Freischwimmen - Adam Baron - E-Book

Freischwimmen E-Book

Adam Baron

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Beschreibung

Originell, lustig und tiefgründig schreibt Adam Baron über ein Familiengeheimnis, wahre Freunde und die Überwindung von Angst – für Fans von "Wunder"

Eine herzzerreißende, urkomische Geschichte über die Dinge, die man selbst erfahren muss, weil einem Erwachsene mal wieder nichts sagen. Cym ist noch nie geschwommen – kein einziges Mal. Kein Wunder, dass ihn die Aussicht auf den ersten Schwimmunterricht in der Schule nervös macht. Andererseits – wie schwer kann das schon sein? Cym trägt schließlich die Badeshorts seines Vaters. Leichtherzig lässt er sich zu einem Wettkampf gegen seinen Widersacher hinreißen. Dass Cym dabei fast ertrinkt, hätte niemand erwartet. Dass der Unfall eine Familienkrise auslöst, erst recht nicht. Cym muss einer Wahrheit auf die Spur kommen, die sein Leben völlig auf den Kopf stellt. Doch das Beste ist, dass er dadurch echte Freunde gewinnt.

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Eine herzzerreißende, urkomische Geschichte über die Dinge, die man selbst erfahren muss, weil einem Erwachsene mal wieder nichts sagen. Cym ist noch nie geschwommen – kein einziges Mal. Kein Wunder, dass ihn die Aussicht auf den ersten Schwimmunterricht in der Schule nervös macht. Andererseits – wie schwer kann das schon sein? Cym trägt schließlich die Badeshorts seines Vaters. Leichtherzig lässt er sich zu einem Wettkampf gegen seinen Widersacher hinreißen. Dass Cym dabei fast ertrinkt, hätte niemand erwartet. Dass der Unfall eine Familienkrise auslöst, erst recht nicht. Cym muss einer Wahrheit auf die Spur kommen, die sein Leben völlig auf den Kopf stellt. Doch das Beste ist, dass er dadurch echte Freunde gewinnt.

FREISCHWIMMEN

von Adam Baron

(dem Dad von Franklin, Vi und Frieda – ihr wisst schon: der Fußballtrainer der 4. Klassen)

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann

Carl Hanser Verlag

Dieses Buch ist (fast komplett) Ben und Ollie Robinson gewidmet.

Bis auf einen Satz, der mitten auf der Seite 38 versteckt ist. Der ist ihren Eltern gewidmet.

1

Ihr werdet es nicht glauben.

Ich, Cymbeline Iglu, bin noch nie geschwommen.

Was ihr nicht glauben werdet, ist übrigens das mit dem Schwimmen, nicht, wie ich heiße. Meinen Namen müsst ihr mir schon glauben, so heiße ich wirklich, Cymbeline Iglu, das steht auf meinem Ranzen, in meinem Pullover, im neuen Pass und so weiter. Aber dass ich noch nie geschwommen bin, das werdet ihr nicht glauben, denn mit nie meine ich überhaupt nie. Kein einziges Mal in meinem ganzen Leben. Dabei bin ich schon neun! Ich bin einer der zwei drittbesten Fußballer in meiner Stufe und der Zweitbeste im Rollschuhfahren, gleich nach Elizabeth Fisher, und die trainiert jeden Sonntag im Verein. Ich bin fit und gesund und völlig normal (abgesehen von meinem Namen), aber ich habe noch nie auch nur einen Fuß ins Meer, in einen Fluss oder in einen See gesetzt, ganz zu schweigen von einem echten, stinknormalen Schwimmbecken.

Überhaupt nie.

Bis letzten Montag.

Schuld ist meine Mum. Echt. Die ist einfach nie mit mir irgendwohin gegangen, wo man schwimmen kann. Nicht zum Babyschwimmen, nicht zum Bambinischwimmen und auch nicht später, als ich schon im Kindergarten war oder in die Schule kam. Wenn ich sie gefragt habe, warum nicht, kam sie immer nur mit irgendwelchen Ausreden, eine fauler als die andere: Zum Strand könnten wir nicht wegen ihrer Sandallergie; in Flüssen, behauptet sie, gibt es Krokodile (wir wohnen im Südosten von London); Seen, sagt sie, sind so was wie die Lochs in Schottland, da könne es Ungeheuer geben wie das von Loch Ness, und das sei so gefährlich (haha!), dass es noch kein Mensch GESEHEN hat! (Tut mir leid, Schottland, aber ist doch wahr! Das mit eurem Monster ist totaler Quatsch.) In Schwimmbädern ist Chlor (was ist das?) im Wasser, wovon man Juckreiz kriegt, außerdem findet man da büschelweise Haare von anderen Leuten im Wasser, und zwar nicht nur solche vom Kopf, sondern auch von anderen Stellen. Von all den Argumenten gegen das Schwimmen überzeugt mich dieses letzte noch am meisten, aber gut genug ist es trotzdem nicht. Mum hätte mit mir schwimmen gehen müssen. Letzten Montag wurde das noch einmal eindeutig bewiesen. Da ist nämlich etwas passiert, was ich nur so beschreiben kann: als

TOTALE, KOMPLETTE KATASTROPHE.

»Stellt euch in einer Reihe auf, alle. Ein bisschen dalli, wenn ich bitten darf.«

Das war Miss Phillips. Letzten Montag. Aber bevor ich euch davon erzähle, sollte ich wohl besser erst die Frage beantworten, die vermutlich in euren Köpfen hochgeploppt ist wie Brot im Toaster. Bestimmt denkt ihr jetzt – ich kann’s direkt hören: Wenn seine Mum sich weigert, mit ihm schwimmen zu gehen, wieso geht dann nicht sein Dad mit ihm? Manchmal vergesse ich ganz, dass die meisten Leute zwei Elternteile haben. Was einem normalerweise ja nur an Elternabenden oder bei Schultheateraufführungen auffällt. Da sitzt dann neben einer Mutter ein gelangweilt aussehender Vater, der ständig auf sein Smartphone guckt. Lance, mein bester Freund, mit dem zusammen ich drittbester Fußballer der vierten Klassen bin, hat sogar VIER Eltern. Seine Eltern haben sich getrennt und irgendwann andere Leute geheiratet, die jetzt seine Stief-Mum und sein Stief-Dad sind. Das ist natürlich total unfair, weil er dadurch drei Eltern mehr hat als ich. Mein Dad ist nämlich gestorben, als ich erst ein Jahr alt war. Ich erinnere mich gar nicht an ihn. Mein Dad – das sind für mich Bilder auf dem Kaminsims und der Grund, weswegen meine Mum manchmal in Tränen ausbricht. An Weihnachten. Oder an meinem Geburtstag, dann vor allem. Heul, heul, schluchz, schluchz. Ich meine, sie tut mir echt leid, aber wenn man sich gerade über die neuen Legos freuen will, ist das nicht besonders hilfreich.

Also kein Dad, der mit mir schwimmen geht zum Ausgleich dafür, dass meine Mum das nie gemacht hat.

»Haben wir alle unsere Siebensachen?«

»Sieben Sachen, Miss Phillips?«, fragte Lance.

»Schwimmsachen. Handtuch, Schwimmbrille, Badeanzug.«

»Badeanzug?«

»Badehose, in deinem Fall, Lance. Ein Bikini würde dir vermutlich nicht so gut stehen. Cymbeline, du siehst ein bisschen blass aus, hast du alles?«

»Ja, Miss«, sagte ich, aber meine Stimme klang irgendwie komisch.

»Also gut. Es ist nur ein kurzer Fußweg. Bleibt alle zusammen, bitte!« So machten wir uns auf den Weg zum Schwimmbad.

Das war letzten Montag, aber bevor ich da weitermache, sollte ich lieber noch mal einen Schritt zurück tun, in die Vorwoche. Tut mir wirklich leid, aber mir wird gerade erst klar, dass Geschichtenerzählen ganz schön KOMPLIZIERT ist. Jetzt also wieder zu Miss Phillips und zum Freitag vor dem vergangenen Montag.

»Kinder, ihr werdet untröstlich sein, aber ab sofort fällt Religion montagmorgens aus.«

Als der Jubel sich gelegt hatte, fragte Lance: »Wieso denn?«

»Weil, Lance – nicht immer reinrufen! –, weil wir mit unserem Schwimmkurs anfangen.«

»Wir?«, fragte Danny Jones und klang ziemlich erschrocken.

»Ihr natürlich. Ich gucke euch zu.«

Die Erleichterung darüber, Miss Phillips nicht im Badeanzug sehen zu müssen, war fast mit Händen zu greifen. Die ganze Klasse fing sofort aufgeregt an zu quasseln, und Lance grinste mich an.

»Bin gespannt, ob wir auch zusammen den dritten Platz im Schwimmen machen.«

»Ich …«

»Was ist los, Cym? Du siehst so … Alles okay mit dir?«

»Ja klar. Aber ich glaube nicht, dass wir wieder den dritten Platz schaffen. Nicht im Schwimmen, Lance.«

»Was? Wieso denn? Ich wette, du kannst super schwimmen, Cym.«

»Hm«, machte ich. »Na ja.« Dann – und ich hab keine Ahnung, wieso – sagte ich: »Stimmt, phänomenal gut.«

»Aber nicht so gut wie ich, wetten?«, sagte Billy Lee, und als er sah, dass Miss Phillips gerade wegschaute, boxte er mich schnell in den Magen. So ist Billy. Immer. Ein richtiges Ekel, so eine Art lila Minion, allerdings ohne jede Chance, wieder zu einem gelben zu mutieren. »Ich kann Schmetterling«, fuhr er fort. »Du auch?«

»Ja«, sagte ich. »Logo.«

»Und was noch?«

»Ööh.« Ich dachte scharf nach.

»Na?«

»Motte.«

»Was?«

»Das kann ich auch. Motte. Und … Schmetterling«, sagte ich. Lance brüllte los vor Lachen und schlug mir auf den Rücken. Wieso, weiß ich nicht. Schmetterling? Ich dachte, wir würden schwimmen gehen, nicht in den Park, um mit diesen Netzen herumzuwedeln. Ich ließ mir meine Ahnungslosigkeit aber nicht anmerken. Stattdessen sah ich Billy Lee mitten in sein grinsendes Vollmondgesicht, als er sagte: »Das sehen wir ja dann Montag früh. Du und ich, Iglu. Ein kleines Wettschwimmen.«

»Was?«

»Kraulen.«

»Hattest du nicht gerade was von Schwimmen gesagt?«

»Eben. Kraulen ist ein Schwimmstil, du Penner.«

»Schon klar«, antwortete ich.

Nach der Mittagspause hatte es sich bereits in der ganzen Klasse herumgesprochen: Ich, Cymbeline Iglu (beliebt, freundlich, stets hilfsbereit), würde in einem Wettschwimmen im Schwimmbad von Lewisham gegen Billy Lee (rotzfrech und gemein, einer, der alle schikaniert, wenn man ihn lässt) antreten.

»Wer verliert, ist ein Volltrottel«, verkündete Billy Lee.

So fühlte ich mich auch jetzt schon.

Ich? Wettschwimmen? Wo ich doch noch nie, KEINEINZIGESMAL, in meinem ganzen Leben geschwommen war? Und das gegen einen, der einen Fuß größer war als ich und für jede Sportart, die überhaupt bei uns angeboten wurde, angemeldet war? Was – boingkopfaufpult – hatte – boingkopfaufpult – ich mir – boingkopfaufpult – dabei gedacht? Das fragte ich mich den ganzen Tag. Völlig verzweifelt zermarterte ich mein Gehirn auf der Suche nach einem Ausweg aus der Klemme, bis etwas Unglaubliches geschah. Es war nach Schulschluss, und ich stand auf dem Hof. Stand einfach so rum, als auf einmal …

VERONIQUE

CHANG

DIREKT

AUF

MICH

ZUKAM.

Ihr müsst wissen: Veronique geht sonst nie auf jemanden zu. Nicht einmal auf Miss Phillips, deren Grammatik- oder Rechtschreibfehler sie oft verbessert. Miss Phillips bedankt sich dann zwar jedes Mal, aber so ganz überzeugend kommt sie mir dabei nicht vor. Veronique gehört zu diesen seltenen Genies, die keinen an sich ranlassen. Sie kann Wörter buchstabieren wie »specktakuleer« und »Ritmuss«. Ihre Mutter kommt aus Frankreich, weswegen Veronique auch Französisch spricht, und ihr Vater ist Chinese, weswegen Veronique auch … Wie heißt das noch? – Satsuma spricht. Oder war das Clementin? Egal. Im Klavierkurs ist sie volle fünf Stufen über mir (Stufe fünf). Und sie ist … Jetzt guckt gerade keiner, stimmt’s? Dann kann ich’s ja sagen. Sie ist …

… TOTALHÜBSCH. Sie hat lange schwarze Haare, die so glänzen, dass man sich fast darin spiegeln kann, und immer ist so ein Duft um sie herum, als würde neben ihr jemand Fruchtdrops lutschen.

Ich war so verwirrt, als Veronique einfach so auf mich zukam, dass ich völlig vergaß, wo ich mich da hineingeritten hatte – in die größte Blamage meines Lebens. Jedenfalls so lange, bis Veronique den Mund aufmachte und mir die Knie weich wurden wie schlaffe Pfannkuchen.

»Cymbeline, ich hoffe, du gewinnst.«

»Verzeihung?«

»Am Montag. Gegen Billy. Der ist so ein Idiot. Er wohnt bei uns in der Nähe. Ich hoffe, du schlägst ihn vernichtend«, sagte sie. Dabei lächelte sie mich an.

Als ich nicht antwortete, guckte sie leicht verwirrt und ging wieder. Gleich darauf kam meine Mutter und fing sofort an, mir durchs Haar zu wuscheln.

»Hattest du einen schönen Tag, Champ?«

»Ja, Mum«, antwortete ich. »Ich hab den ganzen Tag darüber nachgedacht, dass du zweifellos die beste Mutter auf der ganzen Welt bist.«

»Ach …«

»GELOGEN!«

»Cymbeline? Cym? Gibt’s ein Problem?«

»Jedenfalls keins, bei dem DU mir helfen könntest!«, sagte ich und stapfte zum Tor, wo Billy Lee mit einem fetten Grinsen im Gesicht wartete.

»Wir sehen uns Montag!«, rief er mir zu.

2

Ich schlage in unserem Wörterbuch nach:

kraulen: a) streicheln, liebkosen.

Hä? Beim Schwimmen?

Halt, da kommt noch was: b) ein Schwimmstil.

Ich gehe ins Internet, gebe kraulen ein und schaue mir Bilder an. Sieht machbar aus. Auf der Seite schwimmgut.org steht, man legt sich mit dem Gesicht aufs Wasser und bewegt die Arme wie Windmühlenflügel. Zum Atmen legt man den Kopf abwechselnd nach links oder rechts. Na gut. Kann ja wohl nicht so schwer sein.

Ich fahre den PC runter.

»Mum!«, rufe ich aus dem Wohnzimmer.

»Ja, Cym?«

»Ich muss baden!«

Eine Teetasse knallt auf den Küchenboden und zerbricht, dann steht meine Mutter vor mir.

»Cym? Ist alles in Ordnung? Fühlst du dich nicht gut?«

»Doch, wieso?«

»Ich meine nur – du willst in die Badewanne – freiwillig?«

»Ähm, ja – ich dachte mir, sauber sein ist doch wichtig.«

»Natürlich. Schön, dass du das endlich einsiehst. Aber reicht duschen nicht auch?«

»Heute nicht.«

Ich ging also nach oben, ließ mir ein Bad einlaufen und legte los. Kopf nach unten, Po hochgereckt. Allerdings wäre es wohl schlauer gewesen, keinen Badeschaum zu benutzen, denn es dauerte nicht lange, und ich rieb mir die Augen und spuckte jede Menge Schaum aus. Das Problem war, dass die Wanne weder lang genug noch tief genug war. Und breit genug auch nicht. Wenn ich versuchte, die Arme wie Windmühlenflügel zu bewegen, schlug ich jedes Mal seitlich an, und mit dem Kopf knallte ich ans vordere Wannenende. Auf schwimmgut.org hatte ich etwas von Kehrtwenden gelesen, die man machen soll, wenn man am Beckenende angekommen ist. Aber bei dem Versuch habe ich mit dem einen großen Zeh den Stöpsel rausgezogen, und die Flasche mit dem Schaumbad flog in hohem Bogen raus.

»Sag mal, spinnst du?«, brüllte meine Mutter, als sie ins Bad stürmte. Inzwischen war mehr Wasser neben der Wanne als darin.

»Wenigstens bin ich jetzt sauber«, sagte ich. Mum schüttelte bloß den Kopf und griff nach der Shampooflasche.

»Augen zu!«, sagte sie.

Ich drehte mich um und ließ mir ohne (größeres) Gemecker die Haare waschen. Als sie fertig war, fragte ich, was wir am Wochenende machen würden.

»Was würdest du denn gerne machen?«

»Könnten wir vielleicht …?«

»Ja, Cym?«

»Schwimmen gehen?«

Mum war erst einmal ganz still. Dann sagte sie: »Mal sehen. Vielleicht. Andererseits hatte ich mir überlegt, morgen Nachmittag mit dir ins Stadion zu gehen, zum Spiel von Charlton. Als verfrühtes Geburtstagsgeschenk.«

»Im Ernst?« Charlton ist unser örtlicher Fußballklub, und irgendwann spiele ich auch bei denen. Als Kapitän, so wie Jacky Chapman heute. Allerdings werde ich mir die Position mit Lance teilen müssen, klar, denn wir sind absolut gleich gut. Danny Jones (Zweitbester) und Billy Lee (Bester – grrr!) werden später mal für Chelsea spielen, in der Premier League, um die muss ich mir also keine Sorgen machen. Ins Stadion zu gehen wäre natürlich supertoll, insbesondere, da es ein VERFRÜHTES Geburtstagsgeschenk sein sollte. Denn das hieß, dass ich meinen anderen großen Wunsch (mehr dazu später) trotzdem bekommen würde. ZUSÄTZLICH.

Ich dachte über meinen Geburtstag nach. Bis dahin war es noch eine volle Woche. Fast kam es mir vor wie Folter. Je näher der Tag rückt, desto mehr kommt es einem so vor, als käme er nie – schon komisch, oder?

»Danke, Mum! Hast du schon Karten?«

»Noch nicht. Es ist mir eben erst eingefallen. Aber ich geh gleich mal online. Die sind nie ausverkauft.«

»Klasse. Und was ist mit Sonntagnachmittag?«

»Was soll da sein?«

»Schwimmen.«

»Haben die sonntags überhaupt geöffnet? Ich glaube nicht.«

»Oh. Dann könnten wir Charlton vielleicht auf nächstes Wochenende verschieben …«

Doch Mum hörte gar nicht zu. Sie holte mich aus der Wanne, warf mir ein Handtuch über den Kopf und lief schnell nach unten. Als ich dort ankam, sah sie lächelnd vom Rechner auf.

»Hab sie!«, sagte sie. »Tribüne West, oben, deine Lieblingsplätze.«

»Danke, Mum«, sagte ich.

Nach dem Abendessen durfte ich noch aufbleiben. Wir kuschelten uns zusammen aufs Sofa und schauten den ersten Teil von Harry Potter. Mir gefällt Harry Potter gut, so wie allen anderen, aber an etwas scheint kein Mensch zu denken. Alle faseln darüber, dass sie auch gerne einen Firebolt hätten oder apparieren könnten, aber erwähnt je jemand, dass Harry keine Eltern hat? Die sind nämlich beide tot. Ich denke nicht oft an meinen Dad, aber manchmal kommt es mir so vor, als würde er an mich denken, irgendwie. Mich daran erinnern, dass er tot ist. Das passiert, wenn ich Bücher lese wie eben Harry Potter. Dann wünsche ich mir nicht, dass ich einen superschnellen Besen hätte oder mich wie ein Zauberer bewegen könnte. Das Einzige, was ich mir wünsche, sind solche Fotos, wie Harry sie hat. Bewegte Fotos. Dann würde der Mann auf dem Kaminsims mir vielleicht etwas mehr bedeuten. Es würde sich vielleicht mehr so anfühlen, als wäre er mein Dad, nicht einfach irgendein Typ im karierten Hemd, der den Arm um eine Frau legt, die so aussieht, als wäre sie eine jüngere Schwester meiner Mutter.

Und noch etwas: Harry Potter weiß, was mit seinem Dad passiert ist. Egal wen ich nach meinem Dad frage, immer heißt es, das hätte Zeit bis später, darüber müsste ich mir jetzt noch keine Gedanken machen. Als wäre irgendetwas an seinem Tod nicht ganz normal. Lance hat mich einmal nach ihm gefragt, und weil es mir peinlich war zuzugeben, dass ich keine Ahnung hatte, sagte ich, er sei krank gewesen.

»Und damals gab’s bestimmt noch kein Paracetamol, oder?«, sagte Lance.

Als der Film zu Ende war, dachte ich, Mum würde mich gleich ins Bett schicken. Ich wollte schon aufstehen, doch sie sah mich nur lächelnd an und fragte, ob ich den zweiten Teil auch noch sehen wollte. Ich hab nicht gefragt, seit wann wir plötzlich zwei Filme hintereinander anschauen, sondern hab bloß genickt. Wir haben dann tatsächlich auch die zweite Folge bis zu Ende gesehen, dabei konnte ich kaum noch die Augen aufhalten.

Als der Film fertig war, hat sie mich nach oben getragen. Die Uhr im Hausflur zeigte halb zwölf. So lange war ich überhaupt erst ein Mal aufgeblieben; das war letztes Jahr, beim runden Geburtstag von Onkel Bill und Tante Mill.

Jedenfalls war es schon halb zehn, als ich am nächsten Morgen wach wurde, und bis Mum Pfannkuchen gemacht und wir gefrühstückt hatten, war es fast Mittag.

»Was ist jetzt mit dem Schwimmbad, Mum?«, fragte ich, als ich pappsatt war.

Sie sah zur Uhr hoch und seufzte. »Tut mir leid, Schätzchen, aber ich glaube nicht, dass wir das noch schaffen, wenn wir pünktlich zum Anpfiff im Stadion sein wollen. Was meinst du?

Ich antwortete erst gar nicht. Es war sowieso witzlos. Sie wollte einfach nicht. Ich merkte schon, wie ich sauer wurde, doch dann schaute ich auf und sah ihren Blick. Sie hatte Tränen in den Augen. Sie schluckte heftig, dann rückte sie näher und legte ihre weichen Arme um mich.

»Ich hab dich lieb«, sagte sie, und ich glaubte ihr, so sehr, dass mir das mit dem Schwimmen egal war. Wenigstens in dem Moment. Am Montag sah das dann anders aus, das könnt ihr mir glauben. Aber erst einmal konnte ich mich aufs Stadion freuen. »Vorwärts, ihr Fischköppe!« Es war dann auch richtig toll, weswegen ich wusste, dass mein richtiger Geburtstagsausflug sensationell werden würde. Wir aßen Pommes, und Mum spendierte mir ein Würstchen im Schlafrock. Ich habe drei Schimpfwörter gehört, von denen mir eins völlig neu war. Trotzdem war mir sofort klar, dass es ein Schimpfwort war. Es stand eins zu eins gegen Rotherham, als Jacky Chapman in der letzten Minute mit einem Kopfball der entscheidende Treffer gelang. JA! Das wäre ich gewesen, nicht Lance. Lance ist gut im Flanken, aber vor Kopfbällen kneift er. Im letzten Moment, wenn der Ball schon wieder am Boden ist, dann tut er so, als hätte er einen Kopfball geplant. Kann schon sein, dass ich ein kleines bisschen besser bin als er.

»Und? Was steht im neuen Trimester so an in der Schule?«, fragte Mum am Sonntagabend. Wir waren den ganzen Tag über in der Stadt gewesen. Mum gibt in der Nationalgalerie Kurse für Kinder. Sie ist Künstlerin, und diese Kurse sind einer ihrer verschiedenen Jobs. Sie erzählt den Kindern etwas über irgendein Bild in der Galerie, dann geht sie mit ihnen in einen anderen Raum, wo die Kleinen irgendetwas machen können, was mit dem Bild zu tun hat. Ich hab nichts dagegen mitzugehen. Ich mache gern solche Sachen, Zeichnen und so, aber am meisten gefällt es mir, Mum zuzuschauen, wie sie spricht. Oder die Leute zu beobachten, die ihr zuhören. Zum Beispiel diesen Mann, der nicht zum ersten Mal da war. Genau genommen kommt er schon seit fünf Wochen jeden Sonntag mit seinen zwei kleinen Töchtern. Anschließend hat er sich jedes Mal lange mit Mum über die Bilder unterhalten und sich am Ende begeistert bei ihr bedankt. Eines der kleinen Mädchen klammerte sich an mein Hosenbein und wollte gar nicht loslassen. Ich tat so, als nervte sie, aber eigentlich war sie ganz niedlich.

»Schule? Ganz okay.«

»Aber was steht auf dem Plan?«, wollte Mum wissen. »Ich hab den Elternabend verpasst, weil ich arbeiten musste, und die Rundmail mit den Infos ist noch nicht gekommen.«

»Die Römer«, sagte ich. »Und noch was. Reproduktion heißt das. Miss Phillips sagte, es muss uns nicht peinlich sein, aber dann ist sie selbst rot geworden, als sie davon sprach. Deshalb glaube ich, es wird trotzdem peinlich.«

»Na ja. Sonst was Neues?«

Kinder, ihr werdet untröstlich sein, aber von nun an fällt Religion montagmorgens aus.

»Nichts Besonderes.«

3

»Cymbeline. William. IGLU. Dir fehlt NICHTS. Absolut GAR nichts. Aufstehen! JETZT!«

»Aber ich bin krank!

»Bist du nicht. Du hast kein Fieber, und dein Hals sieht völlig normal aus.«

»Aber er tut soooo weeeeh. Er …«

»Cymbeline, das haben wir doch längst geklärt. Zu Hause bleiben kannst du nur, wenn du richtig krank bist. Ich habe heute wieder die Kunstchaoten, und wenn ich sie ausfallen lassen muss, um mich um dich zu kümmern, gibt’s auch kein Geld. Ganz einfach.«

Die Kunstchaoten, das ist eine Veranstaltung für sehr kleine Kinder in den Räumen einer Kirchengemeinde, immer montagmorgens. In den Ferien muss ich mit, und ich kann nur sagen: Mum ist eine komplette Niete, wenn es darum geht, passende Namen für ihre Kurse zu finden. Die Kunstchaoten müssten so heißen: »Gemeinsames Ausrasten von chaotischen Mini-Irren.« Aber als sie das Treffen jetzt erwähnte, seufzte ich. Ich weiß ja, wie hart Mum arbeitet und dass wir jeden Penny brauchen. Zu Monatsbeginn schreibt sie lange Zahlenreihen auf Zettelchen. Irgendwann habe ich mal so einen gefunden und mir angeguckt. Im Rechnen bin ich ganz gut, und so habe ich schnell kapiert, dass, wenn alles addiert ist, also Geld für Essen, Gas, Strom und irgendwelche Gebühren, dazu das, was sie für Schulschuhe und ein paar andere Dinge, die nicht sehr spannend klingen, beiseitelegt – dann bleiben Mum noch genau neun Pfund und dreiundvierzig Pence. Auf der ganzen Liste gab es nichts, was Mum vielleicht selbst gern gehabt hätte.

»Raus jetzt!«, rief sie, und mit einem tiefen Seufzer stand ich auf.

Als Erstes fiel mir der stechende Geruch auf. Dazu die Geräusche. Im selben Moment, als Miss Phillips die Tür des Freizeitzentrums aufstieß, hörte ich sie auch schon: laut, hallend, irgendwie unwirklich. Lachen, Rufe, Telefonklingeln, Wasser, das aus Schläuchen rauschte. Außer mir schien dieser Lärm niemandem aufzufallen. Komisch. Ich starrte hinauf zu der hohen Decke und in das grelle Licht und kam mir vor wie am Eingang zu einem gewaltigen Traum. Hinter RIESIGEN Glasscheiben bewegten sich irgendwelche Gestalten. Und dann erblickte ich es zum ersten Mal: das Schwimmbecken. Das Herz rutschte mir in die Hose. Schweißtropfen traten mir auf die Stirn. Ich blieb wie angewurzelt stehen, sodass jemand von hinten gegen mich prallte und ich umfiel. Als ich wieder auf den Füßen stand, konnte ich nicht aufhören, immer weiter durch die Glasscheibe auf dieses Blau zu starren, das sich scheinbar endlos vor mir erstreckte. Meine Augen wurden groß wie Frisbee-Scheiben, und ich wusste: Das schaffe ich nicht. Niemals. Ausgeschlossen. Ich musste zu Miss Phillips gehen und ihr alles gestehen. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich in der Lage war, auch nur einen Schritt vorwärts zu machen. Bis ich sah, wer mich da umgerannt hatte.

»Tut mir leid, Cymbeline«, sagte Veronique und strich sich das Haar hinter die Ohren, während sie sich zu mir vorbeugte. Sie lächelte wieder, und auch ich musste lächeln, weil mir nämlich auffiel, dass ihr Atem nach Weetabix roch. Genau das esse ich auch immer zum Frühstück! Wir waren wie füreinander geschaffen. Sie wünschte mir Glück, ich murmelte einen Dank, und dann ging ich hinter den anderen her zu den Drehkreuzen.

»Die Jungs nach links«, zwitscherte Miss Phillips, »die Mädchen hierher. Jungs, ihr macht jetzt keinen Blödsinn!«

Ihr seht mich jetzt vor euch, wie ich zu den Umkleiden gehe, und ich weiß, was ihr denkt. Schlau, wie ihr seid (und das seid ihr, sonst hättet ihr dieses Buch nicht ausgesucht!), ist euch längst klar, dass meine Mum, die nie mit mir schwimmen geht, mir garantiert keine Badehose gekauft hatte. Allein schon aus dem Grund, dass wir es, anders als Billy Lees Familie, nicht gerade »besonders dicke« hatten. Am Freitag hatte Miss Phillips uns angedroht, wer am Montag ohne Badehose käme, müsse eins der Reserveexemplare der Schule anziehen. Bei dem Teil, das sie dann hochhielt, brüllten alle los vor Lachen: Es war ein uralter Badeanzug, passend für Jungs wie für Mädchen, wie Miss Phillips erklärte. So etwas würde ich auf gar keinen Fall anziehen. Aber was sollte ich tun?

Die Idee hatte ich schon am Samstag, aber in die Tat umsetzen konnte ich sie erst am Sonntagabend. Sonntags geht Mum nämlich immer richtig früh schlafen, kaum später als ich. Nach ihrem Gutenachtkuss lag ich wach im Bett, während sie unten noch kurz ferngesehen und dann ein bisschen Musik gehört hat. Alte Schallplatten mit langsamen Songs, die sie STÄNDIG hört. Dann war es eine ganze Weile still, bis ihr Telefon läutete und ich sie mit jemandem sprechen hörte. Anschließend schloss sie beide Haustüren ab, vorne und hinten, und ging ins Bad. Als sie dann in ihr Schlafzimmer ging, habe ich gewartet und gelauscht. Was ich euch jetzt von meiner Mum erzähle, solltet ihr bitte nicht weitersagen: Sie schnarcht. Gleich bei den ersten Schnarchern bin ich aufgestanden, zur Tür raus und auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und zur Abstellkammer.

Diese Abstellkammer ist ein kleines Kabuff neben dem Bad. Ich geh da nicht oft rein. Nicht, dass es mir verboten wäre, ich tu’s nur einfach nicht. Da gibt es nichts, was mich interessiert, bloß langweiliges Zeug, das Mum aufbewahrt. Einen Tennisschläger, den sie nie benutzt. Ein paar alte Weinflaschen, aber Mum trinkt nie Alkohol. Ein paar Hanteln. Müllsäcke mit Kleidung. Onkel Bill hat mir einmal eine Carrerabahn geschenkt, die er bei eBay gefunden hat, und es ist total nervig, sie immer auf- und abzubauen. Die Abstellkammer wäre perfekt dafür, aber jedes Mal, wenn ich Mum frage, wieso sie den ganzen Krempel nicht einfach wegschmeißt, lächelt sie nur und wuschelt mir durchs Haar. Sie antwortet nicht, aber ich weiß, wieso sie das alles aufhebt:

Die Sachen gehörten meinem Dad.

Schnarch, schnarch, schnarch, pfeif. Schnarch. SCHNARCH. Ich warf noch einen letzten Blick zurück zu Mums Schlafzimmer, dann drehte ich den Knauf der Kabufftür. Nach nur fünf Minuten hatte ich die Badehose gefunden. Sie war gleich im zweiten Sack, den ich öffnete. Im ersten waren Babysachen, was irgendwie seltsam war, weil Mum sonst alles, aus dem ich rausgewachsen bin, auf eBay verkauft. Sogar eine Schwimmbrille lag dabei. Ich steckte beides zusammen mit einem Handtuch unten in meinen Rucksack und ging schlafen.

»Also gut, Jungs«, sagte Miss Phillips, als sie den Kopf zur Tür der Umkleide hereinstreckte. »Auf geht’s.«

»Ja, Miss«, sagten wir alle, das heißt, alle außer Marcus Breen. Der musste natürlich erst mal seinen Pimmel zwischen die Beine klemmen und Miss Phillips sagen, er sei anscheinend im falschen Umkleideraum.

Habt ihr auch so einen Marcus Breen in eurer Klasse?

Im Gänsemarsch verließen wir die Umkleide, und unsere Schritte wurden lauter, sobald wir auf diese rauen weißen Fliesen kamen. Wir sahen einen alten Mann unter der Dusche, der am ganzen Körper schwarze und weiße Haare hatte. Wie ein Dachs mit dem Kopf eines Menschen sah er aus. Außerdem sahen wir eine Gruppe dicker Frauen auf dem Weg zum Becken, die mich irgendwie an die Nilpferde erinnerten, die ich neulich auf Discovery Channel gesehen hatte. Am Beckenrand blieben wir stehen, und Miss Phillips redete mit einem jungen Mann in Shorts und rotem Polohemd. Sein Kinn sah aus wie ein Satz Spielkarten. Während der Unterhaltung nickte er die ganze Zeit und guckte auf uns runter. Dann fing er selbst an zu sprechen. Er erzählte uns, wie wichtig es sei, schwimmen zu können, und welche Sicherheitsregeln es gibt. Wir müssten immer auf seine Trillerpfeife achten und alles tun, was er sagt. Er redete und redete, und ich schaute aufs Becken. Der Geruch war jetzt noch stärker und stach mir in die Nase. Der Teil vom Becken, der für uns reserviert war, reichte vom tiefen Ende, wo wir standen, bis zum flachen Ende. Der übrige Teil des Beckens war mit breiten Plastikseilen abgetrennt. Dahinter hüpften die dicken Frauen zu Musik auf und ab. Super!, dachte ich, für heute ist das wohl alles, es wird nur geredet. Doch dann sagte der Mann: »Also, wer von euch hatte noch nie richtigen Schwimmunterricht?«

Ich fixierte ihn und holte tief, tief Luft. Das war meine Chance. Ich musste nur die Hand heben und es zugeben. Ich war ja noch nie schwimmen. Billy Lee könnte ich sagen, ich hätte ihn am Freitag bloß verschaukelt. Zusammen mit all den anderen Anfängern würde ich endlich schwimmen lernen. Ich war mir ziemlich sicher, ich würde ein ganz guter Schwimmer werden, wenn mir nur mal jemand zeigte, wie es ging. Vielleicht habe ich es ja noch nicht erwähnt, aber ich bin einer der beiden drittbesten Fußballer des vierten Jahrgangs. Nur ein paar Wochen, dann könnte ich es mit jedem aufnehmen, sogar mit Billy Lee.