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Laylisra leidet unter der Hand ihres brutalen Vaters, dem König von Adonis. Sie träumt schon immer von spannenden Abenteuern und besonders von den Drachen, die sie einmal im Jahr in den Himmel aufsteigen sieht. Deshalb flieht sie vor dem royalen Leben und beginnt eine Ausbildung zur Drachenkämpferin. Dort lernt sie Waylan kennen – einen Jungen, der sie mit all seinen Geheimnissen fasziniert. Immer weiter zieht er sie in die verbotene Welt der Magie. Laylisra versinkt in der neuen, magischen Welt, bis ihr altes Leben sie auf einmal einholt; und plötzlich steht alles auf dem Spiel, was sie zu lieben gelernt hat …
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Prolog
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Teil 2
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Teil 3
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Epilog
Sinja Henrich
Feuerauge
Chroniken der Seelendrachen
© 2023 Sinja Henrich
Max-Bruch-Str. 7
42499 Hückeswagen
Alle Rechte vorbehalten
Coverdesign von: designs_kj
Für Alisha,
ohne dich würde diese
Geschichte nicht existieren
Das Leben von Laylisra war grau, doch wenn die Drachen am Himmel flogen, dann wurden wenige Sekunden bunt gemalt. Das letzte der bezaubernden Wesen flog mit dem Einbruch der Dunkelheit Richtung Horizont davon. Hunderte Menschen feierten die neugeborenen Drachenkämpfer. Sie jubelten, sangen und tanzten zu der Musik, deren Klänge die kalte Abendluft erfüllten. Abseits von dem Trubel kauerte ein Mädchen hinter einem Baum. Ihre dünnen Arme waren mit Gänsehaut überzogen und ihr fleckiges Kleid war durchweicht von dem nassen Gras unter ihr, doch sie starrte immer noch an die Stelle, an der der letzte Drache verschwunden war.
Sie liebte es, den Drachen zuzuschauen und zu träumen. Ihre Träume bildeten die Welt, in die sie sich zurückziehen konnte, wenn die Realität schiefgeraten war. Und an dem einen Tag im Jahr, wenn sie die Drachenkämpfer in den Himmel emporfliegen sah, schienen ihre Träume zum Greifen nah zu sein, obwohl Meilen zwischen ihr und den fliegenden Wesen lagen. Nicht nur Meilen, sondern Hindernisse, die unüberwindbar für Mädchen wie sie waren.
Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sie zum ersten Mal einen Drachen gesichtet hatte. Es war ein warmer Nachmittag gewesen und sie war aufgeregt umhergesprungen und hatte mit ihren kleinen Fingern auf das riesige Tier gezeigt. Ihr Vater hatte sie weitergezogen, all ihr Betteln ignoriert und ihr später zuhause erklärt, dass ihr Verhalten unangebracht gewesen war. Sein Gesicht war rot vor Zorn gewesen und er hatte sie angeschrien, so sehr, dass sie die ganze Nacht weinend im Bett gelegen hatte. Danach hatte sie sich jedes Jahr heimlich davongeschlichen, um die Drachen zu beobachten. So wie dieses Jahr auch.
Sie fröstelte und schlang ihre Arme fest um ihren Oberkörper. Es war Zeit zu gehen, auch wenn ihr Herz bei dem Gedanken schmerzte, wieder ein Jahr auf das fabelhafte Spektakel warten zu müssen. Dennoch drückte sie sich vom Boden hoch und zog sich ihre Mütze tief ins Gesicht, damit ihre feinen Gesichtszüge versteckt blieben. Sie war so schlau, ihr Gesicht nicht öffentlich zu zeigen. Denn sie wusste genau, dass Wachen in der Stadt waren, die wütend sein würden, sie außerhalb des Schlosses zu sehen. Aber noch schlimmer waren die dunklen Gassen, in denen die Verbrecher warteten. Sie erschauderte. Ihr Vater hatte nicht oft recht, aber sie wusste, dass die bösen Leute existierten, von denen er erzählte. Menschen mit dunklen Herzen, die sie tot sehen wollten, nur weil sie Laylisra Alastair hieß. Ein Name, der ihr ganzes Leben bestimmen sollte.
Schnell war sie im Schatten der Häuser, die ihre kleine Silhouette verbargen, und hoffte, dass jeder sie für ein Straßenkind hielt. Zum Glück war ihr Kleid relativ verdreckt, der beige Stoff wurde von Schmutz verdeckt. Wenn man nicht zu genau hinsah, würde man nicht erkennen, dass es aus teurem Stoff gefertigt war. Und wer schenkte den Straßenkindern schon einen zweiten Blick? Sie waren überall. Die verwahrlosten Mädchen und Jungen kauerten an die Wände gelehnt, suchten im Müll nach etwas Essbarem oder bettelten bei Passanten um Geld.
Wäre sie Königin, würde sie sich um diese Kinder kümmern. Nur war sie bloß ein kleines Mädchen und ihr Vater herrschte über das Land. Er hatte seine Gedanken nie bei den Menschen, die in seiner eigenen Stadt lebten. Er dachte immerzu nur an den Krieg und wie die Grenzen verteidigt werden konnten. Das Mädchen verstand das nicht, Krieg war schlimm und brutal, zumindest glaubte sie das. Sie hatte den Krieg schließlich noch nie mit eigenen Augen gesehen. Doch sie hatte von ihm gehört und die Menschen beobachtet, die aus ihm wiederkehrten. Sie weinten, sie weinten immer alle, wenn sie nachhause kamen. Und so viele hatten Wunden, die nie wieder heilen würden oder sogar verlorene Gliedmaßen. Krieg musste schlimm sein. Sie wollte, dass alle Kriege stoppten.
Ihr Atem bildete inzwischen weiße Wölkchen, so kalt war die Luft geworden. Es war wohl später als sie gedacht hatte und während sie rannte, hoffte sie nur, dass sie unbemerkt ins Schloss gelangen würde. Ihr Fehlen wurde sowieso nie festgestellt. Niemand im Schloss achtete auf sie. Manchmal fühlte sie sich so allein, obwohl sie die ganze Zeit von Mägden, Dienern, Wachen und so vielen anderen umgeben war. Die redeten allerdings nicht mit ihr, außer wenn es um eine Anordnung ging, was sie als Nächstes machen sollte oder wie sie sich verhalten sollte. Laylisra hatte schon viele Versuche gestartet, sich mit ihnen zu unterhalten, und mit der Zeit hatte sie es aufgegeben, war zu einem Geist in dem Schloss geworden, das ihres werden sollte.
Die hohen Türme eben dieses Schlosses tauchten in ihrem Sichtfeld auf. Bedrohlich ragten sie in den dunkelblauen Nachthimmel hinauf. Für ein paar Sekunden blieb sie stehen, damit sie das wunderschöne Gebäude mit Abscheu mustern konnte, dann wandte sie sich der Schenke zu, in der abends schon lange kein Licht mehr leuchtete. Die Buchstaben auf dem Schild über der Tür waren kaum noch lesbar und die Tür knarrte jedes Mal, wenn man sie öffnete. Genauso war es dieses Mal. Sie gab fürchterliche Geräusche von sich und Laylisra bemühte sich schnell in den dunklen, verstaubten Raum hereinzuschlüpfen.
Es roch nach altem Holz und Rattenkot. Den Weg zwischen den Tischen auch im Dunkeln zu finden, war mittlerweile ein Leichtes, weil sie schon unzählige Male durch den düsteren Raum gegangen war. Hinten im Lagerraum öffnete sie eine Bodenluke und kletterte in den schmalen Gang hinein. Sie hatte mit der Zeit vermutet, dass dies ein vergessener Fluchtweg war. Er war eng und roch nach Erde, aber man kam durch ihn unbemerkt in eine Besenkammer im Schloss. Sie hatte den Eingang gefunden, als sie noch Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte. Damals hatte sie in dem Tunnel lauernde Monster vermutet. Erst Jahre später hatte sie sich hineingetraut, als die Angst vor der Dunkelheit von viel schlimmeren Ängsten verdrängt worden war. Die größte davon war die Furcht niemals aus dem Schloss rauszukommen. Nie die Wälder, die Berge, die Meere zu erkunden. Stattdessen tagein, tagaus dieselben vier Wände zu sehen. Das Problem mit ihrer Angst war, dass sie wahrwerden würde. Es gab kein Entkommen aus dem Schloss, sie hatte ihren Platz dort und konnte nicht einfach verschwinden.
Sie öffnete die Luke, die nun über ihrem Kopf aufgetaucht war. Dabei ging sie immer besonders vorsichtig vor, aus Angst, jemand könnte sie sehen. Schließlich sollte ihr Geheimgang unentdeckt bleiben. Erleichtert atmete sie aus, als die Besenkammer still dort lag und sprang hoch, sodass sie sich schnell nach oben ziehen konnte. Dann verschloss sie die Luke sorgfältig und schob alle Eimer so hin, dass niemand die Rillen im Boden sah, die den Eingang verraten konnten.
Hastig eilte sie durch die langen Flure, allerdings passte sie auf, dass niemand sie sah. Noch einmal schaute sie nach hinten in den leeren Gang zurück, bevor sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete und hinter sich wieder zudrückte.
Ein Räuspern ließ sie zusammenzucken und erschrocken wirbelte sie herum. Sie war so dämlich. Ihr war nicht einmal aufgefallen, dass in ihrem Zimmer das Licht brannte, das sie jedes Mal vor ihrem Verschwinden löschte. Dort im hellen Schein der Deckenlampe stand ihr Vater mit verschränkten Armen und zusammengezogenen Augenbrauen.
„Wie bist du nach draußen gekommen?“ Sein Kiefer bewegte sich fast gar nicht, er hatte die Zähne fest aufeinandergepresst.
„Ich bin nicht draußen gewesen.“ Die Lüge ging dem Mädchen glatt über die Lippen, ohne dass sie einmal mit den Wimpern zuckte.
„Die Flecken auf deinem Kleid verraten dich.“ Sie schielte ertappt nach unten, um die grünen und braunen Färbungen auf dem hellen Kleid zu betrachten. Sie hätte sich ein zweites einpacken sollen. Sie hätte vieles anders machen sollen. Dann wäre es ihrem Vater vielleicht nie aufgefallen.
„Ich bin heute Nachmittag im Garten gewesen und habe mich danach nicht umgezogen.“ Wieder war die Lüge kein Problem für sie. Das Lügen fiel ihr inzwischen leichter, als die Wahrheit zu sagen.
„Manchmal frage ich mich, wie deine Erziehung so scheitern konnte“, sagte er und musterte sie missbilligend. Er war nicht wütend, dabei konnte sie mit seiner Wut inzwischen umgehen. Doch der Hass in seinen Augen sorgte dafür, dass sie sich in eine Ecke verkriechen und nie wieder jemand sehen wollte.
„Wie bist du herausgekommen?“, wiederholte er seine Frage. Laylisra starrte ihn ebenfalls an und versuchte nicht zu zeigen, dass sie innerlich klein beigab. Sie schaute in die wässrigen, blauen Augen, die von Abscheu erfüllt waren. Diesen Blick hasste sie so sehr und das Schlimmste daran war, dass sie genau seine Augen geerbt hatte. Manchmal, wenn sie in den Spiegel schaute, schreckte sie vor ihrem eigenen Spiegelbild zurück, weil sie ihren Vater in ihrem Bild erkannte.
„Du willst es mir nicht sagen?“ Seine Stimme war ruhig. Das war schrecklich. Seine Stimme war nie ruhig, wenn sie etwas angestellt hatte. Er kam näher auf sie zu und als er so nah stand, dass sie seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte, zog er seine breite Nase zusammen, so als würde sie stinken, nur weil sie draußen gewesen war.
„Du bist eine Schande für unsere Familie.“ Sie wünschte sich, dass es ihr egal wäre, doch das war es nicht. Es tat weh, wenn er das sagte.
Dann holte er mit der Hand aus. So schnell, dass sie gar nicht realisierte, was er tat. Erst als der Schmerz in ihrer Wange einsetzte und sie sich ihre kühle Hand auf die pochende Haut presste, wusste sie, was er gemacht hatte.
„Fang endlich an dich wie deine ältere Schwester zu verhalten. Du bist keine Alastair mit deinem Benehmen.“ Mit diesen gezischten Worten verließ er ihr Zimmer, dabei achtete er darauf die Tür nicht nur hinter sich zuzuknallen, sondern auch abzuschließen. Tränen strömten in die Augen des Mädchens und sie sackte auf ihre Knie. Das Schluchzen hallte von den Wänden wider und sie war sich sicher, dass es jeder hörte, der an ihrem Zimmer vorbeiging. Niemand kam herein, um ihre Tränen zu trocknen oder sie so lange im Arm zu wiegen, bis ihr Schluchzen verklang. Stattdessen ließen alle sie in ihren Tränen ertrinken.
Das Leben auf diesem schwarzen und toten Planeten wurde von Crissante geformt, der Göttin des Lebens.
Um die ewige Dunkelheit zu vertreiben, rief sie ihre Schwester Rhiann aus einer fernen Welt zu sich und sie schenkte dem Planeten Licht.
Denn Leben konnte es nicht ohne Licht geben und Licht war nutzlos ohne Leben.
~ Entstehungsgeschichte
Luft füllte meine Lungen, als ich die Schnüren des Korsetts endlich so weit geöffnet hatte, dass mein Brustkorb nicht mehr zerquetscht wurde. Erleichtert atmete ich aus und schmiss das Kleidungsstück in die Ecke. Wahrscheinlich würde ich es nie wieder mitnehmen. Es fiel so oder so nicht auf, ob eine Sache mehr oder weniger in meinem Schrank war.
Statt des Kleides zog ich verdreckte Kleidung aus dem alten Regal hinaus. Eine Latzhose und ein Hemd, so wie man es im Bergbau trug, und die Kappe, die meine langen, blonden Haare verbergen sollte. Ich wischte mit meiner Handfläche über die dreckige Hose, um den Ruß dann in mein Gesicht zu schmieren. So würde niemand auf mich achten. Ich hatte mich schon immer versteckt, wenn ich nach draußen ging. Früher war es so gewesen und heute war es nicht anders. Zitternd atmete ich aus und blieb für einen Moment länger als nötig stehen. Vielleicht war es das letzte Mal, dass ich mich in dieser dreckigen Kleidung verstecken musste. Nicht vielleicht, hoffentlich.
Die Tür der verlassenen Kneipe öffnete sich mit einem lauten Knarren. Auch das hatte sich in den vielen Jahren nicht geändert. Die Straßen im Zentrum von Rheenitch waren erfüllt von Leben. Straßenhändler standen an den Seiten und boten bunte Waren an, teilweise aus fernen Ländern, teilweise aus dem Anbau, der außerhalb der Stadtmauern lag. Ich musterte das Obst, das sich auf einem Tisch stapelte und entdeckte die Orangen, die im Sonnenlicht besonders glänzten. Ich wusste genau, wie sehr Evan Orangen liebte.
„Wie viel kostet das Stück?“, fragte ich eine Frau mit runzeligem Gesicht. Ihre Arme waren knochig und ihre Haare schon lange ergraut, sie sah nicht so aus, als ob ihr noch viel Lebenszeit blieb. In Rheenitch alterten viele durch die schlechte Luft schneller, wahrscheinlich war sie viel jünger, als sie aussah.
„10 Taler.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und sie starrte mich aus ihren braunen Augen bittend an. Ich musterte ihr zerrissenes Kleid und die vor Dreck starrende Schürze.
„5 Taler“, erwiderte ich. Natürlich hatte ich mehr Geld, doch ich würde mich verraten, wenn ich keinen Handel eingehen würde. Bergarbeiterinnen besaßen für gewöhnlich gerade genug Geld, um sich selbst und ihre Familien über dem Wasser zu halten.
„In Ordnung. Du brauchst das Geld wohl noch länger als ich.“ Sie versuchte ihren Mund zu einem Lächeln zu verziehen, weshalb ich dankbar zurückgrinste. Es war das freche und strahlende Grinsen, das mein Vater verurteilte, weil es nicht edel aussah.
„Dankeschön, mögen Rhiann und Crissanta Ihnen beistehen.“ Mit diesen Worten zog ich fünf Taler aus meiner Hosentasche und während ich diese der Frau in ihre dürren Finger drückte, schob ich unauffällig ein paar mehr Taler unter das Obst. Sie würde es heute Abend finden und nicht wissen, von wem es gekommen war.
„Ihnen ebenfalls!“, verabschiedete die Frau sich und ich setzte meinen Weg mit der erworbenen Orange in meiner Hand fort. Die Gassen waren erfüllt von dem Summen, das sich aus den unterschiedlichen Gesprächen ergab, und von weit hinten ertönte der Klang verschiedener Instrumente. Ich drängelte mich durch die Menge, wobei ich die ganze Zeit auf meine Füße starrte, statt in ihre Gesichter. Zu groß war die Angst, dass doch irgendjemand einen zweiten Blick auf die angebliche Bergarbeiterin warf und die hellblauen Augen wiedererkannte.
Die Anspannung fiel von mir ab, als die Menschen endlich weniger wurden, weshalb ich es wagte, hochzuschauen. Eine hellgraue Wolkendecke hang über Rheenitch und die dunklen Häuser setzten sich davor ab. Sie streckten sich schief gen Himmel und die Fassaden sahen renovierungsbedürftig aus, denn der Putz blätterte an jeder erdenklichen Stelle ab. Dennoch hatte es seinen Charme. Die Gassen wirkten so friedlich und unberührt. Dort waren Blumen auf einem Fensterbrett, an einer anderen Ecke spielten zwei Kinder und an dem nächsten Haus wucherte Efeu empor, das mich wünschen ließ, ich könnte auch nur ein wenig so malen wie meine große Schwester, um dieses Bild einzufangen. Meine Schwester malte immerzu Felder, Blumenwiesen und schöne Villen, doch ich wollte die Seite von Rheenitch einfangen, die alle ignorierten. Die dreckigen, veralteten Gässchen, die für mich zu einem Wohlfühlort geworden waren. Hier war nämlich niemand und erst recht keine Person, die mich beobachtete. Denn an diesem Ort war jeder zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass man auf die anderen achtete.
Nach einem kurzen Weg war ich an riesigen Lagerhallen angekommen. Es waren schwarzgraue Klötze, die einfach in die Stadt gesetzt worden waren. Zwischen zwei Lagerhallen befand sich ein kleineres Gebäude, das metallene Tor stand weit offen und hinter diesem Tor lag ein dunkler Tunnel. Genau dieses Tor passierte ich und ein paar Treppenstufen führten noch tiefer in die Dunkelheit, die durch ein paar Laternen versucht wurde zu vertreiben.
Als ich am unteren Ende der Treppe angelangt war, schob ich einen der Holzwaggons kräftig an und im nächsten Moment landete ich mit einem geübten Sprung in dem Gefährt und raste durch die Dunkelheit. Die Stellen mit den Weichen wurden vorher mit Lampen markiert, aber ich wusste inzwischen auswendig, wann ich den Hebel nach links und wann nach rechts schieben musste. Mit einem Quietschen der Bremsen brachte ich den Wagen schließlich zum Stehen und kletterte hinaus.
„Ira, da bist du ja endlich!“, rief Evan erfreut und umarmte mich. Er roch nach Schweiß und Kohle, doch das störte mich nicht im Geringsten, stattdessen hatte ich angefangen den Geruch zu mögen, weil er mich an Freiheit und Sehnsucht erinnerte.
„Tut mir leid, ich hatte heute keinen guten Tag“, erklärte ich ihm und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu.
„Kein Problem, solange du jetzt hier bist. Ich könnte mir keine Woche mehr ohne dich vorstellen.“ Bei seinen Worten setzte mein schlechtes Gewissen sofort ein, doch ich schob es nach hinten, als er sanft mit seinen Fingern über meinen Unterarm fuhr und meine Bluse schließlich ein Stück nach oben schob, nur um mir dann einen Kuss auf die weiche Haut meines Handgelenks zu drücken.
„Wenn mir die Stunden hier zu eintönig vorkommen, stelle ich mir immer dein Gesicht vor, und wenn mir ganz langweilig ist, sage ich Witze in die Stille hinein und höre dein Lachen, obwohl du gar nicht da bist.“ Ich grinste bei seinen Worten und schüttelte meinen Kopf.
„Wer in der Welt hat jemanden verdient, der so viel an einen denkt, wie du es tust?“, fragte ich, auch wenn es bei mir nicht anders war. Bloß kamen die Gedanken nicht bei der Arbeit, sondern wenn ich allein in meinem Zimmer saß und die Langeweile mich tötete. Dann stellte ich mir vor, dass er neben mir saß und wir redeten, oder ich schloss meine Augen und sah die ganze Zeit sein Gesicht.
„Du“, wisperte er. „Du hast so jemanden verdient.“ Ich wollte ihm sagen, dass ich ihn von allen Personen am wenigsten verdient hatte, weil ich ihn belog, seit wir uns zum ersten Mal getroffen hatten. Doch im nächsten Moment lagen seine Lippen auf meinen und wir verschmolzen zu einem. Ich fuhr mit meinen Händen über seine knochigen Schultern und schließlich seine Arme hinunter, um ihn dann an der Taille näher zu mir heranzuziehen. Immer wieder holten wir für eine Sekunde Luft, nur damit unsere Münder sich im nächsten Moment wieder synchron bewegten. Wir wurden getrieben von der Sehnsucht nach einem anderen Leben, das wir nur haben konnten, wenn wir zu zweit waren. Nachdem wir uns schlussendlich keuchend voneinander lösten, ließen wir uns auf den Boden fallen. Der Schmutz war uns egal, schließlich konnte diese Kleidung nicht schlimmer werden.
„Ich habe dir etwas mitgebracht!“, fiel mir in der Sekunde ein, weshalb ich aufsprang und die orangene Frucht aus dem Wagen fischte. Seine Augen leuchteten auf, als er die Orange in meiner Hand entdeckte.
„Wie - wie kommst du an so etwas immer ran?“, fragte er völlig fassungslos, und als ich das Obst in seine Hand drückte, drehte er es für einen Moment fasziniert.
„Tut das etwas zur Sache?“, erwiderte ich. Mit der Zeit war ich geübt darin geworden, Lügen zu umgehen, weil ich das Bedürfnis hatte, ihm die Wahrheit zu erzählen, aber das konnte ich nicht. Er wusste im Grunde genommen nichts über mich, nicht einmal meinen richtigen Namen, aber die Angst vor seiner Reaktion und wie er dann handeln würde, war zu groß. Außerdem genoss ich es, für die paar Stunden, die ich hier in der Dunkelheit verbrachte, jemand anderes zu sein.
Freudig begann er die Frucht zu schälen, nur um dann gierig ihr Fruchtfleisch zu verschlingen. Ich musterte ihn, wie seine Augen strahlten, während er sich das Essen auf der Zunge zergehen ließ und die ganze Zeit über lächelte.
„Manchmal träume ich davon, aus Rheenitch zu ziehen und mir irgendwo weit weg ein neues Leben aufzubauen“, erzählte er mir mit diesem Leuchten in seinen Augen. Ich nickte zustimmend.
„Am liebsten hätte ich dann ein kleines Haus, das aber bei jedem Sturm hält, und einen Ofen, um Essen zuzubereiten, und einen Garten“, zählte er auf. Alles, was er nicht hatte. Er wohnte in einer heruntergekommenen Wohnung mit seiner Familie. Bei jedem stärkeren Regen tropfte es durch das Dach, das Ofenrohr war mit der Zeit kaputtgegangen und sie hatten sich kein Neues leisten können, und Grünflächen gab es innerhalb der Stadt erst recht nicht.
„Und einen Orangenbaum im Garten“, erinnerte ich ihn und nahm ein Stück von der Frucht, um sie dann in seinen Mund zu schieben. Er grinste.
„Natürlich, wie konnte ich das nur vergessen?“, fragte er und zwinkerte mir zu.
„Wir sollten es machen“, schlug ich vor und begann einen Stein auf dem Boden zwischen meinen Füßen hin und her zu schieben.
„Was?“, fragte er verwirrt und seine Augen wurden wieder blasser. Ich hatte ihn aus seinem Tagtraum gerissen, mehr war es für ihn nicht.
„Naja, wir sollten aus der Stadt verschwinden und uns irgendwo weit weg ein Haus kaufen und dann suchen wir uns einen besseren Job als den hier. Einen, wo wir nicht die hellen Stunden des Tages im Dunklen sitzen“, zählte ich ihm das auf, was er mir gerade noch so lebendig vorgeträumt hatte. Er senkte den Blick, in seinen Augen war nun nicht mehr eine Spur von dem Leuchten zu entdecken.
„Du weißt, warum das nicht geht“, erwiderte er. Wir waren schon oft genug durch dieses Szenario gegangen und jedes Mal landeten wir an dem gleichen Punkt. Er konnte seine Familie nicht im Stich lassen, weil er sie mit seinem Geld ernährte, aber seine Familie konnte auch nicht mitkommen, da seine jüngste Schwester Medizin brauchte, die es nur in Rheenitch gab. In den ländlichen Gebieten war es schwierig, überhaupt an Lebensmittel heranzukommen, doch es war unmöglich, dort Medikamente zu besorgen.
„Ich weiß.“ Ich seufzte und lehnte meinen Kopf auf seine Schulter. „Manchmal wünsche ich mir nur, dass ich meinem Leben entkommen kann.“ Dieser Wunsch war schon so lange in mir verankert. Ich hatte noch nie in die Rolle einer Alastair gepasst und das hatte sich über die Jahre auch nicht geändert.
„Irgendwann. In einem neuen Leben, da wird uns endlich der Wohlstand gegeben, für den wir so hart gearbeitet haben“, erklärte er mir mit fester Stimme. Das war das einzige, woran er sich klammern konnte, dabei verstand er nicht, dass es mir nicht um das Gold ging. Davon wurde ich zuhause überschüttet. Im Gegenteil wollte ich beinahe lieber ein Leben wie er. Meine Tage in den Minen verbringen, solange ich mittags über den Markt schlendern oder abends in einer Kneipe mit Freunden trinken konnte. Solange ich eine Familie hatte, die mich liebte. Auch wenn mir bewusst war, dass sein Leben mindestens genauso viele Nachteile hatte, wie mein eigenes. Nur manchmal fragte ich mich, ob Liebe nicht so unbezahlbar war, dass der Rest egal wurde. Im Endeffekt kam ich immer bei der gleichen Antwort an: Wir waren beide mit einem Leben gestraft, das niemand verdient hatte.
„Ich muss gehen“, sagte ich mit erstickter Stimme. Ich hielt es nicht mehr aus, weil mir wieder schmerzhaft bewusst geworden war, wie viele Welten eigentlich zwischen uns lagen. Ich war reich und dennoch beneidete ich ihn, doch das würde er nie verstehen, deshalb erzählte ich es ihm nicht. Wahrscheinlich würde er mich anschreien, weil ich mich nie um die Gesundheit meiner Familie oder das Essen auf dem Tisch sorgen musste. Und er hatte recht. Ich sollte dankbar sein, doch das konnte ich nicht.
„Schon?“, fragte er enttäuscht, woraufhin ich nickte.
„Ich muss weiterarbeiten, wenn ich dem Aufseher zu wenig Kohle liefere, dann gibt es wieder Ärger.“ Ich versuchte ihn anzulächeln, Evan nickte, natürlich verstand er das. Man konnte in den Minen allein in seinem Abschnitt arbeiten, solange man dem Aufseher am Ende des Tages genug Kohle lieferte. Die Einsamkeit machte die Arbeit noch schlimmer. Den ganzen Tag hackte man mit der Spitze auf freigelegte Kohle ein, so lange bis die Arme schlapp wurden. Dann schaufelte man das schwarze Gold in den Wagen hinein. Wenn das erledigt war, ging alles von vorne los. Sonst war nichts hier unten. Nur die Kohle, das Licht von ein paar Laternen, die Werkzeuge und die Wagen zum Transport von Menschen und Kohle.
„Ich habe gestern schon zu wenig Kohle gebracht“, setzte ich noch hinzu und verzog mein Gesicht etwas.
„Ich auch“, erwiderte er und grinste, doch diese Worte taten mir weh. Ich wollte nicht wissen, was der Aufseher mit ihm gemacht hatte.
Wir küssten uns noch einmal und dieses Mal floss die Sehnsucht in diesen Kuss hinein, die in jeder Ecke meines Körpers steckte. Der Wunsch nach einem glücklichen Leben. Ich fuhr mit meinen Fingern durch seine kurzrasierten Haare, spürte ein letztes Mal, wie sie sanft an meinen Handinnenflächen kitzelten. Der Kuss schmeckte nach der Frucht und nach so vielem mehr. Nach all den Wünschen, die uns immer wieder an diesem dunklen Ort treffen ließen. Ich löste mich und rappelte mich auf, um dann mit direkten Schritten in den Wagen zu klettern. Wenn ich noch mehr nachdachte, würde ich es womöglich nicht über mich bringen, ihn zu verlassen.
„Versprich mir, dass du deinen Traum von dem Haus trotzdem nicht aufgibst.“ Meine Stimme kratzte etwas, doch ich bemühte mich sie fest klingen zu lassen, während ich versuchte seine Gesichtszüge in meinen Kopf einzubrennen. Sein knochiger Kiefer, seine schiefe Nase, die schmalen Lippen und seine Augen, die hellbraun leuchteten und von dunkeln Wimpern umrahmt waren, die im Licht Schatten auf sein Gesicht warfen.
„Natürlich“, erwiderte er und grinste. Er nahm es nicht ernst. Er nahm vieles nicht ernst, was wohl dafür gesorgt hatte, dass sein Grinsen auch nach den langen Jahren harter Arbeit erhalten geblieben war.
„Und du musst mir noch eines versprechen, Evan“, flüsterte ich und starrte auf meine Hände, die fest den Rand des Wagons umklammerten. So fest, dass meine Fingerknöchel weiß herausstachen.
„Immer doch“, lachte er, nichts ahnend von dem, was ich sagen würde.
„Versprich mir, dass du so weiter machst wie bisher, dass du immer am Grinsen bleibst und - und dir selbst Witze bei der Arbeit erzählst.“ Ich verlor zwischenzeitlich den Faden und spürte, dass eine Träne kurz davor war, über meine Wange zu rollen. „Versprich mir, dass du ein anderes Mädchen so behandelst, wie du mich behandelt hast, und ihr die Chance gibst, dich glücklich zu machen, weil ich das nicht mehr kann.“ Er klappte seinen Mund auf und dann wieder zu. Ich holte zitternd Luft, dann schob ich den Wagen kräftig an und sprang hinein.
„Warte!“, schrie er, „Warte! Was hat das zu bedeuten? Du kannst doch nicht …“ Dann hörte ich seine Worte nicht mehr, weil mein Wagen sich mit so rasender Geschwindigkeit von ihm entfernte. Ich fuhr bis zu der Treppe, die ich dann hinaufrannte. So schnell hatte ich die Stufen noch nie hinter mich gebracht. Keuchend blieb ich im viel zu hellen Außenlicht stehen und verlor für eine Sekunde fast das Gleichgewicht, weil ich meine Augen zusammenkniff. Und weil in meinem Kopf nur noch Chaos herrschte.
Ich hatte Evan gerade zum letzten Mal gesehen, seine Lippen zum letzten Mal auf meinen gespürt und das letzte Mal sein Lachen gehört. Evan war ein wunderbarer Mensch, aber ich hatte ihm nie das geben können, was ich ihm gerne geben wollte. Das würde sich auch in Zukunft nicht ändern, egal, was morgen passierte. Evan würde jemand besseren finden.
***
„Sie müssen aufstehen, Madam.“, weckte mich die laute Stimme einer meiner Dienerinnen. Ich blinzelte und versuchte mir den Schlaf aus den Augen zu reiben. Mein Kopf brummte, weil ich mich die komplette Nacht im Bett herumgewälzt hatte. Das Gesicht von Evan war währenddessen die ganze Zeit in meinen Erinnerungen aufgetauchte und schon da hatte ich das Gefühl gehabt, dass ich ihn vergaß. Die Angst, sich nicht mehr an sein Gesicht zu erinnern, war so groß geworden, dass mein Verstand sich dagegen gewehrt hatte, in das Traumland zu versinken. Irgendwann hatte mich der Schlaf wohl doch übermannt.
„Lassen Sie mich nur noch ein paar Minuten in Ruhe“, murmelte ich und drückte mein Gesicht in das Kissen. Ich wollte, dass mich die wohlige Dunkelheit wieder empfing.
„Sie müssen in wenigen Stunden bereit sein für Ihre Geburtstagsveranstaltung. Wir sind jetzt schon im Verzug“, klärte mich die Dienerin auf, deren Namen mir nie gesagt wurde. Sie griff nach meinem Arm und zog mich grob aus dem Bett. Man müsste meinen, dass Diener einen vorsichtig und respektvoll behandelten, doch das war nicht der Fall. Zumindest nicht, wenn es um mich ging. Die Befehle und Wünsche meines Vaters wurden immer respektiert, mein Wohlbefinden war dabei egal. Unsanft zerrte sie mich in das Badezimmer, das viel zu groß für einen Raum war, in dem bloß eine Wanne und ein Waschbecken standen.
„Das Wasser ist bereits warm. Ich erwarte, dass Sie in einer halben Stunde fertig gebadet sind.“ Mit diesen Worten schloss sie die Tür, so viel Privatsphäre ließ man mir immerhin. Genervt verdrehte ich die Augen, aber ich wusste, dass es nichts brachte, sich zu widersetzen. Mein Vater wollte unbedingt diese große Feier veranstalten, weil ich nun volljährig war. Ich zog mein Nachthemd aus und ließ mich dann in das perfekt temperierte Wasser gleiten. Der Geruch von Blumen stieg mir in die Nase, während die wohlige Wärme mich umgab. In einigen Bereichen hatte das Leben im Schloss eben doch Vorteile und für diesen Luxus war ich auch dankbar.
Die Zeit verging viel zu schnell. Widerwillig stieg ich aus der Badewanne und zog mir Unterwäsche und den seidigen Bademantel an. Wenige Sekunden später wurde die Tür auch schon aufgerissen und ich an meiner Hand in das Ankleidezimmer gezogen. Dort ging alles viel zu hektisch zu. Dienerinnern wuselten um mich herum, zogen mir Unterröcke, Überröcke, ein Korsett an, jemand anderes frisierte mich und wieder jemand anderes schminkte mich, damit ich bloß dem perfekten Bild einer Dame entsprach. Eine von ihnen fluchte vor mir darüber, dass ich so groß war und sie sich auf Hocker stellen mussten, um an meine Haare heranzukommen und wieder eine andere Dame beschwerte sich darüber, dass meine Lippen zu schmal waren.
Ich ließ es alles still über mich ergehen, sogar die Beleidigungen, da ich schon lange gelernt hatte, dass Widerworte nichts brachten. Sie waren nur eine reine Kraftverschwendung. Als sie fertig waren betrachtete mich die eine Dienerin mit einem zufriedenen Nicken und im nächsten Moment waren alle weg und ließen mich allein zurück.
Mit kritischem Blick musterte ich mich im Spiegel. Der changierende Stoff meines Kleides schmeichelte die Kurven meines Körpers und dabei glänzte er im Licht. Nach der Taille ging das Kleid in einen weiten Rock über, der aus mehreren, teilweise glitzernden, Materialien gefertigt wurde, sodass das Kleid aussah wie ein Nachthimmel, in dem tausende Lichter die Dunkelheit erleuchteten. Es war wie ein Sternenhimmel, unter dem man frei sein konnte, weil man sich in seiner Unendlichkeit verlor. Für einen Moment lebte ich in dieser Nacht, die es nirgendwo gab, außer in meinem Kopf, dann riss ich mich wieder aus der unrealistischen Gedankenspielerei. Meine blonden Haare waren zum Teil hochgesteckt und der Rest fiel in gleichmäßigen Wellen über meinen Rücken. Die Schminke glich die sogenannten „Makel“ in meinem Gesicht aus, denn meine Lippen wirkten voller und meine Nase kürzer. Ich sah nicht schlecht aus, im Gegenteil, ich war wunderschön.
Trotzdem wollte ich nicht so aussehen. Ich wollte keine Kleider tragen, weil ich mich in ihnen nicht wohlfühlte, und meine Haare fand ich in einem geflochtenen Zopf viel praktischer als in einer aufwendigen Hochsteckfrisur. Und dieses bemalte Gesicht, diese erzwungene Perfektion, das war nicht mein Gesicht, ich hatte eine zu lange Nase und zu schmale Lippen, aber das war in Ordnung so. Diese Fehler musste man nicht verstecken, denn sie waren keine. Doch hatten sie ein perfektes Bild von mit erschaffen. Aber die Person im Spiegel war nicht ich, sondern irgendjemand anders. Es war diejenige, die die Welt sehen wollte.
„Du siehst aus wie eine anständige Dame.“ Ich zuckte zusammen und wirbelte herum. Mein Vater lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen und ich fragte mich, wie lange er schon dastand.
„Danke, Vater“, versuchte ich meine Stimme möglichst höflich klingen zu lassen. Heute konnte ich keinen Streit gebrauchen, denn diese Veranstaltung würde mich genug stressen.
„Also benimm dich auch wie eine“, fügte er hinzu. Er hatte mir seit Jahren kein Kompliment mehr gemacht, wieso hätte er mir heute eines machen sollen?
„Ich würde doch niemals auf die Idee kommen, mich nicht zu benehmen“, erwiderte ich schnippisch. Da war der Vorsatz nicht zu diskutieren schon wieder weg. Ich schaffte es nicht mich zurückzuhalten, aber als ich sah, wie mein Vater seine Augenbrauen verengte, wünschte ich wirklich, dass ich es könnte.
„Ich meine es ernst, Laylisra. Für einen gottverdammten Tag musst du dieses jämmerliche Verhalten ablegen, das sich für niemanden am Königshof gehört.“
„Ich weiß nicht, welches Verhalten du meinst, Vater.“ Meine Stimme war lieb und als Zusatz klimperte ich noch mit den Wimpern. Ich sah, dass er rot anlief.
„Du weißt ganz genau, wovon ich spreche. Das ist die letzte Warnung. Glaub mir, dass ich dir viel Schlimmeres antun kann, als dich hier in diesem Schloss wohnen zu lassen.“ Seine Drohung jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich hoffte nicht, dass er sie jemals wahrwerden lassen würde. Andererseits ahnte er auch gar nicht, wie schrecklich ich es wirklich fand, im Schloss zu wohnen.
„Natürlich, Vater“, gab ich also klein bei und senkte den Blick zum Boden, damit ich nicht in diese kalten blauen Augen starren musste, die genau aussahen wie meine eigenen.
„Wenn wir das geklärt hätten, können wir uns zum Essen begeben. Die Gäste warten schon auf ihre Prinzessin.“ Ich verdrehte meine Augen, was er nur mit einem strengen Blick quittierte. Dann stolzierte er hinaus in den Flur und hielt mir die Tür auf als ein Zeichen, dass ich ihm folgen sollte. Ich holte tief Luft und wagte mich dann in den Flur.
Die Musik übertönte kaum das ewige und niemals aufhörende Geschwätz im Raum. Es war ein riesiger Saal. Die Decke war so hoch, dass ich mich fragte, wie die pompösen Kronleuchter an sie gehangen worden waren. An der gegenüberliegenden Wand war ein Buffet aufgebaut, mit jeder Speise, von der man träumen konnte. Pastellfarbene Sahnetorten, Obst aus aller Welt, bunte Salate, winzige Häppchen, deren Anblick einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen sollte. Es war unfassbar viel Essen, dabei sollte die richtige Hauptspeise später noch serviert werden.
Die weißen Wände wurden geschmückt von Gemälden, die berühmte Künstler gemalt haben mussten, doch ich verstand nichts von Kunst. Das einzige, das ich erkannte, war das riesige Wappen, das eine Wand säumte. Es war das Wappen Adonis, unseres Königreichs. Mein Blick wanderte weiter zu den großen Fenstern, die den Blick auf den Schlossgarten freigaben, in dem ich jetzt so viel lieber wäre als hier. Einer der Gärtner draußen musste meinen Blick wohl bemerkt haben, weshalb ich ihn wieder abwandte.
Auf dem glänzenden Boden bewegten sich die tanzenden Paare, alle in teure Kleider und Anzüge gehüllt und ihre Tänze wurden von einem Streichquartett begleitet, das ein langsames, romantisches Lied anstimmte. Ich tanzte nicht, sondern stand verloren mit meinem Sektglas am Rande der Feier, obwohl ich diejenige war, die eigentlich im Mittelpunkt stehen müsste. Wobei ich nicht traurig darum war, dass die Menschen endlich von mir abgelassen hatten. Jeder mögliche Herzog, Adelige und jede wichtigtuerische Persönlichkeit war zu mir gekommen, um mir zu gratulieren und mitzuteilen, wie sehr sie mich liebten. Sie kannten mich doch gar nicht. In irgendeiner Zeitung hatten sie höchstens ein Bild von mir gesehen, wie ich bei einer dieser Paraden lächelnd und winkend durch die Stadt stolzierte.
Doch das war nicht ich. Deshalb hatte ich mich in die Ecke gestellt und hoffte, dass ich zumindest für die nächsten paar Minuten meine Ruhe hatte, bis irgendwer mich entdecken würde. Natürlich wollten sie alle mein Vertrauen und Ansehen gewinnen. Zwar war ich nicht die Thronerbin, aber es konnte noch alles passieren, bis mein Vater starb, und außerdem gingen sie bestimmt davon aus, dass ich ein gutes Wort für sie bei meiner Schwester einlegen würde. Abgesehen davon, dass ich fast alle Namen wieder vergessen hatte, redete ich so wenig mit meiner Schwester, dass ich es nicht einmal schaffen würde, einen einzigen Namen in einem Gespräch unterzubringen.
Gelangweilt nippte ich an meinem Glas, als ausgerechnet mein Vater auf mich zukam. Sein rundes Gesicht, in dem das Kinn fast verschwand und die glänzende Glatze waren unverwechselbar. Allerdings kam er nicht allein, sondern in Begleitung eines jungen Mannes. Der Mann war groß und schlank im Gegensatz zu meinem Vater, dessen Figur die letzten Jahre etwas gelitten hatte, er musste sich bemühen mit dem jungen Mann Schritt zu halten. Mir wurde schon bei dem Anblick des Fremden schlecht. Nicht, weil er hässlich war oder seine Gesichtszüge mich abschreckten, sondern weil ich genau wusste, dass mein Vater versuchen würde mich im Laufe des Gespräches mit ihm zu verkuppeln. Schon seit Jahren probierte er einen potenziellen Ehemann für mich zu finden, schließlich hatte meine Schwester Briella schon seit sie fünfzehn war Kontakt mit ihrem heutigen Ehemann gehabt.
„Laylisra, darf ich dir Laurent, den General unserer Armee, vorstellen?“, fragte mein Vater mich mit einem stolzen Unterton in der Stimme. Nein, Vater, nicht wirklich. Das hätte ich am liebsten gesagt, stattdessen verzog ich meinen Mund zu diesem künstlichen Lächeln, das man mir jahrelang antrainiert hatte.
„Natürlich, es freut mich sehr Sie kennenzulernen.“ Vielleicht betonte ich meine Silben etwas zu überschwänglich, denn ich sah, dass Laurent eine Augenbraue hob.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite.“ Er knickste leicht vor mir, was so lächerlich war, dass ich fast die Augen verdreht hätte, allerdings belehrte der strenge Blick meines Vaters mich eines Besseren.
„Laurent ist der beste General, den wir seit Jahren haben. Ich bin mir sicher, dass wir mit ihm einige Fortschritte im Krieg gegen Shallapago machen werden.“ Ich nickte interessiert und versteckte mein großes Desinteresse an Krieg. Laurent allerdings nickte viel zu heftig und lächelte stolz, ein Schweißtropfen schimmerte auf seiner Oberlippe.
„Es freut mich sehr zu hören, dass ich Sie so sehr überzeugen konnte.“ Laurent streckte bei diesen Worten seine Brust unauffällig ein Stück mehr raus. Sein Verhalten war durch und durch lächerlich und ich hoffte, dass ich mich gleich aus dem Gespräch hinausschleichen konnte.
„Nun, Laylisra, ich habe aufregende Neuigkeiten für dich“, kündigte mein Vater an. Das Lächeln auf meinen Lippen verschwand und ich holte tief Luft. Aufregende Neuigkeiten waren für meinen Vater und mich nicht im Geringsten dasselbe. Sie waren für ihn aufregend, für mich wahrscheinlich grausam. Laurents Lächeln wurde ebenfalls breiter, wobei er immer noch nicht seine Zähne zeigte, was ihn wie eine Gruselfigur aus einem schlechten Kinderbuch aussehen ließ.
„Laurent hat heute Abend um deine Hand angehalten und ich konnte ihm dies natürlich nicht verwehren.“
Mein Mund klappte auf, dann machte ich ihn wieder zu. Es wurde still, ich meinte, dass sogar die Gespräche im Hintergrund gedämpfter klangen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich zwischen meinem ekelhaft grinsenden Vater und Laurent hin und her.
„Das soll ein Scherz sein, oder?“, fragte ich und wollte am liebsten Lachen, aber ich war so erstarrt, dass kein Ton mehr aus mir herauskam. Ich sah, wie sich Laurents Miene fast unmerklich verfinsterte. Mein Vater versuchte seine Mimik gar nicht erst zu verstecken.
„Sehe ich so aus wie ein Mann, der gerne Scherze macht?“ Mein Vater funkelte mich bei seinen Worten wütend an. Aus seinen blassblauen Augen war schon seit Jahren jede Freude verschwunden, auf seiner Stirn waren tiefe Falten von dem Stirnrunzeln und seine schmalen Lippen sahen immer angespannt aus. Natürlich sah er nicht aus, wie ein Mann, der gerne Scherze machte. Zumindest nicht mehr, früher war das noch anders gewesen.
„Die Hochzeit wird in naher Zukunft stattfinden und ich würde vorschlagen, dass du versuchst deinen Verlobten etwas besser kennenzulernen.“ Mein Vater hatte sich von meinen Worten nicht aus seinem Konzept bringen lassen. Jetzt war es meine Miene, die sich verfinsterte, während Laurent wieder dieses Insektenlächeln aufsetzte.
„Nein“ Meine Stimme war nicht mehr als ein Hauchen, weil da dieser riesige Kloß in meinem Hals war.
„Was?“, hakte mein Vater nach.
„Nein.“ Dieses Mal klang meine Stimme fester und überzeugter. „Ich bin achtzehn Jahre alt und habe wohl das Recht über mein Leben zu entscheiden, genauso über meinen Ehemann“, erwiderte ich und funkelte meinen Vater an. Laurents Lächeln sah inzwischen verkrampft aus und der Schweiß auf seiner Oberlippe war mehr geworden. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
„Entschuldige uns für einen Moment“, sagte mein Vater an Laurent gewandt, auch wenn seine Stimme dabei nicht wirklich freundlich klang. Dann legte er eine Hand um meine Taille und führte mich aus dem Ballsaal heraus. Alle anderen Gäste sahen bei dem umgelegten Arm eine zärtliche Geste, doch ich spürte, wie er seine Finger in meine Seite presste. Viel zu fest, als Warnung, dass ich ihm bloß nicht von der Seite wich. Eigentlich wäre ich erleichtert gewesen, wenn die blinkenden Kronleuchter und die glitzernden Kleider endlich aus meinem Sichtfeld verschwunden waren, doch unter diesen Umständen krampfte sich alles in mir zusammen.
Im Flur empfing mich kühle Luft, erst jetzt spürte ich, wie sehr ich geschwitzt hatte. Nervös wischte ich meine Hände an dem Kleid ab. Nicht damenhaft, hörte ich die tadelnde Stimme meines Vaters in meinem Kopf, doch im Augenblick war er wohl mit etwas anderem als mit meinen Gesten beschäftigt.
„Was fällt dir ein?“, zischte er wütend.
„Mir? Mir fällt vieles ein. Zum Beispiel ist da diese Idee, dass ich ein eigenständiger Mensch bin und dass ich die Fähigkeit habe, über mich selbst zu entscheiden.“ Meine Stimme triefte vor Sarkasmus, was dafür sorgte, dass diese roten Flecken auf dem Gesicht meines Vaters auftauchten, die er in meiner Gegenwart oft bekam. Kein gutes Zeichen.
„Erinnerst du dich nicht mehr an meine Warnung von heute Morgen?“ Glaub mir, dass ich dir viel Schlimmeres antun kann, als dich hier in diesem Schloss wohnen zu lassen. Natürlich … wie könnte ich die vergessen?
„Schlimmer als in diesem Schloss zu wohnen, ist in diesem Schloss zu wohnen und mir mit einem Mann, den ich nicht ausstehen kann, das Bett zu teilen“, erwiderte ich giftig.
„Laylisra.“ Er schrie nicht. Seine Stimme war nicht einmal im Ansatz lauter, sondern ruhig und gefasst. Das war ein noch schlimmeres Zeichen als die roten Flecken auf seinen runden Wangen oder seine Wutausbrüche.
„Du musst heiraten, weil eine Prinzessin verheiratet ist. Wenn du nicht verheiratet bist, hast du keinen Platz mehr an diesem Hof und da ich dich unmöglich einfach in die Welt hinauslassen könnte, müsstest du auf andere Art verschwinden.“
„Das meinst du nicht ernst.“ Ich spürte, dass mir jede Farbe aus dem Gesicht wich. „Du könntest mich niemals unbemerkt verschwinden lassen.“
„Oh, du weißt doch gar nicht, was ich kann“, lachte er und schüttelte den Kopf, „Ich will es natürlich nicht machen, aber jede Prinzessin kann plötzlich an einer Krankheit sterben.“ Ich hob trotzig meinen Kopf hoch und versuchte im selben Moment meine Tränen hinunterzuschlucken. Dann schloss ich meine Augen und holte Luft.
„Natürlich“, sagte ich mit möglichst ruhiger Stimme. „Ich werde natürlich mit Laurent sprechen und ihn in näherer Zukunft heiraten.“ Ich setzte mein gekünsteltes Lächeln auf, wobei mein Vater mich kritisch musterte. Hatte ich zu früh nachgegeben?
„Gib dir etwas mehr Mühe mit deinem Lächeln“, erinnerte er mich, dann drehte er sich um, tupfte mit einem Taschentuch Schweiß von seiner Glatze und schritt dann zum Ballsaal. Ich folgte ihm, denn im Augenblick blieben mir wohl keine anderen Möglichkeiten, auch wenn meine zitternden Hände dagegen protestierten, mich in der Nähe meines Vaters aufzuhalten. Er hatte vor wenigen Sekunden eine Morddrohung an mich gemacht und ich musste so tun, als wären wir die perfekte Familie, die der Rest des Volkes und vor allem der Adel sehen wollte. Es war, als würde ich dem Monster direkt in die von ihm geplante Falle folgen.
Allerdings durfte ich mir nichts anmerken lassen. Wie immer. Wie jedes verdammte Mal, wenn ich die Privatsphäre meines Zimmers verließ.
Ich stolzierte mit meinem Lächeln durch die Menge aus Leuten, die für einen kurzen Moment ihre Gespräche unterbrachen, wenn mein Vater und ich an ihnen vorbeigingen. Dabei nickte ich jedem von ihnen freundlich zu. Jedes Gesicht sah gleich aus und ich hatte keinen Schimmer mehr, wer von ihnen mir über seine Kinder, Geliebten, Haustiere oder das letzte Schachspiel erzählt hatte. Und so waren lauter Menschen auf meinem Geburtstag, die mir nichts bedeuteten, dabei sollte der Geburtstag doch ein Tag sein, den man mit seinen Liebsten verbrachte und nicht mit fremden Menschen. Einen einzigen Namen hatte ich mir mit Beruf und Gesicht gemerkt. Laurent.
Sein Name schmeckte bitter, wie eine Frucht, die man zu früh vom Baum gepflückt hatte. Oder wie ein Gift dessen bitterer Geschmack davor warnte, dass man es besser nicht schlucken sollte. Doch mein Vater zwang mich dazu, diese lähmende Substanz zu essen.
„Wir sind wieder zurückgekehrt, Laurent.“ Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass wir wieder vor ihm standen. „Ihr werdet jetzt Zeit haben, euch etwas auszutauschen.“ Mit diesen Worten ließ mein Vater uns allein am Rand der Feier stehen, was mir Anlass dazu gab, den Mann vor mir zu mustern. Er hatte braune Haare, die nach hinten frisiert waren und seine Augen hatten fast die gleiche Farbe wie seine Haare. Seine Gesichtszüge waren kantig, fast schon streng. Er hatte wie mein Vater Falten auf der Stirn vom vielen Nachdenken.
„Wie alt bist du?“, fragte ich, ohne dabei auf die Etikette zu achten, die mir beigebracht worden war. Laurent hatte mein Starren allerdings ebenso frech erwidert und mich von oben bis unten mit einem wertenden Blick gemustert. Da sah ich es nicht ein, ein Blatt vor meinen Mund zu nehmen oder mich angepasst zu verhalten.
„Ich bin zweiundzwanzig, das ist wohl besser als jeder alte Adelige, den du sonst erwischen könntest.“ Er wusste genau, dass ich kein Interesse daran hatte ihn zu heiraten, aber es schien ihm nichts auszumachen. Im Gegenteil, bei seinen zuckenden Mundwinkeln bekam ich den Eindruck, dass es ihn sogar amüsierte.
„Am liebsten würde ich gar keinen Adeligen erwischen“, erwiderte ich zuckersüß und dachte an Evan, den ich jedem Adeligen vorziehen würde. Laurent schnaubte nur und schüttelte den Kopf.
„Ich habe noch nie eine Dame mit einer so großen Klappe kennengelernt.“ Es war kein Spott in seiner Stimme, es glich eher einer Feststellung.
„Das liegt wohl daran, dass du noch nicht mit mir gesprochen hast“, erklärte ich ihm und lächelte. Innerlich wollte ich am liebsten kotzen. Was fiel ihm ein so über Frauen zu reden? Als hätten sie nicht das Recht, den Mund aufzumachen, aber er hatte die Berechtigung, alles zu sagen, was er wollte. Manchmal fragte ich mich, ob die Menschen schon immer einen Unterschied zwischen Männern und Frauen gemacht hatten, wenn Menschen doch eigentlich immer Menschen blieben, egal welches Geschlecht sie hatten.
„Du verneinst nicht einmal, dass du zu offen redest. Ich mag Frauen, die nicht lügen“, erklärte er mir und versuchte wohl etwas wie ein Lächeln aufzusetzen, was bei ihm nur aussah wie ein schiefgezogener Mund, weil das Lächeln nicht in seinen Augen ankam.
„Da hast du wohl Glück gehabt, dass ich nie lüge.“ Das war eine Lüge. Doch ihn schien es nicht zu interessieren, denn er trat einen Schritt näher, woraufhin ich, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Schritt zurücktrat.
„Ich habe generell Glück gehabt, dass ich so eine wunderbare Frau wie dich heiraten kann.“ Den Würgereiz konnte ich noch so gerade unterdrücken. Ihm ging es wohl weniger um die wunderbare Frau als um die Machtposition, die er damit erlangte.
„Ich wäre auch froh, wenn ich so eine wunderbare Frau wie mich heiraten könnte.“ Ich klimperte übertrieben mit meinen Wimpern. „Da findet man es doch glatt schade, dass man sich selbst nicht heiraten kann, oder?“
Sein aufgesetztes Gesicht verrutschte und Unglaube kam darunter zum Vorschein. Leider wurde in diesem Moment laut mit der Glocke geklingelt, die das Essen ankündigte, weshalb ich seine Reaktion nicht weiter beobachten konnte. Mich hätte es wirklich interessiert, was er darauf erwidert hätte. Mit diesem Klingeln war das Gespräch mit meinem Verlobten für diesen Tag vorbei, denn mein Platz am Esstisch war festgelegt. Eine spontane Verlobung änderte daran auch nichts. Ich saß zwischen meinem Vater und meiner Schwester. Keine besonders gute Umgebung, wenn man bedachte, dass einer von den beiden mir noch vor wenigen Sekunden mit meinem Tod gedroht hatte. Bei diesem Gedanken zitterte ich fast, aber ich konnte mich noch so gerade zusammenreißen. Es war vielleicht immer noch besser, als neben Laurent zu sitzen, der bloß versucht hätte, seine Brust noch mehr hervorzuschieben.
***
Tränen rollten mir über die Wange, sobald mich endlich keine Menschen mehr umgaben. Das Kleid riss ich mir schon fast vom Leib. Es fühlte sich dreckig an. An seinem Stoff klebten die Erinnerungen an die Feier. Ich sollte heiraten oder ich sollte sterben. Heiraten oder sterben. Heiraten oder sterben. Heiraten oder sterben. In meinem Kopf wütete ein Gedankensturm und in seinem Auge saß mein Vater, der bloß über die Zerstörung des Sturmes lachte.
Erst heute hatte ich realisiert, wie wenig ich ihm wirklich wert war. Noch weniger als ich immer befürchtet hatte. Ich presste meine Hand auf meinen Mund, damit meine Schluchzer bloß nicht zu laut wurden. Ihm war genau bewusst, wie er mich in Zukunft brechen konnte. Mit der Heirat von mir und seinem dämlichen General. Ich hatte versucht stark zu bleiben, aber die Angst saß mir tief in den Knochen. Verzweifelt rang ich nach Luft und starrte nach draußen auf die Stadt. Man konnte noch die kleinen, leuchtenden Fenster sehen und hinten am Himmel thronte der sichelförmige Mond, fast verdeckt von dem Nebel und Staub, der immerzu am Himmel waberte. Deshalb hatte ich fast noch nie einen Stern gesehen. In den äußeren Kreisen von Rheenitch lag die Industrie, weshalb der Himmel oft nebelig oder von Rauch verdeckt war. Das Industriegebiet war hässlich und schmutzig, trotzdem zog ich es am Tag diesem Schloss vor. Es zog mich wahrscheinlich überall hin, außer zu diesem Gebäude. Schönheit war eben nicht das, was im Leben zählte.
Dieser Gedanke brachte mich dazu, aufzustehen und zu meinem Schrank zu laufen. Ich trug nur noch das Unterkleid, das vom ganzen Schwitzen an meinem Körper klebte, aber das störte mich nicht im Geringsten, als ich nach der Tasche suchte, die ich manchmal mit zu Evan genommen hatte. Der Gedanke an Evan versetzte mir einen Stich, doch ich schob ihn wieder in meinen Hinterkopf. Den ganzen Tag über hatte ich überlegt, ob ich es wagen sollte oder nicht, aber ich wusste, dass ich keinen Tag länger hierbleiben wollte. Wenn ich es nicht versuchte, würde ich es für immer bereuen.
Ich suchte die unauffälligsten Kleider aus meinem Schrank und faltete sie so eng zusammen, dass sie kaum Platz einnahmen, dann griff ich nach den Broten und dem getrockneten Obst. Vor einigen Tagen hatte ich angefangen ernsthaft mit diesem Gedanken zu spielen und begonnen Vorräte zu sammeln, mit denen ich ein paar Tage überleben konnte. Schließlich griff ich nach meinem Geld, das ich gut in einer Nebentasche verstaute.
Die Tür ging auf. So plötzlich, dass ich es gerade noch schaffte meinen Rucksack unter die Kommode zu kicken, aber ich blieb vor dem geöffneten Schrank knien und starrte zu meinem Vater, der hineinkam. Mein Herz pochte verräterisch laut. Wenn er die Tasche gesehen hatte … Ich wollte den Gedanken gar nicht zu Ende führen. Als ich mich vom Boden hochdrückte, bemühte ich mich genau vor dem Schrank stehenzubleiben, damit er bloß nicht den verräterischen Rucksack sah.
„Laylisra, Laylisra“, sagte mein Vater tadelnd und schüttelte den Kopf. Mein Herz raste inzwischen, er hatte es gesehen, ich war mir sicher. „Dir ist hoffentlich bewusst, dass das heute deine letzte Warnung gewesen ist.“ Gefühlt fiel mir fast ein Stein vom Herzen, weil er scheinbar auf etwas anderes hinauswollte.
„Natürlich, Vater“, stimmte ich ihm hastig zu. Vielleicht etwas zu schnell, da er mich mit einem misstrauischen Blick musterte.
„Ich meine damit, dass wenn du noch einmal neben die Linie trittst, die ich dir seit verdammten 18 Jahren vorgebe, dann werde ich wirklich in Erwägung ziehen meine Drohung wahrwerden zu lassen.“ Seine Worte klangen kalt und abgestumpft. Während er redete, schloss er die Lücke zwischen uns, sodass er direkt vor mir stand. Ich war inzwischen größer als er, kein kleines Mädchen mehr, dennoch fühlte ich mich klein, wenn er mich mit diesem herablassenden Blick anschaute. Er schaffte es, mir jedes Mal Angst einzujagen.
„Antworte mir gefälligst“, zischte mein Vater und packte mein Kinn so fest, dass es schmerzte. Seine ekelhaften Finger drückten mein Kinn so hoch, dass ich in seine wässrigen Augen starren musste.
„Ich werde nicht danebentreten.“ Meine Stimme war ruhig. Ich wollte doch nur, dass er ging.
„Weißt du, ich will dich nicht verletzen“, erklärte er mir mit sanfter Stimme. Er ließ mein Kinn los und strich mir über die Wange, als würde er so die Wunden verarzten, die er seit Jahren hinterließ. „Du lässt mir nur keine andere Wahl.“ In jeder anderen Situation wäre ich ausgerastet. Man hatte fast immer eine Wahl. Zumindest, wenn es darum ging, seine Kinder zu erziehen.
„Ich hoffe, dass du das eines Tages verstehst“, fügte er hinzu. Niemals werde ich verstehen, warum du ein kleines Mädchen geschlagen hast. Niemals werde ich nachvollziehen, warum dir dein eigenes Kind so egal ist. Niemals werde ich vergessen, wie du dein eigenes Königreich untergehen ließest. Ich packte die Sätze in ein Fach, das mit weiteren Worten gefüllt war, die ich ihm gegenüber niemals ausgesprochen hatte.
„Für morgen habe ich ein Treffen mit Laurent vereinbart. Du solltest froh sein, dass ihr euch kennenlernen könnt, bevor ihr verheiratet seid“, kündigte er an und verließ dann mein Zimmer. Jetzt erwartete er auch noch, dass ich dankbar war. Wütend schleuderte ich eine Bürste, die neben mir auf dem Tisch lag, gegen die Tür, die er gerade geschlossen hatte. Ich hoffte, dass er es nicht gehört hatte.
Von angestautem Zorn erfüllt zog ich meinen Rucksack hervor und stopfte die letzten Sachen hinein. Es waren alles Habseligkeiten, die mir nichts bedeuteten. Am liebsten würde ich alles hier lassen, aber irgendetwas zum Leben brauchte ich noch.
Ich wartete, bis der Himmel nachtschwarz war und ich schon länger keine Schritte mehr auf dem Flur gehört hatte, dann rannte ich durch die verzweigten Gänge zu der Klappe im Boden, die mein Vater zum Glück nie gefunden hatte. Der Rucksack schlug auf meinen Rücken und ich hörte meinen keuchenden Atem, doch ich konnte nicht schnell genug wegkommen. Die erste Bahn aus Rheenitch heraus würde mit dem Morgengrauen fahren und die wollte ich unbedingt nehmen. Geübt tauschte ich mein Kleid gegen die Minenkleidung, in der mich die Menschen, lediglich verachtend anstarren würden und dann schlich ich mich durch die Gassen von Rheenitch. Ich machte große Bögen um die Kneipen, in denen noch Licht brannte und mied es hochzuschauen, wenn ich die Silhouetten von Personen in der Ferne sah. Sobald ich an den äußeren Rand der Stadt kam, wo die Häuser mickriger und ärmer wurden, wurde es auch leiser. Hier hörte man kein Gelächter aus den Gaststätten oder Musik aus offenstehenden Fenstern, denn die Nacht war hier besonders still.
Als nächstes wurden die Häuser von den riesigen Fabriken abgelöst, die teilweise auch in der Nacht arbeiteten, weshalb mich sofort der Industrielärm empfing, der hier immer herrschte. Rheenitch hatte das größte Industriegebiet in ganz Adonis, was man auch hörte, wenn man hier herging. Ich beeilte mich die Wege durch die Fabriken zu nehmen, weil man bereits einen hellen Strich am Horizont erkennen konnte. In dem leichten Licht konnte ich in der Ferne den Bahnhof erkennen.
Mein Herz fing an in meiner Brust zu hüpfen. In wenigen Minuten würde dort ein Zug stehen, der mich in meine Freiheit bringen sollte. Ich würde endlich den Träumen hinterherjagen, die ich hatte, seit ich ein kleines Kind war. Seit ich die Drachen zum ersten Mal am Himmel gesehen hatte.
„Entschuldigen Sie mich bitte, Sir, ich würde gerne ein Ticket für den Morgengrauenzug kaufen“, forderte ich von dem Ticketverkäufer, der gelangweilt in einem Buch blätterte, das schon völlig zerlesen aussah. Er schaute von der gewellten Seite auf und musterte mich abschätzend.
„Wohin soll’s denn geh’n, Fräulein? “, fragte er und nuschelte dabei so, als hätte er Essen im Mund.
„Bis nach Wensville.“ Wensville war der Bahnhof, der in der Nähe von Lasima lag, und genau dort wollte ich hin. Lasima war der Ort meiner Träume und heute war der letztmögliche Tag, um sich dort für den Einstellungstest einzuschreiben. Die Zeit war so geplant, dass ich noch vor dem Anmeldeschluss heute Abend ankam.
„Ich muss einmal deine Papiere seh’n, hab’n in letzter Zeit das Problem mit illegal’n Einwanderern“, informierte er mich. Mein Herz blieb fast stehen. Natürlich hatte ich meine Papiere mit, aber das würde er mir nie glauben.
Ich kramte in meinem Rucksack, während ich hörte, wie der Zug schon an den Bahnhof rollte. Scheinbar hatte ich mich mit der Zeit doch etwas verschätzt. Schnell zog ich das Papier heraus und drückte es ihm in die Hand. Unendlich langsam faltete er es auf, starrte auf den Namen, dann wieder hoch und erneut auf den Namen.
„Mädchen, willst du mich verarschen?“ Ich atmete hörbar genervt aus.
„Nein, das sind meine Papiere.“ Meine Stimme sollte überzeugend klingen, doch er schüttelte nur lachend den Kopf.
„Also wenn du die Papiere schon fälschst, dann solltest du dir wenigstens einen anderen Namen als den der Prinzessin aussuchen“, lachte er.
„Ich. Bin. Die. Prinzessin.“, erklärte ich ihm langsam. „Nur weil das die falsche Kleidung ist, bin ich nicht weniger königlich.“ Er schüttelte erneut den Kopf. Natürlich war ich für jeden Mensch weniger königlich, wenn ich Bergarbeiterkleidung trug.
„Natürlich bist du die Prinzessin. Ich bin auch der König, wenn ich das möchte“, erzählte er mir in einem schwätzerischen Ton.
„Verwehren Sie gerade ernsthaft der Prinzessin das Zugfahren?“, fragte ich ihn wütend und verschränkte meine Arme vor meiner Brust, während ich einen nervösen Blick zu dem Zug warf, der gleich abfahren würde.
„Ich verwehre einem Mädchen mit falschen Papieren das Zugfahren und wenn du nicht willst, dass ich gleich den Sicherheitsdienst rufe, solltest du verschwinden.“ Er klang wieder so gelangweilt wie am Anfang. Plötzlich pfiff der Zug und setzte sich in der nächsten Sekunde in Bewegung. Er rollte aus dem Bahnhof und nahm dann an Geschwindigkeit auf, um im nächsten Moment zwischen den Fabriken zu verschwinden. Mit großen Augen starrte ich hinterher.
„Verdammt!“, schrie ich und pfefferte meinen Rucksack wütend auf den Boden.
„Wann kommt der nächste Zug?“, fragte ich panisch. Der Mann schaute wieder in sein Buch. „Jetzt sagen Sie mir, wann der nächste Zug nach Wensville fährt.“ Ich schrie ihn schon fast an. Er schaute wieder hoch.
„In einer halben Stunde“, erklärte er. Das konnte ich noch schaffen. Wenn ich den Weg bis nach Lasima in einem schnelleren Tempo zurücklegte, war es durchaus möglich.
„Ich möchte ein Ticket für diesen Zug.“ Ich reckte mein Kinn nach oben und kramte Geld aus meiner Tasche.
„Hast du richtige Papiere?“, brummte er und versank wieder in seinem Buch.
„Ich habe das hier.“ Ich legte eine Menge Geld auf den Tresen. Seine Augen weiteten sich und er starrte die Scheine an, dann griff er einen und hielt ihn gegen das Licht. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er jemals in seinem Leben so viel Geld auf einmal gesehen hatte.
„Wollen Sie das Ihrer Familie wirklich verwehren?“, fragte ich mit meiner zuckersüßen Stimme. Er kniff seine Augen zusammen und starrte mich an.
„Wir machen einen Deal“, schlug er vor. „Du erzählst niemandem, dass ich dir das Ticket verkauft habe, und ich erzähle niemandem, dass die angebliche Prinzessin bei mir Zugtickets kaufen wollte.“ Er wusste nicht, in welche Schwierigkeiten mein Vater ihn bringen würde, wenn er rausfand, dass er mir geholfen hatte aus der Stadt zu entkommen.
„Ich verspreche Sie nicht zu verraten, wenn Sie mir endlich mein verdammtes Ticket geben. Ansonsten bekommen wir beide gleich ein Ticket, das direkt zum Gefängnis führt.“
Er nickte hastig und schrieb ein Ticket. Ich würde niemals mit ihm in ein Gefängnis kommen, aber der Palast war Käfig genug, auch wenn er etwas prachtvoller war als die Kerker unterhalb von Rheenitch. Ich riss dem Mann das Ticket aus der Hand und starrte mit großen Augen auf die kleinen Buchstaben und auf meinen Namen, der direkt neben dem Reiseziel stand. Endlich konnte die Reise losgehen.
***
Der Zug kam zu spät. Ich war sowieso schon im extremen Zeitverzug, weil ich nicht den ersten Zug wie geplant genommen hatte und dann kam der zweite überhaupt nicht pünktlich. Trotzdem war ich erleichtert, als er endlich an den Bahnhof rollte.