Asperger: Leben in zwei Welten - Christine Preißmann - E-Book

Asperger: Leben in zwei Welten E-Book

Christine Preißmann

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  • Herausgeber: TRIAS
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Asperger-Autismus verstehen und damit leben

Die Diagnose „Asperger-Syndrom“ wirft häufig viele Fragen auf. Anhand von Erfahrungsberichten gibt dieses Buch Einblicke in das Leben von Menschen im Autismus-Spektrum und bietet Unterstützung.

  • Lebensnah & persönlich: Sieben Betroffene schildern Situationen und typische Hürden im Alltag – zum Beispiel fehlendes Einfühlungsvermögen – sowie Hilfen, um sie zu überwinden.
  • Hilfe & Selbsthilfe: Die Autorin ist Ärztin und Betroffene zugleich. Sie führt ein und kommentiert die Beispiele. So werden die Leser ermutigt, nach eigenen Lösungen für die wichtigsten Probleme zu suchen.
  • Behandlung & Therapie: Mit hilfreichen Infos zu Behandlungsmöglichkeiten wie Selbsthilfegruppen oder Ergotherapie.

 

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Asperger: Leben in zwei Welten

Betroffene berichten: Das hilft mir in Beruf, Partnerschaft & Alltag

Dr. med. Christine Preißmann

Liebe Leserin, lieber Leser

Die Diagnose des Asperger-Syndroms lässt viele betroffene Menschen zunächst hilflos zurück. Einerseits ist da die Erleichterung darüber, dass das, was man schon immer gewusst hat, dass man nämlich irgendwie »anders« ist als die anderen, nun einen Namen erhält. Es kann eine große Befreiung sein zu erfahren, dass die ganz persönlichen Schwierigkeiten nicht auf eigenem Unvermögen beruhen, sondern sich erklären lassen. Auf der anderen Seite aber macht man sich zugleich viele Sorgen, wie das eigene Leben gestaltet werden kann und ob sich wohl die individuellen Lebensträume erfüllen lassen.

Auch viele Eltern sind nach der Asperger-Diagnose bei ihrem Kind verunsichert. Bislang hatten sie vielleicht lediglich bemerkt, dass der eigene Sohn bzw. die Tochter zurückgezogen ist und sich nur schwer anderen Kindern anschließen kann. So ist er bzw. sie halt, denkt man dann, und eigentlich war es auch bislang in Ordnung. Aber dann, nach der Einschulung, werden die Eltern von den Lehrern ausführlich über die Verhaltensauffälligkeiten aufgeklärt, die ihr Kind in der Schule zeigt. Man empfiehlt eine diagnostische Abklärung durch einen Kinderarzt bzw. einen Kinder- und Jugendpsychiater, der dann die Diagnose stellt oder eine entsprechende Vermutung äußert.

Egal, ob Sie selbst betroffen sind oder ob es sich um Ihr Kind oder einen anderen nahe stehenden Menschen handelt, Sie werden wissen wollen, was diese Diagnose bedeutet. Nach Recherchen im Internet und dem ersten Durcharbeiten der entsprechenden Fachliteratur wird meist vieles klarer, was Ursachen, Denkweisen und Reaktionen angeht. Aber neben dem Expertenwissen bewegen einen vor allem Fragen wie: Und was heißt das nun für den weiteren Lebensweg? Welches Leben kann ich/das Kind führen? Wie sieht es mit Partnerschaft und wirklichen Freunden aus? Welche Berufsziele sind realistisch, und welche Hilfen gibt es? Man braucht Informationen zu den ganz alltagspraktischen Aspekten sowie konkrete Ratschläge und Anregungen, die zeigen, dass es Lösungen und Wege gibt, mit dem Asperger-Syndrom im Leben zurechtzukommen.

Genau das bietet dieses Buch. Hier schildern sieben betroffene Erwachsene in ausführlichen Erfahrungsberichten, wie ihr Leben aussieht und bisher verlief. Dabei geht es um die Bereiche Schulzeit, Ausbildung und Beruf, Partnerschaft und Beziehungen, Freizeit und Wohnen sowie Gesundheit und Krankheit. Die Betroffenen schildern typische Hürden und Situationen, denen sie im Alltag begegnen, sowie Lösungen und Hilfen, um die Schwierigkeiten zu meistern. Neben diesen persönlichen Schilderungen bietet das Buch auch die nötigen fachlichen Erläuterungen und allgemein sinnvolle Hilfsmaßnahmen. Darüber hinaus widmen sich fachliche Exkurse den Themen Mobbing, Stressmanagement, vernetztem Leben (inklusive Selbsthilfearbeit) und der gesellschaftlichen Integration autistischer Menschen. Daneben werden viele Themen angesprochen, die in anderen Büchern kaum Beachtung finden, wie Studium, Kleidung, Gesundheitsvorsorge, Ressourcen, Entspannung, Wohlbefinden, Kinderwunsch, Sexualität und Körperkontakt, um nur einige zu nennen.

Da ich nicht nur Ärztin und Psychotherapeutin, sondern auch selbst vom Asperger-Syndrom betroffen bin, streue ich auch immer wieder eigene Erfahrungen ein und habe zum Thema Gesundheit und Krankheit einen persönlichen Erfahrungsbericht beigesteuert. Sowohl die Sichtweise der Betroffenen als auch die Außensicht zu zeigen sowie die fachliche Einordnung zu bieten, sind sicherlich die Stärken dieses Buches, das sich daher gleichermaßen an autistische Menschen selbst, ihre Eltern und ihr übriges soziales Umfeld und an Fachleute wie Ärzte, Therapeuten, Pädagogen oder Sozialarbeiter richtet. Ich möchte zu mehr Verständnis und zu größerer Akzeptanz auf beiden Seiten beitragen: der autistischen und der nicht autistischen.

Das Buch soll Menschen mit Asperger-Syndrom darin bestärken, eigene Lösungen für die wichtigsten Probleme zu suchen und den Angehörigen, Freunden und Helfern vermitteln, welche Probleme bestehen und welche Hilfsmöglichkeiten es geben könnte. Viele Verbesserungen erfolgen in winzig kleinen Schritten, die sich aber im Laufe der Zeit summieren und dann auch nie für möglich gehaltene Ausmaße erreichen können. Durch die Werke von Antoni Gaudí, die die einzelnen Kapitel begleiten, wird dies auch künstlerisch untermauert. Was anfangs völlig ungeordnet erscheint, ergibt allmählich Sinn und Struktur. Ich wünsche jedem Betroffenen ein gutes Leben, das hilft, die eigene Persönlichkeit zu entfalten, die besonderen Fähigkeiten optimal einzusetzen und bestehende Schwierigkeiten abzumildern.

Darmstadt, im Februar 2018Christine Preißmann

Einführung Autismus und Asperger-Syndrom

Man spricht heute von Autismus-Spektrum-Störungen, um zu verdeutlichen, dass vermutlich sowohl das Asperger-Syndrom als auch der frühkindliche Autismus und der atypische Autismus gekennzeichnet sind durch verschiedene Schweregrade gemeinsamer Auffälligkeiten. Ebenfalls allen gemeinsam ist die genetische Beeinflussung.

An einem Ende des Spektrums ist der frühkindliche Autismus mit meist schwerer Mehrfachbehinderung angesiedelt, am anderen Ende finden sich das Asperger-Syndrom und der High-Functioning-Autismus mit fließendem Übergang zur »Normalität«. Dazwischen bestehen so viele Facetten wie autistische Menschen selbst. Bei allen Betroffenen gibt es Unterschiede bezüglich Ressourcen und Problemen.

Die speziellen Schwierigkeiten autistischer Menschen sind oft auf den ersten Blick nicht richtig einzuschätzen und erscheinen vielfach als Provokation. Zum besseren Verständnis der Symptomatik sollen daher zunächst einige charakteristische Auffälligkeiten autistischer Menschen aus dem Bereich der Neuropsychologie beschrieben werden.

Neuropsychologische Grundlagen

In den letzten Jahren haben vor allem die »Theory of Mind«, die exekutiven Funktionen und die Theorie der schwachen zentralen Kohärenz zum besseren Verständnis der Unterschiede im Denken bei Menschen mit Autismus und damit zur Erklärung ihrer speziellen Auffälligkeiten beigetragen.

Sie sollen nun nachfolgend beschrieben und durch Beispiele verdeutlicht werden.

Mangelhaft entwickelte Theory of Mind

Unter dem Begriff »Theory of Mind« versteht man sämtliche Denkprozesse, die es ermöglichen, fremdes und eigenes Verhalten ebenso wie die eigenen Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten und Vorstellungen und diejenigen anderer Menschen zu erkennen, zu verstehen, vorherzusagen und in die eigenen Planungen einzubeziehen. Gemeint sind also Fähigkeiten, die notwendig sind, um erfolgreich an sozialen Interaktionen teilzunehmen.

Man geht bei Menschen mit Autismus von einer mangelhaft entwickelten Theory of Mind aus, das erklärt u. a. ihre Schwierigkeiten, subtilere soziale Vorgänge, Stimmungen, Anekdoten, Witze und Sarkasmen zu verstehen. Oft können sie die Konsequenzen ihrer Handlungen und ihres Verhaltens nicht verstehen und nicht vorhersehen.

Es fällt ihnen beispielsweise schwer (Schirmer 2006, 127–128),

in das eigene Handeln einzubeziehen, was andere Menschen bereits wissen;

Freundschaften zu knüpfen, indem sie die Absichten anderer verstehen und auf deren Absichten eingehen;

andere Menschen bewusst zu täuschen, also auch zu lügen;

das Interesse des Hörers an der eigenen Rede einzuschätzen;

zu erkennen, was andere von der eigenen Handlung denken könnten;

Missverständnisse nachzuvollziehen;

die Gründe hinter dem Verhalten anderer Menschen zu verstehen;

die ungeschriebenen Sozialregeln zu verstehen.

Auch das mangelhafte Verständnis für Metaphern und Ironie kann auf das Theory-of-Mind-Defizit zurückgeführt werden. Es kann möglich sein, im Lauf der Zeit auf diesem Gebiet manches zu verbessern, beispielsweise können mithilfe des Internets viele Sprichwörter und Redewendungen auswendig gelernt werden, auch wenn das intuitive Verständnis dafür fehlt. Ganz ausschalten lassen sich die Schwierigkeiten in der Regel aber nicht. Manchmal ist es für mich bei zweideutigen Äußerungen immer noch schwer zu entscheiden, was nun genau gemeint ist, ob es sich um eine Redewendung handelt oder nicht. So erklärte meine psychologische Kollegin in der Klinik, sie könnte »in die Luft gehen«. Ich dachte, sie wollte mit mir über ihre Urlaubspläne sprechen, und fragte sie, wohin sie gern fliegen würde. Dass sie sich über einen Patienten ärgerte, war mir entgangen.

Autistische Menschen sind oft nicht in der Lage, ihre Ängste oder andere Gefühlsqualitäten adäquat zu verbalisieren. Ambivalente, uneindeutige Gefühle zu erleben und auszuhalten, fällt ihnen sehr schwer. Im Rahmen einer längerfristigen Therapie können Verbesserungen erreicht werden, aber auch hier bleibt in der Regel das Handicap bestehen. Ich selbst mache seit über 20 Jahren eine ambulante Psychotherapie, in der ich vieles gelernt habe. Aber auch heute noch kann ich manche Gefühlsqualitäten kaum und andere nur dann wahrnehmen, wenn sie ganz eindeutig sind. Problematisch sind für mich vor allem Empfindungen wie Ärger und Wut. Und noch viel schwerer und mühsamer ist es für mich, auf die Gefühle anderer Menschen adäquat zu reagieren.

Mehrere Studien zeigten mittels funktioneller Bildgebung, dass Personen mit Autismus signifikant weniger Aktivierung in einem spezifischen Bereich des Gehirns aufweisen als andere Menschen, während sie Aufgaben zum mentalen Zustand einer anderen Person lösen sollen. Man geht seither von einer frühen Fehlentwicklung dieses Hirnareals, das an der Verarbeitung emotionaler Prozesse beteiligt ist, bei Menschen mit Autismus aus.

Schwache zentrale Kohärenz

Nach Ansicht von Wissenschaftlern sind Wahrnehmung und Denken bei nicht autistischen Menschen durch eine zentrale Kohärenz geprägt; das bedeutet, dass sie Reize stets in ihrem Bezugssystem zu anderen Reizen und Informationen sehen. Menschen, Objekte und Situationen werden dadurch kontextgebunden wahrgenommen. Bei autistischen Menschen aber ist die zentrale Kohärenz in der Regel nur schwach ausgeprägt. Sie beachten also weniger die Beziehungen und Zusammenhänge von Gegenständen, sondern richten ihre Wahrnehmung auf einzelne und isolierte Details. Beispielsweise kann es vorkommen, dass sie einen unbekannten Text zwar schnell lesen und perfekt auf Fehler prüfen können, aber erhebliche Probleme haben, den Inhalt zu begreifen.

Durch die Schwierigkeiten der Betroffenen, sich einen Überblick über ein komplexes Ganzes zu verschaffen, lassen sich auch das Ablehnen von Variationen und der Wunsch nach Gleichförmigkeit erklären. Die meisten Menschen mit Autismus haben große Probleme mit Veränderungen aller Art. Da es ihnen an flexiblem Denken mangelt, fällt es ihnen sehr schwer, sich alternative Problemlösestrategien zu überlegen und aus ihren Fehlern zu lernen.

Die schwache zentrale Kohärenz könnte man aber auch als einen eigenen Stil der Informationsverarbeitung bezeichnen, der auch Vorteile hat gegenüber der Informationsverarbeitung anderer Menschen. Erst durch ihre Konzentration auf Details sind wohl die außergewöhnlichen Leistungen mancher Autisten möglich, denn aufgrund ihrer speziellen Wahrnehmung nehmen sie manchmal auch solche Einzelheiten wahr, die anderen Menschen gar nicht auffallen. Beispiele dafür beschreibt Simone Pinke in ▶ ihrem Text. Sie durfte die Erfahrung machen, dass ihre Detailwahrnehmung sowohl beim Einkaufen als auch bei Wohnungsbesichtigungen eine große Hilfe darstellte. Auch bei einigen anderen Aufgaben wie dem Auswendiglernen von Fakten kann die schwache zentrale Kohärenz hilfreich sein, bei der Interpretation von sozialen und anderen Situationen stellt sie jedoch ein schweres Handicap dar, denn dafür ist eine ganzheitliche, kontextgebundene Wahrnehmung notwendig. So besteht für kohärenzschwache Menschen »ein Bericht oder ein Text nicht aus zusammenhängenden Gedanken, sondern aus einer Ansammlung von Einzelinformationen (…). Das Gleiche gilt für Geschichten« (Schuster 2007, 174). Viele Betroffene können daher Geschichten nicht verstehen. Sie erkennen oft weder einen sinnvollen Handlungsablauf, noch beherrschen sie das sogenannte »Zwischen-den-Zeilen-Lesen«. Es gelingt ihnen nicht, zwischen wichtigen und weniger relevanten Informationen zu unterscheiden. Nach einem Gespräch werden sie sich möglicherweise zunächst an das Muster des Teppichs erinnern und nicht in erster Linie an die anwesenden Personen. Diese Schwierigkeiten machen sich in der Schule häufig u. a. im Fach Deutsch oder in den Fremdsprachen bemerkbar.

Aufgrund ihrer schwachen zentralen Kohärenz nehmen autistische Menschen außerdem ähnliche Situationen oft sehr unterschiedlich wahr, denn erst eine ganzheitliche Wahrnehmung führt dazu, dass Situationen als ähnlich oder gleich eingeschätzt werden können. Daher bleibt erlerntes Verhalten oft auf die spezifische Situation, in der es gelernt wurde, begrenzt. Es ist also notwendig, Verhaltensänderungen in möglichst vielen verschiedenen Situationen und Kontexten zu üben.

Fehlende exekutive Funktionen

Mit der Bezeichnung »exekutive Funktionen« beschreibt man Vorgänge, die mit Planungsprozessen, vorausschauendem Denken und zielgerichtetem problemorientierten Handeln verbunden sind und das zielgerechte Handeln sowie das konstruktive Lösen von Alltagsproblemen erst ermöglichen. Exekutive Funktionen umfassen neben der Handlungsplanung eine Reihe von weiteren Aufgaben. Dazu gehören die Impulskontrolle, die Kontrolle über Aufmerksamkeit und motorische Funktionen, der Widerstand gegen Störungen, die Unterdrückung drängender, aber den Handlungsablauf störender Reaktionen, planvolle, zielgerichtete Aktionen sowie Flexibilität in Denken und Handeln.

Menschen mit Autismus wird oft mit viel Unverständnis begegnet. Mithilfe der neuropsychologischen Theorien kann es gelingen, autistische Störungen besser zu verstehen, die spezifischen Eigenheiten der betroffenen Menschen nicht als bewusste Provokation zu empfinden und gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen: »Wenn Bizarres einen Sinn erhält, ändert sich der Blick, und Interpretationen wie Schüchternheit, Provokationen oder sogar Dummheit verschwinden« (Amsler 2007, 12).

Häufige Auffälligkeiten

Wahrnehmungsbesonderheiten: Überempfindlichkeiten im Hinblick auf Sinnesreize (z. B. Hören, Sehen, Schmecken, Berührungen) sind häufig. Auch Körperempfindungen (Müdigkeit, Erschöpfung, Hunger, Durst) sowie Schmerz- und Temperaturwahrnehmung sind auffällig.

Kontaktverhalten und soziale Interaktion: Es fällt autistischen Menschen schwer, sich auf andere Menschen einzustellen, ein Gespräch mit ihnen zu beginnen und in Gang zu halten, obwohl sie sich oft durchaus für ihr Gegenüber interessieren und den Kontakt ausdrücklich wünschen.

Auffälligkeiten im nonverbalen Kontakt: Häufig gelingt es ihnen nur schlecht, Mimik, Gestik oder Blickkontakt anzuwenden und bei anderen richtig zu interpretieren. Daher entgehen ihnen im Gespräch viele Informationen, die andere Menschen ganz selbstverständlich nebenher aufnehmen können.

Insbesondere beim Asperger-Syndrom treten Ungeschicklichkeit beim Gehen und Probleme bei der motorischen Koordination auf.

Inhomogenes Kompetenzprofil: Oft sind Hilfe und Anleitung bei scheinbar leichtesten Aufgaben, insbesondere alltagspraktischen Erledigungen, notwendig, während schwierige Anforderungen manchmal nahezu mühelos erledigt werden können. Dies kann von Außenstehenden nur schwer eingeordnet werden und ihnen als Provokation erscheinen.

Die Betroffenen wirken daher in der Kindheit ebenso wie im Jugend- und auch noch im Erwachsenenalter auf ihre Umgebung oft merkwürdig und geben den anderen doch einige Rätsel auf.

Asperger-Syndrom

Hochfunktionale Formen wie das Asperger-Syndrom bleiben oft bis ins Kindergarten- oder sogar Schulalter hinein unerkannt, da erst im regelmäßigen Kontakt mit Gleichaltrigen die Schwierigkeiten der betroffenen Menschen deutlicher werden. Manchmal erfolgt die Diagnosestellung auch erst im Erwachsenenalter. Der Erstbeschreiber (und später auch Namensgeber) dieser Störung war Hans Asperger (1944). Er selbst verwendete für die von ihm erkannten Auffälligkeiten die Bezeichnung autistische Psychopathie, die aber heute kaum mehr geläufig ist und keine Verwendung mehr findet.

Menschen mit Asperger-Syndrom weisen in der Regel keine Verzögerung der kognitiven Entwicklung und keinen Sprachentwicklungsrückstand auf. Die Kommunikation indes bleibt auffällig, besonders dann, wenn es um die wechselseitige Konversation geht. Die Sprache ist oft pedantisch; manche autistische Menschen weisen eine ungewöhnliche Sprachmelodie auf, die die Tonlage, die Betonung und den Rhythmus der Sprache beeinflusst. Manchmal liegt eine besonders hohe intellektuelle Begabung vor, die es dem Betroffenen einerseits oft ermöglicht, Techniken zu erarbeiten, um die bestehenden Schwierigkeiten so gut wie möglich zu kompensieren. Auf der anderen Seite aber kommt es dadurch häufig auch zu reaktiven Depressionen, da viele Menschen mit Asperger-Syndrom in der Lage sind, ihre Schwierigkeiten sehr gut zu analysieren und dabei durchaus auch realistisch zu erkennen, dass trotz aller Mühe manches im Leben, das für ihre Umgebung selbstverständlich erscheint, für sie wohl nicht erreichbar sein wird, auch wenn sie es sich noch so sehr wünschen. Immer wieder beschreiben sie ihr Dasein als ein »Leben in zwei Welten«. Auf der einen Seite sind sie als autistische Wesen, auf der anderen Seite die anderen Menschen, mit denen es oft kaum Gemeinsamkeiten zu geben scheint.

Die Auswirkungen des Asperger-Syndroms können insgesamt »auf vielfältige Weise die Beziehungen zur Umwelt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft und die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft behindern, da sowohl kognitive als auch sprachliche, motorische, emotionale und interaktionale Fertigkeiten betroffen sind« (Kumbier 2005). Das Asperger-Syndrom ist also keinesfalls unbedeutend oder auch nur weniger belastend für die betroffenen Menschen als andere Formen des autistischen Spektrums. Im Gegenteil, viele von ihnen leiden vielleicht sogar mehr, weil von ihnen aufgrund der Intelligenz auch eine Anpassung an soziale Normen verlangt wird, die sie aber nicht in allen Fällen leisten können. Es ist also wichtig, auch bei Menschen mit Asperger-Syndrom den Unterstützungsbedarf zu erkennen und ihnen adäquate Hilfe zu bieten, um ihnen in allen Lebensbereichen ein schönes und erfülltes Leben entsprechend der eigenen Wünsche, Vorstellungen und Voraussetzungen zu ermöglichen.

Was anfangs nur bruchstückhaft und ohne jeden sinnvollen Zusammenhang erscheint, entwickelt sich im Laufe der Zeit nicht selten zum Gesamtkunstwerk des Lebens.

(Foto: © Cinematographer/stock.adobe.com)

Inhaltsverzeichnis

Liebe Leserin, lieber Leser

Einführung Autismus und Asperger-Syndrom

Neuropsychologische Grundlagen

Mangelhaft entwickelte Theory of Mind

Schwache zentrale Kohärenz

Fehlende exekutive Funktionen

Häufige Auffälligkeiten

Asperger-Syndrom

Teil I Herausforderung Schulzeit

1 Erfahrungen in der Schule: Zwischen Integration und nötiger Sonderbehandlung

2 Informationen und Hilfen

2.1 Pausen und unstrukturierte Zeiten

2.2 Motorische Schwierigkeiten

2.3 Kommunikative Missverständnisse

2.4 Konzentration und Aufmerksamkeit

2.5 Nachteilsausgleich

2.6 Zukunftsangst

2.7 Spezialinteressen

2.8 Inklusion

2.9 Ausblick

Teil II Im Arbeitsleben Fuß fassen

3 Erfahrungen

4 Informationen und Hilfen

4.1 Die autismusbedingten Stärken beruflich nutzen

4.2 Welche Tätigkeiten sind besonders geeignet?

4.3 Häufiger Knackpunkt: der Kontakt mit Kollegen

4.4 Positive Veränderungen am Arbeitsmarkt

Teil III Das schwierige Feld menschlicher Beziehungen

5 Familie, Freundschaft, Partnerschaft – Erfahrungen und Erlebnisse

6 Informationen und Hilfen

6.1 Freundschaften im Kindesalter

6.2 Kontakte im Jugend- und Erwachsenenalter

6.3 Probleme bei der Partnersuche und in der Partnerschaft

6.3.1 Gefühle aushalten und ausdrücken

6.3.2 Missverständnisse vermeiden und ausräumen

6.3.3 Unterschiedliche Bedürfnisse nach körperlicher Nähe

6.3.4 Immer wieder Kompromisse suchen

6.4 Besondere Qualitäten anerkennen

6.5 Eigene Kinder?

6.5.1 Vom Kinderwunsch verabschieden

Teil IV Die freie Zeit gestalten

7 Freizeitgestaltung und Wohnsituation

8 Informationen und Hilfen

8.1 Freizeit: Mischung aus Erholung und Aktivität

8.2 Knackpunkt Wohnen

8.3 Mögliche Wohnformen

8.3.1 Ambulant betreutes Wohnen

8.3.2 Geeignete Wohnprojekte

8.4 Notwendige Dinge erledigen und einkaufen

8.4.1 Oft wünsche ich mir einen »Coach« für mein Leben

Teil V Gesundheit – Krankheit

9 Persönliche Erlebnisse beim Arzt und im Krankenhaus

10 Informationen und Hilfen

10.1 Krankenhausbehandlung

10.2 Gesundheitsprojekt

11 Nachwort: Ressourcen entdecken

11.1 Stärken-Perspektive und Autismus

11.2 Beide Seiten beachten – Stärken und Schwierigkeiten

11.3 Asperger-Syndrom – Leben in zwei Welten

12 Verwendete Literatur

13 Autorenverzeichnis

Autorenvorstellung

Sachverzeichnis

Impressum

Teil I Herausforderung Schulzeit

1 Erfahrungen in der Schule: Zwischen Integration und nötiger Sonderbehandlung

2 Informationen und Hilfen

Die Schule und vor allem die Pausen oder andere »chaotische Zustände« stellen autistische Kinder vor große Probleme, die sie nur mit geeigneter Unterstützung erfolgreich bewältigen können.

1 Erfahrungen in der Schule: Zwischen Integration und nötiger Sonderbehandlung

In der Schule und auf dem Schulhof begegnen dem autistischen Kind Gleichaltrige, die sich oftmals laut, chaotisch, unverständlich oder sogar gemein verhalten. Auch der Unterricht kann erhebliche Probleme bereiten, wenn die Besonderheiten des autistischen Kindes nicht berücksichtigt werden. Lichtblicke sind beschützende Freunde, verständnisvolle Lehrer und unterstützende Fördermaßnahmen.

Auf den folgenden Seiten beschreiben die beiden autistischen jungen Männer Sascha Dietsch und Marco Hoppe sehr anschaulich und detailliert, mit welchen Hindernissen sie in ihrer Schullaufbahn zu kämpfen hatten und welche Maßnahmen getroffen wurden, um sie zu unterstützen und ihnen zu helfen, die Schule schließlich erfolgreich abzuschließen. Deutlich wird in ihren Texten, dass viele unterschiedliche Situationen im schulischen Kontext für autistische Menschen problematisch sind, dass es mit etwas Glück und Engagement aller Beteiligten aber oft gelingt, individuelle Lösungen zu finden, die diese Zeit erträglich und fruchtbar machen.

Werden nicht autistische und autistische Kinder ohne Vorbereitung »aufeinander losgelassen«, kommt es fast zwangsläufig zu Missverständnissen und verstörenden Erlebnissen. Denn viele Kinder mit Autismus

zeigen ein nur gering ausgeprägtes Selbstbewusstsein;

sind naiv und gutgläubig und daher immer wieder dem Spott und den Hänseleien der Klassenkameraden ausgesetzt;

werden nicht selten durch Klassenkameraden dazu animiert, unerlaubte Dinge zu tun, die sie normalerweise niemals tun würden.

Immer wieder wird die Hilfe des Pädagogen notwendig sein, um dem betroffenen Schüler zu befriedigenden Kontakten mit seinen Mitschülern zu verhelfen. Dazu sind manchmal einige Variationen zum sonst üblichen Vorgehen nötig: In einem polnischen Therapiezentrum werden die Kinder intensiv auf die Gruppenerlebnisse vorbereitet, um ihnen eine möglichst angenehme Situation zu bieten, die sie auch in Zukunft wieder suchen werden. So üben die dortigen Therapeuten zunächst im Einzelsetting mit den Betroffenen die Fähigkeiten, die sie in der Gruppe beherrschen müssen (bestimmte Rollenspiele etc.). Wenn das Kind dies beherrscht, werden im nächsten Schritt einzelne Kinder aus der Gruppe dazugeholt. Auch in dieser nächsten Stufe wird das weitere Üben vom Therapeuten begleitet. Schließlich, wenn das Kind in der Kleingruppe besteht, geht es in Begleitung des Erwachsenen in die gesamte Gruppe, um dort die vielfach geübte Situation zu erleben. Dabei darf es in der Regel die Erfahrung machen, dass sich die zunächst so angstbesetzte Situation viel angenehmer als erwartet darstellt, was es zu weiteren Erfahrungen motivieren wird (Urbaniak 2006).

Dieses Vorgehen unterscheidet sich ganz wesentlich von der so oft erlebten Situation, dass das Kind gleich in einer großen Gruppe bestehen soll, was in vielen Fällen nicht möglich ist. Der Versuch scheitert, das Kind wird nach draußen geschickt, weil es »nicht mehr tragbar« erscheint, und bei allen Beteiligten bleibt ein schlechtes Gefühl zurück mit viel Frustration und dem Wunsch, so etwas zukünftig nicht mehr erleben zu wollen.

Sascha Dietsch

Meine Schulzeit war für mich sehr schwierig

Mein Name ist Sascha-Thorsten, ich bin 26 Jahre alt, habe im Jahr 2010 mein Abitur an einem beruflichen Gymnasium mit einem Notendurchschnitt von 1,9 bestanden und studiere seit dem Wintersemester 2010/11 Informatik an der Technischen Universität Darmstadt.

Im Kindergarten lernte ich meine Freundin und »Beschützerin« Lea kennen, die später auch in dieselbe Klasse ging wie ich und weiterhin auf mich »aufpasste«.

Nach unendlich vielen Besuchen bei verschiedenen Kinderärzten, von denen keiner wirklich wusste, was mit mir los war, bekam ich im Alter von 3,5 Jahren von der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Heidelberg die Diagnose Asperger-Autismus. Nach mehreren Versuchen, mit dieser Diagnose einen Kindergartenplatz zu finden, erhielt ich endlich einen Platz im evangelischen Kindergarten in Lorsch, wo ich mich sehr wohl fühlte. Dort lernte ich auch meine Freundin und »Beschützerin« Lea kennen. Irgendwann aber war diese schöne Zeit vorbei und ich sollte zur Schule gehen.

Doch die Einschulung gestaltete sich nicht einfach. Der Rektor lehnte mich wegen meines Autismus ab, obwohl er mich bis dahin nicht persönlich kennen gelernt hatte. Allein aufgrund der Diagnose wollte man mich nicht aufnehmen. Erst durch das Einschalten eines Rechtsanwaltes war die Schule dazu bereit. Im Vorfeld hatten meine Eltern darauf geachtet, dass ich mit 12 Kindern aus meiner Kindergartengruppe in dieselbe Klasse eingeteilt wurde, da sie alle meine Besonderheiten kannten. Auch meine Kindergartenfreundin und »Aufpasserin« Lea war mit in dieser Klasse. Zum Glück hatte ich eine verständnisvolle Klassenlehrerin, Frau W., die recht schnell herausfand, dass ich zwar die Antworten auf ihre Fragen wusste, diese sich aber in vielen Fällen nicht so spontan bei mir abrufen ließen. Sie nahm mich dann später nochmals dran und ich wusste meist die Antwort. Ihr möchte ich an dieser Stelle danken für all das, was sie für mich getan hat. Auch ließ sie es zu, dass meine Eltern bei allen Klassenausflügen als Begleitpersonen dabei sein durften, was für mich sehr angenehm war, da ich mit neuen Umgebungen und ungewohnten Speisen immer ein Problem hatte. Durch ihre Anwesenheit fühlte ich mich sicherer.

Mobbing und üble Scherze

Leider waren die meisten meiner Mitschüler chaotisch und unberechenbar und mobbten mich oft, lachten mich aus oder schlugen mich. Sie fanden immer etwas, mit dem sie mich ärgern und fertig machen konnten, vermutlich deshalb, weil ich anders war als alle anderen und meine Eigenheiten hatte, die manchmal auch sehr unangenehm sein konnten. Insbesondere dann, wenn ich ausgelacht und verspottet wurde, konnte ich ungehalten und laut werden.

Manchmal heckten die anderen aber auch wirklich gemeine und auch gefährliche »Scherze« aus. So bot mir beispielsweise ein Klassenkamerad Bonbons an, da er wusste, dass ich Süßes mochte. Allerdings wusste ich nicht, dass er die Bonbons zuvor mit Klebstoff überzogen hatte und nur darauf wartete, dass ich sie in den Mund steckte. Lea, die neben mir stand, bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass irgendetwas mit diesen Bonbons nicht stimmte, und riss sie mir aus der Hand. Als ich mir den Arm gebrochen hatte und deshalb einen Gipsverband tragen musste, musste dieser jeden Tag erneuert werden, da einige Mitschüler es lustig fanden, mir so fest auf den Arm zu schlagen, dass der Gips jedes Mal auseinanderbrach. Auch fesselten sie mich während dieser Zeit an einen Laternenpfahl, zogen mir die Schuhe aus und warfen sie in die Hecken. Zum Glück erlöste mich meine Freundin Lea wieder und half mir, meine Schuhe zu suchen. Das war eine sehr schlimme Zeit für mich, da ich mich weder verbal noch körperlich gegen die Angriffe wehren konnte. Deshalb war ich immer sehr froh, wenn meine Klassenlehrerin Pausenaufsicht hatte, denn dann passierten solche Dinge nur sehr selten. Es folgten teils wunderschöne, teils grauenhafte Zeiten.

Der Religionsunterricht wurde für mich zeitweise regelrecht zur Qual. Die Lehrerin ließ die Schüler kreuz und quer durch das Zimmer laufen, es war laut und vollkommen unstrukturiert, jeder durfte machen, was er wollte und tat das auch. Oft malten die anderen Kinder in meinem Heft herum oder zerrissen es einfach. Wenn ich unruhig und aufgeregt war, kaute ich ununterbrochen auf meinem Füller herum, bis er vollkommen zersplittert war und ich fast jede Woche einen neuen brauchte, oder aber ich fing an, die Haut von meinen Fingern abzukauen. Da ich ein sehr empfindliches Gehör habe und laute Töne mir Schmerzen bereiten, musste ich mir oft die Ohren zuhalten, was dann wiederum zur Folge hatte, dass mich die anderen auslachten, nur noch lauter tobten und mich am Ende oft zum Ausrasten brachten.

Ich erhielt einen Schulbegleiter

Um meine Schullaufbahn einigermaßen zu sichern, beantragten meine Eltern beim Jugendamt einen Schulbegleiter, der schließlich auch genehmigt wurde. Ab der zweiten Hälfte des dritten Schuljahres begleitete mich also ein junger Mann täglich zur Schule. Anfangs lief es ganz gut, auch die Mitschüler und Lehrer waren froh, dass ich einen Begleiter hatte. Er bezog die Klassenkameraden in der Pause beim Spielen ein, sodass ein freundschaftlicher Kontakt zu den anderen Schülern entstehen konnte. Nach den Sommerferien fingen dann aber die Probleme mit dem Schulbegleiter an. Er diskutierte oft laut mit mir im Unterricht, was natürlich die anderen Schüler störte, sodass meine Klassenlehrerin häufig eingreifen musste. In den Pausen spielte er mit den anderen Kindern und wurde zunehmend deren »Kumpel«, was dann irgendwann dazu führte, dass niemand mehr vor ihm Respekt hatte.

Nun begleitete mich also ein junger Mann täglich zur Schule. Anfangs lief es ganz gut, auch die Mitschüler und Lehrer waren froh, dass ich einen Begleiter hatte.

Dann kam es zu einem Beinahe-Unglück nach dem Schwimmunterricht: Mein Begleiter sollte eigentlich mein Ankleiden im Jungen-Umkleideraum überwachen, was er allerdings nicht tat. So kam es, dass beim Duschen versehentlich mein Kulturbeutel mit Föhn komplett nass wurde, was mir aber nicht auffiel. Nach dem Anziehen wollte ich zur Steckdose laufen und meine Haare föhnen, doch zum Glück kam meine Lehrerin, kontrollierte meinen Kulturbeutel und nahm mir sofort den Föhn weg. Auch in der Folge gab es noch weitere Vorfälle, und so trennten wir uns nach fünf Monaten von ihm und suchten einen neuen Schulbegleiter.

Nun musste ich wieder alleine den Unterricht besuchen. In dieser Zeit war ich sehr unruhig und unkonzentriert, ließ mich von allem und jedem ablenken, was meine Lehrer nicht gerade erfreute und sich natürlich auch bei meinen schulischen Leistungen bemerkbar machte. Ich vergaß oft, die Hausaufgaben aufzuschreiben oder Termine für anstehende Klassenarbeiten zu notieren, sodass meine Mutter jeden Tag bei meiner Mitschülerin Lea anrief, um sich nach dem Wesentlichen zu erkundigen. Auch hatte ich große Schwierigkeiten, meinen Arbeitsplatz in der Schule zu organisieren, oft fand ich die Bücher in meinem Ranzen oder auf dem Schreibtisch nicht, da ich sie nach der Schulstunde nicht in den Ranzen zurücklegte, sondern alles aufeinanderstapelte und mich meist erst dann wohl fühlte, wenn der Stapel zu einem Berg angewachsen war, hinter dem ich mich verstecken konnte. Im Unterricht auffällig wurde nun meine große Schwierigkeit, Bilder richtig zu interpretieren. Ich konnte nur das wiedergeben, was auch wirklich darauf zu sehen war. Auch wurde meine Handschrift oft beanstandet, da sie sehr klein und undeutlich war, was aber auf meine Probleme mit der Feinmotorik zurückzuführen war.

Mir stand eine Integrationshelferin bei

Nach zwei Monaten bekam ich eine neue Integrationshelferin, Frau H. Ich war froh, wieder jemanden zu haben, der mir Sicherheit gab und mich und mein Umfeld zur Ruhe brachte. Allmählich besserten sich auch wieder meine Leistungen, sodass ich am Ende der vierten Klasse die Empfehlung für das Gymnasium bekam. Meine Eltern entschieden sich nach Beratung aber für die Realschule, da man vermutete, dies könnte aufgrund der kleineren Klassen mit weniger Schülern für mich leichter sein. Doch so einfach, wie wir uns das vorgestellt hatten, ging das nicht. Der Rektor meiner Schule erklärte uns, dass er erst einmal eine Lehrkraft finden müsse, die bereit sei, einen Schulbegleiter in ihrer Klasse zu dulden, doch es gelang ihm nicht. Erst nachdem bekannt wurde, dass an dieser Schule eine Freundin meiner Schulbegleiterin als Lehrerin arbeitete, war diese bereit, mich mit Begleitung aufzunehmen. Anfangs konnte ich durch die neue Situation an der mir noch unbekannten Schule vor Aufregung und Unsicherheit nachts nicht schlafen und auch nur wenig essen.

Frau H. sorgte dafür, dass mich meine Mitschüler in der Pause mitspielen ließen. Dadurch kam es manchmal zu komischen Situationen. Wenn die Kinder beispielsweise Fangen oder Raufen spielten und einer den anderen festhielt, wurde ich böse und schimpfte fürchterlich, denn ich war immer der Meinung, dass sich der »Gefangene« in einer bedrohlichen Situation befand und meiner Hilfe bedurfte. Ich konnte das Spiel nicht verstehen und das Verhalten der Mitschüler nicht richtig interpretieren, es wirkte auf mich bedrohlich. Erst nachdem mir Frau H. mehrmals erklärt hatte, dass dies alles nur ein Spiel war, konnte ich langsam mein Verhalten ändern.

Nachdem ich meine Klassenarbeiten in einem separaten, ruhigen Raum schreiben durfte, hatte ich meistens nur noch Einser und Zweier.

Der Unterrichtsstoff bereitete mir keine Probleme, nur der heftige Lärm auf dem Schulhof und die Unruhe in der Klasse machten mir Schwierigkeiten. Besonders während der Klassenarbeiten konnte ich mich schlecht konzentrieren, was dazu führte, dass ich sie auf Antrag in einem separaten, ruhigen Raum schreiben durfte. Ab diesem Zeitpunkt hatte ich meistens nur Einser und Zweier.

Doch dann gab es erneut einige Zwischenfälle. Frau H. versuchte, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen, um dann das Erfahrene an die Lehrkräfte weiterzugeben. Dadurch machte sie sich bei meinen Mitschülern sehr unbeliebt und die meisten hielten sich in der Folge auch von mir fern, sodass ich in den Pausen wieder alleine war. Auch saß meine Begleiterin während der Pausen oft im Lehrerzimmer und ließ mich in diesen für mich sehr stressigen und unüberschaubaren Situationen alleine. So kam es öfter vor, dass die Kinder mich umringten, mich »Behindi-Kindi« nannten und ich dann total »ausrastete«. Alle Bemühungen meiner Integrationshelferin, wieder ein gutes Verhältnis zu den Mitschülern zu bekommen, scheiterten. So wurde das Arbeitsverhältnis mit ihr beendet und wir suchten erneut nach einem neuen Schulbegleiter.

Schulbegleiter Manuel – vermeintliche Konkurrenz für den Klassenlehrer

Das Verhältnis zu meinen Mitschülern besserte sich relativ schnell, als ich in der achten Klasse einen neuen Begleiter bekam. Manuel war etwas anders als meine bisherigen Integrationshelfer. Er war Erzieher und gewann auch schnell das Vertrauen der Mitschüler, da auch sie ihre Probleme mit ihm besprechen konnten, ohne dass er etwas davon den Lehrern mitteilte. Durch dieses Vertrauensverhältnis bekam ich endlich auch einen besseren Kontakt zu meinen Mitschülern.

Nun fingen meine Probleme im Deutschunterricht an. Es wurden vermehrt Interpretationen gefordert, die ich einfach nicht leisten konnte.

Mit Manuel fuhr ich das erste Mal ohne meine Eltern auf eine Klassenfahrt und fühlte mich in seiner Gegenwart wohl und sicher. Da ich mich sehr einseitig ernähre und nur bestimmte Lebensmittel ohne Ekel und Würgereiz essen kann, kümmerte sich Manuel auch täglich um mein Mittag- und Abendessen und sorgte dafür, dass ich bei Bedarf ein ruhiges Plätzchen zum Entspannen und Erholen fand. In der 8. Klasse fand ein Schüleraustausch zu unserer Partnerstadt nach Frankreich statt. Ich wäre auch hier gerne dabei gewesen, aber mein Lehrer fand, man könne mich keiner Gastfamilie zumuten, obwohl Manuel mit dabei gewesen und notfalls auch mit mir in ein Hotel gezogen wäre.

Mittlerweile hatten wir einen neuen Klassenlehrer bekommen. Er war ein großer, braun gebrannter schwarzhaariger Mann, für den sich die Mädchen anfangs sehr interessierten und der sich dabei sehr wohl zu fühlen schien. Leider jedoch sah er in Manuel einen Konkurrenten, der ihm seiner Meinung nach seinen Platz streitig machen könnte.

Nun fingen meine Probleme im Deutschunterricht an. Es wurden vermehrt Interpretationen gefordert, die ich einfach nicht leisten konnte. Mein Problem war, dass ich nicht »zwischen den Zeilen« lesen konnte, sondern nur das, was auch wirklich dastand. Auch konnte ich keine Gefühle aus Texten herauslesen oder mich in die Gefühlswelt anderer hineinversetzen. Versteckte Ironie, Metaphern, Zweideutigkeiten etc. verstand ich einfach nicht. Auch mit der Mimik und Gestik anderer Menschen hatte ich Probleme. Durch die nun geforderte Schnelligkeit wurde meine Schrift so unleserlich, dass ich selbst Probleme damit hatte, sie zu entziffern. Mir fielen Tafelabschriften schwer, denn ich musste ständig von der Tafel in mein Heft schauen, was durch die hohe Geschwindigkeit nicht einfach für mich war. Die Bitte um Tafelabschriften blieb trotz des besprochenen Nachteilsausgleichs leider unerfüllt.

Da mir jede plötzliche Veränderung Probleme machte, fanden häufig Elterngespräche mit den Lehrkräften statt. Schwierig war es auch für mich, wenn der Klassenlehrer uns ständig umsetzte und ich mich an einen neuen Nachbarn gewöhnen musste. So wurde abgesprochen, dass solche Veränderungen genau geplant und rechtzeitig mit mir besprochen werden sollten, was mir sehr geholfen hätte. Allerdings hielt sich unser Klassenlehrer nicht daran, und es kam öfter vor, dass er die Schüler umsetzte, während ich krank war, obwohl er genau wusste, dass mich solche Ereignisse vollkommen aus dem Gleichgewicht brachten. Leider nahm er darauf keine Rücksicht. Auch wurde uns nicht erlaubt, dass wir einen Zivi als Ersatz nehmen durften, wenn mein Schulbegleiter krank war. Ich musste dann alleine am Unterricht teilnehmen und oft auch ohne Begleitung Arbeiten schreiben.

Im neuen Klassenraum befand sich ein alter, defekter Computer. Er stand genau hinter meinem Schreibtisch und ich überlegte ständig, ob und wie ich ihn wieder zum Laufen bringen könnte.

Eines Tages zogen wir um in einen neuen Klassenraum. Dort befand sich kurioserweise ein alter Computer, von dem niemand wirklich wusste, was mit ihm gemacht werden sollte. Er stand genau hinter meinem Schreibtisch, sodass es mir schwer fiel, mich auf den Unterricht zu konzentrieren, denn ich überlegte ständig, ob und wie ich ihn wieder zum Laufen bringen könnte. Dadurch war ich sehr abgelenkt und unkonzentriert. Auch Manuels Bemühungen, mich wieder aktiv in den Unterricht einzubinden, halfen nicht.

Nachdem dies über mehrere Wochen so ging, fragte er meinen Klassenlehrer, ob man diesen defekten PC vielleicht in einem anderen Raum unterbringen könnte. Dieser versprach, er würde demnächst entfernt werden, doch nichts geschah. So musste Manuel sich jeden Tag mit mir herumquälen und versuchen, mich bei der Konzentration zu halten, was nicht einfach für ihn war. Eines Tages ließ Manuel den PC durch den Hausmeister entfernen, was zur Folge hatte, dass mein Lehrer tobte und Manuel wegen Kompetenzüberschreitung aus der Schule warf. So stand ich wieder einmal ohne Schulbegleiter da.

Einmal wurde ich beschuldigt, dass ich die Lehrer beim Rauchen fotografiert hätte, dabei interessierte es mich überhaupt nicht, was sie in der Pause machten (damals war es Lehrern untersagt, an der Schule zu rauchen). Der Vorwurf entstand, als ich von einem Klassenkameraden Bilder über eine Website zugespielt bekam. Da ich diese Bilder lustig fand, habe ich diese Website an eine einzige Klassenkameradin weitergeleitet, ohne mir darüber Gedanken zu machen. Am Tag darauf kamen die Anschuldigungen, ich hätte die Bilder online gestellt, die meine Mutter gemacht hätte… Sogar das Jugendamt wurde von der Schule eingeschaltet, um den Vorfall zu klären. Kurze Zeit später jedoch verschwanden die Bilder von der Website und tauchten seitdem nie wieder auf. Später erfuhr ich, dass es ein Schüler war, der beim Rauchen ertappt und bestraft wurde und der sich deshalb an den Lehrern rächen wollte. Bis heute hat es niemand für notwendig empfunden, sich bei mir oder bei meiner Mutter dafür zu entschuldigen.

Ich könnte noch über viele ähnlich problematische Situationen berichten, aber ich habe die Schulzeit für mich nun endgültig abgeschlossen. Insgesamt war die Schule für mich eine sehr schwierige Zeit und ich bin froh, dass ich sie erfolgreich zu Ende bringen konnte.

Meine Eltern standen immer hinter mir

Was mir in diesen Jahren sehr geholfen hat, waren meine Eltern, besonders meine Mutter, die mich immer begleitet, unterstützt, gefördert und getröstet hat. Sie hat mir auch immer wieder Mut gemacht, nicht zu verzweifeln oder aufzugeben, sondern mein Ziel, einmal Informatik studieren zu können, weiter zu verfolgen. Auch meiner langjährigen Freundin Lea möchte ich danken, da sie immer zu mir gestanden und mich aus mancher für mich unverständlichen kritischen Situation gerettet hat. Geholfen haben mir auch meine beiden Hunde, die mich, wenn ich traurig aus der Schule kam, freudig begrüßt und getröstet haben.

Was ich mir und anderen autistischen Schülern wünsche, sind fachkundige, autismusspezifisch weitergebildete Schulbegleiter, die in der Lage sind, unser manchmal sehr eigenwilliges Handeln zu verstehen und nachzuvollziehen. Auch wäre es wünschenswert, dass alle Regelschullehrer bereits in ihrem Studium den Umgang mit und die Besonderheiten von autistischen Schülern kennen lernen und daher von Beginn an darauf Rücksicht nehmen könnten. Wichtig wären auch ein autismusspezifischer Nachteilsausgleich und die problemlose Anerkennung ärztlicher Gutachten durch die Lehrkräfte. Mein größter Wunsch aber sind verständnisvolle und hilfsbereite Mitschüler, die sich nicht schämen, mit einem Autisten befreundet zu sein und die eine Integration zulassen.

Marco Hoppe

Meine Erfahrungen in der Schule