Aschesturm - Sinja Henrich - E-Book

Aschesturm E-Book

Sinja Henrich

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Beschreibung

Nach ihrer Rückkehr in den Palast verfällt Layla wieder in die Dunkelheit ihres alten Lebens, bis Waylan auftaucht und sie rettet. Weit entfernt von der Welt, die sie kennt, findet sie Schutz bei seiner Familie und ohne Furcht vor Entdeckung kann sie dort ihre Magie entfalten. Doch das, was zunächst wie ein Zufluchtsort erscheint, entpuppt sich bald als ein Labyrinth aus Lügen, Ängsten und dunkler Magie. Layla muss entscheiden, wem sie wirklich trauen kann - und wie weit sie bereit ist zu gehen, um die Wahrheit zu enthüllen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sinja Henrich

Aschesturm

Die Geschichte geht weiter Chroniken der Seelendrachen Band 2

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Widmung

Triggerwarnung

Prolog

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil 2

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Teil 3

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Epilog

Triggerwarnungen

Impressum

©2025 Sinja Henrich

Max-Bruch-Str. 7

42499 Hückeswagen

Alle Rechte vorbehalten

Coverdesign: designs_kj

Widmung

Für Joslin,

auch wenn du diese Geschichte nie gelesen hast,

hast du immer an mich geglaubt

Triggerwarnung

Liebe Leserinnen und Leser,

dieses Buch enthält potentiell triggernde Inhalte. Da ich allen ein angenehmes Leseerlebnis wünsche, sind die Triggerwarnungen auf der letzten Seite zu finden.

Prolog

Regeln waren zum Brechen da. Zumindest in den Augen des kleinen Mädchens, das sich im strömenden Regen in eine Baumkrone gekauert hatte. Zuerst hatte ihre Mutter nach ihr gerufen. Diese hatte sich scheinbar Sorgen gemacht, dass sich das Mädchen erkälten könnte. Ihr Vater hatte später in den Garten gebrüllt; er hatte ihr gedroht und sie wusste, dass man sie für ihre Ungehorsamkeit bestrafen würde. Doch meistens setzte ihr Vater seine Strafen nicht so hart um, wie er es in seinen Drohungen verkündete. Deshalb blieb das Mädchen noch eine Weile draußen.

Sie liebte es, ihre Beine von einem hohen Ast baumeln zu lassen und den Gärtnern zuzuschauen. Das Lustigste daran war, dass niemand anderes sehen konnte, wie sie sich zwischen den Blättern und Ästen versteckte; bis auf die Vögel, die manchmal erschrocken aufstoben, wenn sie sich etwas bewegte.

An Regeln hielt sie sich fast nie. Die Welt war viel lustiger, wenn man sie ignorierte, und nicht so langweilig wie das Leben der Erwachsenen, die Tag für Tag nur irgendwelche Dokumente lasen oder sich über einer großen Landkarte beugten. Das wirst du als Erwachsene verstehen, sagte ihr Vater immer zu ihr, wenn sie einmal in den Raum mit der großen Karte kam, und dann schob er sie an der Schulter hinaus. Sie wusste, dass sie dort den Krieg gegen die bösen Länder planten, die ihr eigenes zerstören wollten. Mehr wollte sie auch gar nicht wissen, da sie sonst mit Albträumen aufwachte und zu ihrer Mutter ließ man sie nachts nie, obwohl die sie immer so gut trösten konnte mit ihren weichen Händen und ihren warmen Umarmungen.

Langsam wurde es Laylisra draußen tatsächlich zu kalt, weshalb sie vorsichtig den rutschigen Stamm herunterkletterte. Sie rannte durch den Garten und sprang dabei in jede Pfütze, die sie mitnehmen konnte. Ihr Kleid war so oder so schon dreckig, da machten ein paar Spritzer mehr oder weniger auch nichts mehr aus. Sie wusste, dass ihre Zofe fluchen würde, und dann würde sie das Kleid nie wiedersehen. So war es immer.

Das Schloss empfing sie mit seinen warmen Innenräumen. Die Soldaten ließen sie passieren, ohne ihr Aussehen zu kommentieren. Das hatten sie schon lange aufgegeben. Dass die kleine Prinzessin mit verdreckten Kleidern und wilder Frisur herumlief, war ganz gewöhnlich in den Fluren von Rheenitchs Palast. Sie wusste, dass ihr Vater sich darüber ärgerte, doch immer, wenn seine Miene sich verfinsterte, strich ihre Mutter ihm behutsam über den Arm und flüsterte „Sie ist doch nur ein Kind“. Die Miene ihres Vaters lichtete sich nie, doch er hielt seinen Mund. Alles andere war dem Mädchen immer egal.

Laylisra wollte gerade in ihr Zimmer huschen, als sie sah, dass die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern offen war. Hastig duckte sie sich hinter eine große Topfpflanze, die sich erstaunlich gut zum Verstecken eignete. Auf eine Begegnung mit ihrem Vater konnte sie verzichten, denn manchmal, wenn ihre Mutter nicht dabei war, fuhr er sie an, wieso sie sich nicht benehmen konnte. Sie hasste es, wenn er wütend wurde, deshalb versteckte sie sich hinter der Pflanze.

Vielleicht hätte sie das lassen sollen. Vielleicht hätte ihr früher auffallen sollen, dass ihre Eltern nie um diese Uhrzeit in ihrem Schlafzimmer waren.

„Sie lügt, hör nicht auf sie! Sie ist diejenige …“ Es klang, als würde ihre Mutter schluchzen, Laylisra hatte ihre Mutter noch nie Weinen gehört.

„Sei leise, ich habe die Bücher doch in meinen eigenen Händen gehalten. Diese Schundliteratur, die schon vor Jahren verbrannt worden ist. Und du hattest sie reihenweise in deinem Zimmer!“ Seine Stimme war laut, weshalb Laylisra sich noch kleiner hinter der Topfpflanze machte. Wenn ihr Vater einmal wütend war, wollte er am liebsten alles und jeden in seiner Umgebung niedermachen.

„Nein, bitte, ich kann dir alles erklären …“ Die Stimme ihrer Mutter war jetzt so leise, dass sie kaum noch zu hören war.

„Hör auf damit. Du bist eine Schande fürs Königshaus, ich werde dafür sorgen, dass das niemals herauskommt.“

Laylisra verstand nicht mehr, was danach gesagt wurde, weil die Stimmen ihrer Eltern leiser geworden waren und sie sich nicht näher an das Schlafzimmer herantraute. Aber plötzlich schrie ihr Vater auf und es ertönten Geräusche, die Laylisra erst schwer zuordnen konnte. Doch nach wenigen Sekunden gelang es ihr.

Schläge, Keuchen, zwischendurch dumpfe Schreie.

„Was ist denn hier los?“ Laylisras Tante war aufgetaucht und hatte die Schlafzimmertür aufgerissen, sie stürmte in den Raum. Das konnte Laylisra zwischen den Blättern der Pflanze sehen. Im nächsten Moment ein Schrei – der ihrer Tante. Für einen kurzen Moment wurde es still.

„Wachen!“ Jetzt war die Stimme ihres Vaters so laut, dass Laylisra meinte, die Wände des ganzen Palastes würden erschüttern.

Wachen polterten über den Flur, sie kamen aus allen Richtungen. Niemand von ihnen beachtete das kleine zusammengekauerte Mädchen.

„Wie konntest du nur? Ich dachte, dass man dir vertrauen könnte.“ Wieder die viel zu laute Stimme ihres Vaters. „Nur weil du neidisch auf deine Schwester bist …“

„Ich war es nicht, ich war es doch gar nicht, du, du hast mein Messer geworfen“, schluchzte Laylisras Mutter. Das Mädchen wollte sie am liebsten in ihre Arme schließen, aber sie traute sich nicht ihrem Vater unter die Augen zu treten, wenn er so wütend war.

„Hör auf so einen Mist zu erzählen“, fuhr ihr Vater ihre Mutter an. „Wachen, ergreift das Miststück endlich!“ Sein Ton war befehlshaberisch und er sprach so abwertend über die Mutter des Mädchens, das es zusammenzuckte. So sprach ihr Vater sonst nie über seine Frau.

„Nein, er war es!“ Wieder ihre Mutter.

„Sie lügt. Sie hat das Messer auf ihre Schwester geworfen, wir sind in dem Moment hereingekommen.“ Eine dritte Stimme, die Laylisra noch nie gehört hatte. Es war eine kühle, weibliche Stimme.

„Wie kannst du nur?“, keuchte die Königin, bevor sie aufstöhnte.

„Nein, nein, bitte nicht!“, flehte ihre Mutter. Das Mädchen konnte nicht sehen, was passierte, doch wenige Sekunden später traten Wachen aus der Türe. Sie stolzierten voran und hinter ihnen kamen zwei Männer, die ihre Mutter grob am Arm gepackt hatten. Ihre Mutter schlug um sich, sie schrie und flehte.

„Hört mir zu, ich kann es gar nicht gewesen sein, mein Mann …“, begann sie zu erklären, aber einer der Wachen stieß ihr grob in die Seite, sodass sie vor Schmerz jaulte.

„Sei endlich still, sonst müssen wir zu anderen Maßnahmen greifen“, fuhr er sie an, woraufhin das Gesicht ihrer Mutter blass wurde. Das Gesicht des Mädchens wurde mindestens genauso blass. Niemand sprach so mit ihrer Mutter, schließlich war sie die Königin. Sie stand sogar über ihrem Vater, weil die Familie Alastair in ihrer Blutlinie lag und er nur angeheiratet war.

Als die Wachen mit ihrer Mutter um die Ecke gingen, sprang das Mädchen auf, weil sie realisierte, dass sie ihre Mutter mitnehmen wollten. Sie wollten ihr ihre Mutter wegnehmen. Bei dem Gedanken pochte ihr Herz so stark, dass sie Angst hatte, es würde jeden Augenblick aus ihrer Brust springen.

„Halt, ihr könnt sie nicht mitnehmen!“, schrie sie panisch und rannte mit ihren kurzen Beinen den Wachen nach.

„Laylisra!“ Ihr Vater rief ihr wutentbrannt hinterher, doch sie hörte nicht auf ihn und bog um die Ecke. Schlitternd kam sie zum Stehen, weil ein Wachmann vor ihr aufgetaucht war.

„Bringt meine Tochter in ihr Zimmer“, schrie der Vater des Mädchens in den Flur, dann stapfte er an Laylisra und dem Soldaten vorbei. Der Wachmann hob das Mädchen hoch, als würde sie nicht mehr wiegen als eine Feder.

„Alles wird gut, mein kleines Mädchen“, rief ihre Mutter und ihr auf ihrem tränenüberströmten Gesicht tauchte ein Lächeln auf, das ihre Augen nie erreichen sollte.

„Nein, Mama!“, schluchzte sie und zappelte im festen Griff des Mannes, der mit ihr um die Ecke bog. Sie konnte nur noch den Gesichtsausdruck ihrer Mutter sehen, bevor diese verschwand.

Als der Mann sie am Schlafzimmer ihrer Eltern vorbeitrug sah sie erst eine hochgewachsene Frau, die eilig aus dem Raum stapfte und um die Ecke verschwand, dann sah sie etwas auf dem Boden liegen. Auf den zweiten Blick erkannte sie, dass es sich nicht um etwas handelte, sondern um jemanden. Es war ihre Tante, die blutüberströmt auf dem Boden lag. Sie war tot.

Später erzählte man ihr, dass ihre Mutter ihre eigene Schwester umgebracht hatte. Man flüsterte ihr zu, dass ihre Mutter grausam, böse, abscheulich gewesen sein sollte, weil der Neid sie zu so einer Tat getrieben hatte. Doch das Mädchen erkannte diese Frau nicht in ihrer Mutter wieder. Sie vermisste nur die tröstenden Worte und beruhigenden Umarmungen der Mutter, die sie gekannt hatte.

Ab dem Tag, an dem sie die Leiche gesehen hatte, begann die bunte Welt des Mädchens zu verblassen, denn mit ihrer Mutter verschwand das letzte bisschen Liebe aus dem viel zu kalten Palast. Nichts war mehr so wie vorher, nichts wurde gut, wie ihre Mutter es in ihren letzten Worten versprochen hatte.

Teil 1

Als Resultat ließ sich feststellen,

dass stark zentriertes Licht

genauso zum Tod führen kann,

wie die Kontrolle über das Herz.

Nicht nur die Evies sind fähig zu morden.

~ Werk 4, Tagebücher der Morticia

Kapitel 1

Jeder Tag war gleich.

Immer stand ich am Fenster und starrte nach draußen in den Schlossgarten, der wie ausgestorben war. Manchmal sah ich einen Vogel, doch das war schon die Ausnahme. Meistens bewegten sich nur die Blätter der Bäume, die man in den Garten als kleines Fleckchen Grün in der grauen Stadt gepflanzt hatte.

„Gleich findet eine Versammlung statt, ich würde gerne, dass du mich begleitest“, informierte Laurent mich. Ich drehte mich um und musterte ihn, wie er auf der Kante des Bettes saß und sein Hemd zuknöpfte, das etwas über seinem Bauch spannte. Mein Vater hatte gewollt, dass wir tagsüber in einem Zimmer waren, damit wir uns besser kennenlernen konnten. Laurent hatte es aufgegeben, Gespräche anzufangen. Ich hatte es nie versucht.

„Was du willst, ist mir sowas von egal“, brummte ich und schaute dann wieder nach draußen. „Warum soll ich überhaupt teilnehmen?“

Laurent antwortete nicht und manchmal hasste ich sein Schweigen noch mehr als sein Gerede.

„Hast du da keine Antwort drauf oder schweigst du bloß, weil du dich für die Antwort schämst?“, hakte ich nach. Dabei schaffte ich es nicht ihn anzuschauen, weil ich dann mit Sicherheit komplett die Nerven verlieren würde.

„Du musst präsent sein, die Mitarbeitenden im Palast müssen die zukünftige Königin kennen.“ Laurent sprach jedes Wort langsam aus, als müsste er vorsichtig sein, was er da von sich gab.

„Also bin ich nicht da, um die Sitzung weiterzubringen, sondern bloß weil du dein liebstes Spielzeug präsentieren willst?“, fragte ich spöttisch, denn etwas anderes war es nicht. Er wollte sich wichtig machen, in dem ich ihn begleitete.

„Hör auf mir die Worte im Mund umzudrehen. Du kannst nicht den ganzen Tag im Zimmer verbringen.“ Laurent kam näher auf mich zu. Ich bereute es, dass ich direkt am Fenster stand, weshalb ich nicht weiter zurückweichen konnte. Er roch nach Schweiß und der komischen Masse, die er sich in die Haare machte, sodass seine Haare schmierig und fettig aussahen. Bestimmt sollte es gut aussehen, aber den Effekt hatte das bei ihm nicht.

„Sagt wer?“, fragte ich ihn schnippisch. Ich lehnte mich an die Fensterbank und hatte meine Arme vor der Brust verschränkt.

„Sage ich.“ Laurent versuchte seine Stimme gleichgültig klingen, doch ich hörte seine Wut.

„Und ich sollte auf dich hören, weil …?“, hakte ich nach und hob eine Augenbraue. Er ballte seine Hände zu Fäusten. In den wenigen Wochen hatte ich festgestellt, wie einfach man ihm jede einzelne Emotion ablesen konnte. Das hatte mir geholfen. Ich wusste genau, was ihn provozierte oder wie man ihn mit wenigen Worten in den Wahnsinn treiben konnte.

„Weil ich dein Verlobter bin“, antwortete er mit fester Stimme. Er holte seinen Generalton wieder raus, das nervte mich am meisten. Ich war keine Soldatin, die er rumkommandieren konnte.

„Und ich bin deine Verlobte. Trotzdem hörst du nicht auf mich.“ Ich lächelte ihn an. Fakt Nummer eins über Laurent: Meine Widerworte trieben ihn am meisten in den Wahnsinn.

„Das ist ein Unterschied“, knurrte er und kam noch näher. So nah, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte. Ich hatte es ihm schon tausendmal gesagt und trotzdem hielt er nicht mehr Abstand.

„Kannst du mir den Unterschied erklären?“, fragte ich nach und lächelte ihn an. Eigentlich wollte ich ihn lieber schlagen, aber das hatte ich mich seit dem Kommentar meines Vaters nicht getraut. Wenn ich das machte, war ich nicht besser als er. Zumindest hatte er das behauptet und diese Genugtuung konnte ich ihm nicht geben.

„Du bist ein naives und kindisches Mädchen, das seine Stellung am Hof nicht akzeptiert hat. Ich bin erwachsen und vernünftig. Das ist der Unterschied.“ Bei seiner Erklärung verdrehte ich die Augen.

„Wer ist hier denn das kleinere Kind, das trotzig darauf besteht, es hätte Recht, weil es ein paar Mondwenden älter ist“, erwiderte ich. Und weil es männlich ist, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Hör auf zu diskutieren, du kommst heute mit und ich möchte keine Widerworte mehr hören“, zischte er und drückte sich so fest an mich, dass sich das Holz des Fensterbretts in meine Beine bohrte. Ich verabscheute seine Berührungen und erst recht seine Befehle. Deshalb streckte ich ihm die Zunge raus, woraufhin er eine Augenbraue hob.

„Wie war das nochmal mit dem kindischen Verhalten?“, fragte er und plötzlich lachte er. Fakt Nummer zwei: Sein Lachen war das schlimmste, das es auf dieser Welt gab, es erinnerte mich an das Wiehern eines sterbenden Pferdes, an den Versuch ein Lachen echt klingen zu lassen, aber dabei kläglich zu scheitern. „Manchmal bist du schon amüsant“, bemerkte er und seine Mundwinkel zuckten. Er hob seinen Finger und strich mir behutsam über die Wange. Augenblicklich schlug ich seine Hand weg.

„Fass mich nicht an“, zischte ich und Tränen traten mir in die Augen. Er schüttelte genervt den Kopf.

„Wie lange willst du diesen Akt noch durchziehen? Ich werde dich spätestens bei der Hochzeit küssen und irgendwann werden wir auch Nachkommen zeugen müssen. Das muss dir doch langsam bewusst werden“, erklärte er mir und schob seine schwieligen Hände in die Hosentaschen. „Wir werden unser Leben miteinander verbringen, ob du es willst oder nicht. Du würdest dir einiges an Leid ersparen, wenn du es einfach zulassen würdest.“

Ich schaute ihn erst erschrocken und dann angewidert an.

„Es wäre einfacher, wenn ich Berührungen zulasse, die ich total verabscheue?“, fragte ich ihn fassungslos. Er hatte keine Ahnung, wie ich mich fühlte und dass er mit jeder seiner Berührungen und seinen Worten alles nur noch schlimmer machte. Ich sehnte mich nach Umarmungen, nach Berührungen, nach Worten, doch nichts sollte dabei von ihm kommen.

„Es wäre einfacher, wenn du lernen würdest sie nicht mehr zu verabscheuen. Das wollte ich sagen“, erklärte er. Ich biss mir auf die Zunge, weil ich so wütend war. Und weil ich noch immer das dringende Bedürfnis hatte, ihn zu schlagen.

„Ich kann nicht lernen, bestimmte Dinge zu fühlen oder nicht zu fühlen“, fuhr ich ihn an, dann stapfte ich an ihm vorbei. „Ich mache mich für deine bescheuerte Versammlung fertig“, fügte ich hinzu.

Blind riss ich irgendein Kleid aus meinem Schrank und schlug dann die Badezimmertür hinter mir zu. Ich würde mich niemals vor ihm umziehen, nicht jetzt, nicht in einer Woche und auch wenn wir dreißig Jahre verheiratet waren, würde ich das nicht machen. Die Hochzeit sollte für ihn ebenfalls zu einer Qual werden. Wenn ich mich auf ihn einlassen würde, wäre er glücklich, doch ich würde innerlich still verbluten und niemand würde es bemerken. Stattdessen würde ich das Volk anlächeln, tot im Inneren. Das war keine Option.

Nein, wenn ich schon mein ganzes Leben verlor, dann sollte er seines auch verlieren.

„Du musst dich beeilen, wir sind schon spät dran!“, rief er von draußen. Ich verdrehte die Augen und trödelte absichtlich herum. Sein Klopfen und Drängen ignorierte ich dabei gekonnt. Die Situation erinnerte mich schmerzhafterweise an Lasima, denn dort war ich immer zu spät gewesen. Ich bildete mir Aminas Stimme ein, die mich und Asena zum Beeilen drängte.

Es kamen keine Tränen. Die waren an den ersten Abenden vergossen worden. Stattdessen war da nur der Stich in meinem Herz und die Stimme in meinem Kopf, die sich so echt anhörte, dass ich fast erwartete, sie dort stehen zu sehen, als ich mich umdrehte. Sie stand natürlich nicht dort. Wer wusste, wo sie überhaupt im Augenblick war. Wahrscheinlich war sie mit ihrem Bataillon irgendwo im Wald, abgeschnitten vom Rest der Zivilisation. Wenn sie die nächste Stadt erreichte, würde sie vielleicht schon eine Zeitung finden mit den Schlagzeilen Prinzessin Laylisra verheiratet mit General Laurent oder Berichte der romantischen Hochzeit in Rheenitchs Herz. Ich wollte mir ihre Reaktion gar nicht vorstellen. Sie würde sich fragen, was aus mir geworden war. Das Mädchen, das sich von niemandem hatte unterkriegen lassen, heiratete einen abgehobenen General.

Ich drückte die Tür auf, weil ich wusste, dass es keinen Sinn ergab, mich noch länger im Badezimmer zu verschanzen. Laurent musste ich nicht noch wütender machen, der Geduldsfaden war bei ihm wahrscheinlich schon gerissen.

„Falls du denkst, dass du mich mit deinen trotzigen Aktionen vertreiben kannst, hast du dich geirrt“, informierte er mich mit gelangweilter Stimme. Aber ich wusste, dass er im Inneren brodelte. Er hatte sogar rote Flecken auf seinen blassen Wangen.

„Ich kann dich zumindest zur Weißglut treiben“, erwiderte ich schulterzuckend und stolzierte dann hoch erhobenen Kopfes an ihm vorbei. Er griff nach meiner Hand. Es war nicht das zärtliche Händchenhalten, das man von Pärchen kannte, sondern ein Zerquetschen meiner Finger. Seine Hand war schwitzig und ich wollte nichts lieber, als mich aus seinem Griff zu befreien, doch ich wusste, dass ich das nicht schaffen würde.

„Du kannst deinem Vater die Verspätung erklären“, grummelte er und dann schritten wir über den Flur.

„Wieso das denn? Ich bin auf dem Stand, dass ich nichts zu melden habe, weil ich kindisch bin.“ Meine Stimme klang unschuldig und ich warf ihm mein süßes Lächeln zu. Die roten Flecken auf seinen Wangen wurden nur noch stärker, doch er presste seine Lippen aufeinander. Schließlich befanden wir uns im Flur, wo jede Magd und jeder Diener uns hören könnten und es wäre eine Schande, wenn er sich da blamieren würde.

„Tut mir leid für die Verspätung, wir hatten ein paar Probleme“, entschuldigte sich Laurent, sobald wir in den Besprechungsraum getreten waren. Ich wusste, dass er niemals mir das Sprechen überlassen würde. Langsam verstand ich, wie er tickte, und wenn ich noch etwas mehr Zeit hatte, konnte ich dieses Wissen zu meinen Gunsten benutzen. Er ging davon aus, dass er mich manipulierte, doch ich würde das gleiche bei ihm versuchen. Vielleicht waren Frauen in seinen Augen dümmer, in meinen Augen war ich schlauer, weil ich es unauffällig verpackte. Er sah nur das trotzige, kindische Mädchen in mir und nicht jemanden, der versuchte ihn zu manipulieren. Eines Tages würde ich ihn um meinen Finger wickeln und dann würde ich mir einen Weg aus meiner katastrophalen Situation suchen. Genau wie vor einem Jahr. Doch dieses Mal musste ich es klüger anstellen.

„Shallapago hat gestern einen Soldatenstützpunkt von uns angegriffen, der sich genau hier befindet“, begann Laurent die Lage zu erläutern. Er zeigte auf ein Fähnchen, das auf der Karte von Adonis platziert war. Direkt an der Grenze zu Shallapago.

Ich hätte mir denken können, dass es eine weitere Besprechung zum Krieg war. Sie sprachen meistens darüber, während auch innerhalb unseres Königreiches unzählige Probleme existierten, um die sich niemand kümmerte. Armut und Hungerkrisen existierten in fast jeder Stadt, egal ob im Norden oder im Süden. Kinder starben nicht nur an Krankheiten, sondern an Mangelernährung oder daran, dass sie mit jungen Jahren viel zu viel arbeiten mussten.

„Der Angriff kam überraschend und die Soldatenzahlen waren nicht ausgeglichen. Wir haben fast alle Soldaten aus dem Stützpunkt verloren, was insgesamt vier Bataillone beträgt. Des Weiteren wurden sowohl die Waffen als auch die Lebensmittelvorräte ausgeraubt und der Rest des Lagers zerstört“, fuhr er fort. Seine Stimme war ruhig, als er von den Toten berichtete. Ihn ließ es kalt. Für ihn waren das alles nur Spielfiguren in seinem Krieg, den er unbedingt gewinnen wollte. Der Gewinn war nur eine weitere Trophäe, die er dann neben mir der Welt präsentieren konnte. Das Licht in dem Raum ließ den Schweiß auf seiner Stirn glänzen. Er schien es zu bemerken und tupfte sich mit einem Taschentuch über die Stirn.

„Außerdem muss man bedenken, dass es uns viel Zeit und Energie kosten wird, den Stützpunkt wieder aufzubauen. Ein Teil der Grenze ist damit unbeschützt“, schaltete sich ein weiterer Mann ein. Laurent hatte seinen Namen schon ein paar Mal erwähnt, da war ich mir sicher, aber bei Laurents Gerede schaltete ich immer ab.

„Was ist euer Plan? Wir können Shallapago diesen Sieg nicht lassen“, brummte mein Vater. Seine Miene hatte sich verfinstert.

„Wir haben an einem Rückschlag überlegt. Es ist ein Schachzug, den wir schon seit längerem geplant haben, doch bis jetzt war er noch nicht reif für die Durchführung“, berichtete Laurent und ich konnte den Stolz in seiner Stimme hören. Als wäre er ein kleiner Junge, der seinem Vater ein Bild präsentierte, auf dem niemand etwas erkennen konnte, bis auf ein paar Striche.

„Lasst mich hören.“ Mein Vater winkte ungeduldig mit seiner Hand, damit Laurent endlich mit seinen Berichten fortfahren konnte.

„Es gibt ein großes Lebensmittellager in Shallapago, das mehrere Stützpunkte und ein paar Dörfer versorgt.“ Er legte eine dramatische Pause ein, musterte die Gesichter der anderen; zu mir schaute er gar nicht. Als wäre das eine Bestrafung für mein Benehmen, dabei war ich froh, wenn er seine ekelhaften Blicke nicht auf mich lenkte.

„Wir haben einen Plan aufgestellt, wie wir dieses Lager angreifen und schlussendlich zerstören können. Damit wird eine Lebensmittelknappheit in dem betroffenen Gebiet herrschen und wir würden Shallapago schwächen.“ Er endete seine Erzählung und ich schluckte. Mein Vater nickte, er schien noch zu überlegen, aber bevor er seinen Kommentar abgeben konnte, schritt ich ein.

„Das könnt ihr nicht machen. Darunter leiden unzählige unschuldige Menschen.“

Mehrere erschrockene Blicke wandten sich zu mir. Als hätten sie erst jetzt realisiert, dass ich nicht nur als Dekoration mitgekommen war.

Kapitel 2

„Es gibt keine unschuldigen Menschen.“ Es war die Stimme meines Vaters, die als erstes wieder den Raum erfüllte. Mein Blick schnellte zu ihm und ich funkelte ihn an. Es war klar, dass so etwas aus seinem Mund kommen musste.

„Natürlich gibt es das. In den Dörfern leben hunderte von Menschen, die nichts mit dem Krieg zu tun haben und ihr wollt sie hungern lassen!“, erwiderte ich mit lauter Stimme. Das konnte ich nicht zulassen, denn das war kein fairer Krieg, falls es so etwas wie fairen Krieg überhaupt gab.

„Und genau deshalb lässt man Mädchen nicht mit in Strategieberatungen“, murmelte ein Mann. Er sprach dennoch gerade laut genug, dass jeder im Raum es hörte. Zwei Männer erlaubten es sich sogar aufzulachen.

„Mädchen?“ Ich musste mich bemühen nicht zu schreien, so wütend war ich. „Was hat das denn mit Mädchen zu tun?“ Da dachte man, dass Rheenitch in seinen Ansichten fortgeschritten war und dann landete man im Adel, in dem die veralteten Rollenbilder noch immer nicht verschwunden waren.

„Ich glaube, was er damit sagen wollte, ist, dass du ein zu weiches Herz für diese Beratungen hast“, wandte Laurent sich zu mir. Sein Gesichtsausdruck war plötzlich entspannt und liebevoll. Ich war mir nicht ganz sicher, wem er das heile Pärchen vorspielen wollte.

„Man kann auch alles romantisieren“, hörte ich einen der Männer flüstern.

„Ein zu weiches Herz? Ich habe eine Ausbildung zur Soldatin gemacht und hätte man mich gelassen, hätte ich in ein paar Mondwenden an der Front gekämpft. Das nenne ich nicht ein zu weiches Herz“, erwiderte ich. Sie sahen mich alle als kleines, schwaches Prinzesschen und das hasste ich noch mehr als die Gefangenschaft im Schloss.

„Du bist nicht an die Front gekommen, weil du es nicht verkraftet hättest“, schaltete mein Vater sich ein. Ich wirbelte zu ihm herum und klappte meinen Mund auf. Ich war bereit ihm jedes Schimpfwort an den Kopf zu werfen, das ich in meinem Leben gelernt hatte, aber eine Berührung an meinem Handgelenk ließ mich zusammenzucken.

„Ich glaube, wir sollten die Besprechung kurz unterbrechen, wir können gleich fortfahren“, beschloss Laurent. Meine Hand befand sich plötzlich wieder in seinem festen Griff und er zog mich aus dem Raum, während ich vor Wut brodelte. Sobald er mich in unser Zimmer geschleppt hatte, verfinsterte sich seine Miene.

„Was fällt dir ein, mich mit deinem Verhalten so bloßzustellen?“, fuhr er mich an. Er schubste mich leicht in die Mitte des Zimmers und kontrollierte dann noch einmal, ob die Tür wirklich zu war.

„Dich bloßzustellen? Deine Männer haben sich über mich lustig gemacht, falls du das nicht bemerkt hast.“ Ich schüttelte fassungslos meinen Kopf.

„Du verstehst einfach keinen Humor“, erwiderte Laurent und zuckte seine Achseln.

„Sexismus ist kein Humor“, fuhr ich ihn an und trat einen Schritt auf ihn zu. Er verdrehte die Augen.

„Sexismus ist eine Fantasie, die sich in den Köpfen von Frauen festgesetzt hat. Es gibt keinen Sexismus. Das vorhin war bloß eine Feststellung und keine Beleidigung“, entgegnete er. Ich sah nur noch rot bei seinen Worten. „Ich dachte, wenn du mit zur Besprechung kommst, hast du etwas mehr Freiheit, aber scheinbar musst du erstmal zur Vernunft kommen, bevor du an einer weiteren Besprechung teilnehmen kannst.“

„Du spinnst“, zischte ich. „Du und die anderen beschissenen, hochwohlgeborenen Idioten können mir niemals etwas sagen. Ihr solltet mal eine Frau sein, deren Leben leben, damit ihr wisst, wie es sich anfühlt, wenn man nie ernst genommen wird, bloß weil man ein anderes Geschlechtsteil hat. Bis dahin werdet ihr wohl egoistische, hoffnungslose Arschlöcher bleiben.“ Ich entlud die ganze Wut, die sich angestaut hatte, weil ich einen Punkt erreicht hatte, an dem ich sie nicht mehr halten konnte. Es gab fast nichts, was mich so wütend machte, wie Männer, die Sexismus verneinten.

Er kam so schnell auf mich zu, dass ich kaum reagieren konnte. Im nächsten Augenblick drückte er mich an die Wand. Seine Hände an meinem Hals.

„Wie hast du mich gerade genannt?“, schrie er.

Plötzlich tauchten Bilder in meinem Kopf auf. Von Kayan. Von meinem Vater. Und das während Laurents Gesicht direkt vor mir war und seine Hände sich immer fester um meinen Hals schlossen.

Luft. Ich brauchte Luft. Nichts vom Sauerstoff kam an.

Es war das erste Mal, das ich Angst vor Laurent hatte. Ich röchelte, doch keine Laute kamen heraus. Als er das merkte, lockerte sich sein Griff ein wenig, doch er drückte immer noch meine Luftröhre zu.

„Ein egoistisches, hoffnungsloses Arschloch“, wiederholte ich röchelnd meine Worte. Wenn er mich umbringen wollte, dann sollte er es doch machen. Doch er lockerte seinen Griff völlig und fuhr mit seinem Finger sanft über meinen Hals. Über die Stellen, an denen man wahrscheinlich Abdrücke von seinen Fingern sah. Ich schnappte nach Luft, um meine Lunge endlich wieder mit Sauerstoff zu füllen.

„Ich bin nicht egoistisch und hoffnungslos, du gibst mir nur keine Chance, mich von meiner guten Seite zu zeigen“, murmelte er. Sein Finger wanderte nun über mein Gesicht. Jede Stelle, die er berührte schmerzte, obwohl er so sanft war.

„Ich bezweifele, dass du überhaupt gute Seiten hast“, flüsterte ich. „Erst recht, nachdem du das hier gemacht hast.“ Tränen füllten meine Augen, während ich meine Hände schützend an meinen Hals legte. Laurent trat einen Schritt zurück und musterte mich traurig. Wirklich traurig. Ich hatte bisher gezweifelt, dass er solche Emotionen kannte.

„Weißt du, Laylisra, du musst irgendwann lernen, dass die Welt nicht schwarz oder weiß ist. Jeder Mensch hat gute und schlechte Seiten an sich und eines Tages wirst du meine weißen Seiten auch sehen“, erklärte er mir. Ich fragte mich, ob er damit weise klingen wollte. Er tat es nicht.

„Ich weiß, dass es keine ganz bösen Menschen gibt“, antwortete ich ihm ruhig. „Aber bisher hast du dich nicht im Ansatz bemüht, mir deine guten Seiten zu zeigen.“

Seine Augen weiteten sich unmerklich. Dann drehte er sich um und verließ den Raum. Wenig später kam er mit ein paar Dienern wieder, die uns Abendessen brachten. Wir aßen, ohne zu reden. Wir machten uns fertig, ohne zu reden. Ich starrte abends stumm aus dem Fenster und schaute Iara zu, wie sie ihre Runden drehte. Als Laurent realisierte, was ich tat, zog er die Vorhänge zu. Doch ich starrte durch den Spalt, den er offengelassen hatte und sah, wie Rheenitch von der Nacht verschluckt wurde. Mit der Dunkelheit verschwand auch Iara.

***

Der nächste Morgen kam. Nach einer weiteren Nacht, in der ich mich bloß herumgewälzt hatte, wachte ich mit schmerzendem Kopf auf. Die Sonne schien bereits durch den Spalt zwischen den Vorhängen und warf Licht auf mein Bett. Laurent war abends wie immer gegangen, doch ich wusste, dass er gleich in meinem Zimmer erscheinen würde. Wir teilten uns dieses Zimmer, nur nachts ließ er mir meine Privatsphäre. Zumindest bis zur Hochzeit.

Just in diesem Moment öffnete sich die Tür und er trat nur im Morgenmantel gekleidet in mein Zimmer. Ich wehrte mich vehement dagegen, es als unser Zimmer zu bezeichnen, weil ich mich dann so fühlte, als hätte ich keine Privatsphäre mehr. Es war zwar so, dass ich kaum noch Privatsphäre hatte, doch das musste ich mir nicht eingestehen.

„Guten Morgen, Sonnenschein“, flötete er. Ich rappelte mich auf und strich das Nachthemd runter, das in der Nacht etwas hochgerutscht war.

„Gleichfalls“, nuschelte ich und kletterte aus dem Bett. Der Boden war eiskalt unter meinen nackten Füßen, während ich zum Fenster tapste, um die Vorhänge aufzuziehen. Wenn ich hinaus in die Stadt blickte, fühlte ich mich nicht ganz so eingeengt.

„Nicht so fröhliche Laune direkt am Morgen“, erwiderte er ironisch. Ich verdrehte meine Augen. Eigentlich war Ironie genau mein Humor, doch bei ihm war sie so trocken, dass nichts daran lustig war.

Ich drehte mich mit dem Rücken zu ihm und starrte aus dem Fenster. Im Garten wanderte eine Frau umher und sammelte Laub vom Boden auf. Wie immer war mehr nicht los. Ich hatte das dringende Bedürfnis, runter auf die zu grüne Wiese zu gehen und mich mit den Blumen zu umgeben, doch als ich das letzte Mal unten gewesen war, hatte es sich falsch angefühlt. Der Garten war künstlich und nichts war echt. Zwischen den Blumen und vereinzelten Bäumen vermisste ich Lasima noch mehr, vermisste den knorrigen, verwachsenen Wald, der Lasima umgeben hatte. Nachts war er von Nebel umgeben gewesen, der Mond war zwischen den Ästen hindurchgeschienen und tagsüber hatten seine Blätter in allen möglichen Grüntönen geleuchtet und ihr Rascheln hatte mir seine Geheimnisse zugeflüstert.

„Willst du einen gemeinsamen Spaziergang im Garten machen? Ich kann es heute Nachmittag bestimmt einräumen, wenn ich eine Sitzung verschiebe“, überlegte Laurent laut. Er hatte mit Sicherheit meinen sehnsuchtsvollen Blick bemerkt und daraus geschlussfolgert, dass ich in den Garten wollte.

„Nein, darauf kann ich verzichten“, murmelte ich. Und schielte zur Seite. Er stand schräg hinter mir, seine Hände waren hinter seinem Rücken verschränkt. Doch er starrte nicht wie ich raus in den Garten, sondern zu mir. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Sie schien mich mit ihrem Gewicht herunterzudrücken, weiter hinunterzudrücken als der Boden tief war, irgendwo in den schwarzen Abgrund hinein. Die Schwärze umschloss mich, empfing mich wie eine willkommene Freundin, der ich in den letzten Wochen geworden war.

„Können wir irgendwann eine Tanne im Garten pflanzen?“ Die Frage platzte mir einfach heraus, weil ich mir irgendetwas wünschte, dass mich an meine Heimat erinnerte. Zwar hatte ich in Lasima weniger Zeit als in Rheenitch verbracht, doch Zeit machte eine Heimat nicht aus, viel mehr waren es die Gefühle, die man mit diesem Ort verband. Laurent schmunzelte. Ich hatte mich zu ihm gedreht, während er nickte.

„Das Klima ist hier für eine Tanne zwar suboptimal, aber wir werden mit Sicherheit eine Lösung finden, wenn es dein Wunsch ist“, antwortete er mit freundlicher Stimme. Ich vermisste die Nadelbäume so sehr, dass ich wahrscheinlich weinen würde, wenn mir jemand nur einen Zweig von ihnen in meine Hand legte. Wenn ich nur einmal am Tag unter einem solchen Nadelbaum sitzen konnte, würde mein Heimweh noch stärker werden, aber gleichzeitig würde es mir helfen mich zu erinnern. Denn in den letzten Wochen war meine größte Angst gewesen, das alles zu vergessen. Aminas freundliche Worte, Jarryns stundenlangen Selbstgespräche, Iaras schillernde Schuppen, den dichten Wald, den glänzenden See, die gemütlichen Hütten … Alles schien so unrealistisch, dass mein Gehirn es wohl bald als Traum abspeichern würde und dann würden alle Gesichter, alle Orte immer mehr verschwimmen. Dabei waren sie das einzige, das mich am Leben hielt.

Plötzlich lagen Laurents Hände auf meiner Wange und er drückte mit einem Finger mein Kinn leicht nach oben, sodass ich in seine braunen Augen starren musste. Er schaute mich liebevoll an, aber mir lief es heiß und kalt gleichzeitig den Rücken herunter. Ich wollte mich von ihm wegbewegen, doch mein Körper war wie erstarrt. Bevor ich handeln konnte, lagen seine kalten Lippen auf meinen. Ohne dass er vorher nach einer Erlaubnis gefragt oder auf ein Zeichen von mir gewartet hatte. Und er wusste genau, dass ich es nicht wollte.

Seine Hand drückte sich gegen meinen Hinterkopf, sodass ich mich nicht befreien konnte, während er seine Lippen auf meine presste. Ich wimmerte und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien, doch seine Lippen bewegten sich erbarmungslos über meine und beim nächsten Wimmern befand sich wie auch immer seine Zunge in meinem Mund. Ein Würgereiz bahnte sich meinen Hals hoch.

Seine freie Hand fuhr über meinen Körper, berührte die nackte Haut an meinen Armen oder strich über den hauchdünnen Stoff meines Nachthemds, der sich nicht wie eine Barriere unter seiner Berührung anfühlte. Ich hörte das Hämmern meines Herzens, meine Finger kribbelten, das Atmen war wieder schwer.

Erst nach einer Ewigkeit, legte ich meine Hände an seine Brust und stieß ihn weg. Das kam so überraschend für ihn, dass er zurückstolperte. Ich holte keuchend Luft und wich einige Schritte von ihm zurück.

„Was fällt dir ein?“, schrie ich ihn an.

„Wieso?“, fragte er zurück. Ich starrte ihn noch immer mit großen Augen an und fuhr mir dann mit meiner Hand über meinen Mund, damit sein Geschmack endlich von meinen Lippen verschwand.

„Dir hat es doch auch gefallen“, erwiderte er und runzelte verwirrt seine Stirn. Ich öffnete meinen Mund, doch kein Laut entwich mir. Fassungslos über seine Worte fiel mir kein einziges mehr ein.

„Ich … was?“, fragte ich ihn geschockt. Meine Stimme war heiser und schwach, als hätte ich stundenlang geschrien. „Du hast meinen Kopf festgehalten, ich konnte ihn nicht wegdrehen.“ Meine Stimme klang weit entfernt, weil ich mit meinen Gedanken an einem anderen Ort gefangen war. Wahrscheinlich irgendwo in der Schwärze, die mich verschlungen hatte.

„Du konntest mich offensichtlich wegstoßen, hast es aber erst nach einiger Zeit gemacht. Am Anfang hast du wohl nichts gegen den Kuss gehabt“, erklärte er mir mit ruhiger Stimme.

„Du hast nicht auf mein Einverständnis geachtet“, flüsterte ich, obwohl ich wusste, dass meine Worte bei ihm zwecklos waren. Tränen verschleierten meinen Blick.

„Einverständnis“, schnaubte er und schüttelte den Kopf. „Muss ich etwa jetzt vor jedem Kuss, vor jeder Berührung, am besten noch vor jedem Wort nach Ja und Amen fragen?“ Mir wurde schlecht bei seinen Worten und ich wollte mich übergeben. Plötzlich war ich froh, dass ich noch nichts gefrühstückt hatte.

„Du verstehst es einfach nicht, oder? Du denkst, dass jede Frau sich dir hingibt, sich dir hingeben muss.“ Meine Stimme war leise, obwohl ich ihn anschreien wollte. Doch die Dunkelheit hatte meine Stimme verschluckt mit so vielem anderen.

„Du bist nicht jede Frau, du bist meine Verlobte“, antwortete er mit ernster Stimme.

„Das ändert nichts an der Situation.“ Meine Stimme zitterte und ich schlang meine Arme um mich, weil mir auf einmal eiskalt in dem Nachthemd wurde, das meinen Körper spärlich bedeckte. Ich fühlte mich nackt und ausgeliefert, dabei war ich nichts davon.

„Du solltest heute nicht mit zu den Besprechungen kommen. Ich glaube, dass du dafür zu verwirrt bist“, beschloss er und hörte sich dabei tatsächlich besorgt an, als hätte ich eine Krankheit oder ein anderes Problem. Doch mein einziges Problem war er und die Tatsache, dass ich in diesem Schloss gefangen war.

Laurent stolzierte hinaus und dann hörte ich, wie sich ein Schlüssel im Schloss herumdrehte. Ich stürmte zur Tür und drückte die Klinke hinunter, doch die Tür ließ sich nicht bewegen. Dann rüttelte ich an der Klinke und schlug mit meinen Fäusten gegen das massive Holz.

„Lass mich raus, du kannst mich unmöglich hier drinnen gefangen halten!“, schrie ich. Niemand antwortete. War ich das nicht sowieso schon? War ich nicht sowieso gefangen in meinem Zimmer? Der einzige Unterschied war, dass man es heute offiziell gemacht hatte. Sonst standen immer nur Wachen vor der Tür, unauffällig, als wollte man mich lediglich schützen. Dabei wusste ich es besser.

Ich ließ mich an der Tür hinabgleiten und legte meinen Kopf auf meine Knie. Zum ersten Mal seit Wochen weinte ich wieder. Ich schluchzte erbarmungslos und wusste, dass alle es hörten. Noch immer schmeckte ich seine Lippen, spürte seine Zunge, fühlte seine Berührungen. Mir wurde wieder schlecht. Dieses Mal übergab ich mich auf den Boden neben mir, dann sprang ich auf und stürmte ins Bad.

Ich betätigte den Wasserhahn und ließ Wasser in die Wanne laufen, während ich mich über die Kante beugte und mir mit dem Wasser über den Mund wischte. Ich rieb immer und immer wieder über meine Lippen, bis sie wund waren. Dann kletterte ich mitsamt des Nachthemdes in die Wanne und sackte dort zusammen. Ich versuchte seine Berührungen von meinem Körper zu waschen. Es waren Flecken, die nicht verschwanden. Egal, wie oft ich über meine Haut rubbelte, sie blieben da.

Erneut schluchzte ich laut auf. Mein ganzer Körper bebte. Nichts mehr funktionierte. Seine Lippen wollten nicht von meinen verschwinden und seine Hände ließen mich nicht los. Ich hatte keine Ahnung, wie mich irgendwann wieder jemand berühren sollte, wie ich gleich aus der Wanne klettern sollte, wie zur Hölle mein Herzschlag langsamer werden sollte, wie atmen überhaupt funktionierte. Dann wieder seine Lippen. Seine Hände. Seine Stimme. Immer und immer wieder. Seine Berührungen. Sein Kuss. Der Kuss hatte das Wort Kuss nicht verdient, denn Kuss hörte sich sanft und zart an. Das vorhin war nichts von dem gewesen. Er hatte Besitz von meinem Körper ergriffen. Meine Schluchzer füllten noch lange das Bad, bis ich irgendwann aus dem eiskalten Wasser kletterte. Das Nachthemd klebte auf meiner Haut. Ich wickelte mich in einen Bademantel und trat zurück in mein Zimmer. Alles war plötzlich viel größer als sonst. Meine Möbel wirkten bedrängend und die Wände engten mich ein.

Ich schrie. Warum hatte ich ihn nicht eher gestoppt? Ich hätte doch früher die Idee bekommen müssen, ihn wegzuschubsen, dann würde sich mein Körper jetzt nicht so ekelhaft anfühlen. Warum hatte ich mich so wehrlos gefühlt, obwohl man mir ein Jahr lang beigebracht hatte, wie ich mich wehren konnte?

Dann sackte ich zusammen. Völlig kraftlos. Leer. Ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war, was heute und gestern war und vielleicht erinnerte ich mich nicht einmal an meinen Namen. Nur an seine Stimme, seine Hände, seine Lippen. Irgendwann verschluckte die Schwärze mich. Ich war weg. Versank endlich in ein Land, in dem er verschwand.

Ich wachte auf dem Boden auf, mein Rücken schmerzte. Verwirrt schaute ich mich im Zimmer um. Es gab keinen Hinweis darauf, wie spät es war. Das Geräusch, das mich aufgeweckt hatte, ertönte noch einmal. Jemand schloss die Tür auf. Es musste Laurent sein, sonst klopften alle anderen immer und fragten, ob sie reinkommen durften. Das waren auch die einzigen Worte, die sie mit mir wechselten.

Allein schon bei dem Gedanken an Laurent staute sich die Wut in mir zusammen. Er hatte etwas in mir zerstört, mir noch mehr von meiner Entscheidungsfreiheit genommen. Laurent hatte mich völlig eingesperrt, weil mir jetzt nicht einmal mein eigener Körper geblieben war. Aus Wut packte ich die Vase, die neben mir stand. Eigentlich wollte ich ihn nicht verletzen, schließlich wollte ich nicht wie mein Vater sein. Doch heute hatte er jede Grenze überschritten und ich schenkte meinem Vater, oder meiner Ähnlichkeit zu ihm, keinen einzigen Gedanken mehr.

Die Tür öffnete sich. Eine Gestalt trat durch den Türrahmen hinein. Ich warf die Vase. Erst zu spät sah ich, dass die Haare dunkler als Laurents waren und die Person vor mir definitiv größer war als er. Doch die Vase raste bereits auf ihn zu.

Kapitel 3

Ich schrie auf, weil ich niemand anderen als Laurent treffen wollte. Niemand außer ihm sollte verletzt werden. Gerade noch rechtzeitig wirbelte die Person herum, sodass die Vase an der Wand zerschellte. Mit einem lauten Klirren fielen die Scherben auf den Boden.

„Das war ja kein netter Empfang“, grummelte die Person und strich sich das Oberteil glatt. Ich riss meine Augen auf, denn erst jetzt erkannte ich den Jungen vor mir.

„Waylan!“, keuchte ich. Es klang entsetzt, dabei war ich viel mehr überrascht, ihn zu sehen. Waylan zog eine Augenbraue hoch und grinste mich an.

„Nicht erfreut, mich zu sehen?“, fragte er mich und fegte die Scherben mit seinem Fuß zusammen.

„D-doch … aber … was zur Hölle machst du hier?“, stammelte ich. Man konnte meine Verwirrung hören. Waylan lachte und schüttelte den Kopf.

„Was wohl?“, fragte er mich. Ich schaute ihn nur an, ohne ihm eine Antwort zu geben.

„Dich aus dem goldenen Käfig holen, natürlich.“

Ich blieb stumm. Er wollte mich hier rausholen? Warum gerade er? Außerdem standen die Chancen schlecht, dass wir es hinausschafften. Schließlich war das hier ein Palast, der seit meiner Anwesenheit doppelt so gut bewacht wurde. Es war schon ein Wunder, dass er es unbemerkt hineingeschafft hatte.

„Für wen war die Vase eigentlich bestimmt? Ich hoffe mal nicht, dass du wirklich mich treffen wolltest.“

„Nein, nein, nicht für dich.“ Meine Stimme wurde emotionsloser und mein Blick verfinsterte sich. Da waren wieder Laurents Finger und der ekelhafte Geschmack auf meinen Lippen. Dieses eingeengte Gefühl in meiner Brust kehrte zurück. Und das nur, weil ich an Laurent dachte.

„Was ist passiert?“, fragte Waylan sofort und eine Sekunde später saß er vor mir auf dem Boden. Er musterte mich zum ersten Mal und sein Blick wurde düsterer. Vorher hatte er mein zerknittertes Nachthemd, das immer noch feucht war, wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Ebenso wenig wie mein bleiches Gesicht oder meine zitternden Hände. Ganz zu schweigen von den Würgemalen an meinem Hals. Außerdem stank es nach Erbrochenem in dem Zimmer.

„Hey, was ist passiert?“, fragte er noch einmal mit ruhiger Stimme. Er streckte eine Hand aus und wollte mir über den Arm fahren, doch ich zuckte sofort zusammen. Erinnerungen durchfluteten mich.

„Entschuldigung“, flüsterte Waylan. Ich sah das wütende Blitzen in seinen Augen. „Wer hat dir wehgetan?“ Es war eine einfache Frage, doch ich wusste nicht, wie ich ihm jemals die Antwort darauf geben sollte. Deshalb schüttelte ich meinen Kopf. Denn wenn ich es erzählte, würde alles wiederkommen und das schaffte ich nicht. Ich konnte nicht noch einmal durchleben, wie er mich berührte, mich verletzte. Ich musste mich konzentrieren, meinen Atem ruhig zu halten, während mein Herz noch immer vor Angst raste.

„Okay, okay“, murmelte Waylan. „Lass uns von hier verschwinden. Wir haben später immer noch genug Zeit zum Reden“, beschloss er. „Falls du reden willst.“ Ich warf ihm ein dankbares Lächeln zu, das allerdings sofort wieder von meinem Gesicht verschwand.

„Aber Amina …“ Ich schluckte. Schließlich war sie der Grund gewesen, warum ich mit meinem Vater gekommen war.

„Was ist mit Amina? Ist sie auch hier?“, fragte er und runzelte die Stirn.

„Nein. Mein Vater hat damals mit ihrem Tod an der Front gedroht, wenn ich nicht mitkomme. Meine Flucht würde sie in Gefahr bringen.“

Egal, was passierte, ich wollte Amina um jeden Preis schützen.

„Dein Vater wird sie nicht mehr finden“, erwiderte Waylan und fuhr sich durch die Haare. „Sie ist nicht mehr in der Armee.“

Ich klappte meinen Mund auf.

„Was? Warum?“ Meine Gedanken rasten. Schließlich war es Aminas Traum gewesen, Drachenkämpferin zu werden. Warum hatte sie ihn so schnell aufgegeben? „Und woher weißt du das?“

Waylan schüttelte seinen Kopf.

„Sie ist in dem Register der Deserteure aufgetaucht, aber die Erklärung ist jetzt egal. Wir müssen schnell hier raus, bevor jemand in dein Zimmer kommt.“

„Aber sie werden mich finden.“ Meine Stimme war heiser und kraftlos. „Außerdem kommen wir hier niemals raus.“

Waylan lächelte mich stolz an und wies dann auf seine Kleidung. Ich hatte bis jetzt nicht bemerkt, dass er die Uniform der Wachen trug. Das einzige, das nicht ganz in das Bild hineinpasste, war ein Rucksack auf seinem Rücken.

„Das Rauskommen sollte kein Problem sein, solange wir deinem Vater nicht über den Weg laufen. Und was das andere Thema angeht. Wir werden einen Ort finden, an dem du sicher bist.“ Waylans Erklärung war vage, aber eigentlich interessierte mich das nicht wirklich. Ich nickte nur, weil ich hier um jeden Preis rauswollte. Der Gedanke, diese Palastmauern zu verlassen, erschien mir wie ein Paradies. Ich wusste, dass mein Vater und Laurent mir noch mehr antun konnten als im Moment. Sie konnten mein Leben noch mehr zur Hölle machen.

Doch ich war mir nicht sicher, ob ich die nächste Zeit im Palast unter der Hand Laurents und meines Vaters überlebte. Sie nahmen mir alles, was mir wichtig war. Wenn nicht sogar alles, was ein Mensch zum Leben brauchte. Denn war Liebe und Zuneigung letztendlich nicht genauso wichtig wie Wasser und Nahrung?

„Wir können nicht durch das Tor gehen“, bemerkte ich. Sie würden mich aufhalten. Schließlich hatte ich das Schloss schon seit mehreren Mondwenden nicht verlassen dürfen. „Aber ich kenne einen anderen Weg.“ Letztes Mal war ich genau auf demselben Weg rausgekommen. Die letzten Mondwenden hatte ich viel zu sehr Angst um meine Freunde gehabt, um es in Erwägung zu ziehen. Aber zum einen wusste ich nach Laurents letzter Aktion, dass ich nicht mehr lange überleben würde, wenn ich hierblieb, und zum anderen war laut Waylan auch Amina jetzt in Sicherheit. Wenn sie nicht mehr in der Armee war, dann würde sie unfassbar schwierig zu finden sein.

„Du solltest dir etwas anziehen. Es könnte kalt werden.“ Waylan wies auf mein nasses Nachthemd. Erst jetzt realisierte ich, dass es aufgrund der Nässe noch leicht durchsichtig war und wandte mich ab, während mir Hitze in die Wangen schoss.

Ich fuhr mit meiner Hand über all die edlen Kleider, die sich nicht wirklich für eine Flucht eigneten und zog schließlich eines aus dem Schrank. Waylan drehte sich um, ohne dass ich ihn dazu auffordern musste und ich zog mein nasses Nachthemd aus und streifte dann ein trockenes Kleid über und schlüpfte in ein Paar bequeme Schuhe.

„Hoffentlich begegnen wir keinem“, murmelte Waylan, dann öffnete er die Türe und ich trat vor ihm hinaus. Waylan nickte den Wachen draußen zu, die ihn nur mit finsterem Blick anstarrten.

„Niemand nickt sich hier zu oder lächelt einander an“, flüsterte ich, als wir ein paar Meter von den Wachen entfernt waren.

„Alles klar, verstanden“, wisperte Waylan mit starrer Stimme. Meine Augen huschten durch den prachtvollen Flur, der noch leer war. Wir mussten nur unbemerkt bis zum Geheimgang kommen.

Auf dem nächsten Flur begegnete uns eine Köchin, die uns keinen zweiten Blick schenkte. Dennoch atmete ich erleichtert aus, als sie außer Sichtweite war. Ich fragte mich, ob ich mein restliches Leben mit der Angst leben musste, entdeckt zu werden. Mein Vater hatte überall Augen und Ohren. Wo sollte ich nur hingehen?

Ich spürte Waylan dicht hinter mir, als wir die Treppen hinunterschritten. Er gab mir ein Gefühl von Sicherheit, obwohl er mich vor nichts beschützen konnte, solange wir noch in diesem Palast waren. Doch seine Präsenz fühlte sich gut an. Auch wenn ich mich nicht wirklich über sein Auftauchen freuen konnte, weil da viel zu viel in mir los war, schenkte er mir das bisschen Hoffnung, das ich gerade brauchte.

„Laylisra?“ Die Stimme ließ mich erstarren, für einen Moment konnte ich mich nicht bewegen. Langsam drehte ich mich um. Oben an der Treppe stand Laurent und starrte zu mir hinunter. Waylan hatte seinen Blick gesenkt und drehte sich nicht um, was eine sehr kluge Entscheidung war. Laurent kannte alle Wachen. Was Gesichter und Namen anging war sein Gedächtnis unfassbar gut.

„Wohin bist du denn unterwegs?“ Seine Stimme triefte fast vor Misstrauen und ich sah, dass sein Blick zu Waylan huschte, der sich immer noch nicht zu ihm umgedreht hatte. Schließlich hatte er die Tür abgeschlossen und ich war mir sicher, dass niemand sie ohne seine Erlaubnis öffnen durfte.

„Ich wollte mir in der Küche etwas zu essen holen“, überlegte ich mir eine Notlüge. Gegen Essen konnte doch nicht einmal er etwas sagen …

„Wieso lässt du dir das Essen nicht so wie sonst aufs Zimmer bringen?“

„Ich kann doch nicht den ganzen Tag im Zimmer bleiben, irgendwann wird mir eben langweilig in dem Raum. Da dachte ich mir, dass das Essen eine gute Gelegenheit wäre, einmal rauszukommen.“ Meine Stimme klang erstaunlich fest dafür, dass ich ihn anlog und er mich mit seinem Blick durchbohrte. Und dafür, dass ich meinte, seine Finger wieder auf meiner Haut zu spüren.

Seine Gesichtszüge entspannten sich, woraufhin die Anspannung aus meinen Muskeln fiel. Er musste die Notlüge abgekauft haben.

„Lass mich mitkommen“, beschloss er und schritt in Richtung der Treppe. Panik machte sich in mir breit.

„Ich möchte gerne allein gehen“, platzte es mir hinaus. Er erstarrte in seiner Bewegung.

„Wieso?“ Auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Falten und ich sah, dass seine Hände sich zu Fäusten ballten.

„Bitte“, flehte ich. Was sollte ich ihm schon für Gründe nennen? Es gab keinen einzigen plausiblen.

„Nein. Ich habe dir schon oft gesagt, dass du dich an meine Anwesenheit gewöhnen solltest“, beschloss er. „Außerhalb unseres Zimmers möchte ich an deiner Seite sein. Immer.“

Es waren keine Worte nötig. Waylan und ich begannen gleichzeitig die Treppe hinunter zu sprinten, denn aus dieser Situation konnte ich mich unmöglich mit weiteren Lügen befreien. Laurent schrie nach Wachen, während ich so schnell rannte, wie ich noch nie im Leben gelaufen war. Die schweren Schritte der Wachen waren nur wenige Sekunden später hinter uns.

Wir beide gegen den ganzen Palast. Das war kein ausgeglichener Wettkampf.

„Hier her“, rief ich und bog um die Ecke. In die entgegengesetzte Richtung des Haupteingangs. Waylan stellte keine Fragen, sondern folgte mir einfach. Er hatte mich schnell aufgeholt und rannte neben mir durch die prachtvollen Flure des Schlosses.

„Bleibt stehen, ihr kommt hier sowieso nirgends raus!“, brüllte eine der Wachen hinter uns. Es war der Mann, der die letzten Wochen auch vor meiner Tür gestanden hatte. Ich hatte ihn nur selten reden hören, weil er mich normalerweise nicht einmal anschaute. Bestimmt hatte er sich besseres unter dem Job vorgestellt, als auf eine Prinzessin aufzupassen. Jetzt konnte er immerhin eine Prinzessin jagen.

„Schneller“, murmelte Waylan. Ich versuchte mein Tempo ein wenig anzuziehen, doch viel mehr ging nicht. Waylan könnte mit Sicherheit noch schneller laufen, doch er achtete auf meine Geschwindigkeit. Meine Lunge stach, aber ich ignorierte den Schmerz und rannte weiter. Der Gedanke, von Laurent wegzukommen, trieb mich an.

„Hier rein“, keuchte ich und riss die Türe zur Putzkammer auf. Eine der Putzhilfen ließ mit einem erstickten Schrei ihren Eimer fallen. Genau heute hatten wir natürlich das Pech, dass der Raum nicht leer war. Unsanft rempelte ich sie zur Seite, obwohl mir das unfassbar leidtat, weil die arme Frau nur ihre Arbeit erledigte. Ich kickte die Kisten auf Seite und suchte nach dem Griff der Luke. Meine Finger zitterten nervös. Waylan, der die ganze Zeit panisch nach hinten in den Flur schaute.

„Beeil dich“, bemerkte er, als ob ich das nicht schon machte. Endlich fand ich den Griff und zog die Luke auf. Ich sprang in den Tunnel und Waylan folgte so knapp, dass ich seinen Füßen gerade ausweichen konnte. Wir machten uns keine Mühe, die Luke zu schließen, denn die Stimmen der Wachen waren direkt hinter uns. Sie mussten bereits gesehen haben, wohin wir verschwunden waren, und selbst wenn nicht, würde die Putzhilfe es ihnen mit Sicherheit erzählen.

Wir polterten keuchend durch den schmalen Gang. Die Schritte der Wachen hörten sich so nah an, dass ich mir sicher war, sie würden uns gleich erreichen. Waylan hatte eine Hand an meinen Rücken gelegt und schob mich damit ein bisschen vor. Es half nicht viel, wir waren immer noch zu langsam. Vor allem, weil ich in den letzten Wochen sehr aus dem Training gekommen war.

Plötzlich war die Hand an meinem Rücken weg und ich hörte, wie Waylan erschrocken aufkeuchte. Als ich herumwirbelte, sah ich, dass der Wachmann ihn fest gepackt hatte.

„Renn weiter, Layla“, rief Waylan und zappelte in dem festen Griff. Ich schüttelte panisch meinen Kopf. Es war unmöglich, dass ich floh und ihn ins Gefängnis werfen ließ. Waylan deutete allerdings leicht auf seinen Fuß und lächelte mir zu, was der Wachmann natürlich nicht sehen konnte. Plötzlich wusste ich, dass er sie nur einen Moment aufhalten wollte. Wegen mir. Weil ich langsamer rannte als sie.

„Es tut mir leid“, wisperte ich, um die Szene nicht allzu unrealistisch aussehen zu lassen, dann sprintete ich wieder los und hoffte, dass Waylan seinen Plan wirklich in die Tat umsetzen konnte.

„Die Prinzessin entkommt, lauft ihr hinterher“, brüllte der Wachmann, woraufhin ich versuchte noch schneller zu laufen, wobei meine schmerzenden Beine das nicht zulassen wollten. Plötzlich hörte ich ein Aufschrei des Schmerzens. Nicht von Waylan, denn dieser war wenige Sekunden später bei mir. Er schubste mich schon fast nach vorne und ich wollte ihn gerade fragen, was er gemacht hatte, als ein lauter Knall und Schreie ertönten. Entgeistert schaute ich zu Waylan zurück, der nur unschuldig mit seinen Schultern zuckte.

„Boom“, krächzte er und schob mich dann weiter. Es knallte ein zweites Mal, dicht gefolgt von einem lauten Krachen. Der ganze Tunnel vibrierte, Steinchen lösten sich von der Decke und rieselten auf uns hinab.

„Hab mich wohl mit der Kraft etwas verschätzt. Schneller“, murmelte Waylan, seine Augen hatte er mittlerweile panisch aufgerissen.

„Du hast nicht noch eins von den Dingern dahingeworfen, oder?“, fragte ich ihn panisch. Dem würde der Tunnel nicht standhalten.

„Wie weit ist es noch?“, fragte er zurück. Sein Blick war von Sorge erfüllt.

„Beantworte meine Frage“, schrie ich panisch, während meine Lunge noch mehr protestierte. Von Waylan kam nur erschöpftes Schnaufen. „Hast du noch eines der Dinger dahingeschmissen?“, kreischte ich fassungslos. Waylan presste seine Lippen aufeinander, das konnte ich sehen, als ich einen Blick zurückwarf.

„Eines wäre ja noch in Ordnung“, hörte ich ihn nuscheln. Bei diesen Worten blieb mein Herz fast stehen. Noch bevor ich ihm antworten konnte, erzitterte der Gang durch einen weiteren Knall, gefolgt von dem Krachen. Ein weiterer Teil der Decke musste zusammengebrochen sein. Auf einmal tauchte ein Riss über meinem Kopf auf. Die nächste Bombe würde mit Sicherheit Großteile des Tunnels zum Einstürzen bringen.

„Schneller“, schrie Waylan. Ich hörte ihn zum ersten Mal panisch und erfüllt von Angst. Das hier verlief so gar nicht nach Plan. Nicht im Ansatz.

Die letzten Meter tauchten vor uns auf. Ich konnte die offene Luke schon vor uns sehen. Plötzlich waren es nicht mehr wir gegen die Wachen, sondern wir gegen die tickende Zeit, bis die nächste Bombe hochging.

Die Luke kam immer näher. Sie war kurz vor uns, als der Gang erschütterte. Das Krachen war dieses Mal unfassbar laut, dass es meinen erschrockenen Aufschrei übertönte. Staub wirbelte durch die Luft und große Brocken krachten vor mir von der Decke. Der Staub brannte in meiner Kehle und erschwerte die Sicht. Stolpernd überwand ich die letzten Meter, während hinter uns immer noch große Teile des Tunnels zusammenbrachen. Fast blind durch den Staub tastete ich nach der Öffnung an der Decke. Als ich mit meinen Fingern den Holzboden der verlassenen Kneipe spürte, sprang ich und zog mich geübt hoch, eine Leiter nach oben gab es schon lange nicht mehr. Ich hustete, weil mein ganzer Körper sich gegen den Staub in meiner Lunge wehrte.

„Waylan!“ Eigentlich wollte ich schreien, doch es war nicht mehr als ein Krächzen, gefolgt von einem Hustenanfall. Mit meinen Händen griff ich in die Luke, suchte nach seinen Händen. Panik wallte in mir auf. Was war, wenn er über einen Brocken gestürzt war und nun bewusstlos im Tunnel lag? Mein Atem wurde noch knapper als vorher, während ich versuchte zu schreien, was meine Kehle nicht zuließ.

Plötzlich streifte Haut meine eigene, ich packte zu, kurz darauf wurden meine Hände ebenfalls fest umschlossen.

„Du musst springen“, rief ich, weil ich ihn da niemals allein rausholen konnte.

Er sprang und ich zog. Ächzend landete Waylan auf dem Holzboden, die Beine noch in der Luke versenkt. Er hatte die Augen zusammengekniffen und zog sich die letzten Zentimeter mit eigener Kraft hoch. Sein ganzes Gesicht war mit Staub bedeckt und ich sah Blut an seinem Kopf. Allerdings hatten wir keine Zeit, darüber nachzudenken. Stattdessen stolperten wir von der Luke weg, während man noch immer das Krachen des Tunnels hörte. Wir husteten, keuchten, während wir zur Tür der Kneipe liefen, wo wir uns angestrengt anlehnten.

Ein weiterer Knall. Die Luke versank mit dem Rest des Tunnels und einem Stück des Kneipenbodens. Mein Fluchtweg war verschwunden. Es war der Weg, den ich immer gewählt hatte, um ein wenig Normalität zu erfahren. Jetzt war er weg. Ich musste heute entkommen. Oder ich hatte nie wieder die Chance dazu.

„Da hatten wir gerade noch Glück.“ Waylans Stimme war nicht mehr als ein Wispern. Ich sah, dass er sich den Staub aus dem Gesicht wischte.

„Wir sind noch nicht aus der Stadt raus. Sag nicht, dass wir Glück haben, wenn wir nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter uns haben“, murmelte ich und lehnte meinen Kopf gegen die Wand. Wenigstens für eine Sekunde konnte ich entspannen, dann mussten wir weiter. Mit der Ungewissheit, ob wir es überhaupt lebend aus der Stadt schaffen würden, und noch größerer Ungewissheit, was danach kam. Aber für eine Sekunde genoss ich das Adrenalin in meinen Adern und das Gefühl, frei zu sein.

„Wir sollten uns beeilen, bevor sie auf die Idee kommen, die Tore zu schließen“, sagte ich und hustete mehrmals. Der Staub in meinen Lungen kratzte noch immer und erschwerte mir das Atmen. So sehr ich einfach in dieser Kneipe auf dem Boden sitzen bleiben wollte, es ging nicht. Sie würden jede Ecke der Stadt durchkämmen, bis sie mich gefunden hatten.

„Die können die Tore schließen?“, keuchte Waylan. Ein weiterer Punkt, den er auf seinem Plan wohl nicht bedacht hatte.

„Wenn es um große Sachen geht, dann schon“, murmelte ich und klopfte mir den Dreck aus dem Kleid. „Und das hier ist leider mehr als eine große Sache“, fügte ich hinzu, dann wandte ich mich zur Tür. Waylan seufzte. Er wollte wahrscheinlich genau wie ich keinen Meter weiter. Meine Muskeln und Lungen protestierten, sobald ich ein paar Schritte auf die Straße hinaus machte. Am liebsten würde ich mich auf den Boden fallen lassen und dort liegen bleiben.