Tages. Denn abends, wenn wir noch beieinanderliegen oder -sitzen, fallen vielen Kindern all die wichtigen Dinge in ihrer Welt ein: »Julia mag mich gar nicht mehr«, »Ich vermisse Oma«, »Wann kriegen wir einen Hund?«, und auch »Papa! Oje! Ich hab morgen einen Test!« – besser jetzt als morgen früh! Jetzt können wir in aller Ruhe eine Entschuldigung schreiben oder uns überlegen, wie wir mit der Situation umgehen.

Wenn wir diese drei Momente des Tages nutzen, um uns mit unserem Kind zu verbinden, schaffen wir den Alltag viel besser als Team. Am besten lassen wir es zu einer Routine werden, über die wir nicht nachdenken müssen.

Umgang im Alltag: Wie wir unsere Kinder erreichen

Wenn Babys abends weinen und wir unseren Kleinkindern mit viel Überredung die Zähne putzen müssen, haben die meisten von uns dafür noch Verständnis und Kraft. Macht uns aber ein Schulkind jeden Abend im Bad eine Szene, fällt es schwer, das zu verstehen: Was soll das? Warum kooperiert das Kind nicht einfach und geht friedlich ins Bett?

»Häufig sehen wir Eltern nur die Strategien unserer Kinder und werden sauer«, schreiben die Bloggerinnen und Autorinnen Danielle Graf und Katja Seide in ihrem Buch Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn für das Alter von fünf bis zehn Jahren. »Dann werden Erklärungen wie ›Er will nur testen, wer der Herr im Haus ist‹, ›Sie möchte ihre Grenzen aufgezeigt bekommen‹ oder ›Er will seinen Willen durchdrücken‹ bemüht, um das Verhalten der Kleinen zu interpretieren«15 – ein tragischer Fehlschluss. Auch bei Schulkindern steckt hinter jedem Verhalten ein Bedürfnis oder ein Wunsch. Wir ärgern uns darüber, dass unser Kind diese Bedürfnisse nicht anders äußern kann. Und weil es schon so verständig wirkt, schauen wir oft nicht mehr hinter das Verhalten. Warum sagt das Kind nicht einfach, was es will?

Weil es in diesem Alter und nach einem langen Schultag schwer ist, reflektiert zu sagen: »Ich kann nicht mehr kooperieren, ich muss meinen Stress abbauen und weiß nicht, wie.« Oder auch: »Ich weiß, ich bin schon groß, aber derzeit ist alles so aufregend, ich will nicht allein schlafen müssen.« Oder: »Ich will meine Integrität wahren und geliebt werden, wie ich bin, auch wenn ich mich gerade selbst nicht verstehe und unausstehlich bin.«

Schulkinder sind Kinder

Vorpubertäre Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Und um dem vorzugreifen: Teenager auch nicht. Sie sind Kinder. Sie sind in der Entwicklung, sie sind verletzlich und manchmal auch echt verpeilt. Sie müssen teilweise koreguliert werden wie Dreijährige – es wird nicht besser, wenn wir dafür mit ihnen schimpfen, sie auslachen oder beschämen.

Manchmal haben sie nur zehn Sekunden nach unserem Gespräch schon vergessen, worum wir sie gebeten haben. Sie wollen Hausaufgaben machen, aber YouTube ist unwiderstehlich. Drei Freunde wollen rausgehen, aber bis alle angezogen sind, haben sie keine Lust mehr. Das ist anstrengend, aber es ist vor allem anstrengend, wenn wir erwarten, dass sie es besser können. Wenn wir damit leben, dass sie einfach hin und wieder noch ganz schön viel Begleitung brauchen, wird es leichter.

Und gleichzeitig dürfen wir auch an bestimmten Stellen loslassen, sie die Erfahrung machen lassen, was passiert, wenn sie unsere Hinweise nicht beachten. Wir bitten dreimal, dass sie ihren halb gegessenen Pudding wegräumen. Und dann lassen wir sie selbst erfahren, was geschieht, wenn unsere Katzen über den Pudding herfallen – und ja, dann putzen die Kinder die Küche, nicht ich.

Eltern von Schulkindern sagen mir häufig: »Ich bin so genervt – sie weiß genau, dass sie … und sie macht es trotzdem!« Sie ärgern sich darüber, dass die Kinder nicht ihre Sachen wegräumen, nicht mit dem Hund rausgehen, nicht ihre Hausaufgaben machen oder nicht vom Tablet wegkommen. Da wir erwarten, dass ein »so großes Kind« es besser wissen müsste, sind wir genervt und fangen an, zu meckern, zu nörgeln oder gar zu schimpfen.

Aber so erreichen wir Schulkinder nicht. Wir wissen, dass Schimpfen immer weniger funktioniert, je älter sie werden. »Er schaltet einfach auf Durchzug, wir erreichen ihn nicht einmal mehr mit Strafen«, erklärten mir Eltern eines siebenjährigen Jungen, die einen meiner Vorträge besuchten.

Was aber sollen wir stattdessen machen? Hier ein paar Tipps dazu: 

Ja-Kommunikation: Statt unserem Kind ständig »Nein« zu sagen, kommunizieren wir erst Verständnis und dann Anforderung: »Ich verstehe, dass du keine Lust zum Aufräumen hast und ich will dich nicht jeden Tag immer wieder an deinen Ranzen erinnern. Was brauchst du, damit er einen Platz bekommt?«Authentizität: Statt zu nörgeln: »Jeden Abend dieses Theater!«, sagen wir, wie wir uns fühlen und was unser Bedürfnis ist: »Es macht mich traurig, wenn wir uns jeden Abend streiten; ich wünsche mir, dass wir einen friedlichen Abend haben. Lass uns überlegen, wie wir Druck anders abbauen können, als uns zu streiten.«Bedürfnisse: Wir sagen oft, was wir wollen, aber nicht, was wir wirklich brauchen: »Ich wünsche mir freundliche Tischgespräche«, pflegt die Großmutter meiner Kinder zu sagen, wenn sie sich abends am Tisch streiten. »Ich brauche jetzt Ruhe, um zu kochen« ist besser als »Ihr seid zu laut!«.Direkte Kommunikation: Kinder bekommen zu oft zu hören, was sie tun »könnten«, und zu wenig, was sie tun sollen. »Ich möchte/will, dass du dir jetzt die Zähne putzt« ist besser als »Ich denke, es wäre jetzt langsam Zeit …«Klare Formulierungen: Wir stellen auch bei Schulkindern keine Fragen, wenn »Nein« keine Option ist: »Wir gehen jetzt« und »Bitte schnall dich an« statt Fragen, die eigentlich keine sind wie »Gehen wir jetzt?« oder »Kannst du dich bitte anschnallen?« oder sehr beliebt: »Wir gehen jetzt Zähne putzen, okay?«Kontakt: In all meinen Büchern geht es darum, mit meinem Kind in Kontakt zu bleiben, das heißt konkret: Ich schaue mein Kind an, ich komme auf seine Augenhöhe, ich nehme mir einen Moment Zeit, ich frage mich: »Wie geht es diesem kleinen Menschen jetzt? Was braucht er?«, und ich fühle meine Liebe zu diesem Kind, auch wenn es gerade unausstehlich ist. In diesem Zustand finden wir in der Regel bessere Lösungen, als wenn ich mich dem Stress des »Warum ist das Kind so?!« hingebe.Widerworte und Sprüche: Wir springen weder auf Schimpfwörter aus der Schule noch auf freche Sprüche an – die Kinder provozieren uns als soziales Experiment, und es ist ihre Aufgabe, uns in diesem Alter infrage zu stellen. Wir bleiben also ruhig und stellen klar, was uns wichtig ist: »›Hurensohn‹ ist kein Wort für jemanden aus der Familie. Wenn du dich über deinen Bruder ärgerst, sag ihm, was du möchtest. Solche Worte können einen Menschen beleidigen oder verletzen.« Oder: »Ich werde dich nicht mit Gewalt zwingen, dir die Zähne zu putzen, es sind deine Zähne. Gleichzeitig ist mir deine Gesundheit wichtig. Was brauchst du? Was ist gerade los bei dir?«Zusammengehörigkeit: Alle Menschen haben ein starkes Bedürfnis nach gelingenden Beziehungen, danach, zu einer Familie zu gehören. Gleichzeitig wollen wir alle auch autonom sein und unsere Selbstbestimmung verteidigen. Schauen wir immer mit unseren Schulkindern, wie wir das miteinander statt gegeneinander erreichen können, wie wir als Familie gut vorankommen. Manchmal müssen wir die kleinen Persönlichkeiten daran erinnern, dass sie Teil einer Gemeinschaft sind und alle Menschen nur begrenzt tun können, was sie wollen, damit das Team gut zusammenspielt.

Wie wir neurodivergente Kinder begleiten

Unter dem Begriff »Neurodiversität« oder »neurologische Diversität« versteht man ein Konzept, nach dem neurobiologische Unterschiede als eine menschliche Disposition unter anderen angesehen und respektiert werden. Es versteht zum Beispiel Autismus, eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Dyskalkulie, Legasthenie oder Hochbegabung nicht als Krankheiten, sondern als natürliche Vielfalt in der Neurologie von Menschen.

Arbeitet ein Gehirn so, wie wir es typischerweise von ihm erwarten, bezeichnen wir das als »neurotypisch«. Im Gegensatz dazu spricht man von »neurodivergent«, wenn die Arbeitsweise eines Gehirns von der erwarteten Norm abweicht.

Eigene neurodivergente Kinder oder Freunde unserer Kinder brauchen eine andere Begleitung für ihr Spielen, Wachsen und Lernen. Auf Folgendes können wir achten:

Verständnis für die individuelle Neurodivergenz: Neurodivergente Kinder haben eine Vielfalt von Gehirnkonfigurationen und ganz unterschiedliche Entwicklungsprofile. Sie denken anders als »neurotypische« Kinder und nehmen die Welt anders wahr. Was für andere Kinder Alltag oder Spaß ist, kann für sie Stress bedeuten.Akzeptanz und Wertschätzung: Wie alle anderen Kinder – und Menschen überhaupt – brauchen auch neurodivergente Kinder Eltern, die sie bedingungslos akzeptieren und ihre Stärken und Talente wertschätzen. Auf diese Weise können wir ihnen helfen, ein positives Selbstbild zu entwickeln.Diagnose und Intervention: Wenn wir den Eindruck haben, dass unser Kind unter seiner Neurodivergenz leidet, sollten wir professionelle Hilfe suchen.16 Ist das Kind stabil und haben wir für uns gute Strategien gefunden, können wir erst einmal beobachten und abwarten.Individuelle Bedürfnisse: Neurodivergente Menschen brauchen manchmal andere Umgebungen als neurotypische Menschen – sie gehen anders mit Reizen, Eindrücken, Lautstärke, sozialen Situationen und auch dem Lernen um. Wir versuchen im Sinne einer »Ja«-Umgebung – in der es sich ausprobieren kann und nicht ständig ein »Nein« zu hören bekommt –, unserem Kind so weit entgegenzukommen, wie es das für seine Entwicklung braucht.Struktur und Routine: Viele sagen, dass besonders neurodivergente Kinder von Ruhe, Struktur und einem vorhersehbaren Alltag profitieren. Wenn sie sich sicher und organisiert fühlen, ist es für sie leichter, sich zu entspannen und zu lernen.Stressreduktion: Neurodivergente Kinder können Schwierigkeiten bei der Selbstregulation haben. Es ist unsere Aufgabe, ihnen Strategien beizubringen, wie sie mit Stress, Frustration oder Überforderung umgehen und ihre Emotionen regulieren.»Dorf« und Gemeinschaft: Eltern können sich mit anderen Eltern von neurodivergenten Kindern vernetzen – allerdings sind sie oft selbst neurodivergent und müssen schauen, wie das mit ihren eigenen Bedürfnissen zusammenpasst. Dennoch gilt: Der Austausch mit anderen Eltern kann hilfreich sein, um Informationen, Ressourcen und emotionale Unterstützung zu erhalten.

Am Ende gilt immer, dass wir die Balance zwischen den Bedürfnissen des Kindes und unseren eigenen Bedürfnissen sowie den Anforderungen unserer Umwelt halten. Wenn wir unsere Kinder ins Herz schließen und sie sich wertgeschätzt, sicher und geborgen fühlen, werden sie sich auf ihrem Weg entfalten können.

Hätten Sie’s gewusst?

In Deutschland besuchten im Jahr 2022/23 mehr als 8,5 Millionen Kinder und Jugendliche eine allgemeinbildende Schule.17

Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland kein einheitliches Schulgesetz, die Bundesländer entscheiden über die Schulpolitik und darüber, wie die allgemeine Schulpflicht konkret ausgestaltet wird.

Die Zahl der Lehramtsabsolventinnen und -absolventen ist binnen zehn Jahren um 10,5 Prozent gesunken (2012 bis 2022), dieser Lehrkräftemangel führt dazu, dass immer mehr Kinder von Menschen ohne anerkannte Lehramtsprüfung unterrichtet werden. Jede zwölfte Lehrkraft an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland war im Schuljahr 2021/22 Quer- oder Seiteneinsteiger/in.18

Das Recht eines jeden, private Schulen zu gründen oder die Kinder auf eine solche Schule schicken zu dürfen, war schon Gegenstand der Weimarer Verfassung und ist im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgeschrieben.19Gerichte haben sich bereits häufiger mit der Frage befasst, wie teuer eine Privatschule sein darf. Das Grundgesetz solle verhindern, dass private Ersatzschulen »Standes- oder Plutokratenschulen« würden, hieß es in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1987. Einem Ersatzschulträger müssen die zuständigen Behörden demnach die Genehmigung versagen, wenn er ein einkommensunabhängiges Schulgeld erhebt, das diese Vorgaben nicht erfüllt.20

Schulkind sein – jedes Kind ist anders

Auch zwischen sechs und zwölf Jahren entwickelt sich jedes Kind anders – manche sind ausgeglichen, und ihr präfrontaler Cortex ist gut ansprechbar, andere sind aufbrausend und leicht aus der Balance zu bringen. Gerade in diesem Alter müssen wir achtgeben, dass wir unsere Kinder nicht bewerten. Wir neigen schnell dazu, sie zu überfordern und dann »streng« zu sein, wenn sie nicht in unserem Sinne »funktionieren«.