Atemlos - Adam Baron - E-Book

Atemlos E-Book

Adam Baron

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Beschreibung

Ein Zufall ändert manchmal alles – und bringt Cym und Jessica auf die Spur eines geheimnisvollen Schatzes. Eine originelle und witzige Abenteuergeschichte von Adam Baron

Alle sind hinter Mr. Fluffy her! Als Jessica in Südengland einen schmuddeligen Teddy aus dem Wasser fischt, weiß sie nicht, dass Cym in London den Bären schmerzlich vermisst, seit er ihm in den Fluss gefallen ist. Doch sie sind nicht die Einzigen, denen das flauschige Kuscheltier etwas bedeutet: Noch bevor sie sich zum ersten Mal treffen, werden sie gemeinsam in ein Abenteuer verwickelt, in dem es um Einbrüche, wertvolle Ausstellungsstücke und ein kriminelles Geschwisterpaar geht, das alles daransetzt, den Teddy zu finden. Jessicas und Cyms Leben werden gehörig durcheinandergebracht. Als sich ihre Wege endlich kreuzen, versuchen sie zusammen, dem Geheimnis um Mr. Fluffy auf den Grund zu gehen.

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Über das Buch

Alle sind hinter Mr. Fluffy her! Als Jessica in Südengland einen schmuddeligen Teddy aus dem Wasser fischt, weiß sie nicht, dass Cym in London den Bären schmerzlich vermisst, seit er ihm in den Fluss gefallen ist. Doch sie sind nicht die Einzigen, denen das flauschige Kuscheltier etwas bedeutet: Noch bevor sie sich zum ersten Mal treffen, werden sie gemeinsam in ein Abenteuer verwickelt, in dem es um Einbrüche, wertvolle Ausstellungsstücke und ein kriminelles Geschwisterpaar geht, das alles daransetzt, den Teddy zu finden. Jessicas und Cyms Leben werden gehörig durcheinandergebracht. Als sich ihre Wege endlich kreuzen, versuchen sie zusammen, dem Geheimnis um Mr. Fluffy auf den Grund zu gehen.

Atemlos

Auf der Jagd nach dem Phönix-Medaillon

von Adam Baron

Aus dem Englischen von Ute Mihr

Hanser

Für Kate Higgins, ohne die es Jessica und Milly nicht gäbe

1

Jessica

Das wird euch zum Lachen bringen:

Gestern fuhren wir (Mum, Dad, Milly, Benji und ich) nach Cuckmere Haven und spielten dort Stöckchen-Rennen.

Was? Ihr haltet euch nicht die Bäuche? Kugelt euch nicht vor Lachen über den Boden? Dann hört euch das an:

Wir haben Stöckchen-Rennen mit ECHTER KACKE gespielt.

Wirklich! Ehrenwort! Die Kacke kam von Benji, der plötzlich musste. Dad hatte das Töpfchen im Auto gelassen, deshalb zog Mum ihm direkt am Ufer des großen Flusses die Shorts runter. Kaum war Benji fertig, da rollte die Kacke zwischen seinen Turnschuhen hindurch, kullerte die Uferböschung hinunter und fiel ins Wasser. Dort versank sie, tauchte dann wieder auf und bewegte sich kreiselnd in Richtung Flussmitte, was schon für sich gesehen ziemlich lustig war. Aber Milly hatte eine Idee. Das darf ich nicht abstreiten, denn sie ist größer als ich. Wenn ich behaupte, die Idee war von mir, dann schlägt sie mich. Sie schnappte sich also einen herumliegenden Stock, und ich kapierte erst, was sie vorhatte, als sie den Stock ins Wasser warf.

»Wettrennen!«, rief sie. »Wir spielen Stöckchen-Rennen mit Kacke!«

»Und Stöcken!«, rief ich, während ich mir ebenfalls einen Stock griff und ihn hinterherwarf. »Wir machen ein Wettrennen zwischen Kacke und Stöcken!«

Und wir waren nicht allein. Mum sagte: »Mädels!«, und: »Hört auf damit!«, aber Dad fühlte sich von »Mädels« ganz offensichtlich nicht angesprochen. Er suchte sich ebenfalls einen Stock und schleuderte ihn ins Wasser. Mum wischte Benji seufzend den Po ab, während sich die drei Stöcke und die Kacke in Bewegung setzten. Natürlich hatten wir getan, was alle tun, wenn sie Stöckchen-Rennen spielen: Wir hatten geschummelt. Milly hatte ihren Stock vor die Kacke geworfen, ich meinen Stock vor ihren und Dad seinen vor meinen. Aber das spielte KEINE Rolle. Während sich unsere Stöcke drehten oder hängen blieben, wurden sie allesamt von der kleinen braunen Kugel aus Benjis Po überholt.

»Kacke«, rief Milly und hüpfte am Ufer auf und ab, »eignet sich wirklich gut für Wettrennen!«

»Aber nicht jede Art von Kacke, sollte man meinen«, sagte Dad. »Gut, dass es nicht Dünnpfiff war!«

Und wenn ihr jetzt noch nicht lachen müsst, vergesst es.

Benji wollte auch wissen, was wir da machten, deshalb nahm Dad ihn auf die Schultern. Natürlich erst, als sein Po sauber und er wieder angezogen war. Wir alle rannten am Ufer entlang, aber Mum war immer noch nicht besonders begeistert, weil Milly und ich die Stöcke anfeuerten, während Dad und Benji riefen: »Schneller, Kacke, schneller!« (und ein paar Vogelbeobachter entsetzt zu uns herüberschauten). Noch peinlicher wurde es für Mum, als sich alle Stöcke an ein paar Steinen verkanteten und Milly (die Crocs trug) in den Fluss rannte.

»Was machst du da?!«, schrie Mum. Milly hatte ihr Kleid hochgerafft und hielt es mit dem Kinn fest.

»Er darf nicht gewinnen!«, sagte Milly. (Sie will einfach immer die Erste sein.) »Stöcke bringen es nicht!«

Aber Mum brüllte so laut, dass Milly herauskam, ohne ins Wasser gekackt zu haben. Wir mussten zusehen, wie Benji triumphierte. Unsere Stöcke lagen schon bald weit zurück, während die Kacke (als ob sie wüsste, dass es um ein Rennen ging) voransprintete. Sie rauschte unter einer Fußgängerbrücke hindurch und tanzte an ein paar Enten vorbei, die von ein paar anderen Vogelbeobachtern betrachtet wurden. Dann legte sie so an Tempo zu, dass wir kaum hinterherkamen. Benji war fast heiser vom vielen Schreien, und Dad atmete schwer, um mit Milly und mir Schritt zu halten. Dann wurde der Fluss breiter, und vor uns lag ein Strand. Das Wasser war flacher, und die Kacke hüpfte immer wieder aus dem Wasser heraus, wenn sie über Steine schwamm und um kleine Felsen herumtrieb. Sie war kaum noch zu erkennen, vor allem als die Sonne hervorbrach und das Wasser zum Glitzern brachte.

»Wir verlieren die Kacke!«, rief Milly und trieb mich an, schneller zu rennen. Wir stolperten weiter und dachten schon, sie wäre für immer weg, als Milly sie wieder entdeckte. Sie zog mich am Arm, und wir wurden noch schneller, und dann sahen wir, dass die braune Kugel aus dem Fluss heraus vor uns auf den Strand rollte. Wir blickten staunend und voller Hochachtung auf sie hinunter. Sie wirkte nicht einmal müde.

»Olympianorm«, meinte Dad. Er kam schwer atmend neben uns zum Stehen und fing dann an zu husten. In letzter Zeit hatte er immer wieder Probleme mit seiner Kondition. »Olympianorm-Kacke.«

»Noch eine Runde!«, schlug Milly vor. »Lasst uns zurückgehen, aber diesmal bin ich für die Kacke!«

»Dann heb sie auch auf«, sagte ich. Und weil Milly immer unbedingt gewinnen will, hätte sie es bestimmt getan. Ehrenwort! Aber da kam Mum. Sie war inzwischen richtig sauer und fauchte Dad an, dass es ihm in letzter Zeit sowieso schon nicht gut gegangen sei und er außerdem nicht rennen dürfe. Gleichzeitig wühlte sie in ihrem Rucksack und zog einen Windelbeutel heraus. Damit nahm sie die Kacke auf und marschierte mit ihr zum nächsten Mülleimer. Milly seufzte, und auch ich war enttäuscht, drehte mich aber um, weil ich wissen wollte, ob einer der Stöcke überhaupt so weit gekommen war. Vielleicht hatte meiner ja als zweiter das Ziel erreicht — oder als erster Stock im Rennen, der keine Kacke war. Als Milly jedoch merkte, wonach ich Ausschau hielt, wirbelte auch sie herum, und wir beide schirmten unsere Augen ab, bis die Sonne hinter den Wolken verschwand.

Und da sah ich es.

Im Wasser.

Mein Blick richtete sich darauf, und ich starrte es blinzelnd an, innerlich irgendwie ganz ruhig, als ob es gewollt hatte, dass ich es finde.

Aber es war kein Stock.

Oder eine andere Kacke-Kugel.

Nein.

Ich sah das Ding, das unser Leben für immer verändern würde.

2

Cymbeline

Ihr werdet es nicht glauben.

Ich, Cymbeline Iglu, bin auf den Titelseiten ALLER Zeitungen im ganzen Land. Außerdem trende ich auf Twitter, Instagram und Facebook (auch wenn Mum mich dort nicht reinschauen lässt wegen der Russen) und werde später in einer Sendung namens Newsnight zu sehen sein (obwohl ich da schon im Bett liegen werde). Und das gilt nicht nur für mich. Sondern auch für Marcus Breen und Lance, für Veronique, Billy, Daisy, Vi, Miss Phillips und für Charles Dickens, unseren Klassen-Goldfisch. Er heißt so, weil Veronique ihn taufen durfte, nachdem ihr Name aus Miss Phillips’ Pudelmütze gezogen worden war. Charles Dickens schrieb vor ungefähr zweitausend Jahren Romane, darunter auch Eine Geschichte zweier Städte, die Veronique damals gerade las (sie ist nämlich superschlau).

Die Geschichte fängt so an: »Es war die beste und die schlimmste Zeit.«

Und das ist wirklich ein merkwürdiger Zufall, denn was mir passiert ist, war genau so, nur dass die beste Zeit später kam und die schlimmste Zeit an dem Tag anbrach, an dem ich mit meiner Geschichte beginnen möchte. Und die Zeit war WIRKLICH schlimm!

Ich wartete an diesem Tag eine Ewigkeit auf meinen Dad.

Und ich meine wirklich EWIGKEIT.

Zuerst gingen die Kindergartenkinder nach Hause. Ich sah sie von unserem Klassenzimmer aus. Sie wackelten über den Schulhof wie aufziehbares Blechspielzeug, dessen Federwerk gleich abläuft. Sobald sie alle abgeholt worden waren, kamen wir dran. Ich griff nach meinen beiden Taschen und hüpfte die Treppe hinunter. Dann rannte ich auf den Schulhof und sah mich verzweifelt nach Dad um. Aus unserer Klasse wurde zuerst Elizabeth Fisher abgeholt. Sie geht freitags zum Tauchen und muss dazu ins Schwimmbad. Ihre Mum ist immer so pünktlich da wie der nächste Läufer bei einem Staffellauf.

Aber Dad würde bestimmt gleich kommen.

Nur dass er eben nicht kam.

Daisy und Vi fuhren weg (Fußball), und Danny Jones wurde von seinem Vater abgeholt. Dann trafen viele Eltern auf einmal ein, alle schauten auf die andere Seite des Schulhofs und erhielten ein Nicken von Miss Phillips, bevor sie wieder losfuhren. Ich hielt weiter Ausschau, aber Dad kam nicht, und schon bald wurde die Anzahl der Kinder und Eltern kleiner, weil natürlich all die anderen Jahrgänge auch abgeholt wurden.

In mir breitete sich ein wabbeliges Gefühl der Leere aus, das immer stärker wurde, je weniger Eltern durch das Tor auf den Schulhof kamen. Dann erschien überhaupt niemand mehr, und auf einmal war es ganz merkwürdig: Wie war es möglich, dass ein Ort in einem Moment so belebt war, so voll von Menschen, und dann auf einen Schlag absolut und vollkommen leer? Und er war leer. Nur vier Pullover, drei Schultaschen, ein Handschuh, noch ein Handschuh (von einem anderen Paar), eine Lunchbox, ein Paar Turnschuhe, ein Handy, eine Babyflasche und ich waren noch da.

Miss Phillips kam zu mir herüber. »Wer holt dich heute ab?«

»Mein Dad«, sagte ich.

»Stimmt. Das hast du mir ja gesagt. Sehr schwer?«

Sie meinte meine Wochenendtasche, die ich immer noch in der Hand hielt, während die Schultasche auf meinem Rücken war. »Eigentlich nicht. Ich meine, ist ja nicht für lange.«

Miss Phillips lächelte, dann lächelte sie Richtung Mr Ashe und Mrs Cooper, die mit Teetassen in der Hand aus dem Lehrerzimmer kamen. Mrs Cooper sah Miss Philipps teilnahmsvoll an und winkte mir zu.

»Und es ist wirklich dieses Wochenende?«, fragte Miss Phillips.

»Ja«, antwortete ich.

»Wie wär’s? Wollen wir ins Rektorat gehen und ihn kurz anrufen?«

»Okay. Aber Sie müssen das eigentlich nicht tun. Er kommt bestimmt.«

»Klar«, sagte Miss Phillips, brachte mich aber dennoch zum Rektorat. Sie bat mich, draußen zu warten. Das tat ich, wünschte aber, ich könnte in den Computerraum rennen und eine Runde Minecraft spielen oder so. Aber freitags gibt es keine außerschulischen Angebote, sodass ich einfach dort rumstehen und durch das Fenster zusehen musste, wie Mr Briggs mit einem großen Schlüsselbund aus der Tür trat. Er schloss die hintere Tür der Schule ab und ging dann über den Schulhof, wo er kopfschüttelnd die Pullover, die Schultaschen, die Lunchbox, die Turnschuhe, die beiden (unterschiedlichen) Handschuhe, das Handy und die Flasche einsammelte und in die Kiste mit den Fundsachen warf.

»Haben Sie angerufen?«, fragte ich, als Miss Phillips zurückkam. Sie wuschelte mir durch die Haare.

»Ich kam nicht durch, aber ich hab eine Nachricht hinterlassen.«

»Dann ist er bestimmt bald hier. Wahrscheinlich hat der Zug Verspätung.«

Also wartete ich weiter auf meinen Dad. Ich starrte draußen durch das Tor hindurch die Straße hinauf, und nach einer Weile fragte Miss Phillips mich noch einmal, ob ich sicher sei, dass es wirklich um dieses Wochenende ging. Ich nickte, während in mir eine rote Blume aufblühte und mein Gesicht zu brennen begann, weil ich mich daran erinnerte, wie ich es ihr erzählt hatte. Tatsächlich hatte ich es allen erzählt. Die GANZE KLASSE wusste, was ich dieses Wochenende vorhatte. Die heiße rote Blume schien sich mit dem wabbeligen Leere-Gefühl zu vermischen, während ich meinen Blick an den parkenden Autos vorbeizwang und versuchte, meinen Vater mit meinem bloßen Willen dazu zu bewegen, aufzutauchen, mit seiner Tasche in der Hand schnell atmend um die Ecke zu rennen und beim Näherkommen zu winken. Das würde das wabbelige Gefühl sofort vertreiben, und das Bild war so klar, dass ich fast glaubte, es würde tatsächlich passieren — und als ich auf der Treppe, die von Blackheath zu unserer Schule herabführt, eine Bewegung wahrnahm, hüpfte mein Herz wie ein Flummi. In diesem Augenblick kam auch die Sonne heraus und blendete mich. Mit zusammengekniffenen Augen hob ich die Hand, aber als die Sonne wieder verschwand, sah ich nicht meinen Dad.

Sondern meine Mum. Wahrscheinlich hatte Miss Phillips auch sie angerufen.

Mum hatte ihre Autoschlüssel in der Hand und wirkte gehetzt, obwohl ihre Gesichtszüge weich wurden, als sie mich erblickte.

»Ach, Cymbeline«, sagte sie, nachdem Miss Phillips ihr das Tor geöffnet hatte. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Ich hab versucht, ihn anzurufen, wirklich, aber … Ach. Es tut mir einfach schrecklich leid.«

»Macht nichts«, sagte ich, obwohl es natürlich etwas machte. Das wusste ich, und das wusste sie, und auch Miss Phillips wusste es, obwohl ich es unbedingt verbergen wollte. Ich winkte Miss Phillips und Mr Briggs zum Abschied, der das Tor hinter uns abschloss. Auf der Treppe nahm Mum meine Hand.

»Hat Charlton morgen ein Heimspiel?«, fragte sie.

»Keine Ahnung.«

»Und falls ja, sollen wir hingehen?«

Ich nickte und stellte mir einen Augenblick lang das Valley-Stadion vor und Jacky Chapman, der die Mannschaft auf den leuchtend grünen Rasen führte, während Mum und ich jubelnd herumhüpften. Aber dann sah ich nicht mehr das Valley. Und auch nicht mehr Jacky Chapman. Sondern das Camp Nou in Barcelona, das größte Fußballstadion der Welt, das ich im letzten Monat bestimmt mindestens fünfzigmal gegoogelt hatte. Und ich sah de Jong und Griezmann, Piqué und Alba und natürlich Lionel Messi (damals spielte er noch für Barcelona). Und neben mir hüpfte nicht Mum schreiend herum. Sondern Dad.

Ich blinzelte das Bild weg und fragte, ob Lance kommen dürfe, und Mum erlaubte es. Als wir das Auto erreicht hatten, blieb sie stehen, aber sie stieg nicht ein. Stattdessen sah sie sich um, und auf ihrem Gesicht lag derselbe Ausdruck von Hoffnung wie vorhin bei mir. Dann bat sie mich zu warten. Sie rannte zurück die Treppe hinunter, und ich sah, wie sie unten die Straße hinaufschaute. Sie zog ihr Handy heraus, tippte darauf herum. Lauschte und schob es dann vor sich hin schimpfend wieder zurück in ihre Tasche.

»Komm«, sagte sie, als sie wieder bei mir war. Sie nahm mir die Taschen ab und lud sie in den Kofferraum.

3

Jessica

Es war auf der anderen Seite des Flusses — verkeilt in ein großes Stück Holz. Und es schaute mich an. Ehrenwort! Ich vergaß die Stöcke (und die Kacke) und lief los. Den Blick fest darauf gerichtet, suchte ich mir mithilfe ein paar größerer Steine einen Weg über das Wasser. Milly entdeckte mich. Sie drehte sich um und folgte meinem Blick. Ich beschleunigte meine Schritte, war aber natürlich nicht schnell genug. Außerdem trug sie Crocs. Ich konnte nur noch zusehen, wie sie durch das Wasser platschte und sich nicht einmal darum scherte, dass sie mich nass spritzte.

»He!«, schrie ich. »Das gehört mir!«

Aber Milly reagierte nicht. Stattdessen schob sie das Holzstück zur Seite und griff nach dem Ding. Sie schüttelte es, sodass ein ganzer Schauer von Wassertropfen auf den Fluss regnete. Dann wrang sie es aus wie einen Badeanzug, bevor sie es hochhielt.

»Dad!«, rief sie. »Schau, was ich gefunden habe!«

»DU?« Ich versuchte, bis zu Milly zu gelangen, aber die Steine waren zu glitschig. Mein linker Fuß rutschte ab, und mein Turnschuh füllte sich mit Wasser. »NIEMALS hast du es gefunden. Ich habe es zuerst gesehen.«

»Wer sagt das?« Milly lachte und rannte zurück zum Strand. »Egal, jetzt hab ich es. Und das heißt, dass es mir gehört.«

»Tut es nicht!«, schrie ich. Mir war jetzt alles egal, und ich rannte einfach durch das Wasser auf sie zu. »Dad, sag du es ihr!«

»Was soll er ihr sagen?«, fragte Mum.

Mum kam gerade vom Mülleimer zurück. Sie betrachtete meine nassen Füße und sah dann Dad mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er zuckte die Achseln, deshalb wandte sie sich stattdessen an meine lügende, diebische Schwester.

»Was ist das?«, sagte Mum.

Und die Antwort ist wirklich TOTAL MERKWÜRDIG. Es war nämlich nichts Beeindruckendes, wofür Milly und ich um die Wette gerannt waren. Keine Packung nagelneuer Stifte, die mir gefallen hätte, oder ein Rugby-Ball, über den Milly sich wahnsinnig gefreut hätte. Es war kein Zehn-Pfund-Schein oder eine Tüte mit Süßigkeiten oder Willy Wonkas letzte Goldene Eintrittskarte auf der Welt.

Nein.

Es war etwas Kleines, klatschnass und voller Sand und Schlamm. Mum und Dad verzogen das Gesicht, und Benji sagte nur »Bäh!«. Und er hatte recht. Selbst von dort, wo ich stand, konnte ich riechen, wie es STANK. Es musste ewig im Wasser gelegen haben. Und die meisten Leute hätten es wahrscheinlich nur zu gern dort gelassen.

Aber aus irgendeinem Grund, den ich noch nicht verstand, wollte ich es unbedingt haben.

Und Milly auch.

Aber Mum — nun, sie hatte andere Vorstellungen.

4

Cymbeline

»Cym«, sagte Mum, als wir im Wagen saßen. »Wenn so was wie heute passiert, kann man eigentlich nur eines tun.«

»Wirklich?«, antwortete ich, weil ich nicht sicher war, ob man überhaupt etwas tun konnte. Was könnte ein Ersatz dafür sein, dass ich nicht mit meinem Dad nach Barcelona fuhr, nachdem ich mich seit einer Ewigkeit darauf gefreut hatte? Schon vor Wochen hatte ich meine Tasche gepackt, und letzte Nacht konnte ich vor Aufregung nicht schlafen. Dauernd schaute ich auf den Wecker, ob es nicht endlich Zeit war aufzustehen.

»Ja«, sagte Mum. »Und auch wenn es nichts an der Sache ändert, fühlst du dich danach vielleicht ein bisschen besser.«

»Und was soll das sein?«

»Eis essen«, sagte Mum. »Und zwar viel.«

Sie fuhr los, aber statt umzudrehen und nach Hause zu fahren, steuerte sie Blackheath Village an und parkte dort. Ich dachte, wir würden zu dem Eiswagen gehen, der manchmal vor der Kirche steht. Aber stattdessen gingen wir zu dem feinen Eiscafé weiter oben, wo ich die vielen verschiedenen Sorten betrachtete und mich schließlich für Blaubeere und Himbeere (die Farben von Barcelona) entschied. Ich erwartete jeweils eine Kugel, aber Mum runzelte die Stirn.

»Ich sagte viel Eis, oder?«

Mum bestellte einen großen Becher (verschiedene Sorten), und wir suchten uns eine Bank auf der Heide. Dort packte Mum ihr Bambusbesteck aus, weil sie keine Plastiklöffel benutzt. Sie ist zurzeit eine FANATISCHE Gegnerin von Plastik, was ich natürlich total gut finde. Allerdings kann es ganz schön umständlich sein. Wir gehen immer in einen Unverpacktladen, wo man die eigenen mitgebrachten Flaschen und Gläser auffüllt. Mum hat nie die richtigen dabei. Als wir neulich Pfannkuchen machten, kippte sie Shampoo darüber, das sie in eine Sirup-Flasche abgefüllt hatte. Am nächsten Morgen schüttete ich Linsen in meine Müslischale und Cornflakes in das Vogelhäuschen. Und später im Bad landete Tomatenketchup auf meinem Kopf.

Immerhin in Bioqualität.

Trotz dieser »Kinderkrankheiten«, wie Mum sagt, stehe ich total dahinter. Denn das Plastik ist einfach überall. Nach dem ersten Halbjahr fuhren wir mit der Schule nach Margate. Der Strand dort war voller Plastikmüll — von winzigen Stücken, aus denen wir ein Mosaik legten, bis zu großen Trinkflaschen. Ich fand sogar einen Spielzeugsoldaten im Seetang, der von seiner Truppe getrennt worden war, und spielte den ganzen Tag mit ihm. Wer hatte ihn wohl verloren? Wie gerne würde ich ihn zurückgeben, denn vielleicht war er für irgendjemanden etwas ganz Besonderes. Und vielleicht hatte das Kind, dem er gehört hatte, ein ähnliches Gefühl gehabt wie ich gerade.

Und dieses Gefühl war trotz der vielen Kugeln Eis immer noch schrecklich. (Trotzdem danke, Mum!)

»Mum?«, sagte ich, als die Schüssel leer war. »Dad ist Schauspieler, oder?« Mum nickte. »Das heißt, er spielt den Leuten immer irgendwas vor. Meinst du …?«

»Ja, Liebes?«

»Er wollte mich überhaupt mitnehmen, also ich meine, wirklich?«

Mum holte tief Luft und wandte sich einen Augenblick lang ab. Aber dann zuckte sie die Achseln. Sie nahm mich in den Arm und suchte auf der Unterseite des leeren Eisbechers nach dem Recyclingzeichen. Da sie nicht sicher war, ob der Becher recycelt werden konnte, nahmen wir ihn vorsorglich mit nach Hause. Aber als wir dort ankamen, war der Eisbecher das LETZTE, woran Mum dachte.

Auf dem Rückweg fuhren wir an meiner Schule vorbei. Miss Phillips kam gerade heraus und winkte. Ich umklammerte den Türgriff und biss mir auf die Lippe, während mich das kalte Grausen packte. Denn ich hatte nicht nur meiner Klasse von Barcelona erzählt. Alle in der GANZEN SCHULE wussten Bescheid. Isabella aus meiner Klasse hatte mir von Churros erzählt, die man in heiße Schokolade dippt. Ihre Mum unterrichtet montagmorgens Spanisch in den sechsten Klassen, und ich durfte die letzten drei Wochen am Unterricht teilnehmen. Mr Ashe (unser Fußballtrainer) trug mir auf, fünf Dinge zu notieren, die ich von Messi gelernt habe. Für Vi und Daisy sollte ich herausfinden, ob der FC Barcelona eine Mädchenmannschaft hat, und Lance hatte mir Geld für einen Wimpel gegeben. Sogar Veronique war aufgeregt, obwohl sie sich gar nicht für Fußball interessiert.

»Wow«, sagte sie. »Salvador Dalí wird dir gefallen. Und Gaudí natürlich auch.«

»Die spielen aber nicht für Barcelona.«

»Was? Cymbeline …«

»Vielleicht meinst du Real Madrid«, sagte ich.

Wie könnte ich am Montag in die Schule gehen? Die Fragen. Die Aufregung. Wie könnte ich zugeben, dass ich gar nicht dort gewesen war, nachdem ich so ein großes Ding daraus gemacht hatte? Ich hatte nicht nur Sprüche darüber geklopft, dass ich dort in das riesige Fußballstadion gehen würde, sondern auch, dass ich das zusammen mit meinem Vater machen würde. Jetzt würden sie erfahren, dass er nicht aufgetaucht war, und sie würden mich bemitleiden. Eine schreckliche Vorstellung! Seufzend überlegte ich, ob Mum vielleicht eine E-Mail schreiben und alles erklären könnte, sodass nicht ich es tun müsste. Ich wollte sie gerade fragen, als sie gegenüber von unserem Haus in eine Parklücke fuhr. Ich hielt inne.

»Ist Stefan da?«, fragte ich.

Ich meinte Mums Verlobten. Er kam oft zu uns, manchmal auch zusammen mit seinen beiden Töchtern. Aber er war noch nie da gewesen, wenn wir nicht zu Hause waren.

»Nein«, sagte Mum und schaute über die Schulter, während sie den Wagen gerade ausrichtete. »Er kommt später vorbei. Außerdem …«

»Außerdem?«

»Na ja.« Mum seufzte. »Eigentlich wollten wir dich ja damit überraschen, wenn du wieder zurück bist.«

»Überraschen?«

»Ja.« Sie seufzte noch einmal.

»Eigentlich weißt du ja, worum es geht. Ich sage dir schon seit Wochen, was wir an diesem Wochenende vorhaben. Aber du wolltest dich nicht darauf einlassen. Du hattest dauernd keine Zeit oder wolltest später darüber reden. Deshalb dachte ich, dass wir es einfach tun. Aber jetzt, wo du nicht wegfährst … Cym?« Mum runzelte die Stirn. »Hörst du mir zu?«

Nein. Die Wahrheit ist, dass ich nicht zuhörte. Ich schaute an Mum vorbei zu unserem Haus. Da ich auf der Seite des Gehwegs saß, drehte ich mich wortlos um und stieß die Tür auf. Ich ging vorne um den Wagen herum. Nachdem ich mich versichert hatte, dass kein Auto kam, rannte ich über die Straße — zu unserer Haustür.

Die offen stand.

Aber nicht, weil Stefan dort war. Oder weil Mum sie versehentlich offen gelassen hatte.

Sie stand SPERRANGELWEIT offen. Und war schief.

Denn sie hing nur noch in einer Angel wie ein Zahn, der gleich herausfällt. Der Briefkasten war kaputt und der Türrahmen ganz zersplittert. Zwei Fensterscheiben waren eingeschlagen, und das Glas lag in Scherben auf dem Fußboden der Diele.

5

Jessica

Milly starrte mich herausfordernd an, damit ich nachgab und sagte, dass es mir egal wäre. Dass sie es haben konnte. Aber das würde NIEMALS geschehen. Wenn ich euch sage, was ich im Fluss gesehen hatte, werdet ihr es wahrscheinlich nicht glauben, aber Milly und ich sind Schwestern. Und das bedeutet, dass wir dazu BESTIMMT sind, uns um Dinge zu streiten. Und wir sind nicht einmal normale Schwestern. Ihr wisst ja schon, dass Milly größer ist als ich, aber, und das habe ich euch noch nicht erzählt, sie ist tatsächlich auch JÜNGER als ich. Sie ist ein GANZES JAHR jünger, und das bedeutet, dass es sich für mich TOTAL FALSCH anfühlt, ihr gegenüber nachzugeben. Es war also VOLLKOMMEN UNMÖGLICH, dass Milly diesen Teddy bekam.

Ja, ihr habt richtig gelesen.

Genau das hatte ich gefunden: einen kleinen, sehr übel riechenden Teddybären. Eigentlich sind wir beide VIEL zu alt für Teddys — aber ich rannte hinter Milly her, als hätte sie den für mich wertvollsten Gegenstand der Welt in der Hand. Dann versuchte ich, nach dem Bären zu greifen, aber sie hielt ihn fest. Wir kämpften den ganzen Weg zurück am Fluss entlang um ihn. Die Vogelbeobachter fanden das nicht toll, denn wir scheuchten ein paar Enten auf, und Mum ebenfalls nicht. Sie ist Mitglied der »Freunde von Cuckmere Haven« und sagte, wir würden sie blamieren. Benji weigerte sich weiterzugehen, also nahm Mum ihn auf den Arm und bat Dad, die Sache zwischen uns zu regeln. Er versuchte, uns dazu zu bringen, den Teddy in einen Mülleimer zu werfen. Als wir uns weigerten, schlug er vor, dass wir ihn abwechselnd tragen könnten.

»Aber ich habe ihn zuerst gesehen!«, beklagte ich mich. »Sie hat ihn mir weggenommen.«

»Quatsch. Wahrscheinlich hast du eine tote Schnecke oder so gesehen.«

»Milly«, sagte Dad, »du magst doch Teddybären eigentlich gar nicht. Und du hast ihn jetzt lange genug gehabt. Gib ihn deiner Schwester.«

»Nö, alles gucci.«

»Was?«

»Läuft bei mir.«

»Was?«

»Das heißt, dass alles okay ist. In ihrer Klasse benutzen alle diese angeblich coole Sprache. Es ist erbärmlich.«

»Nun, in meiner Sprache sage ich klar und deutlich: Gib. Ihn. Deiner. Schwester.«

»Lohnt sich nicht mehr«, sagte Milly und rannte voraus. »Wir sind gleich beim Auto.«

Dad sagte, DAS ändere ÜBERHAUPT NICHTS. Milly machte ein finsteres Gesicht, streckte die Zunge heraus (so viel zum Thema tote Schnecken) und warf mir den Teddy ins Gesicht. Eines der Augen traf mich an der Stirn, und es tat WEH. Ich hob einen Stein auf, aber Dad packte meinen Arm. Als Mum endlich mit Benji beim Auto ankam, bat Dad sie, Benjis Kindersitz in die Mitte zu schieben.

»Um die beiden Wildkatzen zu trennen«, sagte er. Wobei nicht ich die Wildkatze war, was Milly bewies, sobald wir eingestiegen waren.

Ich hatte den Teddy nur zwei Minuten lang gehabt, aber kaum war Mum losgefahren, beugte sich Milly über Benji und schnappte danach! Dad holte ihn mir wieder zurück, aber dann fing Mum an, über Politik zu reden — und Milly ergriff ihre Chance. Dad war so sehr damit beschäftigt, Sachen zu sagen wie !WAHNSINN!, !IRRSINN! und !KATASTROPHE!, dass er nicht bemerkte, wie Milly sich den Teddy wieder zurückholte. Ich versuchte, es ihm zu sagen, aber er redete die ganze Zeit davon, was er diesen Politikern an den Hals wünschte. Also holte ich mir den Teddy selbst zurück, wobei Millys Handgelenk einen winzigen Kratzer abbekam. Er war nicht der Rede wert, und eigentlich war sie SELBST SCHULD, doch Milly sah das anders. Sie schlug mich auf den Kopf.

Abgesehen davon, dass es WEHTAT, brachte mich das in eine Zwickmühle. Sollte ich sie einfach gewinnen und den Teddy behalten lassen? Das wäre zwar gut für meinen Kopf, aber sie würde denken, sie wäre FÜR IMMER der Chef. Ich überlegte, ob ich zurückschlagen sollte, aber darauf war sie vorbereitet, deshalb trat ich sie mit dem Fuß. Das war natürlich Notwehr und hätte die Sache wirklich beenden sollen. Aber Milly trat zurück — VIEL stärker als ich. Bald waren wir so heftig dabei, dass man unmöglich sagen konnte, welche Beine mir und welche Milly gehörten, aber eines wurde schnell klar: Jemand (wahrscheinlich sie) hatte Benji getroffen, was eigentlich Dads Schuld war, denn er hatte ihn zwischen uns gesetzt. Benji war es allerdings total egal, wer Schuld hatte. Er ging einfach los wie eine Feuersirene, bis sogar er übertönt wurde.

Von Mum.

Die in ihrem Sitz herumwirbelte und …

»Ich bin Krankenschwester!«, brüllte sie, als wir vor unserem Haus anhielten. »Ich arbeite RUND UM DIE UHR und helfe ANDEREN Menschen. Eurem Dad ging es in letzter Zeit nicht besonders gut. Wir wollten einfach nur einen SCHÖNEN KLEINEN AUSFLUG machen. Aber NEIN! DU (sie meinte Milly) interessierst dich doch gar nicht für Stofftiere, und DU (sie meinte mich) hast Unmengen davon! Ihr habt nur einen Grund gesucht, euch zu streiten. Jetzt habt ihr auch noch eurem Bruder wehgetan und DEN GANZEN TAG KOMPLETT VERDORBEN! WIE IMMER.«

»Liebling …«, begann mein Dad, und auch ich wollte sie unterbrechen. Der Teddy war kein Vorwand, um zu streiten. Ich wollte nicht streiten. Aber ich HATTE DEN TEDDY ZUERST GESEHEN! Doch ich hatte keine Chance, das zu sagen, denn Mum stürzte aus dem Auto. Dann riss sie meine Tür auf.

»Raus!«, schrie sie.

Eine Sekunde lang konnten wir uns nicht bewegen. Mum war so außer sich, dass uns ihr Zorn auf unseren Plätzen festnagelte. Normalerweise ist Mum nämlich wirklich geduldig und vernünftig, auch wenn wir es nicht sind. Aber es war, als ob jemand eine Kiste mit Feuerwerkskörpern in ihr angezündet hätte. Hatten wir uns wirklich SO schlecht benommen? Ich wollte sagen, dass dem nicht so war und dass sie TOTAL überreagierte. Aber Mum schrie WIEDER los, sogar noch lauter. Da uns nichts anderes übrig blieb, stiegen wir aus und sahen uns verwundert an, während Mum an der Motorhaube auf uns wartete. Ich dachte, sie würde WIEDER anfangen zu schreien, aber stattdessen marschierte sie mit schwingenden Armen auf unser Haus zu. Wir folgten ihr. Milly stürzte sich gleich wieder auf den Teddy, aber mir gelang es, ihn rechtzeitig an mich zu reißen.

Dann musste ich schlucken. Was hatte Mum vor?

Offensichtlich war irgendwas mit ihr passiert. Normalerweise seufzt sie nur, wenn wir uns zanken, und sagt, dass wir uns wieder vertragen sollen. Dann müssen wir uns in den Arm nehmen, aber Milly in diesem Augenblick zu umarmen wäre ABSOLUT UNMÖGLICH gewesen. Würde Mum uns eine Woche Fernsehverbot erteilen, wie Dad uns manchmal androht, aber dann immer vergisst? Oder müssten wir Buffo sauber machen (unser Kaninchen, das noch schlimmere Toilettenangewohnheiten hat als Benji)?

Oder würde sie uns auf unser Zimmer schicken, damit wir »unsere Differenzen beilegen« könnten, was Milly dadurch erreichen würde, dass sie mir die Finger auf die Handgelenke zurückbog, bis ich ihr den Teddy überließ?

Nein.

Mum ging nicht einmal ins Haus hinein. Stattdessen stampfte sie, immer noch schäumend, am Haus vorbei und riss die Tür zum Schuppen auf, wo die Mülltonnen stehen. Sie zog die schwarze Tonne heraus und klappte den Deckel auf, bevor sie sich wieder zu uns umdrehte.

Ich schluckte. Kaum in der Lage zu glauben, was ich sah, verbarg ich den Teddy hinter meinem Rücken.

Aber es war zu spät.

Mum sah mich wütend an und rüttelte an der Mülltonne.

»Da rein«, zischte sie.

6

Cymbeline

»O nein.«

Ich starrte immer noch durch die Türöffnung und war so perplex, dass ich Mum zuerst gar nicht hörte. Dann drehte ich mich um. Sie war mir über die Straße gefolgt, und ihr erschrockener Blick richtete sich an mir vorbei auf das Chaos. Da war ja nicht NUR die zerstörte Tür. Oder die Scherben auf dem Boden. Auch die Mäntel waren heruntergerissen und die Schuhe umgedreht worden — Gummistiefel, Turnschuhe und Sandalen lagen durcheinander auf einem Haufen wie Müll. Weiter drinnen in der Küche waren die Stühle umgeworfen und alle Schubladen herausgezogen worden. Erst als ich das sah, ging mir SCHLAGARTIG auf, was hier eigentlich los war:

In unser Haus war eingebrochen worden.

Mums Hand landete auf meiner Schulter. Sie ging an mir vorbei und sah sich um, als ob sie in einem Museum wäre. Ich folgte ihr ins Wohnzimmer.

Das vollkommen verwüstet war.

Mums Kunstbücher und -zeitschriften waren aus den Regalen gerissen worden. Das Sofa lag vornübergekippt, und in der Rückenlehne klaffte ein langer Schlitz. Die Schlafsäcke und das Zelt, das wir dahinter aufbewahrt hatten, waren ausgepackt worden. Mein Blick fiel auf das silberne Auto aus dem Monopoly-Spiel, das wir schon ewig suchten.

Dort hatte es sich also versteckt.

DVDs lagen auf dem Boden verstreut wie die Schuppen eines Drachen. Der Fernseher war umgekippt. Mums Nähkasten war geleert worden, und sogar unseren großen Sitzsack hatten sie aufgeschlitzt, sodass die kleinen weißen Kügelchen wie Schnee herausquollen. Mum rang nach Luft, während ich einfach nur wie betäubt glotzen konnte und mein Blick von einer Gräueltat zur nächsten wanderte — bis er gestoppt wurde, als hätte mich jemand plötzlich am Hals gepackt.

Meine Legosteine.

Ich LIEBE Lego. Ich mag es, wie die Teile so genau zusammenpassen und wie sich die glatten Kanten in meiner Hand anfühlen. Ich liebe die Einer und Zweier mit den kleinen Greifern, die man benutzen kann, um Teile von was immer man gerade gebaut hat zu bewegen. Ich baue gerne Häuser oder Schlösser oder Laserkanonen mit Fensterbausteinen als Zielfernrohre. Lego ist teuer, deshalb guckt Mum immer in Secondhandläden oder auf Flohmärkten danach. Manchmal gehen wir früh los und stellen uns an, damit wir als Erste reingelassen werden. Allerdings kauft sie keine Bausätze. Sogar auf Flohmärkten kosten die zu viel, und Mum mag sie sowieso nicht. Wenn ich ausnahmsweise mal einen bekomme, darf ich das Teil zusammenbauen, aber dann wirft sie die Anleitung weg und kippt die einzelnen Teile zu den anderen. Sei kreativ, sagt sie, und das bin ich auch. Ich habe Monster gebaut und U-Boote, Menschen und Panzer und Außerirdische. Und ein Modell vom Valley-Stadion und eines von unserer Schule, das ich mitgenommen und Miss Phillips gezeigt habe. Außerdem habe ich eine Ratte nachgebaut. Sie hieß Kit-Kat und gehörte Veronique. Aber in letzter Zeit habe ich an meinem großartigsten Werk ÜBERHAUPT gearbeitet (zusammen mit Lance). Wir saßen MONATELANG daran, zeichneten zuerst einen Plan und bestimmten dann genau, welche Teile wir brauchen würden. Und wir waren FAST fertig.

Mit dem Todesstern!

Aber wo war er?

Mein Lego befindet sich in einer großen Holzkiste am anderen Ende unseres Wohnzimmers. Normalerweise wenigstens. Jetzt war die Kiste umgedreht, und ein Miniaturschrottplatz vermüllte den Holzfußboden. Ich erkannte Teile eines Lastwagens und ein halbes Lichtschwert. Aber das machte mir nichts aus. Ich konnte sie leicht reparieren. Dann suchte ich den Fußboden nach dem Todesstern ab. Ich hob die Kiste auf und drehte sie um, aber er war nicht da. Hatten die Einbrecher ihn gestohlen? Das dachte ich erst — aber, nein.

Ich schaute direkt darauf.

Der Aussichtsturm des Imperators lehnte an der Fußbodenleiste, die Fokuslinse lag unter dem Heizkörper. Der Todesstern war vollkommen zerstört und in seine Einzelteile zerlegt worden (als ob Luke Skywalker ihn mit Protonentorpedos beschossen hätte).

Ich betrachtete den Trümmerhaufen und spürte, wie etwas Heißes, Rotes prickelnd von meinen Füßen in mir aufstieg. Es veranlasste mich dazu, die Hände zu Fäusten zu ballen, und erst dann merkte ich, was es war.

WUT.

Und nicht nur wegen des Todessterns.

Mum sorgt ganz allein für mich. Sie arbeitet SEHR viel, aber wir haben trotzdem nur wenig Geld. Nicht dass sie sich beklagen würde. AUSSERDEM ist sie ausgesprochen hilfsbereit. Sie sorgt zum Beispiel dafür, dass es dem alten Ehepaar an der Ecke an nichts fehlt, und sie kauft Leuten, die an der Tür klingeln, Spüllappen ab, obwohl sie sich unter unserer Spüle schon STAPELN.

Und jetzt war jemand in UNSER Haus eingedrungen.

Um Dinge zu stehlen, auf die sie GESPART hatte.

Ich war wütender als jemals zuvor in meinem Leben, und das will etwas heißen: Als Charlton in der letzten Saison in den Playoffs war und Jacky Chapman auf dem Weg zum Tor, stand er nicht im Abseits.

NIE.

IM.

LEBEN.

Aber was ich damals fühlte, war nichts verglichen mit meiner jetzigen Wut, obwohl die Wut augenblicklich umschlug, und zwar in Panik.

Denn: WAS hatten die Einbrecher eigentlich GESTOHLEN?

Mum stand am Kaminsims und schaute die Fotos durch, kostbare Erinnerungen an unsere Vergangenheit. Sie schienen noch vollständig da zu sein (puhhh!), und den Fernseher hatte ich schon gesehen (zweimal puhhh!). Aber was war mit Mums iPad? Was mit dem Bluetooth-Lautsprecher, den sie bei Argos gekauft hatte, als die Stereoanlage kaputtgegangen war? Und was war mit meinen Sachen? Meine Legosteine schienen alle noch da zu sein, auch wenn ich den Todesstern wieder würde aufbauen müssen, um sicherzustellen, dass sie nicht doch irgendein Einzelteil geklaut hatten. Das Regalbrett mit den Spielen war leer. Alles war heruntergezogen worden. Der Inhalt der Puzzle-Schachteln breitete sich auf dem Fußboden aus. Die Frösche aus dem Frosch-Hüpfspiel waren ebenso ÜBERALL verteilt wie die Dominosteine mit Tieren, die mir so gefallen haben, als ich klein war. Aber die Schachtel mit meinem Subbuteo-Tischfußball war noch da und auch das Nerf-Gewehr, das ich beim Schulfest gewonnen hatte. Und dann sah ich das Hungrige-Hippos-Spiel.

WAS?!

Waren die Einbrecher KOMPLETTE VOLLIDIOTEN?

Welcher DEPP würde die ganze Mühe eines Einbruchs auf sich nehmen und die Hungrigen Hippos NICHT stehlen? (Obwohl das gelbe Nilpferd nicht mehr richtig funktionierte.) Ich verstand das nicht, aber ich beklagte mich auch nicht, sondern seufzte nur, weil ich das GLÜCK gehabt hatte, dass meine drei Lieblingsspielzeuge nicht geklaut worden waren, aber: Hatte ich TATSÄCHLICH Glück gehabt? Immerhin war ich noch nicht oben gewesen, oder?

Was, wenn sie …?

!NEIN!

Ich hielt inne. Der bloße GEDANKE daran war mir nicht möglich. Ich drehte mich von den Regalen weg in Richtung Wohnzimmertür, weil ich die Treppe hinaufsprinten und direkt in mein Zimmer rennen wollte. Aber dann ertönte ein gewaltiger

!!!!RUMS!!!!

durch das ganze Haus, gefolgt von einem zweiten.

Und beide kamen von oben.

»Cym!«, stieß Mum hervor.

Sie starrte mich mit angstverzerrter Miene an, als ein zweites Geräusch ertönte, aber diesmal kein RUMS, sondern ein

!!!!KRACH!!!!

Mums Blick verließ mein Gesicht, und wir beide schauten hinauf zur Decke.

7

Cymbeline

Dann … dann waren sie immer noch HIER DRIN?

Waren die Einbrecher immer noch da … IN DIESEM AUGENBLICK?!

Ich erstarrte — aber es war mehr als Angst, was ich empfand. Dies war unser ZUHAUSE. Hier LEBTEN Mum und ich. An diesem Ort hatten wir uns immer SICHER gefühlt. In meinem Kopf blitzten auf einmal Bilder von Lance und Veronique auf, die bei uns übernachteten. Ich sah Tante Mill und Onkel Bill, die sonntags zum Mittagessen kamen. Ich sah meine Geburtstagsfeiern, die immer zu Hause stattfanden (zumindest für den Kuchen), und ich sah Mum und mich. Auf dem Sofa, ihre Hand bereit, sich während der gruseligen Szenen in Harry Potter über meine Augen zu legen. Ich sah uns in meinem Bett. Mum las mir vor, bis sie einschlief, sodass ich das Kapitel selbst zu Ende lesen musste. Ich sah uns beim Pfannkuchenbacken. Mum benutzte einen Spatel, um den Teig in die Pfanne zu geben, während ich hoffte, dass sie genug übrig ließ, damit es sich lohnte, die Schüssel auszukratzen.

Unser Haus war nicht perfekt. Das hintere Fenster in der Küche war ein bisschen vergammelt. Im Winter mussten wir überzählige Socken in die Ritzen stopfen, damit der Wind nicht durchpfiff. Der Kühlschrank klang, als würde es in ihm spuken, bis man ihm einen Tritt versetzte, und wenn die Waschmaschine schleuderte, fielen alle Tassen vom Geschirrständer auf den Boden. Manche der Treppenstufen knarrten so sehr, dass ich tatsächlich sagen konnte, auf welcher Mum gerade stand, wenn sie abends kam, um nachzuschauen, ob ich schlief. Aber nichts davon spielte eine Rolle, weil es UNSER HAUS war, nur Mums und meines, und die Leute, die in es eingebrochen waren, waren dort direkt über unseren Köpfen.

IN DIESEM AUGENBLICK.