Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück - Zoran Drvenkar - E-Book

Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück E-Book

Zoran Drvenkar

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Beschreibung

Zoran Drvenkar über die besondere Beziehung eines Jungen zu seinem Großvater. Ein zeitloser, berührend erzählter Generationenroman

Kai und sein Opa sind Kumpel, Kameraden und beste Freunde. Vor allem aber ist Opa Kais größter Held. Doch Opa beginnt langsam zu vergessen – wer er selbst ist und wer sein Enkel ist. Kai muss etwas unternehmen, um seinen Opa nicht zu verlieren! Und so reist er mit ihm in die Vergangenheit. Indem er Opa mitnimmt in dessen Jugend- und Kriegsjahre, hofft er, seine Erinnerung wachrufen zu können, um so seinen Opa zurückzugewinnen. Doch nach und nach erkennt Kai, dass Opas Leben gar nicht so heldenhaft war, wie er es seinem Enkel immer berichtet hat. In eindringlicher und mitreißender Sprache erzählt Zoran Drvenkar eine hoffnungsvolle und ehrliche Geschichte über die ganz besondere Beziehung des elfjährigen Kai zu seinem Großvater.

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Das ist das Cover des Buches »Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück« von Zoran Drvenkar

Über das Buch

Kai und sein Opa sind Kumpel, Kameraden und beste Freunde. Vor allem aber ist Opa Kais größter Held. Doch Opa beginnt langsam zu vergessen — wer er selbst ist und wer sein Enkel ist. Kai muss etwas unternehmen, um seinen Opa nicht zu verlieren! Und so reist er mit ihm in die Vergangenheit. Indem er Opa mitnimmt in dessen Jugend- und Kriegsjahre, hofft er, seine Erinnerung wachrufen zu können, um so seinen Opa zurückzugewinnen. Doch nach und nach erkennt Kai, dass Opas Leben gar nicht so heldenhaft war, wie er es seinem Enkel immer berichtet hat. In eindringlicher und mitreißender Sprache erzählt Zoran Drvenkar eine hoffnungsvolle und ehrliche Geschichte über die ganz besondere Beziehung des elfjährigen Kai zu seinem Großvater.

Zoran Drvenkar

Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück

Hanser

Für Gregor,

ohne dich wäre Kai

nur ein Wort

mit drei Buchstaben

1.

Die ersten Sonnenstrahlen kriechen über das Fensterbrett, schlängeln sich am Vorhang vorbei und lassen sich in das Wohnzimmer fallen. Sie schauen sich um und entdecken einen Sessel, eine Leselampe und zwei Koffer, die neben der Haustür stehen. Die Sonnenstrahlen wandern den Sessel hoch, und erst als sie sich auf der Kopflehne niedergelassen haben, bemerken sie den Jungen auf dem Boden. Es sieht aus, als würde er im Sitzen schlafen. Doch als die Sonnenstrahlen näher herangehen, fällt ihnen auf, dass seine Augen offen sind und er geblendet in das Morgenlicht blinzelt.

Der Junge hätte sie bestimmt mit einem Hallo begrüßt, da aber ein Klebeband über seinem Mund liegt, muss er vorerst die Klappe halten. Er ist elf Jahre alt und ihm sind die Hände auf dem Schoß gefesselt. Sein Hintern schmerzt von dem Schneidersitz und die Arme fühlen sich an, als wären sie aus Holz geschnitzt.

Die Sonnenstrahlen wandern den Rücken des Jungen hoch und vollführen einen kleinen Stepptanz auf seinen Schultern, ehe sie mitten in der Bewegung erstarren, als Schritte aus dem oberen Stockwerk zu hören sind.

Der Junge schaut hoch.

Das Geräusch der Schritte verstummt.

Eine Spülung rauscht.

Der Junge kratzt sich mit den gefesselten Händen an der Nase.

Die Schritte kommen die Treppe herunter.

*

Der Mann ist alt, richtig alt. Er ist so alt, dass sein Schatten ungeduldig von hinten schiebt, weil ihm der alte Mann zu langsam geht. Er trägt einen karierten Schlafanzug und Hausschuhe, die bei jedem Schritt über die Stufen schleifen, da er die Füße nicht richtig hebt. Seine Haare stehen auf der einen Seite ab und über seinem linken Auge liegt eine schwarze Augenklappe.

Nachdem der alte Mann den untersten Treppenabsatz erreicht hat, geht er an dem Jungen vorbei, als wäre dieser nicht wirklich anwesend.

An der Haustür zögert der alte Mann kurz und betrachtet die zwei Koffer. Der Junge folgt jeder seiner Bewegungen mit den Augen, bis der alte Mann in der Küche verschwindet, wo er sich Kaffee aus einer Thermoskanne eingießt.

Der Junge seufzt.

Während der alte Mann den ersten Schluck Kaffee trinkt, kratzt er sich nachdenklich am Hintern und wundert sich, wie lange er wohl geschlafen hat. Dabei kommt ihm ein Gedanke. Seine Stirn runzelt sich wie eine Ziehharmonika, die lange in einer verstaubten Ecke gestanden hat und froh ist, wieder hervorgeholt zu werden.

Da war doch was, denkt der alte Mann und schaut in das Wohnzimmer zurück und gibt ein leises »Oh« von sich. Er tut zwar so, er ist aber nicht wirklich überrascht, einen gefesselten und geknebelten Jungen auf dem Boden sitzen zu sehen. Mit dem Kaffeebecher in der Hand verlässt er die Küche und bleibt vor dem Jungen stehen.

»Du bist ja noch immer da«, sagt er.

Der Junge nickt, er ist noch immer da.

»Hast du es dir überlegt? Wirst du jetzt reden?«

Der Junge nickt erneut, daraufhin beugt sich der alte Mann vor und reißt mit einem Ruck den Klebestreifen von seinem Mund. Der Junge verzieht das Gesicht, gibt aber keinen Laut von sich. Der alte Mann nippt von seinem Kaffee und betrachtet den Jungen abschätzend.

»Wie bist du überhaupt reingekommen?«, fragt er.

»Durch die Haustür«, antwortet der Junge.

»Das glaube ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil die Haustür immer verschlossen ist.«

Der Junge schweigt.

»Also, noch mal von vorne: Wie bist du reingekommen?«

»Ich habe einen Schlüssel.«

»Aha, du bist also einer von denen, die einen Schlüssel haben!«

Der alte Mann lacht, als hätte er einen guten Scherz gemacht, dann zeigt er mit dem Kinn zu den zwei Koffern.

»Und die Koffer? Sind das deine?«

»Nicht wirklich.«

»Nicht wirklich ist keine Antwort.«

»Es sind nicht meine Koffer.«

Der alte Mann nickt, als hätte er sich das schon gedacht.

»So wie du aussiehst, hätte ich dich auch nie für einen Schmuggler gehalten.«

»Ich bin auch kein Schmuggler«, sagt der Junge und seufzt erneut.

Der Seufzer gefällt dem alten Mann.

»Langsam wirst du mürbe, was?«

»Ein wenig«, gibt der Junge zu.

»Gut, sehr gut.«

Der alte Mann nippt erneut von seinem Kaffee.

»Ich verrate dir mal, wie es von jetzt an läuft«, sagt er. »Ich stelle die Fragen und du hast zu antworten, den Rest der Zeit hältst du den Mund, verstehst du das?«

»Ich verstehe.«

»Gut, was also führt dich hierher?«

»Ich wollte nett sein.«

Der alte Mann schüttelt den Kopf.

»Mach dich nicht lächerlich, mit Nettigkeiten kommst du nicht weit. Sag die Wahrheit.«

»Ich sage die Wahrheit. Ich wollte nett sein und das habe ich jetzt davon.«

Der alte Mann macht große Augen.

»Was? Ich glaube, ich höre nicht recht, du kleiner Hosenscheißer! Frech bist du also auch noch!«

Er stellt den Becher auf den Boden, hockt sich vor den Jungen und hält ihm seine Hände entgegen.

»Siehst du diese Hände?«

»Ich sehe sie.«

»Damit bin ich gegen zehn Männer angetreten.«

Der Junge betrachtet die Hände, als hätte er sie noch nie gesehen.

»Wirklich?«, fragt er.

»Natürlich wirklich. Wer denkt sich denn so was aus?!«

»Wer waren die zehn Männer?«

Der alte Mann winkt ab.

»Keine Ahnung. Wenn du im Krieg bist, fragst du nicht, wer dich bedroht, da kämpfst du um dein Leben. Zehn gegen einen. Was glaubst du, wer überlebt hat?«

»Du und die Hände?«

»Richtig, ich und meine Hände.«

Der alte Mann macht eine Faust, hält sie dem Jungen unter die Nase und knurrt:

»Also leg dich nicht mit mir an, du Knirps. Hast du verstanden?!«

»Ich habe verstanden.«

»Gut.«

Der alte Mann richtet sich wieder auf.

»Dann verrat mir mal, wer dich geschickt hat.«

»Meine Mutter.«

Der alte Mann ist verblüfft.

»Was? Deine Mutter? Du bist doch höchstens neun Jahre alt!«

»Elf.«

»Ich glaub’s ja nicht! Jetzt schicken sie also schon Kinder an die Front!«

»Aber …«

Der alte Mann unterbricht den Jungen mit einer knappen Handbewegung.

»Habe ich eine Frage gestellt?«

»Nein.«

»Dann gibt es für dich auch keinen Grund zu reden. Was denkst du denn, wer du bist?!«

»War das jetzt eine Frage?«, fragt der Junge vorsichtig zurück.

»Natürlich war das eine Frage.«

»Ich bin Kai.«

»Kai was?«

»Kai Westhagen.«

Der alte Mann grübelt.

»Westhagen? Westhagen? Mh, habe ich schon mal gehört.«

Jetzt hat der Junge genug. Die Worte platzen regelrecht aus ihm heraus:

»Mensch, Opa, ich bin es, dein Enkel!«

Der alte Mann erstarrt. Sein gesundes Auge weitet sich und die Iris scheint aufzufunkeln. Die Pupille dagegen zieht sich zur Größe eines Stecknadelkopfs zusammen, als würde das Sonnenlicht sie blenden. Es geschieht noch viel mehr, doch es ist nicht sichtbar — alle Sicherheit verlässt den alten Mann und die Unsicherheit übernimmt ihren Platz wie ein Besucher, der sich durch die Hintertür reingeschlichen hat und nicht daran denkt, wieder zu gehen.

»Mensch, Junge«, sagt er mit einem erschrockenen Lachen, »als wenn ich nicht wüsste, wer du bist. Kai Westhagen! Natürlich! Mein Enkel. Und ich bin dein Opa. Aber sicher. Wie lange sitzt du schon hier?«

»Eine Woche oder so.«

»Was?!«

Der Junge grinst.

»Nee, nur eine Stunde, Opa.«

»Und was habe ich getan?«

»Du hast ein Nickerchen gemacht.«

Opa reibt sich mit beiden Händen übers Gesicht, als würde er es gründlich waschen müssen. Danach schaut er zur Treppe hoch und versucht sich zu erinnern, dass er bis eben geschlafen hat.

»Natürlich, ich erinnere mich.«

Er lacht auf.

»Ich habe ein Nickerchen gemacht und jetzt bin ich wach. So einfach kann das sein. Aber sag mal …«

Er sieht seinen Enkel schief an.

»… warum sitzt du gefesselt auf dem Boden?«

»Du dachtest, ich wäre der General.«

Opa legt den Kopf schräg.

»Was? So ein Unsinn, du siehst nicht aus wie ein General.«

»Ich war auch sehr überrascht.«

Kai streckt seine gefesselten Hände hoch.

»Opa, befreist du mich jetzt?«

»Aber natürlich, natürlich.«

Opa hockt sich hin und löst die Knoten.

Kai reibt sich die Handgelenke und weiß genau, was sein Großvater als Nächstes sagen wird.

»Also, was führt dich hierher, mein Junge?«

»Mama will, dass ich die Koffer abhole und bei uns in den Keller stelle«, antwortet Kai, ohne dabei rot zu werden.

Opa schaut zu den Koffern.

»Ja, natürlich. Ich erinner mich. In den Koffern sind …«

Er verstummt und sieht Kai abwartend an.

»… die Bücher, die du aussortiert hast«, spricht Kai für ihn weiter.

»Ach, richtig, die Bücher«, sagt Opa erleichtert und lässt sich neben seinem Enkel nieder. Als er sitzt, zieht er den linken Fuß auf den rechten Oberschenkel und den rechten Fuß auf den linken Oberschenkel.

»So ist es bequem«, sagt Opa und lächelt.

»Wie machst du das nur?«, fragt Kai.

»Wie mache ich was?«

»Wie kannst du nur so dasitzen?«

»Junge, Yoga macht alles möglich.«

Kai macht es ihm nach und hebt den linken Fuß auf den rechten Oberschenkel. Ehe er den anderen Fuß heben kann, beginnt er umzukippen.

»Ich kann kein Yoga«, sagt er resigniert und lässt es sein.

»Du kannst ja auch nicht stillsitzen.«

Kai seufzt.

»Wenn ich länger als eine Minute stillsitze, schlafe ich ein.«

Opa tätschelt ihm die Schulter.

»Das wird schon werden, Junge, die große Kunst ist es, einzuschlafen und dabei die Augen aufzubehalten. So haben wir den Krieg überlebt. Wir haben einfach nur dagesessen und gewartet, dass es vorbei ist. Es ist eine Frage der Einstellung. Damals waren wir so ungelenk wie du. Keiner von uns hätte Yoga ausprobiert, wenn da nicht dieser Kerl gewesen wäre, der …«

Opa verstummt. Er dreht den Becher in den Händen und schaut hinein, als würde sich der Rest seiner Erinnerung im Kaffee verstecken. Kai kommt ihm wieder zu Hilfe.

»… der Sohn vom Maharadscha«, spricht er für ihn zu Ende.

»Richtig!«, ruft Opa aus. »Balthazar Mirim Madan der Verrückte!«

»Aber ihr habt nur Badu zu ihm gesagt.«

»So ist es. Der gute Badu. Ich frage mich …«

Opa bricht mitten im Satz ab und sieht sich um. Dieser Moment ist wie ein Lichtschalter, den man umlegt, und es geht kein Licht an. Der Wandel erschreckt Kai jedes Mal. Sein Großvater betrachtet das Wohnzimmer, als würde er hier zum ersten Mal auf dem Boden sitzen und Yoga machen. Er sieht das Bücherregal und erkennt keines der Bücher wieder. Er sieht die Leselampe und den Sessel und stellt sich vor, wie er dort sitzt. Es gelingt ihm nicht. Opa wirkt wie jemand, der an der falschen Station aus der U-Bahn gestiegen ist und keine Ahnung hat, wo er gelandet ist. Die Sonnenstrahlen tänzeln um ihn herum, aber selbst sie können ihm keine Erinnerung entlocken. Sein Kopf ist ein stiller See, auf dem sich keine Welle bewegt. Als ihm schließlich ein Gedanke kommt, hat dieser nichts mit den Gedanken von zuvor zu tun.

»Sag mal, wieso habe ich keinen Tisch?«

»Du magst Tische nicht.«

»Und wo esse ich?«

»In der Küche.«

»Ach, kein Tisch also.«

Opa schaut zum Sessel.

»Aber ich habe einen Sessel.«

»Du liebst deinen Sessel.«

Opa kratzt sich am Kopf.

»Was liebe ich noch?«

»Gurkensalat, Zebras, Stummfilme.«

»Aha.«

»Und ganz besonders Bücher, du liest jeden Tag eins.«

Opa ist erstaunt.

»Jeden Tag?«

»Jeden Tag. Darum ist dein Bücherregal auch so voll.«

»Was sagt man denn dazu. Und was mag ich nicht?«

»Rote Äpfel, Clowns und Kinder, die zu viel reden.«

»Kinder wie dich?«

»Ich bin kein Kind, Opa, ich bin dein Enkel, mich liebst du.«

Opa schüttelt verwundert den Kopf.

»Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht. Aber …«

Er schaut wieder in seinen Becher.

»… Junge, ich muss dir was beichten.«

Opa sieht ihn ernst an, Kai hält seinem Blick stand und sitzt plötzlich ganz still. Auch wenn er am liebsten die Arme um seinen Großvater gelegt hätte, um ihn zu beschützen, weiß er, dass das nicht geht. Er muss zuhören, er darf nicht ungeduldig sein.

»Ich habe dich vorhin angelogen«, spricht Opa weiter.

»Womit?«

»Ich sagte, ich erinner mich, aber ich erinner mich an nichts.«

Kai weiß das, dennoch sagt er:

»Nee, Opa, das stimmt nicht.«

»Doch das stimmt.«

»Aber du hast dich an Balthazar Mirim Madan den Verrückten erinnert.«

Opa legt den Kopf schräg.

»An wen?!«

»Mensch, Opa, Badu, den Sohn des Maharadschas!«

»Nie gehört.«

»Sicher?«

»Ganz sicher.«

Kai beißt sich auf die Unterlippe und lenkt ein.

»Das ist nicht schlimm«, sagt er, »das kommt alles bald wieder, denn ---«

»Nein«, unterbricht ihn Opa, »ich denke nicht, dass es wiederkommt.«

»Nicht?«

Opa schüttelt den Kopf.

»Ich vergesse alles«, spricht er weiter und hebt dabei den Becher. »Ich weiß nicht einmal, wo dieser Kaffee herkommt. Ich vergesse und vergesse. Alles. Auch mich.«

Kai spürt einen Kloß im Hals. Es ist nicht das erste Mal, dass sein Großvater sich nicht erinnert. Aber es ist das erste Mal, dass Kai das Gefühl hat, sein Opa würde ihm ernsthaft entgleiten. Wie eine Seifenblase, die davongeweht wird, denkt er und sagt:

»Opa, du kannst dich doch nicht selbst vergessen. Das geht nicht, das ist ---«

»Junge, sieh mich doch mal an«, unterbricht ihn Opa erneut. »Ich habe keine Ahnung, wer ich bin. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Und wenn ich ganz ehrlich bin …«

Er lächelt entschuldigend.

»… habe ich auch keine Ahnung, wer du bist.«

»Aber ich bin Kai, Kai Westhagen.«

Opa reibt sich über die Stirn, als würde er eine Tafel sauber wischen.

»Mh, den Namen habe ich schon mal gehört.«

»Mensch, Opa, ich bin dein Enkel!«

Der Großvater hört das und nickt und starrt wieder vor sich hin, als hätte er nichts gehört, dabei sieht er auf seine Hände, die den Becher halten. Seine Augen weiten sich, er stellt den Becher weg, hält die Hände in das Sonnenlicht und dreht sie von links nach rechts.

»Sag mal, wie alt bin ich überhaupt?«

»Hundert.«

Opa lässt die Hände erschrocken sinken.

»Mensch, wann bin ich denn hundert geworden?!«

»Ich würde mal sagen, die letzten hundert Jahre über.«

Auch wenn er nicht will, muss Opa lachen.

»Junge, warst du immer so witzig?«

»Erst seitdem du mein Großvater bist«, antwortet Kai und endlich lachen sie gemeinsam. Eine ganze Minute lang, dann schlägt sich Opa plötzlich die Hände vors Gesicht. Auch das kennt Kai schon und es zerreißt ihm immer wieder das Herz.

»Oh, nein, Opa, nicht weinen.«

Es hilft nicht. Opa kann die Tränen nicht zurückhalten. Erst nach einer Weile nimmt er die Hände wieder herunter und klopft mit einer Fingerspitze gegen die Augenklappe.

»Und was ist das?«

»Eine Augenklappe.«

Opa ist schockiert.

»Ich bin hundert und mir fehlt ein Auge?!«

»Du hast ja noch ein zweites.«

»Soll das wieder witzig sein?«

»Nee, Opa. Besser eins als keins, hast du immer gesagt.«

»So was habe ich gesagt?«

»Mindestens einmal in der Woche.«

Opa schüttelt verwundert den Kopf und wiederholt:

»Ich bin also hundert und mir fehlt ein Auge und …«

Er sieht sich um.

»… ich erinner mich an nichts.«

Kai ballt die Hände zu Fäusten und hält sie Opa unter die Nase.

»Erinnerst du dich auch nicht daran, wie du nur mit deinen Händen gegen zehn Männer angetreten bist? So was vergisst man doch nicht, Opa. Oder wie dir vom General an einem einzigen Tag sieben Orden verliehen wurden? Oder wie du dein Auge verloren hast, weil du den Dicken Tobi beschützt hast?«

Der Großvater sieht seinen Enkel verblüfft an.

»Beschützt vor wem?«, fragt er.

»Vor dem Feind.«

»Vor welchem Feind?«

Kai kommt auf die Beine.

»Es geschah bei Nacht und Nebel«, sagt er und duckt sich, als würden ihn Nacht und Nebel umschließen. »Der Feind hat sich angeschlichen und deine Kompanie im Morgengrauen überrascht. Er kam über die Felder und durch die Büsche. Er versteckte sich hinter den Bäumen und war fast unsichtbar. Doch der Feind kam nicht mit Gewehren.«

»Nicht?«

»Nee, der Feind hatte Armbrüste.«

Opa stutzt.

»Armbrüste? Wann war denn das? Im Mittelalter?«

»Nee, Opa, lass mich doch mal erzählen. Der Feind hatte Armbrüste mit Bolzen und die Bolzen zischten nur so durch die Luft, sodass keiner wusste, wohin er rennen sollte. Du aber hast einen kühlen Kopf bewahrt und deine Männer in Sicherheit gebracht. Alle, außer den Dicken Tobi. Der war völlig verpennt, und als er dann losrannte, ist er gestolpert, und da hast du dich dazwischengeworfen und mit einer Hand tschak einen Bolzen aus der Luft aufgefangen und tschak mit der anderen Hand den nächsten Bolzen. Und als du keine Hand mehr hattest und es ernsthaft danach aussah, als würde der Dicke Tobi einen Bolzen abbekommen, da hast du den Kopf hingehalten und der Bolzen hat dich tschak mitten ins Auge getroffen.«

Opa greift sich erschrocken an die Augenklappe.

»Das klingt ja furchtbar!«

»Es war auch furchtbar, aber du hast es überlebt, weil du alles überlebst, Opa. Stell dir vor, du bist aus dem Krieg zurückgekommen, ohne auch nur einen Menschen getötet zu haben! Du bist ein Held, Mensch, du bist mein Held, so was kannst du doch nicht vergessen!«

»Eigentlich nicht«, gibt Opa zu.

»Wenn jetzt wieder Krieg wäre«, spricht Kai weiter, »würde ich alles genauso machen, wie du es gemacht hast. Deswegen sei mal stolz auf dich. Außerdem wäre der Krieg ohne dich nie zu Ende gegangen.«

Opa sieht ihn ungläubig an.

»Ernsthaft?«

»Geschworen. Du bist den ganzen Weg von der Front bis nach Hause mit dem Motorrad gefahren und hast dann zwei Anrufe gemacht. Du hast erst mit dem einen, dann mit dem anderen Präsidenten gesprochen und gesagt, es würde reichen, der Krieg müsste sofort ein Ende finden.«

»Und sie haben auf mich gehört?«

»Aber klaro. Der eine Präsident hat sofort eine Durchsage im Radio gemacht und die Waffen wurden niedergelegt. Der andere Präsident wollte sich erst weigern, da hast du zu ihm gesagt, weigern geht nicht, also hat auch dieser Präsident aufgegeben und es war endlich Frieden. Toll, was?«

Opa ist eindeutig beeindruckt von sich selbst.

»Und das habe ich alles vergessen?«, sagt er verwundert.

Kai zuckt mit den Schultern.

»Manchmal kommt es wieder, Opa, und manchmal versteckt es sich und dann erinner ich dich.«

»Und du?«

»Was ist mit mir?«, fragt Kai zurück.

»Ich will ja nicht unhöflich sein, aber wer genau bist du?«

»Mensch, Opa, ich bin …«

Kai verstummt. Er fühlt sich, als wäre er in vollem Tempo gegen eine Glasscheibe gerannt. Er dachte, er hätte seinen Großvater mit der Erinnerung an die Bolzen und die Präsidenten wachgerüttelt. Er hat sich getäuscht.

Opa sitzt zwar im Lotussitz vor ihm auf dem Boden und kann nach all den Jahren noch immer Yoga, aber sein Verstand ist tausend Kilometer entfernt. Es ist nicht das erste, es ist nicht das zweite, und wenn jemand behaupten würde, es wäre das hundertste Mal, dass sie dieses Gespräch führen, wäre das noch immer eine Untertreibung.

Kai ist müde.