Asa - Zoran Drvenkar - E-Book

Asa E-Book

Zoran Drvenkar

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Beschreibung

Jeder Jäger sollte damit rechnen, dass sich die Beute gegen ihn wendet

Sechs Jahre konnten sie sie wegsperren.
Sechs Jahre konnten sie nachts ruhiger schlafen.
Sechs Jahre mussten sie nicht nervös über ihre Schultern blicken.

Aber nun ist die Zeit der Rache gekommen. Asa macht sich auf den Weg, um eine Tradition zu zerstören, die das Leben einer Gemeinschaft seit hundert Jahren beherrscht und zum Tod unzähliger Unschuldiger geführt hat.
Bei ihrem Kampf findet Asa loyale Verbündete, erfährt niederträchtigen Verrat, trifft auf mächtige Gegner und stellt sich schließlich ihrem größten Feind – ihrer eigenen Familie.

ASA ist ein gewaltiger Roman voller Tragik, Liebe, Gewalt, Freundschaft und Verrat. Ein virtuos geschriebener Thriller, eine düstere Familiensaga, ein atemberaubender Racheroman – rasant und mit ungeheurer Wucht erzählt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 863

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover for EPUB

ZORAN DRVENKAR

ASA

THRILLER

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

für

William Goldman

Larry McMurtry

Timothy Findley

Ken Follett

Irwin Shaw

Joseph Roth

ohne euer Schreiben wäre dieser Roman

nie das geworden, was er ist

ASA

1

Sie warten, dass du auftauchst. Ihre Schatten sind dunkle Wolken, die sich über dir zusammenballen wie wütende Fäuste, ihre Bewegungen so vorsichtig, als würden sie dem Boden unter ihren Füßen misstrauen. Du beobachtest sie durch die Eisdecke, während sich deine Arme sanft bewegen, als wollten sie das Wasser nicht aufwühlen.

Du bist nicht zufällig hier gelandet.

Du hast instinktiv reagiert und Klarheit gesucht.

Sieh dich um, klarer geht es nicht.

Du befindest dich in einem zugefrorenen See, vier Meter unter dem Eis, und hast keine Ahnung, wie es jetzt weitergeht. Du weißt nur, dass du nicht mit ihrer Gnade rechnen kannst. Nur wer Gnade erfahren hat, kann Gnade walten lassen. Das sind nicht deine Worte, das hat dein Vater zu Beginn deiner Ausbildung zu dir gesagt. Und da du noch nie mit Gnade in Berührung gekommen bist, erwartest du auch nicht, dass sich heute daran etwas ändert.

Und so löst du dich vom Seegrund und steigst auf.

Der Angriff kommt nicht von oben, er kommt von der Seite. Im letzten Moment bremst du deinen Aufstieg mit den Armen ab und wirst zu einem Engel, der seine Flügel ausbreitet. Nur dein Haar schwebt weiter der Öffnung im Eis entgegen wie eine Qualle, die von der Strömung hochgedrückt wird.

Der Gewehrkolben verfehlt dich und lässt Wasser aufspritzen.

Sie haben dich erwartet.

Sie wussten, dass du Luft brauchst.

Sie haben sich getäuscht.

Du bist nur aufgetaucht, weil du sehen wolltest, wie sie reagieren. Deine Hände bewegen sich, und langsam sinkst du wieder auf den Seegrund. Du hast dein Ziel erreicht. Jetzt sind sie aus dem Gleichgewicht und fragen sich, ob sie dich mit dem einen Schlag verletzt haben.

Sie fragen sich auch, woher du den langen Atem hast.

Du müsstest vollkommen erschöpft sein.

Seit vier Tagen bist du in der Wildnis, und seit zwei Tagen jagen sie dich ohne Pause. Es ist ein Wunder, dass du nicht längst zusammengebrochen bist.

Am schlimmsten war für dich, dass du die Hütte nicht erreichen konntest. Sie wäre ein sicherer Hafen gewesen. Eine Tür, die sich schließt. Vier Wände, die schützen. Zwar hast du dich die ganze Zeit über in ihrem Umkreis aufgehalten, doch das Risiko war zu groß gewesen. Immer wieder schnitten sie dir den Weg zur Hütte ab, so dass dir nur die gefrorene Ebene des Sees oder der umliegende Wald geblieben sind.

Deine Wahl fiel auf den See.

Zwar bot der Wald mehr Möglichkeiten, doch eine Flucht dorthin hätte die Jagd verlängert. Du willst es zu einem Ende bringen, aber auf deine Art. Deswegen bist du instinktiv auf den See rausgerannt und hast vor dem Eisloch Halt gemacht, das die Jäger gestern noch zum Angeln benutzt haben. Du warst unbewaffnet, und so blieben dir nur die nackten Fäuste, und mit ihnen hast du auf die frische Eisdecke eingedroschen. Deine Knöchel rissen auf, Blut sprenkelte den Boden um dich herum, deine Atmung war kontrolliert, der Kopf vollkommen klar. Sieben Schläge genügten, dann spritzte dir das Wasser ins Gesicht. Sie hörten die Schläge im Wald widerhallen und folgten dem Geräusch. Als sie das Eisloch erreichten, fanden sie nur deine Kleidung und die Stiefel vor, du aber warst im Wasser verschwunden.

Der See ist deine letzte Zuflucht.

Und jetzt lässt du sie warten.

Du schwimmst zu einer der Stellen, an denen sich die Luft in kleinen Blasen unter der Eisdecke gesammelt hat. Du hast gelernt, diese Einschlüsse am Lichteinfall zu erkennen, der dort grünlich durch die Eisdecke schimmert. Es ist nicht viel Luft, sie reicht für einen langen Atemzug. Du schwimmst wieder zurück und bleibst in einer Tiefe von vier Metern und beobachtest, was über dir geschieht.

Und lässt sie warten.

Und lässt sie warten.

Über dem Eis sind es minus zwölf Grad, unter dem Eis ist die Kälte ein Skalpell, das bis auf die Knochen einschneidet. Bei diesen Temperaturen macht es keinen Unterschied, ob du angezogen bist oder nicht, aber die Kleidung und die Stiefel hätten deine Bewegungen eingeschränkt.

So ist es besser.

Alles verlangsamt sich bei diesen Minusgraden.

Dein Herzschlag, der Blutfluss, dein Denken.

Als dir die Luft auszugehen droht, suchst du die nächste Luftblase auf. Sie ist weiter entfernt von dem Eisloch. Viel von dem eingeschlossenen Sauerstoff ist in deinem Umkreis nicht mehr übrig, dennoch zögerst du den Moment des Auftauchens bis zur Schmerzgrenze hinaus. Sie sollen sich selbst anzweifeln. Sie sollen denken, der Gewehrkolben hätte dich verletzt und die Strömung dich mit sich gezogen. Diese Vorstellung wird sie verunsichern, und du willst sie verunsichert haben. Und so beobachtest du, wie sich die dunklen Wolken über dir bewegen.

Sie sind unruhig, sie sind ungeduldig.

Du glaubst, ihre Stimmen durch das Eis hindurch zu hören, aber das muss eine Täuschung sein.

Du müsstest müde sein.

Ich bin müde.

Du müsstest wütend sein.

Ich ruhe in mir.

Es ist an der Zeit.

Ja.

Als du eben aus dem See auftauchen willst, verharrst du inmitten der Bewegung, weil das Tageslicht über dir eine Erinnerung weckt. Es schimmert grau und trüb und ist wie das Licht in den Augen des Wolfes, den du mit elf Jahren erlegt hast. Da ist das Echo des Schusses in deinem Ohr, nachdem du den Abzug gezogen hast, und da ist der wilde Schlag deines Herzens, das sich nur langsam beruhigt. Der Wolf liegt im Schnee, kein Atemzug bewegt seine Brust, eine seiner Pfoten zuckt und erstarrt. Sein Blick ist gebrochen, die Pupillen grau und milchig trüb, doch dein Vater hat dich gewarnt. Er hat gesagt, es würde Fische geben, die konnte man an Land ziehen, und da lagen sie dann reglos, aber wenn man sie nach einer Weile wieder ins Wasser warf, schwammen sie davon, als wäre nichts gewesen. Deswegen näherst du dich dem Wolf sehr vorsichtig. Die Schritte fallen dir schwer, denn du bereust deinen übereilten Schuss. Dein Ziel war sein Herz gewesen, doch du hast im letzten Moment das Gewehr verrissen. Jetzt liegt der Wolf vor dir im Schnee, und heißer Dampf steigt aus seiner Nackenwunde auf. Durch das Einschussloch kannst du den Schneeboden sehen, er ist blutgetränkt, und das Blut glänzt schwarz. Du beugst dich vor und stößt eine der Vorderpfoten an. Nichts. Du streckst dich und tippst dem Wolf gegen die Brust. Die Reaktion kommt so plötzlich, dass es dir den Atem verschlägt. In diesem Moment wirst du zur Beute, die in die Falle gegangen ist. Es kracht laut, als die Zähne zuschnappen und sich um den Ast in deiner Hand schließen, dann sinkt der Wolf wieder in den Schnee zurück, ohne dabei den Ast loszulassen. Du hast davon gelernt. Das Tier ist mehr tot als lebendig gewesen, dennoch hat es sich zu einem letzten Kampf aufgebäumt.

Du wirst das nie vergessen.

Und wie du jetzt unter dem Eis schwebst und eingeschlossen bist von derselben Trübheit, die du damals in den Pupillen des Wolfes gesehen hast, siehst du die Verbindung zwischen dem Damals und dem Jetzt und verstehst, was sie dir sagen will.

Du änderst deinen Entschluss.

Du drehst dich im Wasser und tauchst zum Seegrund, um einen Stein vom Boden zu lösen.

Er hat ein gutes Gewicht.

Du machst eine Faust, und der Stein verschwindet darin.

Das ist die Klarheit, nach der du die ganze Zeit gesucht hast.

Du breitest Arme und Beine aus und lässt dich mit dem Rücken nach oben treiben. Der Seegrund beginnt sich langsam von dir zu entfernen. Höher und höher steigst du auf, dann stößt deine linke Schulter gegen den zackigen Rand des Eislochs, und du spürst die Luft auf deiner Haut. Dein Kopf ist noch unter Wasser, deine Augen sind geschlossen, du bist reglos, du bist tot und musst nicht lange warten – Hände greifen nach dir und hieven dich aus dem See.

Sie sind zu viert, und sie sind in Panik.

– Verdammt, sie ist tot!

– Dreh sie um! Dreh sie doch um!

– Du hast zu fest zugeschlagen, wir können…

Der dritte Mann verstummt, als er dein Gesicht sieht. Du hast dich umdrehen lassen, du bist schwer und leblos gewesen, und mitten in seine Worte hinein öffnest du die Augen und trittst ihm die Beine weg, so dass er stürzt und im Eisloch verschwindet. Wasser spritzt auf, und ehe die anderen Männer reagieren können, schlägst du mit dem Stein zu. Der Mann links von dir taumelt nach hinten, lässt das Gewehr fallen und sinkt mit den Händen über dem Gesicht auf die Knie. Bleiben die anderen zwei. Sie sind zurückgewichen und haben die Arme ausgebreitet, als wollten sie dich fangen.

– Das war voreilig von dir, sagt der eine.

Er hat recht. Du warst wirklich voreilig. Du hättest deine Ohnmacht hinauszögern und dich von ihnen zur Hütte tragen lassen sollen. Stattdessen hast du dich zu früh bewegt, und jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Du wirst nicht erneut davonrennen, hier ist Schluss.

Sieh dir an, wie du dort hockst – nackt und auf allen vieren wie ein Tier. Die Anspannung wandert als ein Zittern durch deinen Körper, und das Eis unter deinen Füßen fühlt sich mit einem Mal erschreckend heiß an. Es ist eine Illusion. Wenn du hier noch länger hockst, werden deine Fußsohlen festfrieren.

Die beiden Männer ziehen ihre Messer, der dritte Mann hievt sich aus dem Eisloch, während der vierte Mann auf die Beine kommt und sich das Blut aus den Augen wischt. Er hebt das Gewehr auf und spuckt aus.

Sie warten.

Kein Wort wird gewechselt.

Sie warten, was du als Nächstes tun wirst.

Du fletschst die Zähne und wirst zu einem Wolf, der nicht sterben will.

Und so greifst du sie an.

Später sitzt du in der Hütte, und die Fäden, die die Wunden an deinen Armen und den Riss über deinem Auge verschließen, spannen bei jeder Bewegung. Eine Decke liegt um deine Schultern, und du trägst wieder deine Kleidung, dennoch klappern deine Zähne unkontrolliert. Das Kaminfeuer erhellt den Raum und wärmt dich nur langsam auf.

Sie sitzen dir gegenüber und trinken Kaffee.

Sie schütteln die Köpfe und sagen, so etwas hätten sie noch nie erlebt.

Sie haben deine Wunden versorgt und stellen keine Fragen.

Der eine hat eine gebrochene Nase, der andere kann seinen linken Arm nicht heben, sie beschweren sich aber nicht, denn ein wenig schämen sie sich, weil sie länger als erwartet gebraucht haben, um die Jagd zu beenden. Gleichzeitig sind sie auch stolz. Ihre Blicke verraten es dir. Sie sind voller Respekt. Der mit der gebrochenen Nase fährt dir über den Kopf, als wärst du noch ein Kind. Ein anderer reicht dir eine Scheibe Speck.

Du schüttelst den Kopf.

Du isst kein Fleisch, das du nicht selbst erlegt hast, es ist dem Tier gegenüber respektlos.

Sie sagen, du hättest dich gut geschlagen.

Du nickst und weißt, dass sie nicht mehr am Leben wären, wenn du getan hättest, was du wolltest. Die Möglichkeiten waren da. Mehrfach. Du hast dich aber an die Regeln gehalten, denn so ist das Leben. Geregelt.

Du hebst den Becher und trinkst.

Du sprichst nicht, du denkst viel und zeigst nicht, dass du viel denkst.

Sie sagen, es ist an der Zeit aufzubrechen.

Du stehst auf und verlässt die Hütte wie eine Kriegerin, die ihre ersten Narben zur Schau trägt.

Du bist vierzehn Jahre alt und Gnade ist dir fremd.

2

Es ist dreißig Jahre später, der Krieg in Europa tobt, und dein Pate betrachtet dich, als hättest du ihm zwischen die Beine gegriffen. Ihr sitzt nebeneinander und sprecht kein Wort. Du riechst sein Aftershave, er riecht dich nicht, denn du kommst aus der Kälte und bist noch geruchlos. Es ist keine angenehme Situation. Dein Pate hat dich erst bemerkt, als du neben ihm Platz genommen hast, die Skigondel hat nicht einmal geruckt. Er hat erst auf dem Gipfel mit dir gerechnet. Es ist also kein Wunder, dass er so ein Gesicht macht.

Lautlos gleitet ihr den Berg hoch.

Dein Pate wartet, dass du ihn ansiehst. Du hast aber nur Augen für den Schneefall, der träge an euch vorbeischwebt und dich an deine rastlosen Gedanken erinnert. Du bist vierundvierzig Jahre alt, und Momente wie dieser hier können dich völlig aus der Realität reißen. Deine Gedanken sind wie Ascheflocken nach einem Waldbrand – scheinbar schwerelos schweben sie über der Landschaft und lassen sich nicht greifen. Dazu kommt diese innere Unruhe, weil du weißt, dass du dich dem Finale näherst.

Dein Pate hat keine Ahnung, was in dir vorgeht.

Seit der Beerdigung deines Großvaters habt ihr euch nicht mehr gesehen. Einundzwanzig Jahre ist das her. Im Gegensatz zu dir hat es das Leben mit deinem Paten gut gemeint. Wotan Berger lebt in Lyon, wo er CEO von Armada ist, einem der größten Rüstungsunternehmen in Deutschland. Normalerweise hat er vier Bodyguards um sich herum, was einer der Gründe ist, warum du hier mit ihm in diesem Skilift sitzt.

Es gibt nur Platz für zwei.

Bis zum Mauerfall war dein Pate ein guter Freund deines Vaters, dann hat er Deutschland verlassen und lebte für eine Weile in den Niederlanden, ehe er nach Frankreich zog. Erst verkaufte er Autos, dann waren es Immobilien, und jetzt liefert er Militärflugzeuge in die ganze Welt. Wotan Berger ist mehrfacher Milliardär und verbringt jeden Winter an diesem Ort hier.

Ihr befindet euch östlich von Rovaniemi inmitten der finnischen Landschaft. Das Skigebiet ist so exklusiv, dass es auf keiner Karte verzeichnet ist. Dem Hotel fehlt jegliche Webpräsenz, auch existieren keine Fotos von der Hotelanlage, und ihr Name wird nirgends erwähnt. Für den Normalsterblichen sind Reservierungen unmöglich. Das Hotel fasst dreißig Gäste, und sie werden mit Hubschraubern ein- und ausgeflogen. In der Nacht ist der Skilift geschlossen, für Wotan Berger haben sie eine Ausnahme gemacht.

Du weißt das alles, weil du dich vorbereitet hast. Wer sechs Jahre Zeit zum Nachdenken hat, der kann eine Menge Vorbereitungen treffen.

Dein Pate war nicht begeistert, als er erfahren hat, dass du ihn hier aufsuchen wolltest, aber er hat dennoch eingewilligt. Vielleicht wegen seiner Verbindung zu deinem Vater, vielleicht weil er dich fürchtet. Du kannst es spüren – wenn er könnte, würde er von dir wegrücken, doch dafür reicht der Platz nicht.

Eine Plexiglashaube schützt euch vor dem Schneefall, die Gondel ruckelt nicht, ein wenig ist es, als würdet nicht ihr euch bewegen, sondern die Landschaft an euch vorbeiziehen. Jeder Quadratmeter wird von Scheinwerfern erhellt, ihr könntet auch über einer Filmkulisse schweben. Durch die gefütterten Hosen spürst du, dass der Sitz beheizt ist, und wärst nicht überrascht, wenn irgendwo eine Minibar versteckt wäre. Aus zwei Lautsprechern erklingt kaum hörbar Prokofjews Visions fugitives, die Musik schmiegt sich an die Landschaft und öffnet in dir eine Sehnsucht nach deinem alten Leben, gleichzeitig bist du irritiert von der Harmonie um dich herum, doch das hat nichts zu bedeuten, denn in letzter Zeit irritiert dich eine Menge. Die Vergangenheit lastet schwer auf dir und droht dich zu ersticken. Eben warst du unter dem Eis und hast gewartet, dass dir die Luft ausgeht, dann hat ein Wolf nach dir geschnappt, und jetzt ist dreißig Jahre später und du sitzt in einer Skigondel und hoffst, dass sich deine Gedanken klären. Mal bist du ein Teenager, mal ein Kind und mal eine Frau, die sich in ihrer Erinnerung verliert. Alles geht zu schnell. Selbst die Jahreszeiten eilen an dir vorbei, und du spürst ihren Wechsel kaum.

Nein, das war jetzt gelogen.

Der Wandel der Zeit ist offensichtlich. Jeder neue Tag hinterlässt eine Narbe in deinem Bewusstsein, denn mit jedem neuen Tag begreifst du, was für Fehler dir in deinem Leben unterlaufen sind. Deine Tochter wäre jetzt neunzehn, dein Vater noch immer an deiner Seite, dein Mann auch. Aber dein Versagen reicht noch weiter zurück. Lass uns ehrlich sein, es nahm seinen Anfang an diesem einen Wintertag, an dem dich die vier Jäger aus dem Eisloch gezogen haben. Schon damals wusstest du so viel und hast so wenig mit diesem Wissen angefangen. Die Jäger hätten an diesem Tag sterben müssen, dann wäre jetzt alles anders. Bis heute zahlst du für diesen einen Fehler, und es gibt keine Möglichkeit, ihn wiedergutzumachen. Aber vielleicht ändert sich das heute, denn einer dieser Männer sitzt jetzt neben dir.

Dein Pate räuspert sich.

Ihr seid Zentimeter voneinander entfernt, und du verhältst dich, als würdest du alleine durch die Nacht schweben.

Jetzt gib dir schon einen Ruck und sieh ihn an.

Der Anblick erschreckt dich ein wenig, sein Gesicht gehört ihm nicht mehr. Vielleicht hat er sich liften lassen oder mit dem Botox übertrieben. Nur an der gebrochenen Nase und den blauen Augen erkennst du ihn wieder. Der Rest ist eine modellierte braungebrannte Gesichtslandschaft.

– Es ist eine Weile her, sagt er.

– Über zwanzig Jahre.

– Über zwanzig Jahre? Wirklich?!

– Wirklich.

Er weiß genau, wie lange ihr euch nicht gesehen habt. Seine Augen verraten es dir. Sie sind nervös, denn du bist nicht hier, um Erinnerungen auszutauschen. Auf der Beerdigung deines Großvaters war euer Kontakt knapp gewesen. Er wich dir aus, du hast ihn gehen lassen. Damals wusstest du nicht, was du heute weißt.

– Wann haben sie dich aus dem Gefängnis entlassen?, fragt er.

– Gestern.

– Gestern?

Er lacht auf.

– Und da suchst du mich heute auf?

Du wendest den Blick von ihm ab, das ist Antwort genug. Er kann die Dringlichkeit deiner Anwesenheit nicht nur spüren, er kann sie wortwörtlich sehen – du hast die Landschaft im Blick und bist auf der Suche nach Scharfschützen, die dir entgangen sein könnten. Du weißt zwar, dass dein Pate es niemals wagen würde, gegen dich vorzugehen, doch sich allein auf dieses Wissen zu verlassen, wäre ausgesprochen dumm. Wohin du auch schaust, es gibt wenig zu sehen, die scharfe Kante der Dunkelheit wird von den Schweinwerfern klar definiert. Kein Tier wagt sich in das Licht, und der Schnee auf der Skipiste ist unberührt. Dennoch misstraust du der Ruhe. Dir ist auch bewusst, dass die ganze Piste von Kameras beobachtet wird.

– Es wäre gut, wenn wir allein reden könnten, sagst du.

– Wir sind allein.

Du siehst nach oben. Dein Pate folgt deinem Blick zu den Lautsprechern, die in die Decke der Gondel eingelassen sind.

– Marco, sagt er, kapp die Verbindung. Und wo du schon dabei bist, schalte diese verdammte Musik aus.

Das Klavierspiel verstummt, kein Laut ist mehr aus den Lautsprechern zu hören.

– Nun, was verschafft mir die Ehre?, fragt Wotan Berger.

– Du musst das Projekt beenden, antwortest du.

Er reagiert nicht, sein linkes Augenlid zuckt.

– Ich dachte, es geht um die Waffenlieferungen.

Du schüttelst den Kopf.

– Ich weiß nichts von irgendwelchen Waffenlieferungen.

– Ich dachte, sie hätten dich geschickt, damit du---

– Es geht um keine Waffenlieferungen, unterbrichst du ihn, deswegen bin ich nicht hier.

Er glaubt dir nicht, er sitzt da und glaubt dir nicht.

– Business ist Business, spricht er weiter.

– Wotan, mich interessiert dein Business nicht.

– Wenn du wüsstest, wie hungrig der Markt---

– Es reicht!

Endlich verstummt er.

– Du musst das Projekt beenden, wiederholst du, nur deswegen reden wir miteinander.

Er lacht auf. Es ist ein Lachen, das beachtet werden will. Du siehst ihn reglos an. Wissen ist alles. Du weißt, was er in den letzten Jahren in Frankreich aufgebaut hat. Die Elite der Elite hat sich versammelt, und alles ist vorbereitet – die Gebäude stehen, die Straßen sind fertig, und es gibt sogar einen kleinen Flughafen. Du kennst alle Details und hast Fotos von dem Camp gesehen. Der Ausbildung steht nichts mehr im Weg, und im übernächsten Winter soll die erste Prüfung stattfinden. Das Projekt ist das Herzstück deines Paten. Er sieht es als Tribut an deinen Großvater, der damals Wotan Bergers Familie in der Not unter die Arme gegriffen hat. Und jetzt kommst du und willst ihm nehmen, was er sich sein Leben lang erarbeitet hat.

– Wir hätten das anders klären können, sagt er.

– Nein, wir klären es auf diese Weise, widersprichst du ihm.

Plötzlich schweift Wotan Berger ab. Er ist nicht mehr der Businessman, der Kampfflieger verkauft, er ist dein Pate, der dir zu jedem Geburtstag Stapel von Büchern geschenkt hat. Auch seine Stimme hat einen anderen Klang, sie ist melancholisch.

– Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie das war, als wir dich aus dem Wasser gezogen haben. Drei Tage hast du uns an der Nase herumgeführt, und dann springst du in dieses verdammte Eisloch! Wir dachten, das wäre es gewesen und wir hätten dich verloren, dann aber bist du wieder aufgetaucht und warst nicht mehr Asa, sondern eine Furie. An dem Tag hast du uns eine Scheißangst eingejagt, weißt du das? Dabei hattest du die Prüfung längst bestanden, dennoch wolltest du nicht aufgeben. Ihr Kolberts seid schon ein verrückter Haufen, und das hier…

Er tippt sich an die schiefe Nase.

– … habe ich dir zu verdanken. Wenn jemand fragt, sage ich immer, mein Patenkind hat mir die Nase mit einem Schlag gebrochen. Die Ärzte wollten den Bruch korrigieren, aber ich lass da keinen Chirurgen ran. Das ist eine ganz private Erinnerung.

Er lächelt, er verstummt, ein wenig ist es, als würde er die plötzlich aufkommende Melancholie bedauern. Dann betrachtet er seine Hände, und als er weiterspricht, ist da wieder der Wotan Berger, der seinem alten Leben nach dem Mauerfall den Rücken gekehrt hat und sich im neuen Leben vom Krieg ernährt.

– Schickt dich deine Familie?

– Ich habe mit meiner Familie nichts mehr zu tun.

– Wir hatten einen Deal. Ich habe dafür bezahlt---

– Ich sagte, ich habe mit meiner Familie nichts mehr zu tun, unterbrichst du ihn.

Er schweigt und nickt. Er weiß, was dir deine Familie angetan hat. Dennoch. In den Augen deines Paten haben Blutsbande die höchste Priorität, deswegen glaubt er dir auch nicht, dass du ohne Wissen deiner Familie hierhergekommen bist. Aber so ist es, denkst du und zuckst unmerklich zusammen, als er in seine Manteltasche greift.

Wotan Berger holt ein Etui heraus, klappt es auf und steckt sich eine Zigarette in den Mund. Allmählich fängt er an ungeduldig zu werden, denn er sitzt hier nicht, weil ihr Sympathien füreinander empfindet. Er gibt sich Feuer, zieht den Rauch tief in die Lunge und atmet ihn wieder aus. Er will nicht, dass deine Familie jemanden schickt. Insbesondere nicht jemanden wie dich.

– Ich verstehe, sagt er nach einer Pause und schaut zu der Hotelanlage, die sich langsam aus der Dunkelheit hervorschält und wie eine leuchtende Krone auf dem Berggipfel thront. Du würdest gerne die Hand auf seine Schulter legen und ihn aus der Skigondel stoßen. Einfach nur, weil es möglich ist. Aber so leicht wird man diesen Mann nicht los.

Dir ist bewusst, dass dein Pate diese Begegnung bis ins Detail durchgeplant hat.

Seit den Morgenstunden sind seine Bodyguards aktiv. Zwei Wachleute waren an der Sesselbahn postiert, zwei Scharfschützen hast du in der Umgebung ausfindig gemacht, und vier Männer patrouillierten die Zufahrtsstraßen. Dann sind da all die Kameras und zeichnen jede eurer Bewegungen auf. Ein Mann von seinem Format weiß, wie er mit Gefahr umzugehen hat. Niemals wird er dich einfach so gehen lassen. Insbesondere jetzt, wo du ihm erzählt hast, dass dich niemand geschickt hat. Deine Ehrlichkeit ändert alles. Plötzlich bist du solo auf seinem Terrain. Er kann mühelos dafür sorgen, dass du nie wieder Forderungen stellst. Aber du strahlst Ruhe aus, und das macht ihn stutzig.

– Du wirkst unbesorgt, sagt er.

– Sollte ich besorgt sein?

– Ich bin besorgt.

– Wir reden nur.

– Mehr nicht?

– Mehr nicht.

Er sieht auf die Uhr.

– Ich habe für dich eine Köchin aus Madrid einfliegen lassen. Ihr Name ist Perri, ihr gehört…

Plötzlich verstummt er, und sein Blick wandert an dir herab und bemerkt das erste Mal deine Kleidung – den Skianzug, die Schneebrille um deinen linken Oberarm und die Stiefel. Er versucht zu verstehen, wozu du in der Nacht eine Schneebrille brauchst. Da fällt ihm der Riss an deinem rechten Ärmel auf. Er weiß nicht, was den Riss verursacht hat, so wie er auch nicht weiß, dass du angegriffen wurdest und einer seiner Bodyguards dafür sterben musste. Er weiß aber, dass mehr geschehen ist, als er vermutet. Es dämmert ihm, es dämmert ihm regelrecht, und als er schließlich spricht, klingt er wie jemand, der kurz davorsteht, in Panik auszubrechen.

– Du warst schon oben?!

– Ich bin seit gestern hier, antwortest du.

Er sieht dich nur an.

– Heute Mittag haben deine Köchin und ich Tee getrunken, schiebst du hinterher.

Dein Pate schweigt und denkt an seine Bodyguards, die ihn da oben erwarten sollten.

– Alle?, fragt er.

– Alle acht, sagst du.

Er zögert, dann schüttelt er den Kopf, als hätte er es sich anders überlegt.

– Dann waren sie es nicht wert, stellt er fest.

Dir genügt das Geplänkel.

– Ich will hören, dass du es sagst, verlangst du.

Er lacht erneut, sein Lachen ist an den Rändern brüchig.

– Wenn es dir so sehr am Herzen liegt, dann bitte schön: Kein Projekt mehr. Gut so?

Er schnippt seine halbgerauchte Zigarette in die Gegend. Sein Einlenken wirkt so einfach, es ist zu einfach, viel zu einfach. Er hat Millionen in das Projekt investiert, er wird sich bei den Investoren erklären müssen, wenn er jetzt den Stecker zieht. Es überrascht dich nicht, dass er lügt. Wärst du an seiner Stelle, hättest du genauso reagiert.

– Danke, sagst du.

Noch dreißig Meter zum Gipfel.

Alles ist gesagt, dennoch kann er nicht schweigen.

– Ich habe viel mit den Russen zu tun, wie du dir denken kannst.

Er lacht auf wie jemand, der listig ist und möchte, dass es jeder weiß.

– Soll ich dir verraten, wie sie dich nennen?

Nein, du willst es nicht wissen.

– Mir, sagt er.

Du siehst ihn an, ungläubig und verwirrt.

– Ich bin nicht der Frieden, sagst du.

– Ich weiß. Du sorgst zwar auf deine Art und Weise für Frieden, aber du bist alles andere als der Frieden.

– Also ist es ironisch gemeint?

– Mehr oder weniger.

Die Skigondel erreicht den Gipfel, und die Fahrt verlangsamt sich. Von der Umlenkstation führt eine geräumte Straße zu der Hotelanlage hoch. Kein Wagen parkt dort, niemand erwartet euch. Die Gondel bewegt sich jetzt nur noch in Zeitlupe voran, eure Stiefel schweben Zentimeter über dem gestampften Boden. Du stehst auf und trittst in den Schnee. Dein Pate will es dir nachmachen, du drehst dich um und legst eine Hand auf seine Brust und drückst ihn zurück auf den Sitz. Die Skigondel will weiter, du spürst den Druck an deinem Arm und hältst ihm stand. Dann beugst du dich vor und kommst Wotan Berger so nahe, dass er unmerklich zurückweicht.

Deine Stimme ist beherrscht.

– Eines noch. Solltest du das Projekt weiterführen, komme ich zurück. Ich komme zurück und werde dich in deinem eigenen Blut baden, verstehst du? Wie in alten Zeiten, als Rache noch Rache war. Ich werde dich in den Wald bringen und warten, bis die Wölfe deine Witterung aufgenommen haben. Ich werde ihnen zusehen, wie sie dich fressen, und wenn sie von dir gelassen haben, werde ich auf deine Knochen spucken, das ist mein Versprechen an dich.

Er reagiert nicht, er starrt dich nur an, und du liest alles in seinen Augen.

Wut, Empörung, Hass.

Aber da ist mehr.

Der Blick deines Paten flackert, dann lächelt er, seine Worte sind geschmeidig:

– Ich muss an deinen Vater denken.

Dein Mund wird trocken, er spricht weiter:

– Du weißt, dass ich gegen seine Hinrichtung war?

– Deine Einstellung hat ihm nicht viel geholfen, sagst du.

Dein Pate reagiert nicht, nur sein Kiefer malmt, und die Wangenmuskeln treten hervor. Du hattest nicht vor, über die Hinrichtung deines Vaters zu sprechen, die nächste Frage wolltest du nie stellen, du stellst sie:

– Hättest du seinen Tod verhindern können?

Du hoffst sehr, dass er deine Frage verneint, dass er dich beruhigt, selbst wenn es eine weitere Lüge wäre.

– Ich hätte es versuchen können, sagt er.

– Aber du hast es nicht getan?

– Nein, ich habe es nicht getan.

Eine Welle des Bedauerns umschließt dich.

Ich hätte es versuchen können, aber ich habe es nicht getan.

– Du musst das verstehen, spricht dein Pate weiter. Dein Vater ist zu weit gegangen, Asa, und wer zu weit geht, kann oft nicht umkehren und muss die Konsequenzen…

Du unterbrichst seine Tirade, indem du zurücktrittst.

Sofort verstummt dein Pate, seine Augen weiten sich, und du bist dir sicher, dass es seit langer Zeit das erste Mal ist, dass er sich ängstigt. Sei ohne Furcht, sonst frisst dich die Nacht, möchtest du zu ihm sagen. Es sind nicht deine Worte, sie gehören einer Attentäterin. Nachdem sie diese Worte gesprochen hatte, lächelte sie dich an, und dann ist sie gestorben.

Damit begann es.

Ohne diese Begegnung wärst du jetzt nicht hier.

Die Sesselbahn setzt sich wieder in Bewegung, die Skigondel macht an der Umlenkstation eine Kehrtwende, und dein Pate beginnt lautlos dem Tal entgegenzuschweben. Er beschimpft dich nicht, er verliert kein Wort mehr über deinen Vater, und das ist gut so.

Ein einziges Mal sieht er über seine Schulter.

Eure Blicke treffen sich.

Wotan Berger ist erleichtert, dass du ihn gehen lässt. Er wendet sich wieder ab, und nach einer Minute steigt eine dünne Rauchwolke aus der Skigondel auf. Du weißt, er hat sein Handy am Ohr, du weißt auch, dass die Zigarette in seiner Hand zittert. Selbst seine Gedanken sind dir bekannt – du hast dich zu seiner Feindin gemacht.

Aber er denkt falsch.

Du bist niemandes Feindin, du bist niemandes Freundin.

Du empfindest keine Wut, du kennst keinen Hass.

All das liegt hinter dir.

Du bist eine Frau, die den Frieden bringt.

Mir, denkst du und wünschst dir, du könntest darüber lachen.

Du lachst nicht, denn die Worte deines Paten klingen nach:

»Ich muss an deinen Vater denken.«

Auch du denkst an deinen Vater.

3

Dein Vater schreit, du schreist, die Welt schreit zurück. Die Berge verschieben sich, eine Steinlawine donnert in das Tal hinunter, und ihr brecht in Lachen aus. Es ist ein Jahr nach der Prüfung, es ist der Oktober 1993 und ein Jahr nachdem du freiwillig unter das Eis gegangen bist. Eine Narbe über deinem Auge ist geblieben und schimmert weiß, wenn du wütend wirst. Die Prüfung hat dich geprägt, und nichts ist mehr, wie es einmal war. Und sollte die Zeit eines Tages beschließen, sich rückwärtszubewegen, würdest du ihr sofort folgen. Zurück in die Kindheit, zurück in die Sicherheit. Aber du weißt, dass das nicht funktioniert. Selbst wenn du beißt und schreist, die Zeit lässt nicht mit sich verhandeln.

Darum lass uns hier verweilen.

Ein Tag in deiner Erinnerung.

Dein vierundvierzigjähriges Ich denkt an dein fünfzehnjähriges Ich zurück.

An einen Moment, der deinem Vater und dir allein gehört hat.

Ihr habt dem Tal ins Gesicht geschrien, und dann habt ihr gelacht.

Erinnerst du dich, was danach für eine Ruhe eingekehrt ist?

Als hätte die Luft den Atem angehalten.

Ihr erreicht den Berggipfel, und das Land öffnet sich unter euch wie ein Fächer aus welkenden Farben. Ihr seid schon seit einer Stunde auf den Beinen und habt beobachtet, wie sich der Bodennebel zwischen den Felsen aufgelöst hat. Das Morgenlicht flackert, als wäre es kurz vor dem Verlöschen, der Wald unter euch wirkt müde, die Erschöpfung der Natur ist überall spürbar. Es war ein heißer Sommer, die Gegend wurde von Bränden geplagt, und ihr seid froh über die sich nähernde Abkühlung des Herbstes.

Ein Kreischen lässt euch zusammenschrecken.

Dein Vater zeigt in den Himmel, wo ein Habicht im Flug erstarrt ist. Der Vogel hat den Kopf geneigt, als würde er zu euch hinunterschauen. Sein Ruf verklingt und nichts weiter stört die Ruhe. Du wünschst dir, es würde für immer so bleiben. Die Zivilisation ist ausgesperrt, kein Flugzeug durchquert den Luftraum, kein Haus stört den Ausblick. All das hier ist das wahre Leben, all das hier hat deine Familie geschaffen. Hektar um Hektar des verkümmerten Waldes haben sie aufgekauft und neu belebt. Hier bist du richtig, hier bist du zu Hause und hier willst du bleiben. Jeder Baum und jeder Fels sprechen zu dir. Du könntest eine Ewigkeit hier stehen und ihnen lauschen.

– Wie schön, sagt dein Vater.

Du schweigst, denn dir fehlen die Worte.

Im Westen bewegen sich die Wipfel der Kiefern wie der Pelz eines gewaltigen Tieres, und im Norden glitzert der See, unter dessen Eis du im letzten Winter getaucht bist. Niemand hat verstanden, wie du das tun konntest, nur dein Großvater hat dich als Einziger gelobt und sagte, dass in eurer Familie eine Tradition existieren würde, die die Kolberts immer wieder unter das Eis führte. Damals hast du nicht verstanden, was er damit meinte, er kam auch nicht dazu, es dir näher zu erläutern, weil du ihm im selben Atemzug von dem Mädchen erzählt hast. Dotti. Der Stolz verschwand völlig aus dem Blick deines Großvaters, und er befahl dir, den Mund zu halten. Auch deine Großmutter reagierte nicht anders und riet dir, kein weiteres Wort über dieses Mädchen zu verlieren. Doch niemand verbot Asa Kolbert den Mund, das hätten deine Großeltern wissen müssen. Also hast du dich an deinen Vater gewandt, und vielleicht war das dein schlimmster Fehler. Deswegen kam alles ins Kippen, deswegen stellte sich dein Vater gegen die Familie. Doch dazu kommen wir später, erst mal stehen wir auf diesem Plateau und schauen auf die Landschaft hinab und hören, wie dein Vater sagt:

– Es wird eine Weile dauern, bis diese Wunde heilt.

– Fünf Jahre, sagst du.

– Mindestens.

Die Wunde ist der niedergebrannte Waldstreifen, wo vor einigen Monaten ein Blitz eingeschlagen hat. Der Gebirgszug hat das Feuer ausgebremst, hätte der Wind aber an dem Tag anders gestanden, wäre das gesamte Gebiet in Flammen aufgegangen. Im Frühjahr werdet ihr neue Bäume pflanzen, deine Familie ist da sehr gewissenhaft. Es gibt Rituale und Regeln, eine Wildpflege und Gesetze, die eingehalten werden müssen. Dennoch wird in diesem Winter eine Veränderung stattfinden, die sich gegen die Natur eurer Gemeinschaft wenden wird – dein Vater hat eine Versammlung einberufen. Nach über einem halben Jahrhundert soll keine Prüfung mehr stattfinden. So was gab es noch nie, und wenn dem Antrag stattgegeben wird, wird sich dein Vater viele Feinde machen. Der erste Schritt ist getan, und die gesamte Familie hat sich gegen ihn gestellt.

Und das alles nur wegen dir.

Dein Vater streift seinen Rucksack ab und setzt sich auf einen Baumstumpf. Mit dem Elbsegler auf dem Kopf sieht er aus wie ein Kapitän, der sich ins Gebirge verirrt hat. Du weißt, dass die schwarze Schiffermütze von Generation zu Generation weitervererbt wird, und es ist dir ein Rätsel, dass sie nicht längst auseinandergefallen ist. Sie stammt von deinem Ururgroßvater Marten, der 1901 Teil eine Forschungsreise in die Antarktis war und die Mütze vom Kapitän geschenkt bekam. Sie wird wie ein Talisman gehütet, und dein Vater verlässt ohne sie nicht das Haus. Jetzt dreht er die Schiffermütze zwischen den Händen und lässt seinen Kopf abkühlen.

– Ich könnte bis zum Winter hierbleiben, sagt er. Oder zumindest bis der erste Schnee fällt.

Er schließt die Augen und hält sein Gesicht der Sonne entgegen. Plötzlich lächelt er und sagt:

– Erinnerst du dich, was für einen Schrecken du mir eingejagt hast?

Du musst nicht raten, wovon er spricht. Es ist seine liebste Geschichte.

– Du hast mich gerettet, sagst du.

Er sieht dich an und nickt.

– Ja, ich habe dich gerettet.

Dann schüttelt dein Vater den Kopf, als könnte er es noch immer nicht glauben.

– Wie konntest du da nur reinfallen?

– Es war geplant.

– Asa, niemand plant so was.

Du grinst und sagst mit der Sturheit eines Kindes:

– Ich schon.

– Du hättest dir das Genick brechen können.

– Ich war vorbereitet.

– Mit Tee und Keksen?

– Und einem Buch.

Dein Vater nickt.

– Das Buch habe ich ganz vergessen.

Du hast sofort den Umschlag vor Augen und glaubst das Papier zu riechen.

– Nana hat nicht einmal gemerkt, dass du das Buch ausgetauscht hast, sagst du.

Dein Vater lacht.

– Deiner Großmutter sind solche Details nie wichtig gewesen, außerdem ist es dir selbst nicht aufgefallen.

Er hat recht. Du hast ernsthaft geglaubt, dein Vater wäre in der darauffolgenden Nacht in den Brunnen gestiegen und hätte für dich das Buch aus dem Wasser gefischt.

– Ich konnte dir damals alles erzählen, sagt er.

– Ich war ja auch sechs.

– Nein, du warst fünf.

– Sicher?

– Ganz sicher.

Du warst fünf Jahre alt und dich faszinierte der Gedanke an ein Loch in der Erde, aus dem sich Wasser ziehen ließ. Der Brunnen hinter eurem Haus war zu dem Zeitpunkt nur mit Brettern abgedeckt. Niemand nutzte ihn mehr, aber zuschütten wollte ihn auch keiner. Wann immer du konntest, hast du dich in seiner Nähe aufgehalten, und natürlich hat dir dein Vater verboten, die Bretter zu verschieben.

– Da unten schlafen Ratten, sagte er.

– Ich habe keine Angst vor Ratten, hast du erwidert.

Manchmal ist dir dein Ball weggerollt und zufällig vor dem Brunnen liegengeblieben. Manchmal bist du wie eine Katze daran vorbeigestrichen und hast die Flusssteine berührt, aus denen der Brunnen gebaut war. Und wenn du dich auf die Zehenspitzen gestellt hast, konntest du die Bretter verschieben. Da war so eine Ahnung in dir, dass der Brunnen mehr als nur Wasser enthielt. Es war deine Großmutter, die den Gedanken in deinen Kopf gepflanzt hatte. Dabei wollte sie dich nur trösten.

Deine Nana ist für dich mehr als nur eine Großmutter. Sie war dir beste Freundin und Mutterersatz zugleich. Sie hat deinen Vater aufgefangen, als er nach dem Tod deiner Mutter auseinanderzufallen drohte. Und sie erzählte dir Geschichten, viele Geschichten – woher deine Mutter kam und wie sie gesprochen hat, wie ihre Gedanken und Träume aussahen, was für Musik sie hörte, welche Bücher sie las. Damals ahntest du keine Sekunde lang, dass es durchweg erfundene Geschichten waren, die dir deine Trauer nehmen sollten. Als du deine Nana einmal fragtest, wo deine Mutter jetzt war, antwortete sie: »Sie befindet sich in der Dunkelheit, aber das ist nicht schlimm, Asa, denn in dieser Dunkelheit ist deine Mutter ein Licht.«

Mehr musstest du nicht hören.

Plötzlich ergab alles einen Sinn.

Vier gestapelte Ziegel aus dem Schuppen brachten dich auf die richtige Höhe. Du hast zwei der Bretter verschoben und vorsichtig in den Brunnen runtergeschaut. So hast du gewartet, dass sich deine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, und endlich hast du sie entdeckt – dort dümpelte nicht nur ein Eimer an einem Seil auf der Wasseroberfläche, dort unten schaute auch deine Mutter fragend zu dir hoch, und ihr habt euch ohne Worte verständigt.

Am nächsten Tag hast du ihr ein Bild gemalt.

Natürlich ahntest du, dass es deine Spiegelung war, die zu dir hochschaute. Du warst zwar erst fünf, aber so einfach warst du nun auch nicht gestrickt. Dennoch hattest du die winzig kleine Hoffnung, dass deine Spiegelung mehr als nur eine Spiegelung sein könnte. Alles ergab einen Sinn, alles hatte seinen Zauber. Darum hast du deiner Mutter ein Bild gemalt. Es segelte als Papierflugzeug in den Brunnen hinab und am nächsten Tag war es verschwunden. Du kamst nicht darauf, dass sich das Papier mit Wasser vollgesogen hatte und untergegangen war. Du dachtest, deine Mutter hätte den Flieger aufgefaltet und das Bild an die Brunnenwand gehängt. Natürlich wolltest du dir das näher ansehen. Also hast du einen Rucksack gepackt. Tee in die Thermoskanne, Kekse in die Dose und dein liebstes Buch obendrauf, falls dir deine Mutter was vorlesen wollte. Dann hast du den richtigen Moment abgepasst – dein Vater schliff in seiner Werkstatt einen Tisch ab.

Auf Zehenspitzen bist du über die Wiese zum Brunnen geschlichen.

Dein Plan war recht simpel.

Du wolltest das Seil packen, an dem der Eimer hing, und dich abseilen. Du hattest gesehen, wie man das in Filmen macht, und was Leute in Filmen konnten, das konntest du schon lange. Also hast du dich auf den Brunnenrand gesetzt und tief durchgeatmet. Deine Mutter schaute zu dir hoch und fragte, was das werden sollte. Du hast es ihr erklärt. Da musste sie lachen, es war ein richtiges hohles Brunnenlachen, das in deinem Bauch kitzelte, denn so einfach hatte sich deine Mutter das nicht vorgestellt. Also hast du deinen Rucksack zurechtgerückt, mit beiden Händen nach dem Seil gegriffen und dich vom Brunnenrand abgestoßen. Was danach geschah, geschah so schnell, wie es in Filmen nie so schnell geschieht – das Seil rutschte dir durch die Hände, du bist wie ein Stein hinabgestürzt und klatschend im Wasser gelandet. Der Schock war schlimm. Es war aber nicht der Schock, plötzlich im Brunnen zu sein, es war der Schock, dass du dir das alles anders vorgestellt hattest. Von einem Moment zum anderen lagst du im Wasser und musstest den Eimer umklammern, sonst wärst du untergegangen. Deine Schläfe brannte und Blut floss dir die Wange hinunter. Vorsichtig hast du den Kratzer an deiner Stirn betastet und das Blut weggewischt, und erst nachdem es dir gelungen war, einen Fuß in den Eimer zu stellen, hast du dich umgesehen.

Ein trübes Dämmerlicht herrschte hier unten, doch wie gut du auch Ausschau hieltest, deine Mutter war nirgends zu sehen und es hing auch kein Bild an der Brunnenwand. Da erst wurde dir mulmig zumute, doch ehe du in Panik geraten konntest, rief dein Vater nach dir. Es war mehr ein Flüstern. Du wolltest zurückrufen, dass er doch nicht flüstern musste, doch deine eigene Stimme war ein mickriges Piepsen, das in dem Brunnenschacht festhing. Niemals wird er mich so hören, dachtest du und hast versucht zu schreien, doch auch das war nicht besser. Alles, was sich im Brunnen befand, blieb im Brunnen. Es war zum Heulen.

Zu deiner Überraschung muss dich dein Vater dennoch gehört haben.

Sein Kopf tauchte über dir am Brunnenrand auf.

– Asa, was tust du da unten?

– Ich… ich mache ein Picknick.

Du zogst die Nase hoch.

– Und warum weinst du?

– Weil ich ganz nass bin.

– Soll ich dich da rausholen?

– Vielleicht.

– Dann steig mal in den Eimer.

– Einen Fuß habe ich schon drin.

– Gut, dann stell auch den zweiten Fuß rein.

Das war leichter gesagt als getan, du bist immer wieder abgerutscht, und der Eimer kippte nach links und rechts. Erst als dein Vater das Seil ergriff und spannte, konntest du den zweiten Fuß in den Eimer ziehen. Es war eng, und du standest wackelig und hattest das Seil mit beiden Händen umklammert, aber mehr musstest du auch nicht tun, nur dastehen und warten, dass dich dein Vater die zehn Meter hochzog.

In derselben Nacht bist du mit einem Schrecken erwacht. Du hattest eine Erkenntnis, die dich bis ins Mark erschütterte. Also bist du aus dem Bett gestiegen, um in das Nebenzimmer zu schleichen. Dort standest du im Türrahmen und hast deinen Vater beobachtet, wie er schlief. Du konntest kein Wort sagen, du konntest ihn nur ansehen und hoffen, dass er dich bemerkt. Eine gefühlte Ewigkeit verging, da erwachte er und fragte:

– Wie lange stehst du schon dort?

– Tage, hast du leise geantwortet.

– Willst du dich zu mir legen?

Natürlich wolltest du, aber du hast den Kopf geschüttelt, denn du warst enttäuscht von dir selbst. Du hast in der Tiefe des Schlafes begriffen, dass du jetzt noch immer in dem Brunnen festsitzen würdest, wenn dich dein Vater nicht gefunden hätte. Deswegen konntest du dich nicht zu ihm ins Bett legen, denn du warst es, die diese Dummheit begangen hatte. Du allein. Und wer so eine Dummheit begeht und sich auf diese Weise in Gefahr bringt, der darf nicht belohnt werden.

– Nächstes Mal rette ich dich, hast du deinem Vater versprochen.

– Gut, sagte er. Ich freu mich schon darauf.

Und so bist du in dein Bett zurückgekehrt.

Und so hast du gelernt, dass es Fehler gibt, die man nicht machen darf.

Und du hast auch gelernt, dass nicht alles ist wie im Film.

All das ist ein Jahrzehnt her und eine Geschichte, die deinem Vater und dir allein gehört. Sie gibt euch beiden ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Du kannst fallen, und du weißt, du wirst immer aufgefangen werden. Egal, was geschieht.

– Wollen wir?

Dein Vater rückt die Schiffermütze zurecht, und ihr setzt eure Wanderung fort. Auf dem Weg ins Tal schießt ihr zwei Kaninchen und weidet sie aus. Die Stunden gleiten beinahe lautlos dahin.

Mit Anbruch der Dämmerung schlagt ihr euer Nachtlager zwischen den Tannen auf. Du sammelst Holz, während dein Vater mit Steinen einen Feuerkreis errichtet. Ihr bratet die Kaninchen, esst und unterhaltet euch, während der Wind über euch hinwegstreicht und die Wipfel der Tannen sich knarrend wiegen. Kurz vor dem Einschlafen stellt dein Vater die Frage, die du nicht hören willst.

– Hat deine Nana mit dir gesprochen?

Seitdem du von deiner Begegnung mit Dotti erzählt hast, ist ein sehr turbulentes Jahr vergangen. Deine Großeltern sprechen nicht mehr mit dir, und das Dorf schneidet dich. Die Mutter eines Schulkameraden hat sogar einmal auf der Straße neben dir gehalten, das Fahrerfenster runtergelassen und dich eine Landesverräterin genannt. Es war albern gewesen, denn das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Du hast sie ausgelacht, du konntest nicht anders. Natürlich war dein Lachen auch ein wenig hysterisch gewesen. Niemand steckt es weg, beschimpft und von der Familie geschnitten zu werden.

Du warst ein Teenager, und das Lachen war deine beste Waffe.

Doch die Blicke deiner Großmutter konnte kein Lachen auslöschen.

Sie verlässt die Bäckerei, wenn du sie betrittst, sie wechselt die Straßenseite, wenn sie dich kommen sieht, und blickt demonstrativ in die andere Richtung. Euer letztes Zusammentreffen fand kurz vor dieser Wanderung statt. Du warst in deinem Zimmer am Packen, und als du dich umgedreht hast, stand deine Großmutter hinter dir, ergriff dich an den Armen und sagte, das sei jetzt deine letzte Chance. »Reiß dich zusammen, Asa!« Du hattest keine Ahnung, wie sie unbemerkt in das Haus gekommen war. Sie wollte, dass du deine Aussage zurückziehst, und sie fragte dich, was du dir dabei dachtest, mit deinen Behauptungen die ganze Gemeinde in Gefahr zu bringen. »Denk an die Menschen hier, denk an deinen Großvater, du brichst ihm das Herz. Das ist sein Leben, das ist seine Existenz, die du aufs Spiel setzt.« Deine Großmutter sprach von Tradition und appellierte an deine Vernunft. Sie sagte auch, du würdest nur Aufmerksamkeit suchen, und dann kam ein Wandel, er war wie ein Wetterumschwung – sie sprach die nächsten Worte mit einer Wärme, die dich vollkommen irritierte: »Und vergiss nie, wie sehr wir dich lieben.«

Dann trat sie zur Seite und ließ dich gehen.

All das muss dein Vater jetzt nicht erfahren, also antwortest du ihm:

– Nana hat kein Wort zu mir gesagt.

Dein Vater kann sehen, dass du lügst.

– Deine Großeltern hassen Veränderungen, erklärt er dir und lässt es wie eine Entschuldigung klingen und schiebt schnell hinterher: Dabei sind Veränderungen wichtig.

– Auch wenn diese Veränderungen alles zerstören?, fragst du zurück.

– Keine Sorge, Asa, davon wird nichts zerstört.

– Aber es fühlt sich so an.

– Weil sie wollen, dass es sich so anfühlt, aber lass dich nicht täuschen.

Dein Vater legt dir die Hand auf die Schulter.

– Veränderung muss stattfinden. Du warst wachsam und ehrlich. Du bist die Veränderung. Ich bin stolz auf dich, hörst du? Wenn etwas richtig ist, dann ist es richtig.

Und wenn etwas falsch ist, dann ist es oft mächtiger als das Richtige.

Das denkst du nur, das sprichst du nicht aus, doch den Mund kannst du dennoch nicht halten.

– Wieso ist es niemandem vorher aufgefallen?, fragst du.

– Weil keiner überlebt hat, antwortet dein Vater, und so trocken seine Worte auch klingen, umso grausamer sind sie, denn du hörst, was du nicht hören willst – auch dein Vater ist im Zwiespalt, auch er lebt seit seiner Kindheit mit der Tradition, dennoch hält er zu dir und riskiert, dass das ganze System zusammenbricht. Seine Worte hängen wie eine Wolkenfront zwischen euch beiden, denn dein Vater ist ein Teil des Ganzen, er ist einer von denen, die überlebt haben.

– Du hättest mich vorbereiten sollen, sagst du.

– Nein, das ging nicht.

Er sieht dich an.

– Deine Mutter hätte es mir nie verziehen. Sie hielt die Prüfungen für falsch. Lange vor deiner Geburt musste ich ihr versprechen, dass du keine von ihnen sein wirst. Kein Jäger, keine Beute.

– Dennoch hast du mich in die Prüfung geschickt.

– Weil ich wollte, dass du deine eigenen Entscheidungen triffst.

Er legt seine Hand an deine Wange, du möchtest dich dagegenlehnen und die Augen schließen und genau so einschlafen. Das letzte Jahr lastet schwer auf dir, in den Nächten raubt es dir den Atem. Dein Vater nimmt die Hand weg.

– Genug davon. Die Versammlung ist in einer Woche, dann reden wir eh über nichts anderes mehr.

– Genug davon, sagst auch du und bist froh, dass es genug ist.

Ihr liegt Kopf an Kopf neben dem Feuer und über euch sind die Wipfel der Tannen zur Ruhe gekommen.

Ihr habt Zeit, ihr atmet Zeit, ihr schlaft.

Die Nacht öffnet sich wie eine dunkle Blüte.

Die Sterne funkeln teilnahmslos.

Und so kommt der Schlaf.

Und so erwacht ihr vor dem ersten Licht.

Während dein Vater mit den Resten der Glut ein neues Feuer entfacht, holst du Wasser von dem Bergquell, der zögerlich zwischen den Felsen hervorfließt und selbst im Winter nicht versiegt. Es dauert drei Minuten, ehe die Feldflasche gefüllt ist. Noch sind die Vögel still, noch gehören euch das Gebirge und der Wald allein. Ihr kocht Tee und seht der Sonne zu, wie sie das Tal mit Licht flutet und den Morgennebel zerfleddert. Es ist der letzte Tag eurer Wanderung, es ist der traurigste Tag. Jedes Jahr derselbe Brauch, jedes Jahr dieselbe Zufriedenheit. Ihr durchquert das Land deiner Ahnen von einer Grenze zur anderen, dabei führt dein Vater Buch und registriert die Veränderungen. Welche Bäume sind krank? Welche Tiere wurden gerissen? Welches Wild hat sich zu stark vermehrt? Diese Zeit gehört euch beiden allein, in dieser Zeit seid ihr von eurem Denken her wie zwei Taue, die sich umschlingen und zu einem Tau werden. Und wie jedes Jahr bereust du es, dass eure Wanderung nach vier Wochen ein Ende finden muss. Nur noch der Abstieg, dann werdet ihr die Blockhütte erreichen, und das Leben wird seinen Lauf nehmen.

Deine Großmutter sagte es immer genauso.

Du vermisst es, mit ihr zu sprechen.

Wann immer du sie besucht hast, gab es diesen kleinen Moment, in dem sie zu dem gerahmten Foto über dem Kamin schaute und mitten im Satz verstummte. Dieser Moment hielt nie lange an, und du hast ihn immer schweigend ertragen. Das Foto war eine Schwarzweißaufnahme mit gezacktem Papierrand. 1968. Josefine, Matthias und Ludwig. Nur die Söhne haben die Prüfung überlebt und es zerriss deiner Großmutter das Herz, dass sie ihr Mädchen verloren hat. Sie erträgt den Verlust wortlos und mit einem unstillbaren Schmerz. Wann immer sie das Foto in die Hand nimmt, atmet sie schwer durch und sagt kaum hörbar: »Selbst wenn wir ganz genau achtgeben, nimmt das Leben seinen Lauf und lässt uns tot zurück.«

– Woran denkst du?, fragt dein Vater.

– An den Winter, lügst du.

Ihr sprecht wenig, und du genießt die Wehmut.

Der Abstieg ist auch ein Abschied.

Nächstes Jahr sind wir wieder unterwegs, denkst du, nächstes Jahr ist um die Ecke.

Zwischen den Baumwipfeln hindurch könnt ihr schon im Tal das schiefergraue Dach der Blockhütte sehen. Noch zwei Stunden, dann werdet ihr euer Ziel erreicht haben und für Xavier sichtbar sein.

– Ich könnte wetten, er hat uns wieder was gebacken, sagst du.

– Ich hoffe sehr, dass es sein Mohnkuchen ist, sagt dein Vater.

Das Grundstück wird von zwei Kameras überwacht und ist nur über einen Waldweg erreichbar. Zwar gibt es eine asphaltierte Straße, aber sie verläuft zwei Kilometer entfernt um den Wald herum. Das Wasser kommt aus einer unterirdischen Quelle, ein Gastank beheizt die Blockhütte und ein Generator liefert den Strom. In den umliegenden Wäldern befinden sich sechs solcher Hütten. In einer davon nahm die Prüfung ihren Anfang. Diese Hütte gehörte einst deiner Urtante Arnika und war über ein Jahrzehnt ihr Zuhause gewesen. Die anderen Hütten dagegen sind spartanisch eingerichtet und dienen nur als Anlaufstellen während der Jagdsaison. Die Blockhütte hier im Tal ist eine Ausnahme, denn sie ist das zweite Domizil deiner Familie und seit deiner Kindheit der Ort, an dem du eines Tages leben willst.

– Schau dir das an, sagt dein Vater.

Ihr seid durch die Büsche auf das Plateau getreten, auf dem ihr immer eure letzte Rast einlegt. Da ist der breite Fels und die Feuerstelle aus Flusssteinen, die du über die Jahre hinweg mühevoll im Rucksack angeschleppt und zu einem Kreis angelegt hast. Von hier oben habt ihr einen freien Blick auf die Hängebrücke unter euch, die die eine Talseite mit der anderen verbindet.

Der Anblick ist berauschend.

Du willst dich auf den Felsen setzen und den Rucksack abstreifen, als dir unten im Tal eine Bewegung auffällt. Du kneifst die Augen ein wenig zusammen und fixierst die Hängebrücke. Nein, du hast dich nicht getäuscht. Da sind ein Mann und eine Frau. Sie haben hier nichts verloren, denn der Wald ist mitsamt dem Gebirge Privatgelände und Wanderungen oder Ausflüge sind auf dieser Talseite verboten. Was auch immer diese Wanderer hier tun, sie können froh sein, wenn ihnen dein Großvater nicht über den Weg läuft. Auf die Entfernung hin kannst du ihre Gesichter nicht erkennen, du erkennst aber, wie sie gekleidet sind.

– Wieso lachst du?, fragt dein Vater.

– Sie tragen dieselben Sachen wie wir.

– Wer?

Du zeigst ins Tal. Dein Vater tritt vor, um besser zu sehen.

– Da unten auf der Hängebrücke. Siehst du sie? Er hat genau wie du einen Elbsegler auf und sie…

Weiter kommst du nicht, weil hinter euch eine Graugans aus den Büschen auffliegt. Ihre Flügel peitschen die Luft, ihr Meckern klingt hysterisch. Du drehst dich um, und dein Vater reagiert, wie nur dein Vater reagieren kann – auch er macht auf dem Absatz kehrt, dabei gleitet das Gewehr von seiner Schulter und landet in seinen Händen. Ehe du etwas sagen kannst, hat er die Waffe im Anschlag. Sein Finger liegt auf dem Abzug, und du erwartest den Schuss, stattdessen explodiert die Brust deines Vaters mit einem puffenden Laut nach außen und eine Wolke aus Blut umschließt dich.

Dein Vater steht reglos da, sein Mund klappt auf, er sieht dich erstaunt an und versteht nicht, wo das ganze Blut herkommt, das dich von Kopf bis Fuß bedeckt. Er schwankt, und ehe seine Beine nachgeben und er zu Boden stürzt, weißt du mit erschreckender Klarheit, was als Nächstes geschehen wird – eine zweite Kugel ist auf dem Weg zu dir.

DER GRIECHE

1

– Zwei Kugeln?

– Zwei.

Sie lachen, sie sagen:

– Das ist albern.

– Niemals bekommst du das hin.

Er zuckt mit den Schultern und erwidert:

– Zwei sind es.

Sie wechseln einen Blick, sie schütteln den Kopf.

– Nicht auf die Entfernung.

– Der Wind ist zu stark.

Er sieht sie nur an.

Sie reisen zu dritt.

Das Traumpaar und der Grieche.

Der Grieche wird der Grieche genannt, obwohl er aus Italien stammt. Sein richtiger Name ist Nicco Alfi, und er wurde östlich von Neapel im Viertel Barra geboren, wo er mit sechs Jahren gegen einen Jungen antrat, der ihm einen Kanten Brot gestohlen hatte. Der Junge war drei Jahre älter und wurde sein erster Toter. Auf diese Weise machte Nicco auf sich aufmerksam – eine Rotznase, die auf der Straße lebte, in einem Kellerloch schlief und sich nichts wegnehmen ließ.

Es ist immer der erste Eindruck, der zählt.

Eine Prostituierte nahm den Jungen unter ihre Fittiche. Ihr Name war Nova Bella und Nicco war eines von sechs Kindern, denen sie in ihrer Wohnung ein Zimmer mit Matratzen bereitstellte. Dafür mussten die Kinder auf der Straße betteln, Besorgungen erledigen und sich um den Haushalt kümmern. Bald schon kannte jeder im Viertel den Jungen mit den pechschwarzen Augen, der wie ein Fuchs stahl und wie eine Gazelle rannte. Nicco war flink, wortkarg und humorlos. Wer ihn sah, dachte an ein gefangenes Tier, das am Gitter nagt. Niemand kam ihm nahe, niemand war sein Freund, und vielleicht wäre das noch lange so geblieben, wenn sich Niccos Wert nicht plötzlich verändert hätte – mit dreizehn schoss er in die Höhe und Nova Bella zog ihn von der Straße ab und machte ihn zu ihrem Leibwächter. Mit einem Baseballschläger unter dem Stuhl und einem Zagor-Comic auf den Knien saß er jede Nacht vor ihrer Schlafzimmertür, während sie ihre Kunden empfing. Nicco begleitete Nova Bella beim Einkauf und zum Friseur, auch durfte er bei ihr schlafen, wenn das Bett frei war. Zwei Jahre lang ging das gut, dann kam das Frühjahr 1967 und eine Streikwelle flutete den Süden von Italien. In diesem Sommer stank ganz Neapel nach Abfall und in den engen Gassen stapelten sich die Müllsäcke wie nachlässig abgeworfene Leichen, die zuckten und zitterten. Die Ratten waren in Rudeln unterwegs, brüteten im Müll, schlängelten sich durch die Rohre und tauchten aus den Kloschüsseln auf. Tagsüber verfluchten die Bewohner die Regierung und in den Nächten wurden Schaufenster eingeworfen und Autos angezündet. Nach der Müllabfuhr schlossen sich die Bäcker dem Streikgeschehen an, ihnen folgten die Handwerker und Klempner. Es war keine gute Zeit, um sich in Neapel Sehenswürdigkeiten anzusehen. Aber wo eine Streikwelle ist, sind auch sehr schnell Streikbrecher unterwegs. Die Regierung warb Arbeiter vom Land an, die sich unter die Bevölkerung mischen und für Unruhe sorgen sollten. Einer der Streikbrecher landete bei Nova Bella im Bett. Nicco kannte seinen Namen nicht, es war also nichts Persönliches, was in dieser Nacht geschah. Der Streikbrecher begann nach dem Sex ausfällig zu werden und würgte Nova Bella, bis sie bewusstlos auf dem Boden lag. Er stahl ihr das Geld aus der Handtasche, ahmte ihre hohe keifende Stimme nach und rief nach Nicco. Der Junge stürmte sofort in das Zimmer, wo ihn der Streikbrecher hinter der Tür erwartete und niederschlug. Er lachte den Jungen aus und pisste ihm ins Gesicht, ehe er das Haus verließ und laut singend die Gasse hochspazierte. In der ersten Kneipe spendierte er eine Runde Wein und erzählte, dass ihm das Viertel sehr gut gefallen und er von jetzt an von den Prostituierten bezahlt werden würde und nicht andersherum. Zwei Tage später fand man seine Leiche in einem Abwasserkanal. Die Polizei stellte Fragen, und obwohl alle wussten, wer den Mord begangen hatte, erwähnte niemand Niccos Namen. Nova Bella lag eine Woche lang im Krankenhaus und verließ es mit Würgemalen am Hals und einer brüchigen Stimme, die nie wieder schrill klang. Als sie erfuhr, was dem Streikbrecher widerfahren war, reagierte sie nicht, wie es Nicco erwartet hatte – kein Lob, keine Belohnung. Nova Bella brach in Panik aus, der Fünfzehnjährige war ihr zu gefährlich geworden, und so verkaufte sie ihn kurzerhand. Sein neuer Besitzer hieß Port Paris. Er war es, der Niccos natürliches Talent sah und weiterentwickelte und auf diese Weise über die kommenden Jahre hinweg einen Killer aus ihm machte. Er war auch für den neuen Namen verantwortlich und stellte dem Griechen schließlich das Traumpaar an die Seite.

– Zwei ist unmöglich, sagt Ruben.

– Nicht auf die Entfernung, wiederholt Stina.

Das Traumpaar sind Stina Haugen und Ruben Dahl. Sie kommen aus Norwegen, wo ihre Familien über ein Jahrhundert hinweg miteinander verfeindet waren. Die Fehde konnte nach der langen Zeit niemand mehr wirklich nachvollziehen, was die Familienmitglieder aber nicht davon abhielt, sich auf der Straße zu beschimpfen und mit Hasstiraden zu überschütten. Als Kinder waren Ruben und Stina die besten Freunde, und als Teenager verwandelte sich diese Freundschaft in Liebe. Die Familien hielten natürlich nichts von dieser Verbindung – Rubens Vater schlug seinen Sohn halbtot, während Stina einen Monat lang im Keller eingesperrt wurde. Als das Traumpaar wieder aufeinandertraf, wussten sie, dass es nur einen Weg gab, um aus dieser Misere herauszukommen. Sie waren siebzehn Jahre alt und Wild at Heart summte durch ihre Adern, Natural Born Killers war ihre Hymne und Bonnie & Clyde ihr Abgesang.

In den frühen Morgenstunden des 16.Juli 1989