Atlan 40: Die Doppelgänger (Blauband) - Hans Kneifel - E-Book

Atlan 40: Die Doppelgänger (Blauband) E-Book

Hans Kneifel

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Beschreibung

8000 Jahre vor Beginn der irdischen Zeitrechnung: Atlan von Gonozal, Kristallprinz und offizieller Thronfolger des riesigen Arkon-Imperiums, wurde seines Thrones beraubt. Seit der Ermordung seines Vaters regiert Imperator Orbanaschol III. über Tausende von Sonnensystemen. Orbanaschol sieht sich mehr denn je vom rechtmäßigen Thronfolger bedroht und will ihn deshalb beseitigen. Er beauftragt den Magnortöter Klinsanthor - verweigert ihm aber den Lohn. Das gefährliche Wesen, von dem nur noch uralte Legenden und Mythen berichten, schlägt sich daraufhin auf Atlans Seite und hilft dem Arkoniden. Der Kristallprinz und seine Freunde entgehen zwar der Falle der Akonen, werden aber als Gefangene zum arkonidischen Stützpunktplaneten Travnor gebracht. Hilfe erhoffen sie sich von dem abgesetzten Schlachtschiffkommandanten Mexon, der von einer unbekannten Machtgruppe durch einen perfekten Doppelgänger ersetzt wurde. Mexon versucht auf Travnor mit der Unterstützung des geheimnisvollen Mietbruders Kopral, Licht in die Verschwörung gegen das Großen Imperium zu bringen. Atlan und sein Pflegevater Fartuloon werden unterdessen zur autarken Verteidigungs-Raumstation des Ersten Wechton gebracht und erfahren die Duplizierung am eigenen Leib - sie werden mit ihren Doppelgängern konfrontiert ... Enthaltene ATLAN-Heftromane Heft 255: "Der Mietbruder" von Hans Kneifel Heft 256: "Im Chaos der Kashba" von Hans Kneifel Heft 257: "Die Stunde der Doppelgänger" von Kurt Mahr Heft 258: "Im Dschungel von Kalamdayon" von Peter Terrid Heft 259: "Die strahlenden Kristalle" von Peter Terrid

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Nr. 40

Die Doppelgänger

Prolog

1251. positronische Notierung (Fortsetzung), eingespeist im Rafferkodeschlüssel der wahren Imperatoren. Die vor dem Zugriff Unbefugter schützende Hochenergie-Explosivlöschung ist aktiviert. Fartuloon, Pflegevater und Vertrauter des rechtmäßigen Gos’athor des Tai Ark’Tussan. Notiert am 31. Prago der Coroma, im Jahre 10.499 da Ark.

Bericht des Wissenden. Es wird kundgegeben: … stecken wir schon wieder im tiefsten Schlamassel, diesmal in einer Zelle auf der Stützpunktwelt Travnor. Die Begegnung mit dem echten Vere’athor Mexon hat bewiesen, dass wir hier, sei es aus Zufall, sei es, weil der Magnortöter, die sonderbare Kristallschloss-Intelligenz, der entrückte Akon-Akon oder wer auch immer beziehungsweise alle gemeinsam einer Sache auf der Spur sind, die deutlich mehr bedeutet, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, dessen bin ich mir sehr sicher.

Doppelgänger!

Ich wage nicht daran zu denken, was es bedeuten würde, liefe plötzlich ein solcher von Atlan oder, vielleicht noch schlimmer, von Orbanaschol durch die Gegend. Mexon vermutete aus verständlichen Gründen, es handele sich bei seinem Doppelgänger entweder um eine passende verkleidete Robotkopie oder um einen entsprechend hergerichteten Arkoniden. Ich für meinen Teil kenne noch ganz andere Möglichkeiten – und genau diese lassen mich innerlich zittern. Sollte es sich wirklich um das handeln, was ich insgeheim befürchte und von dem ich hoffe, dass es nicht der Fall ist, hätten wir es mit einer Gefahr zu tun, die an den Grundfesten des Großen Imperiums rüttelt!

Vorläufig fehlen allerdings weitergehende Informationen, so dass sich voreilige Spekulationen verbieten.

Seit drei Tontas befinden wir uns in dem mittelgroßen, grauen Gebäude am Rand des Raumhafens von Travnor, dem dritten von fünfzehn Planeten der gelben Sonne Perlitton. Mehr als eine Gefängniszelle ist dieser Raum nicht; Leuchtplatte an der Decke, keine Fenster, nur ein vergitterter Anschluss einer Klimaanlage, verschlossene Stahltür zum breiten Korridor, durch den wir hereingeführt wurden. Karmina da Arthamin, Atlan, Ra und Vorry führen unverfängliche Gespräche, da wir davon ausgehen müssen, abgehört zu werden. Wir bleiben bei unserer Legende der havarierten Kaufleute; Atlan spielt die Rolle des Ersten Offiziers Karsitch der VRANTUR. Mit etwas Glück können wir die hiesigen Verantwortlichen vielleicht von unserer Geschichte überzeugen, wenngleich in mir die Skepsis überwiegt. Die Unterhaltung der anderen gibt mir Gelegenheit, diesen Bericht zu speichern.

Der Flug der SKONTAN nach Travnor scheint alles andere als Zufall gewesen zu sein. Wir müssen also damit rechnen, dass es auf Travnor Leute bis in höchste Kreise gibt, die in die »Meuterei« involviert sind. Sollte das allerdings der Fall sein, gewinnt die Angelegenheit gleich noch mehr Gewicht. Das Perlitton-System gehört mit einer ganzen Reihe weiterer Stützpunktsysteme zum Sicherungssektor des etwas mehr als viertausend Lichtjahre von Travnor entfernten Hauptstützpunkts Trantagossa, einem der insgesamt drei im Bereich der Hauptebene der Öden Insel, der vor einem Arkonjahr am 2. Prago der Prikur 10.498 da Ark beim Großangriff der Methans massiv getroffen wurde. Noch immer sitzt der Schock tief. Der junge Chergost dom Ortizal, der seine geliebte Crysalgira nie wieder gesehen hat und seinerzeit von Orbanaschol als Kommandeur Trantagossas neu eingesetzt wurde, ist inzwischen Keon’athor. Die Verluste seiner 5. Imperiumsflotte wurden mit einer beispiellosen Kraftanstrengung weitgehend ausgeglichen, dennoch wird Trantagossa noch eine ganze Weile ein Schwachpunkt im Verteidigungssystem des Großen Imperiums bleiben.

Umso wichtiger sind die übrigen Stützpunkte ringsum. Kommt es hier zu einer wie auch immer gearteten Schwächung, werden das die Maahks gnadenlos ausnutzen. Der somit naheliegende Schluss, die Methans könnten etwas mit den Doppelgängern zu haben, greift vermutlich aber zu kurz, würde es doch Mittel und Möglichkeiten voraussetzen, die sie längst auf andere Weise eingesetzt hätten – zumal es ja noch nicht sicher ist, ob die Leute von Travnor überhaupt involviert sind.

Hiesiger Kommandeur im Rang eines Zweisonnenträgers ist seit knapp zehn Arkonjahren Quonson da Zorghan. Er verbindet das fürstliche Hauptlehen eines Agh-Fürsten Dritter Klasse mit dem Kur-Status eines Sektorenbeauftragten; da der militärische Rang eines Len-She’ianta hinzukam, wird der Titel traditionsgemäß zu dem eines Sonnenkur zusammengezogen. Shekur Agh’tiga Quonson da Zorghan gebietet über mehrere Dutzend, vor allem industriell genutzte Sonnensysteme rings um das Perlitton-System, als Sektorflotte stehen ihm 360 Raumschiffe zur Verfügung, darunter 24 Schlachtschiffe. Hinzu kommen die beiden Wechton-Plattformen im Orbit von Travnor – autarke Verteidigungs-Raumstationen mit der Fähigkeit, entstehende Schäden robotisch aus eigener Kraft zu beheben.

Agh’Zorghan hat sich bislang aus der Politik herausgehalten; ein begeisterter Anhänger Orbanaschols ist er keineswegs, aber leider auch kein ausgesprochener Gegner des Dicken. Mit rund hundert Arkonjahren Alter hat er noch Gonozals Herrschaft erlebt. In erster Linie handelt und denkt der Shekur als Militär und erfüllt seine Aufgabe vor Ort, wenngleich ihm einige Exzentrik nachgesagt wird und er es sich im Rahmen seiner Möglichkeiten durchaus gut gehen lässt. Würde jemand den Agh’Zorghan durch einen Doppelgänger ersetzt, ließe sich …

Ah, es tut sich was – offenbar werden wir abgeholt …

Travnor: 31. Prago der Coroma 10.499 da Ark

Mit unbeteiligter, scharfer Befehlsstimme sagte der Raumsoldat: »Aussteigen! Geradeaus!«

Vier Männer in leichten Kampfanzügen sprangen aus dem Gleiter. Vier andere warteten bereits am Anfang der Rampe, die in leichter Schräge ins Basement des Gebäudes führte. Ich warf, ehe wir vorwärts geschoben wurden, einen Blick nach beiden Seiten. Die gelbe Sonne sank dem Horizont entgegen und ließ bereits lange Schatten entstehen. Vom bisherigen Gefängnis waren wir nach Süden geflogen, vorbei an Fertigungshallen und Industrieanlagen. Auch mit Erreichen der eigentlichen Stadt – Krone von Tecknoth hieß sie – hatte sich wenig geändert: Die Straßen waren breit, die Gebäude nüchtern und zweckmäßig. Ich sah glatte Fronten aus Metall, Glas und Kunststoff. In diesem Teil der Stadt gab keine für Arkoniden charakteristischen Trichterbauten.

»Schneller«, knurrte der Anführer des Trupps, ein großgewachsener Mann mit einem dunkel gefärbten Nackenzopf.

Großzügige Glasflächen, veredelter Stahl und helle Kunststoff-Bauelemente ließen erkennen, dass wir eine Art Verwaltungsgebäude des Stützpunktplaneten betraten. Fartuloon und ich waren mit einem breiten, biegsamen Metallband an den Handgelenken aneinandergefesselt. Der Bauchaufschneiders versuchte, auch die geringste Chance für uns zu erkennen; nach wie vor trug er Brustharnisch und Skarg. Zum Glück wurde das Dagorschwert gern unterschätzt und als primitiv angesehen. Doch es hatte nicht nur Liebhaberwert, sondern konnte beispielsweise Blitze auffangen und in Energiestrahlen verwandeln sowie Strukturlücken in energetischen Schutzschirmen schaffen. Nicht einmal ich kannte alle Geheimnisse des Skarg.

Noch lebt ihr. Alles ist offen, jeder Ausgang ist denkbar, sagte der Logiksektor beruhigend.

Wir wurden über den Plattenbelag der Rampe gestoßen, näherten uns einem massiv aussehenden Schott, verschwanden im Tiefgeschoß des großen Gebäudes. Wir wurden durch einen Korridor getrieben, dessen Wände voller Leitungen und Rohre waren, dann in die erleuchtete Kabine eines mechanischen Lifts. Vier Männer stellten sich mit gezogenen Kombistrahlern in die Ecken, der Anführer des kleinen Trupps baute sich vor der Tür auf, die sich leise schloss. Der Lift glitt aufwärts.

Die Wachen eskortierten uns zu einer breiten Metalltür am Ende eines breiten Korridors. Ein Blick durch der Panzerglasscheibe zeigte, dass wir in einem der obersten Stockwerke waren. Der Anführer drückte einen Knopf.

Eine auffallend blechern klingende Stimme rief: »Bringt sie rein, Nert Osh.«

Der Mann mit dem Nackenzopf nickte. Wir betraten einen großen, hellen Raum. Vor der Fensterfront stand ein kleinwüchsiger Mann, in eine mustergültig sitzende weiße Uniform gekleidet. Er wandte uns den Rücken zu und sagte in jenem knappen Ton, der uneingeschränkte Macht und Autorität ausdrückte: »Sie sollen sich setzen. Ich wünsche, mit ihnen allein gelassen zu werden. Danke.«

Wir wurden in die Mitte des Raumes geschoben. Ein Impulsschlüssel trennte die Hälften der Handfessel. Schweigend wurde uns bedeutet, in zwei schweren, am Boden befestigten Sesseln Platz zu nehmen. Kaum saßen wir, schalteten sich summend zwei Projektoren ein. Wir waren jetzt in einem röhrenförmigen Schirmfeld gefangen, das sich zwischen Decke und Boden spannte. Fartuloon und ich wechselten einen langen Blick. Wir haben keinerlei Kontrolle über die Situation.

Im Gleichschritt verließen die Männer des Wachpersonals den Raum. Es wirkte wie ein Signal, als die Tür zuglitt. Der kleine Mann am Fenster drehte sich um und kam mit trippelnden Schritten näher. Er blieb vier Meter vor uns stehen und blickte uns an. Auf der linken Brustseite prangten die Symbole eines Zweisonnenträgers – zwei gelbe Sonnenscheiben mit zwölfzackigem Rand.

»Ich binShekur Agh’tiga Quonson da Zorghan.« Seine Stimme klang tatsächlich so dünn und blechern wie durch den Lautsprecher.

»Wir sind einfache Gefangene, irrtümlich hier gelandet«, sagte Fartuloon trocken.

»So. Irrtümlich«, antwortete der Sonnenkur mit verdächtiger Ruhe, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte uns durchdringend. Seine Augen blickten stechend. Verglichen mit dem kleinen, dürren Körper, war der Schädel unproportioniert, wirkte zu groß und war kantig. Der Kopf war vollkommen kahl. »Ich bin Zweifacher Sonnenträger, wie Sie unschwer erkennen können. Außerdem befehlige ich als Sektorbeauftragter den Stützpunktplaneten Travnor.« Während er sprach, schien er sich zu einer weitergehenden Äußerung entschlossen zu haben. »Bevor wir uns tontalang mit Lügen und Ausflüchten im Kreis drehen, sollten Sie folgendes wissen: Ich weiß genau, wer Sie sind.«

»Unwahrscheinlich«, murmelte Fartuloon.

»Sie sind viel zu intelligent, Bauchaufschneider Fartuloon. Sie erkennen genau, ob eine Situation ausweglos ist. In diesem Fall liegen die Vorteile bei mir. Ich erkenne Sie, Kristallprinz Atlan.« Er deutete mit einem knochigen Zeigefinger auf mich. »Und natürlich auch Sie, Fartuloon. Dazu hätte es weder Ihres Dagorschwertes noch des zerbeulten Brustharnischs bedurft. Ich bin nicht sonderlich davon entzückt, zwei der meistgesuchten Männer des Imperiums als Gefangene zu haben.«

Ich beschloss, einen frontalen Vorstoß zu riskieren, fragte so ruhig wie möglich: »Und aus welchem Grund wurden wir noch nicht erschossen oder ausgeliefert? Orbanaschol will unsere Köpfe.«

Das Lächeln in dem von tiefen Falten durchzogenen Gesicht war dünn und nichtssagend. »Unter Umständen werde ich Ihnen dieses Vergnügen noch bereiten. Vorher sollten wir uns unterhalten.«

»Worüber?«

»Über Ihre Chancen, zu überleben«, sagte er in unnatürlicher Ruhe.

Wieder wechselten Fartuloon und ich einen Blick. Die Antwort hatte uns völlig verwirrt. »Haben wir Chancen?«

Sonnenkur Zorghan bedachte mich mit einem Blick von unpersönlicher Kälte. »Solange Sie nicht tot sind, gibt es Hoffnung.«

Dann drehte er sich herum und ging auf krummen Beinen zu dem gewaltigen Schreibtisch, der vor einem glaslosen Stück Wand stand. Er setzte sich und schien plötzlich viel größer geworden zu sein. Ein verhängnisvolles Schweigen breitete sich aus. Völlig passiv saßen wir da und hatten nicht einmal eine vage Vorstellung davon, was Sonnenkur Quonson da Zorghan plante. Ich hatte allerdings einen sich verdichtenden Verdacht: Gehört er zu den Verschwörern? Arbeitet er mit jenen zusammen, die den Mexon-Doppelgänger geschaffen haben?

Nach einem längeren, bedeutungsvollen Schweigen hob Agh’Zorghan die knochige Hand und grinste. Der Kopf wirkte nun wie ein Totenkopf. »Unter bestimmten Voraussetzungen bin ich bereit, Ihnen mehr als nur eine Chance zu geben.«

Ich starrte ihn an und überlegte, fest entschlossen, vorsichtig zu bleiben. »Wovon hängt Ihre Großzügigkeit ab, Sonnenkur?«

Fartuloon schwieg abwartend.

»Von vielen verschiedenen Aspekten. Ich bin Vertrauensperson einer bestimmten Interessengruppe …«

»Einer Interessengruppe, die uns unterstützt? Das vermag ich nicht einmal im Traum zu glauben«, warf ich mit dem Versuch ein, ihn zu provozieren. Ganz sicher war Agh’Zorghan kein Anhänger unserer Bewegung. Ich durfte nicht darauf hoffen, in ihm einen Sympathisanten wie den echten Mexon zu finden.

Er machte jetzt einen listigen und geheimnisvollen Eindruck. Zweifellos war etwas von seiner Erzählung richtig. Konnte es uns helfen? »Es ist, zugegeben, eine kühne Überlegung. Sie verstehen, dass ich mit Details vorerst noch zurückhaltend bin.«

»Vermutlich haben Sie ohnehin nichts zu sagen«, stieß ich nach.

Wieder lächelte der kleine, knochige Mann hinter der viel zu wuchtigen Schreibtischplatte. Mit jedem Augenblick wurde er mir unsympathischer. Aber er war der mächtigste Mann des Planeten, ja, dieses Sektors. »Zweifellos müssen Sie das annehmen. Sie sollten wissen, dass ich nicht mit Ihnen, Atlan, und noch weniger mit Ihren Zielen einverstanden bin.«

Ich hob die Unterarme. »Wären Sie einverstanden, würden wir nicht hier sitzen. Welche Interessengruppe vertreten Sie, ausgerechnet auf einem Stützpunktplaneten des Mörders Orbanaschol?«

Er war nicht unser geheimer Verbündeter. Offensichtlich hielt er aber auch nichts von Orbanaschol. Vielleicht ließ sich herausfinden, ob er uns in irgendeiner Form helfen konnte. Der ruhige Ton der Auseinandersetzung schuf die Illusion, dass wir nicht wirklich gefährdet waren. Aber wir wussten, dass diese Annahme grundfalsch war. Noch immer befanden sich sämtliche Gefangenen in Lebensgefahr.

»Eine ziemlich einflussreiche. Ich wäre sogar in der Lage, Sie freizulassen.«

»Das kann ich nicht glauben«, grollte Fartuloons Stimme auf. Wir überlegten ununterbrochen, was wir tun konnten.

Aber Zorghan ging auf keine Herausforderung ein. »Das ist Ihre Sache. Ich kann Ihnen keine weiteren Auskünfte geben, abgesehen vom Hinweis auf die Macht und den Einfluss jener Gruppierung. Ich mache Ihnen ein deutliches Angebot!«

»Wir hören.«

Da der Shekur seine Macht und seine Stellung Orbanaschol verdankte, konnte er nicht gegen den Diktator sein. Jedenfalls nicht offen. Es gibt keine andere Alternative: Er ist gegen Arkon und das Große Imperium! Er gehört tatsächlich zu den Verschwörern. Als ich diese Überlegung beendete, war ich fast atemlos vor Schreck. In meinem Weltbild existierten Betrug ebenso wie einwandfrei motivierte Meinungsverschiedenheiten. Aber ein Arkonide, der gegen Arkon und das Imperium ist? Oder ist er ebenfalls ein Doppelgänger wie der zweite Mexon?

Nichts anmerken lassen, beschwor mich der Logiksektor. Offiziell wisst ihr nichts von den Doppelgängern.

»Sie haben inzwischen eine beachtlich starke Organisation aufgebaut.« Wir schwiegen. »Stellen Sie diese Organisation in den Dienst der Gruppe, die ich vertrete, steigen Ihre Überlebenschancen deutlich.«

»Um das tun zu können, brauchen wir mehr Informationen«, beharrte Fartuloon.

»Es tut mir leid. Alles, was ich Ihnen geben kann, sind drei planetare Tage Zeit, sich den Entschluss zu überlegen.«

»Drei Tage«, sagte ich unruhig, »in denen wir uns für etwas entscheiden sollen, worüber wir nicht die geringste Kleinigkeit wissen? Absurd, Sonnenkur.«

Wieder zog er die Schultern hoch wie ein frierender Vogel. »Es steht nicht in meiner Macht, Ihnen jetzt mehr Einzelheiten zu verraten«, sagte er mit seiner unbetonten, blechernen Stimme. »Sie werden zurückgebracht und können sich in Ruhe beraten. Ich warte drei Travnortage, von jetzt an gerechnet, auf Ihre Entscheidung.«

Ich starrte ihn finster an und versuchte es ein letztes Mal. »Hören Sie genau zu, Sonnenkur Zorghan. Ich kann keine Bedingungen stellen, denn ich bin Ihr Gefangener. Sie haben uns ein Angebot gemacht, das einigermaßen schwachsinnig ist. Wir sollen etwas kaufen und teuer bezahlen, obwohl wir nicht einmal wissen, worum es sich handelt. Halten Sie uns für so dumm, oder meinen Sie, dass uns keine andere Möglichkeit mehr bleibt?«

Niemals hatten wir vorgehabt, zum Verräter an Arkon zu werden. Unser Ziel war eindeutig. Wir wollten Orbanaschol vernichten, ihn töten, seine Herrschaft ablösen. Wir kämpften aber nicht gegen das Große Imperium.

»Ihnen bleiben nicht viele Chancen. Bedenkzeit bis zum 34. Coroma. Ich liefere Ihnen keine zusätzlichen Informationen. Entscheiden Sie sich; Sie kennen den Weg, meine Herren.« Agh’Zorghan war alles andere als eine imponierende Gestalt, sprach aber mit kalter, beherrschter Bestimmtheit. Er handhabte seine persönliche Macht wie ein Instrument, ohne sichtliche Regung. Jetzt kippte er einen Schalter an seinem Schreibtisch. »Sie sehen, dass ich Ihren Status ein wenig verbessere.«

Mit einer Serie scharfer Klickgeräusche schalteten sich die Schirmfelder ab. Wir waren scheinbar frei. Misstrauisch blieben wir sitzen.

»Danke«, sagte Fartuloon.

Quonson da Zorghan deutete zur Tür. »Sie können gehen, werden ohne die hinderliche Fesselung zurückgebracht.«

»Abermals danke«, sagte ich. Wir witterten eine zusätzliche Falle. Unsere gegenwärtige Lage war für jede schlechte Überraschung gut. Trotzdem standen wir auf. Agh-Fürst Zorghan blieb hinter der Platte sitzen und reckte das knochige Kinn vor. Auf unsere überreizten Nerven wirkte er wie ein lebender Toter. Vielleicht ist er das sogar …

»Bitte!« Er deutete in die Richtung der verschlossenen Tür. Wir drehten uns um und gingen langsam auf die schimmernde Metallplatte zu. Alle unsere Nerven waren gespannt. Fünf Schritte, sechs … wir hörten hinter uns ein leises Knistern und Zorghans leise Stimme. »Ich bitte um Verständnis.«

Wir blieben stehen. Der Logiksektor zischte warnend auf: Vorsicht – er hat etwas vor!

»Eine kleine Maßnahme ist noch nötig. Sie wird Ihnen keinerlei Unannehmlichkeiten verursachen.«

Er kicherte. In das Kichern mischte sich ein immer lauter werdendes Knistern. Wir wirbelten herum, aber wir sahen und merkten nichts. In dem Augenblick, als unsere Panik den höchsten Punkt erreicht hatte, wurde das Geräusch lauter. Das war das letzte, das ich noch wahrnahm. Ganz plötzlich wurde ich bewusstlos und spürte nicht mehr, wie mein Körper schlaff auf den Boden aufschlug.

1.

Aus: Dossier Vere’athor Mexon

* 31. Prago des Tedar 10.452 da Ark in Torgona auf Arkon II

Beschreibung: 1,78 m groß, breitschultrig, stämmig; silbriges Haar kurz geschnitten; Gesicht eckig, Augenfarbe dunkelrot.

Lebenslauf: Am 1. Prago des Eyilon 10.468 da Ark als junger Mann eingezogen und zum Raumlandesoldaten ausgebildet. Nach einigen Scharmützeln wird seine Einheit am 7. Prago des Messon 10.470 da Ark auf Sholtrain in den Kampf gegen maahksche Raumlandesoldaten geworfen, die zwei Drittel des arkonidischen Industrieplaneten erobert haben. Nach der Eroberung des Iskolart-Systems im Bereich der gleichnamigen Dunkelwolken am 34. Prago der Prikur 10.457 da Ark als Beginn der Methankriegs gilt die Schlacht um Sholtrain als Beginn der zweiten heißen Kriegsphase.

Hinweis: Mexons Unterbewusstsein hat den größten Teil der Erinnerungen an das fürchterliche Gemetzel verdrängt, das vom Zeitpunkt der Landung an siebzehn Pragos dauerte. Nur manchmal erwacht er nachts schweißgebadet aus grauenhaften Albträumen, die allesamt auf Sholtrain spielen.

Sholtrain wird zum Wendepunkt seiner persönlichen Entwicklung. Das Oberkommando der Raumlandetruppen des Tai Ark’Tussan zeichnet ihn wegen seines außergewöhnlichen Mutes aus, den er in den Kämpfen bewiesen hat. Seiner persönlichen Meinung nach war es weniger Mut, der ihn wie einen Berserker kämpfen ließ, sondern nackte Angst davor, von den Maahks niedergemacht zu werden, sollte er aufgeben. Aber er war klug genug, diese Meinung nicht offiziell zu äußern.

Mexons Auszeichnung besteht nicht in einem Orden, sondern am 1. Prago des Ansoor 10.470 da Ark in der Aufnahme in die Galaktonautische Akademie für Raumfahrer von Arkon II. Aus dem einfachen Raumlandesoldaten wird ein Galaktonaut – allerdings ohne Offiziersrang. Abschluss am 36. Prago des Tartor 10.473 da Ark als Arbtan Sechster Klasse.

Nach Jahren einfachster Dienste avanciert Mexon am 5. Prago der Hara 10.484 da Ark zum fünften Hilfsfeuerleitmann des Schweren Kreuzers ALVARON. Als während der Schlacht im Kraajoon-Sektor der Feuerleitorbton und die vier anderen Hilfsfeuerleitmänner des Kreuzers ausfallen, übernimmt Mexon allein die Feuerleitsysteme. Infolge seiner Kaltblütigkeit und intuitiven Bedienung der Waffensysteme kann nicht nur die ALVARON vor der Vernichtung bewahrt werden; auch die Schlacht, die für das Imperium bereits verloren scheint, endet mit einem Unentschieden.

Diesmal wird Imperator Orbanaschol III. selbst auf Mexon aufmerksam. Der Höchstedle empfängt Mexon bei einer Audienz, die er für hohe Orbtonen der Flotte im Kristallpalast gibt, und befördert ihn, einige Stufen einfach übergehend, zum Kommandanten des neu in Dienst gestellten Leichten Kreuzers TARRAN und damit zum Verc’athor oder Zweifachen Mondträger.

Am 26. Prago des Tartor 10.487 da Ark Teilnahme an der Raumschlacht von Usquieer und Notlandung auf dem Planeten Chorpan; es gelingt Mexon, durch eisige Orkane zu einem Notdepot der Imperiumsflotte vorzudringen, mit seinem Begleiter an Bord von zwei Flugpanzern und allem, was notwendig ist, um die im Wrack des Kreuzers ausharrenden Verwundeten zu versorgen, zurückzukehren und diese später ins Notdepot zu bringen.

In den nächsten Jahren, in denen Mexon immer wieder überzeugende Beweise seines Könnens und Wagemuts liefert, steigt er vom Kommandanten Fünfter Klasse bis zum Vere’athor auf – zum Dreifachen Planetenträger und damit zu einem Kommandanten Erster Klasse, der die schwersten Großkampfschiffe befehligen darf. Da der Imperator großen Wert auf Mexons Rat legt, wird er von Orbanaschol III. in den militärischen Beraterstab rings um Ka’Gortis Organ Ma-Vlerghont berufen, der als fähiger Mann gilt und beachtliche Erfolge aufzuweisen hat.

Hinweis: Mexon redet weder dem Kriegsminister noch dem Imperator nach dem Mund, wie das die meisten Berater Seiner Erhabenheit tun. Im Gegensatz zu den adligen Lakaien pflegt er seine Meinung offen und ungeschminkt zu sagen, selbst wenn sie im krassen Widerspruch zur Meinung des Tai Moas steht. Anfangs hat das dem Imperator zweifellos imponiert – nicht so der adligen Kristallkamarilla, die um ihren Einfluss fürchtet und schließlich beginnt, systematisch gegen Mexon zu intrigieren. Dadurch verschlechtert sich das Klima mehr und mehr. Allgemeiner Eindruck ist, dass Orbanaschol froh sein würde, Mexon erschiene nie wieder bei ihm …

Versetzung zum Schlachtschiff SKONTAN20. Prago der Coroma 10.499 da Ark; der bisherige Kommandant wird zum Einfachen Sonnenträger befördert und übernimmt das Kommando über einen kleinen Flottenverband.

An Bord der SKONTAN: 31. Prago der Coroma 10.499 da Ark

Vere’athor Mexon presste sich flach an die Wand, hielt den Atem an und wartete. Die Schritte eines Mannes, der offensichtlich unendlich viel Zeit hatte, näherten sich durch den Gang. Sie waren laut und hallten auf dem Metallrost. Für Mexon hörten sich die Schritte wie dumpfe Trommelschläge an, die seine Hinrichtung ankündigten. Schritte und Echo kamen näher. Auf die gegenüberliegende Wand fiel ein langer Schatten, wurde kürzer und schärfer, die Geräusche änderten sich. Dann sah Mexon für einen Moment in dem schmalen Ausschnitt die Gestalt eines Besatzungsmitgliedes vorbeigleiten. Die Schritte wurden leiser und entfernten sich im gleichen Takt, in dem sie näher gekommen waren. Eine volle Dezitonta stand der Dreifache Planetenträger noch in der Metallnische, dann erst wagte er sich hervor und eilte weiter.

Die SKONTAN stand schon seit mehreren Tontas auf dem Hauptlandefeld. Mexon hatte die Zeit genutzt; es war ihm gelungen, abermals einen Medoroboter für eine intensive Behandlung zu aktivieren. Von Vorteil war, dass ihn die Individualschwingungsimpulse weiterhin als Vere’athor Mexon und damit als Kommandanten des Schlachtschiffes identifizierten. Es blieb ihm zwar unverständlich, wie es den Meuterern beim Doppelgänger gelungen war, diese unverfälschbaren Kennzeichnen genau wie das Aussehen zu kopieren, aber insbesondere den Maschinen gegenüber verschaffte es Mexon den notwendigen Vorteil. Für den Medoroboter war Mexon Mexon. Genau wie bei der ersten Konsultation eines Medoroboters sorgte ein Befehl für die Löschung des Geschehens.

Die Diagnose hatte eine längere Behandlung erfordert. Schmerzende Kopfschellungen, Gehirnerschütterung, gebrochenes Nasenbein, gebrochenes rechtes Schlüsselbein – von Fartuloon provisorischer Schiene notdürftig gerichtet –, starke Prellungen im Bereich der Brustplatte und des Unterleibs, auf dem Rücken und an den Beinen sowie eine Verstauchung des linken Daumens – die Prügel mit den Stahlruten hatten ganze Arbeit geleistet. Die SKONTAN war bereits auf Travnor gelandet, als der Medoroboter endlich seine intensive Behandlung beendete und Mexon wenigstens soweit hergestellt war, dass ihn die Verletzungen nicht länger behinderten oder verrieten. Blaue Flecken waren ebenso beseitigt wie der sprießende Stoppelbart. Stark belasten durfte er in den nächsten Pragos das durch Stützinjektionen stabilisierte Schlüsselbein zwar nicht, aber damit ließ sich hoffentlich leben.

Sofort nach der Landung auf Travnor wurden nicht nur die Gefangenen fortgeschafft, sondern auch ein beträchtlicher Teil der dreitausend Besatzungsmitglieder hatte das Schlachtschiff verlassen, während der Rest mit Arbeiten begann, deren Sinn sich Mexon nicht ganz erschloss, immerhin war die SKONTAN vor dem Start am 20. Prago der Coroma für den bevorstehenden Einsatz überholt und ausgerüstet worden. Mexons Hoffnung war, dass die Gefahr der Entdeckung ausreichend verkleinert war. Er wusste, dass er verloren war, gelang es ihm nicht, sich neu auszurüsten. Die Meuterer hatten ihm zwar seine Energiewaffen abgenommen, aber weder sein Multifunktionsarmband noch das Vielzweckmesser. Er brauchte Bargeld, musste fliehen und seine neuen Freunde finden. Während der Behandlung hatte er mit seinem Multifunktionsarmband die lokalen Infokanäle abgerufen und sich über Travnor informiert.

Eine halbe Tonta später befand sich Mexon vor dem Schott zu einem der vielen Bordmagazine nahe den Unterkünften der Orbtonen und damit auch seiner Kabine.

»Ich glaube, ich kann es schaffen«, sagte er leise und drang ein. Inzwischen hörte er andere Geräusche aus den äußeren und unteren Bezirken der SKONTAN. Vermutlich die Wartungskommandos, dachte er und suchte in den verschlossenen, raumfesten Regalen. Er schlüpfte soeben in den ersten Ärmel der Jacke, als er hörte, dass jemand in den Raum trat. Einen Augenblick lang durchflutete den breitschultrigen, stämmigen Mann Panik, bis er sich fing. Ruhig und gelassen zog er die Jacke aus Spezialgewebe an.

»He, was geht hier vor …«, begann der Besatzungsangehörige, als sich Mexon umdrehte und ihn mit einem fragenden Lächeln musterte.

»Alles in Ordnung, Sek’athor Chubhan«, sagte Mexon und nickte. »Ich bin es.«

»Kommandant!«, sagte der Chefpositroniker verblüfft. »Ich dachte, Sie …«

Mexon schloss die Jacke, ging mit angehaltenem Atem zum nächsten Magazinblock und zog zwei Waffen aus den Vorratsfächern. »Wie Sie sehen, mache ich mich ausgehfertig.«

Mit schnellen Griffen schob er frische Energiemagazine in den Kombistrahler und den kleineren Paralysator, befestigte beide Schutztaschen an einem Gürtel und schnallte ihn sich um die Hüften.

»Entschuldigen Sie, Vere’athor«, murmelte der Mann, noch immer nicht sicher, was das zu bedeuten hatte. »Ich wollte Sie keineswegs kontrollieren.«

»Natürlich nicht.« Auf eine verwirrende Weise fühlte sich Mexon noch immer als Kommandant und Befehlshaber der SKONTAN. Aber dieser Faktor war nur einer von einigen Dutzend höchst verwirrender Probleme, die er lösen musste. Zusammen mit Atlan und dessen Mitstreitern würde es ihm unter Umständen glücken. »Sie kontrollieren das Schiff. Lassen Sie mich vorbei?«

»Verzeihung. Viel Vergnügen in der Krone von Tecknoth, Kommandant.«

»Das Vergnügen wird sich in Maßen halten.« Mexon fuhr über das kurze Haar und ging selbstbewusst an Einplanetenträger Chubhan vorbei. Sein Herz schlug rasend schnell. Er war bereit, augenblicklich herumzuwirbeln und den Mann niederzuschlagen. Sein erstes Ziel war erreicht. Er musste jetzt nur noch möglichst schnell das Schiff verlassen. Ohne dass der Chefpositroniker etwas sagte oder unternahm, konnte Mexon das Magazin verlassen und den Korridor betreten.

Sofort verschwand er aus dem Hauptkorridor, der zum Antigravschacht führte. Mexon benutzte einen längeren Weg, der ihn um eine Vielzahl von Ecken führte, aber er erreichte den kritischen Hauptschacht, ohne dass ihn jemand gesehen hätte. Mit der Hand am Griff des Paralysators schwebte er in dem dämmerigen Schacht abwärts, aber alles, was er hörte, waren die Arbeitsgeräusche der Wartungskommandos. Sie kannten ihn und würden ihn nicht aufhalten. Aber da gab es noch eine Schleusenwache, die er passieren musste. Die Männer allerdings waren darauf geschult, das Schiff gegen Eindringlinge zu schützen. Jemand, der das Schiff verließ, erregte dagegen nur den Bruchteil der Aufmerksamkeit.

Mexon schwang sich entschlossen aus dem Schacht und betrat die Polschleuse. Zwei Männer saßen neben dem offenen Schott und beugten sich, leise lachend und murmelnd, über ein Garrabospielbrett. Während Mexon auf den oberen Teil der Bodenrampe zuging und sich den Anschein gab, die Posten gar nicht zu beachten, hörte er das Klicken der farbigen Steine. Er machte ungestört dreißig Schritte. Auf seiner Stirn und der Oberlippe bildeten sich kleine Schweißperlen. Er war sicher, dass ihn Hunderte Augenpaare beobachteten, erreichte die Rampe, blieb kurz stehen und versuchte, genau so zu handeln, wie es ein Kommandant tun würde, der die Stadt besuchen will. Dabei wusste er, dass ihn gerade diese gespielte Selbstverständlichkeit verraten konnte.

Er gab sich selbst einen Ruck und betrat das fluoreszierende Kraftfeld der Bodenrampe, das auf der Basis von Antigrav- und Prallfeldern dem Transport in der Art einer Gleitbandes diente. Die geneigte Fläche ragte bis zum achthundert Meter durchmessenden Außenkreis der ausgefahrenen Teleskop-Landestützen. Hoffentlich alarmierte Chubhan nicht das Schiff oder die Behörden. Einerseits war Mexon offiziell tot, andererseits glich ihm der »neue« Kommandant bis aufs Haar. Mit normaler Geschwindigkeit ging Mexon abwärts, sah das selbstleuchtende Landefeld und den Kreis der schweren Transportgleiter, der das Schiff umgab. Ihre Konturen glänzten in den Strahlen der zusätzlich schwebenden Scheinwerfersätze. Die Sonne näherte sich dem Horizont und erzeugte lange Schlagschatten; ein Blick auf das Armbandgerät am linken Handgelenk zeigte, dass es nach Arkon-Standard die sechste Tonta war.

Nicht stehen bleiben, weitergehen, dachte er konzentriert.

Mexon war alles andere als ein Fatalist und hielt nicht das geringste von dem Versuch, sich schießend einen Weg zum Rand des Raumhafens zu bahnen. Er musste dieses nächste Ziel erreichen, ohne aufzufallen. Er zögerte abermals, als er den Fuß auf das wie Milchglas wirkende Landefeld setzte. Eine Gruppe Männer, miteinander redend, mit Werkzeugen in den Händen und in verschmutzten Arbeitsanzügen, verließ eben einen Bereitschaftsgleiter. Hinter ihnen schwebte eine Prozession von Robotern und Diagnosegeräten. Mexon straffte sich, nahm die Schultern zurück und schätzte die Entfernung von den Landestützen bis zu den Fronten der ersten Gebäude ab. Ungefähr siebentausend Schritte, also eine Tonta schneller Marsch.

»Bei Arkon«, murmelte er und suchte sich ein neues Teilziel, das ihn zumindest gegen die Blicke der Männer abschirmen konnte. Sein Körper befand sich in Alarmbereitschaft. Die vorangegangenen Aufregungen und Enttäuschungen, die Unsicherheit und die Wirkung der Medikamente summierten sich. Er war bereit, blitzschnell zu handeln. Aber er ging, kurz grüßend, an den Mechanikern vorbei und auf einen schweren Montagegleiter zu. Als er, im Zickzack zwischen abgestellten Bauteilen und durcheinander wimmelnden Technikern, sich dem Gleiter näherte, suchten seine Augen Raumhafenpolizisten oder andere Männer, die nach ihm Ausschau hielten. Bisher registrierten seine überwachen Sinne keinerlei Zeichen für eine planvolle Suche. Aber immer wieder schwebten Gleiter mit den Kennzeichen der Raumhafenbehörde vorbei.

An der Rückwand des kastenförmigen Aufbaus war Mexon vom Schiff aus nicht mehr zu sehen. Vor ihm erstreckte sich jetzt die Fläche fast des halben Hafens. Die SKONTAN stand nicht ganz im Zentrum des Landefelds; zwischen ihr und dem kuppelförmigen Transitgebäude befanden sich nur wenige gelandete Schiffe. Vor allem Leichte und Schwere Kreuzer.

»Jetzt wird es problematisch«, murmelte Mexon. Seine Lage war außerordentlich kritisch, aber keineswegs hoffnungslos. Auf Tecknoth, dem riesigen Hauptkontinent der Südhemisphäre von Travnor, konnte er sich im Notfall jahrelang verstecken. Aber das lag nicht in seiner Absicht. Was sein Doppelgänger beabsichtigte, konnte er nicht einmal erraten. Er war unschlüssig. Ging er jetzt geradeaus los, würde er in kurzer Zeit bestimmt aufgegriffen werden. Stahl er einen Gleiter, würde dies ebenfalls auffallen. Was konnte er tun? Langsam schob sich Mexon an der Längsfront des zerbeulten Gleiters vorbei. Die Maschine roch nach Öl, Putzmitteln und heißgelaufenen Aggregaten. Ein verrückter Gedanke zuckte durch Mexons Kopf. Mit Hilfe einer Wartungsmannschaft würde es völlig unproblematisch sein, die Abgrenzung des Landefelds zu erreichen, ohne aufgehalten zu werden.

Er hob kurz den Kopf und blickte an der geschwungenen Wandung des Schiffes vorbei. Ein heller Lichtpunkt stand direkt darüber, vermutlich kein Stern, sondern entweder Erster oder Zweiter Wechton, eine der beiden Raumstationen. Mexon stieß sich von dem Metallaufbau unterhalb der Frontscheibe ab und suchte einen Gleiter, das seinen Erfordernissen entsprach. Mexon drehte den Kopf. Überall zwischen den wuchtigen Landestützen bewegten sich Gleiter. Ein kleiner Gleiter mit auffallenden Leuchtstreifen und rotierenden gelben Lichtern bog um eine Gruppe von Maschinen, die lange Teleskopbühnen ausgefahren hatten, in Mexons Richtung. Als der Gleiter bis auf zwanzig Meter herangekommen war, ging Mexon nach vorn und hob die Hand. Im Cockpit sah er einen einzelnen Mann. Der Gleiter hielt dicht vor ihm. Mexon ging zur Pilotenseite. Die Scheibe glitt summend herunter. »Ja?«

»Hören Sie«, sagte Mexon jovial und hielt sein Gesicht in einer Stellung, in der das Licht nicht allzu stark war. »Fliegt jemand von euch zum Transitgebäude? Ich muss zum Intermarkt.«

Der Gleiterpilot sagte nachdenklich: »Ich nicht, ich muss hier bleiben. Aber gehen Sie dort rüber, zu der Nachrichtenabteilung. Die schleppen ständig Neuteile hierher.«

Mexon warf einen Blick in die angegebene Richtung. Dort stand eine Gruppe von Männern in weißen Anzügen. Die Nachrichtentechniker. »Danke für den Tipp, junger Freund.«

»Keine Ursache.«

Der Gleiter schwebte summend an Mexon vorbei. Der Vere’athor atmete zweimal tief durch, drehte sich um und ging auf der leuchtenden Fläche hinüber zur angegebenen Stelle. Die Techniker redeten aufgeregt miteinander. Es schien ein ernsthaftes Problem zu geben. Mexon wusste genau, dass er noch lange nicht in Sicherheit war, aber er versuchte so aufzutreten, als habe sich seit einigen Tagen absolut nichts verändert. Die Stützpunkttechniker beachteten zuerst den muskulösen Mann nicht, aber als er dicht vor der Gruppe stand, schwiegen sie wie auf ein Kommando und drehten sich zu ihm um. Mexon grüßte höflich und ließ seinen Blick über die Gesichter gleiten. Er sah keinerlei Hinweise, dass ihn jemand erkannt hatte.

»Fliegt von Ihnen jemand zum Transitgebäude?«, fragte er. Jede Zentitonta, die er länger hier in unmittelbarer Nähe des Schiffes zubrachte, war tödlich gefährlich für ihn. Er dachte an den Dschungel, wo man ihn für tot liegengelassen hatte.

»Wollen Sie mitgenommen werden?«, war die Gegenfrage.

»Ja. Wenn’s geht, möglichst bald.«

Ein älterer Techniker kratzte sich am Kinn. »Wir haben ein kleines Problem. Wir versuchen, den Kommandanten zu erreichen. Wir sollen ein Senderteil ersetzen, einen …«, er nannte Typenbezeichnung und Seriennummern des Ersatzteils für die Hypersendersteuerung, »und brauchen eine Genehmigung. Aber keiner kann uns sagen, wo der Kommandant dieses Schlachtschiffs ist.«

Mexon sagte im Befehlston: »Der Kommandant bin ich, Vere’athor Mexon! Bauen Sie dieses verdammte Teil ein, damit wir den Hypersender wieder benutzen können. Brauchen Sie eine Unterschrift?«

»Nein, danke. Uns genügt die Anordnung, Vere’athor.« Der Verantwortliche für dieses Team gab eine Reihe von Anordnungen und schloss: »Und Sie, Drafnan, fliegen mit dem Gleiter los. Besorgen Sie sich das Teil aus dem Magazin. Geben Sie Schiffsname und -nummer und so weiter an. Und setzen Sie vorher Kommandant Mexon dort ab, wo er es wünscht. Klar?«

»Ich danke Ihnen.« Mexon bemühte sich, keine auffällige Reaktion zu zeigen. Einer der Männer öffnete ihm sogar die Tür des Gleiters. Als sich Mexon halb entspannt zurücklehnte, merkte er, dass seine Finger zitterten. Aber mit jedem Kilometer, den sich der Gleiter vom Schiff entfernte, wuchs die Erleichterung. Niemand hielt den Gleiter auf, denn diese Maschine gehörte zur Ausrüstung des Hauptraumhafens von Travnor.

»Wo soll ich Sie absetzen, Kommandant?«, fragte der Pilot, als sie sich der grell ausgeleuchteten Zone der Raumhafenperipherie näherten. Mexon war sicher, dass keinerlei Kontrollen stattfanden.

»Beim Transitgebäude«, sagte er. »Machen Sie wegen mir keinen größeren Umweg.«

»Verstanden. Ich kann Sie direkt vor dem Eingang absetzen.«

»Danke.« Er war erleichtert, wagte es aber nicht, diese Erleichterung zu zeigen. Er wartete, bis der Gleiter anhielt, schob die Tür auf und deutete einen flüchtigen Gruß an. Mexon stieg aus und ging den breiten Weg entlang, der, ebenfalls selbstleuchtend ausgeführt, zum breiten Eingang des Kuppelgebäudes führte. Sämtliche Arkoniden, die Mexon sah, trugen leichte Kleidung. Die Hauptstadt Krone von Tecknoth befand sich knapp 1700 Kilometer südlich des Äquators. Blitzschnell schickte Mexon seine Blicke hierhin und dorthin; er suchte mit dem Instinkt eines gehetzten Tieres Polizisten oder jemanden, der ihn erkannte und eine Verfolgung beginnen würde. Seine Unsicherheit nahm zu, je mehr er sich dem Eingang näherte.

»Nichts«, knurrte er. Trotzdem wichen seine Unruhe und sein Unbehagen nicht. Er wusste nicht, aus welchem Grund er sich so merkwürdig fühlte. Vielleicht lag es daran, dass er aus der festen, hierarchisch abgestimmten Welt des Schlachtschiffs in einen verwirrenden und hellen Bezirk aus Luxus stieß. Er wusste, dass er bis zu seinem Tod seine einfache Essoya-Herkunft nicht vergessen würde. In dem Augenblick, als die dicken Glasplatten zur Seite wichen und er in den klimatisierten Bereich des Transitgebäudes trat, wurde ihm seine Stellung wieder voll bewusst.

Er wusste, dass er sich linkisch verhielt, auch wenn andere Arkoniden dies nicht sofort sehen konnten. Darin irrte er. Mexon zuckte zusammen, als habe ihn ein Schlag getroffen. Er blieb stehen und merkte, dass ihn jemand am Ärmel der Jacke festhielt. Ein dicker, alter Mann mit zerknittertem Gesicht und feuchten Augen grinste ihn an und flüsterte: »Brauchen Sie einen Mietbruder, Herr Admiral?«

Fast automatisch streifte Mexon die Hand vom Arm. Ein Passant rempelte ihn an und entschuldigte sich knapp. »Mietbruder? Nein.«

»Admiral.« Der ungepflegt riechende Mann kicherte und hob die rechte Schulter. »Das ist das Angebot des Jahres. Sie sollten es sich überlegen. Für eine Handvoll Chronners führe ich Sie in die sündigsten Tiefen von Travnor und an noch andere Stellen …«

Mit eisiger Stimme sagte Mexon: »Ich brauche keinen Mietbruder. Gehen Sie bitte zur Seite.«

Mexon verachtete Wesen, die sich verkauften und ihren letzten Rest von Stolz verloren hatten. Er achtete nicht mehr darauf, dass der kleine fette Mann neben ihm hertrippelte und ihm mit seiner unangenehm aufdringlichen Stimme zuflüsterte: »Merken Sie sich den Namen, Admiral – Mietbruder Kopral. Kopral der Einzigartige.«

Als ihnen eine Gruppe angeheiterter Raumfahrer entgegenkam, wich Mexon nach links aus. Kopral wurde nach rechts geschoben und verlor sich im Gewühl. Die Transithalle bot den Besatzungen der Schiffe nahezu alles, was mit Skalitos, Merkons oder Chronners bezahlt oder über Kreditchips abgerechnet werden konnte. Auch Mietbrüder und deren weibliche Variante, die Mietschwestern. Laut der abgerufenen Infos handelte es sich um Personen, die auf ein Gebiet spezialisiert waren, auf dem sie den, der sie mietete, zu unterhalten verstanden: Sport, Malerei, Literatur, Theater – oder Ähnliches. Prostitution war strengstens untersagt, die Mitgilde hatte eine Satzung, nach der jene aus der Gilde ausgeschlossen wurden, die sich zu unlauteren Zwecken vermieteten, also als Dieb, Einbrecher, Räuber, Mörder – oder zu Zwecken der Prostitution.

Die Transithalle war ein riesiges Einkaufszentrum, aber das Sortiment blieb auf den Bedarf der Raumfahrer zugeschnitten. Selbstverständlich wurden hier Nachrichten ausgetauscht, es gab Restaurants, Bars und eine Station der Raumhafenpolizei. Mexon griff in die Hosentasche und zog die Hand hervor. Er trat zur Seite und betrachtete das spärliche Häufchen Geld.

»Viel kann ich mir nicht leisten«, murmelte Mexon und steuerte einen der vielen Kioske an. Als er sich einmal umdrehte, sah er zwischen den Gruppen den kleinen Mann. Er war hartnäckig und schien einen sicheren Blick für potenzielle Opfer zu haben.

Mietbrüder oder Mietschwestern waren ein in Mexons Augen bedauerlicher Auswuchs der Gesellschaft, der erst nach Beginn des Methankriegs aufgetreten war. Hintergrund war, dass auf den Stützpunktwelten meist Unverheiratete leben und sich nach angenehmer Gesellschaft sehnten – neben jenen Dingen, die ihnen bezahlte Prostituierte boten. Meist lebten die heruntergekommenen Subjekte auf Raumhäfen beziehungsweise an deren Rändern. Dort lungerten die Mietgeschwister herum und boten ihre Dienste tontaweise oder für längere Zeit an. Ihr Verstand oder die Ortskenntnis konnten gemietet werden; es gab einen unübersichtlichen Tarifwirrwarr. Allerdings waren diejenigen, die ihre Körper anboten, niemals Mitglied der Mietgilde.

Es ist einfach nicht möglich, diese Auswüchse völlig auszurotten – immer wieder tauchen sie auf, dieses Ungeziefer, dachte Mexon angewidert, und wandte sich ab. Sorgfältig rechnete er aus, was er kaufen konnte. Er justierte die Uhr des Armbandgeräts auf das lokale Zeitsignal; der Tag auf Travnor dauerte 18,66 Tontas, fortan zeigte das Display neben Arkon-Standard auch die Lokalzeit. Die unaufdringliche Dauermusik, die durch alle Teile der Riesenkuppel rieselte, ließ Mexon keineswegs unaufmerksam werden. Immer wieder suchten seine Augen nach Beobachtungen, die ihm zeigten, ob er in Gefahr war. Allerdings, dachte er, nachdem er nur noch drei Chronners hatte, lässt mich allein die Unkenntnis der nahen Stadt zu einer Person werden, die früher oder später auffallen wird.

Natürlich, er hatte den ins Armbandgerät integrierten Kreditchip; sein computergespeichertes Guthaben war ziemlich hoch. Die erste Abbuchung würde aber jedem verraten, wo er sich befand. Vielleicht wartete jemand bereits auf dieses Signal, obwohl Mexon noch darauf baute, dass sein Überleben nicht bemerkt worden war. Andererseits benutzte vielleicht der Doppelgänger – wo befand er sich eigentlich? –, eine Nachahmung oder den von irgendeinem Amt ausgestellten neuen Kreditchip. Mexon entschloss sich widerstrebend, diese Zahlungsmöglichkeit nicht anzuwenden, ging eine Treppe hinauf und setzte sich auf einen leeren Hocker. Die gefüllte Einkaufspackung stellte er neben seinen Fuß und hob die Hand.

»Was wünschen Sie, Erhabener?« Eine nicht mehr ganz junge Arkonidin mit kurzgeschorenem Haar und müden, gerädert aussehenden Augen kam. Mexon bestellte eine Tasse H’ogoo und einen doppelten Reruth. H’ogoo, ein heißes Getränk, süß und von bernsteingelber Farbe, wirkte aufmunternd, der starke, über Kräuter destillierte Alkohol versetzte Mexon schon nach zwei Schlucken in eine kurzzeitige, trügerische Euphorie. Er saß da, bewachte seine Einkäufe und sah den Arkoniden zu. Er dachte wieder an seine Lage.

Wo konnte er Atlan, Fartuloon und die anderen Gefangenen finden? Hatte er eine Chance, sie zu befreien? Wie schaffte er es, sich in der Stadt mit dem klangvollen Namen Krone von Tecknoth zurechtzufinden? Und die nächstliegende Frage: Wo schlief er in dieser Nacht? Die aufputschenden Medikamente würden nur noch wenige Tontas wirken, dann würde ihn die Müdigkeit überwältigen. Als das dicke Glas leer war, stellte er fest, dass er sich an einem toten Punkt befand – und bestellte den zweiten Reruth.

Für sein Guthaben könnte er für etliche Perioden in der teuersten Zimmerflucht des teuersten Hotels wohnen. Jeden Luxus des Planeten konnte er sich leisten; eben hatte er dort unten gelesen, dass alle Arten von kurzen oder längeren Ausflügen zu den drei anderen Kontinenten Mersiboor, Pervron und Kalamdayon organisiert wurden. Es waren Landflächen, die fast vollkommen unangetastet waren. Dort würde es Millionen Verstecke geben. Scheinbar bedächtig und entspannt trank Mexon das Glas leer und rührte in dem Becher. In seinem Innern tobte ein lautloser Aufruhr. Plötzlich begann sein gerichtetes Schlüsselbein Schmerzen auszustrahlen. Vielleicht würde er doch den Kreditchip benutzen müssen – von Vorteil war immerhin, dass es ja den zweiten Mexon gab, der bislang noch nicht wusste, dass der echte überlebt hatte. Spätestens nach der Kontrolle des Guthabens würde dieser Vorteil aber verschwunden sein, sollte sich Mexon Geld auszahlen lassen.

Diese Unsicherheit! Dieses verdammte Gefühl, außen zu stehen und sich nicht absolut sicher bewegen zu können. Mexon begann sich zu fühlen, als würden alle Wesen auf diesem Planeten eine ihm unbekannte und unbegreifliche Sprache sprechen. Er kam sich ausgesetzt und hilflos vor. Und dazu auch noch arm und ohne Chancen, wie … wie ein Mietbruder.

Als ihm der Gedanke bewusst wurde, spürte er, wie sich sein Gesicht rötete. Eine heiße Welle von Wut und Scham durchflutete ihn. Fast automatisch drehte er den Kopf und suchte in der Menge nach Kopral. Dort drüben stand er, lehnte scheinbar gelangweilt an einer Wand und starrte direkt in Mexons Gesicht. Der Vere’athor stieß einen leisen Fluch zwischen den Zähnen hervor und hob die Hand. Kopral machte ein Zeichen, dass er verstanden hatte. Mexon deutete auf den freien Hocker neben sich. Kopral nickte. Wie ein gejagtes kleines Tier bewegte er sich flink durch die Passanten und saß kurze Zeit später neben Mexon. Er roch ungewaschen, nach ungelüfteter Kleidung, nach billigem Fusel und nach den exotischen Gewürzen des letzten Essens.

»Sie brauchen meine Klugheit, Admiral?« Kopral fragte mit scheinheiliger Sicherheit, sein Lächeln war abstoßend; zwei Zähne fehlten.

»Vielleicht.« Mexon rang sich zu der Frage durch: »Wollen Sie einen Reruth?«

»Mit einem doppelten würden Sie sich einen hohen Grad meines Wohlwollens sichern, Mascant«, erwiderte Kopral mit dem ledernen Charme einer Sumpfechse.

Wortlos bestellte Mexon und rechnete. Er konnte sich nur noch eine begrenzte Menge von Drinks leisten, dann war er ebenso arm wie Kopral. Als die mürrische Bedienung die Gläser vor sie stellte, über die Platte wischte und die leeren Gläser wegräumte, legte Mexon zwei Chronners auf die Theke.

»Auf gute Zusammenarbeit«, sagte Kopral frech und keineswegs so unterwürfig, wie es Mexon erwartet hatte.

»Möglich.«

»Sie mögen keine Mietgeschwister, stimmt’s? Aber Sie brauchen einen Mietbruder?«

Mexon nickte langsam und sagte schließlich stockend: »Ich verachte Mietleute. Bisher habe ich keinen gebraucht. Jetzt sieht es so aus, als müsste ich Sie mieten, Kopral.«

Verständnisvoll senkte Kopral den Kopf und stimmte zu. »Jeder wird gezwungen, einmal seine Einsichten zu ändern und seine Überzeugungen zu korrigieren. Worum handelt es sich? Ich möchte doch nicht annehmen, dass meine Schönheit Sie umgestimmt hat?«

Er kicherte im Falsett. Mexon schüttelte irritiert den Kopf, hätte beinahe den Fehler gemacht, Kopral falsch einzuschätzen. »Mit Sicherheit nicht. Sind Sie an einem Sieben-Prago-Auftrag interessiert?«

Kopral betrachtete gedankenvoll den überlangen, rund gefeilten Nagel seines kleinen Fingers, bohrte dann hingebungsvoll im Ohr und sagte betrübt: »Mein Gehör lässt nach; eine bedauerliche Folge von Alter und ungesundem Lebenswandel. Habe ich etwas von einem Siebenerjob verstanden? Undenkbar, Höchstedler.«

»Ich brauche Sie.«

»Darüber waren wir einig. Tatsächlich sieben Pragos?«

»Ich denke ja. Ich zahle Ihren Preis. Aber ich habe in meiner Tasche nur noch einen Chronner.« Mexon schob die kleinen Lochmünzen auf der Theke hin und her, bildete ein simples Muster und deutete darauf. »Und noch ein paar Skalitos.«

»Wollen Sie einen Kredit bei mir aufnehmen? Ich fürchte, die Enttäuschung verscheucht Sie als Kunden.«

»Kaum. Ich kann und werde Sie bezahlen. Aber nicht jetzt. Es gibt zwischen uns das Problem des mangelnden Vertrauens.«

Der Mietbruder brachte es fertig, wie ein beleidigtes Kind auszusehen. Er richtete sich straff auf, kämmte mit schmutzigen, dicken Fingern das verklebte Haar aus der Stirn und sagte in völlig verändertem Tonfall, der Mexon hätte stutzen lassen müssen: »Es gibt in der wunderbaren Stadt Krone von Tecknoth rund siebenhundert Mietgeschwister. Ich habe einmal gesehen, wie ein junger Mann starb; es war grässlich. Sie steinigten ihn zu Tode. Höchst bedauerlich und ebenso qualvoll.«

»Ich verstehe nicht …« Mexon kam sich wie ein blöder Provinzler vor. Hier saß ein Mann neben ihm, der offensichtlich ein weitaus fähigerer Überlebensspezialist war als er selbst.

Koprals Handbewegung unterbrach ihn. »Der Junge hat nachweisbar vorsätzlich seinen Mietkontrakt nicht erfüllt. Der Kunde beschwerte sich. Die Folgen waren, wie eben berichtet, fatal. Wir mussten sammeln, um den Kunden zufriedenzustellen. Glauben Sie ernsthaft, ich möchte Ihretwegen einen Porphyrbrocken in die Zähne oder ein Stück Schiefer ins Auge bekommen? Nicht einmal ein Jahresvertrag mit dem fetten Orbanaschol könnte mich dazu bringen, einen Kontrakt nicht zu erfüllen.«

Verwirrt murmelte Mexon: »Ich wusste nicht, dass Sie solche Strafen kennen.«

Der Mietbruder hatte vorquellende Augen, die ständig zu tränen schienen. Sein Haar war ungepflegt und lang. Die Haut des Gesichts strotzte von großen, schmutzigen Poren. Kopral roch, als schliefe er in der Gosse, aber er strahlte eine seltsame Würde aus. »Sie wissen vieles nicht, Kapitän. Ich bin derjenige, der Ihnen sagt und zeigt, was Sie zu tun und zu lassen haben. Ein Sieben-Prago-Auftrag?«

Mexon, noch hilfloser und verwirrter, antwortete: »Ja. Unter einer Bedingung. Ich zahle nach Beendigung des Kontrakts.«

»Warum?«

Mexon wusste, dass er sich auslieferte, zeigte auf das Armband. »Ich habe meinen Kreditchip hier. Verwende ich ihn, ist das so, als würde ich mich vor eine Polizeistation stellen und laut zu schreien anfangen – beispielsweise, um den Imperator zu verhöhnen. Wenn alles vorbei ist, zahle ich. Bargeld hinterlässt keine Spuren. Wie teuer sind Sie?«

»Das kommt auf die Natur der Dienste an, die Sie benötigen. Bester Service, höchster Preis. Je abwegiger die Wünsche, desto höher die Prämie. Einiges ist und bleibt allerdings unbezahlbar. Ich schlage vor, ich begleite Sie zunächst einmal in die roten Viertel der Stadt. Ich kenne jede der Stätten der Sünde.«

Der Vere’athor wehrte ab. »Ich bin nicht an Sünde interessiert. Mein Ziel ist, eine Gruppe von … hm, Gefangenen zu finden.«

»Welche? Wo? Wie viele?« Nachdem Mexon erklärt hatte, was geschehen war, ohne allerdings Namen oder Details der Hintergründe zu nennen, sagte Kopral mit Bestimmtheit: »Zweitausend Chronners. Und alle Spesen und Bestechungsgelder extra.«

Dies war ein annehmbarer Preis. Mexon, der noch vor einer Arkonperiode ein solches Subjekt wie Kopral nicht einmal wahrgenommen hätte, streckte die Hand aus. »Ich bin einverstanden. Wie machen wir unseren Vertrag gültig?«

»Durch Handschlag, Admiral. Darf ich Ihren Namen erfahren?«

Auf diese Frage war Mexon bereits vorbereitet gewesen, entgegnete ohne Zögern: »Ich bin Saxon ter Kanayath, Vere’athor.«

Sie schüttelten sich die Hände. Der höchst seltsame und unverständliche Ehrenkodex der Mietgilde band sie jetzt für sieben Pragos. Kopral stülpte seine Lippen vor und überraschte Mexon mit einem trockenen, kurzen Händedruck, der ungeahnte Kräfte spüren ließ. »Für einen Mann mit einer derart deutlich zur Schau getragenen Unsicherheit ein ungewöhnlicher Name. Dreiplanetenträger also? Unterer Adel. Ter-moas?«

»Nein, Ter-tharg – nur ein Baron Sechster Klasse.« Innerlich krümmte sich Mexon bei dieser Lüge, schließlich war er ein nichtadliger Arkonide aus dem einfachen Volk, wenngleich er die Umschreibung Essoya nicht mochte, weil sie meist als Schimpfwort verwendet wurde. Hintergrund war, dass die Essoya-yonki oder arkonidischer Stinkwurz mit ihrer großen, Wasser speichernden Knolle in den Archaischen Perioden als eins der Grundnahrungsmittel galt.

»Nun, für die erste Zeit wird er uns wohl genügen müssen, und später sehen wir weiter. Es ist unmöglich, zu mir nicht vollstes Vertrauen zu haben … nach einiger Zeit. Brechen wir auf, Admiral?«

Um Kopral sicherer und williger zu machen, zeigte ihm Mexon die Anzeige des Kreditchips. Kopral nickte und lachte meckernd, als Mexon sagte: »Und nennen Sie mich nicht immer mit einem Sortiment verschiedener dummer Ausdrücke! Ich bin Dreiplanetenträger, aus!«

Übertrieben devot verbeugte sich Kopral. »Jawohl. Mit Vergnügen, Mascant.«

Mexon winkte der Serviererin und deutete auf den Rest Skalitos. Sie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln und wischte die Lochmünzen mit gleichgültiger Bewegung in die hohle Hand. Mexon hob die Einkaufspackung und folgte dem Mietbruder aus der offenen Cafeteria hinunter zum Boden der Halle. Ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit erfüllte ihn. Sein vorheriges Leben, das seinen höchsten Punkt bei der Verleihung des dritten Planetensymbols gehabt hatte, schien endgültig vorbei zu sein. Eine neue Art Existenz begann hier und jetzt – er war ein Gejagter, ohne Einfluss, ohne Heimat, ohne Freunde. Seine einzige Unterstützung hatte er in einem fetten, stinkenden Mietbruder, der mit gekrümmtem Rücken zum Ausgang trippelte. Mexon hinter ihm her, als verbände sie eine unsichtbare Kette.

Abseits der Kuppel und halb verborgen unter Baumkronen, parkte der winzige Gleiter des Mietbruders. Kopral trat gegen die Tür, rüttelte daran und riss sie auf. Dann setzte er sich und stieß die andere Tür auf.

»Nehmen Sie Platz«, sagte er keuchend. Die Anstrengung schien ihn erschöpft zu haben.

Mexon begann zu ahnen, dass ihm dieser Mann nicht ehrlich gegenübergetreten war, sondern ein begabter Schmierenkomödiant war. »Wohin bringen Sie mich?«

Mit einem keuchenden Winseln sprang das Aggregat an. Der Gleiter hob sich ächzend auf das Prallfeld. Stumpf gewordene Reflektoren beleuchteten die Umgebung, als die Maschine knarrend rückwärts aus der Parklücke stieß und auf die Piste bog. Mexon warf einen kurzen Blick auf den unordentlichen Haufen hinter den Sitzen und wartete auf die Antwort.

»In die Stadt. Sie brauchen Schlaf. Während Sie schlafen, erkundige ich mich nach den Gefangenen der SKONTAN.«

»Woher wissen Sie, dass ich Schlaf brauche?«

»Dazu genügt ein Blick.«

Nach einigen hundert Metern Flug beruhigten sich die Aggregate des Gleiters. Mit mäßigem Tempo, aber ohne die enervierenden Geräusche glitt er nach Süden der lichterfüllten Silhouette der Stadt entgegen. Mexon alias Saxon ter Kanayath merkte, dass Kopral die breite Hauptverbindung verließ und auf weniger verkehrsreichen Straßen steuerte. Ein unwiderstehlicher Drang befiel ihn, und er begann zu gähnen.

»Sehen Sie! Ich habe meistens Recht«, murmelte Kopral befriedigt.

Mexon wusste, dass im Südosten zwischen der Grenze der Kernstadt-Wohnhäuser und dem Flussufer ein Stadtviertel existierte, vor dem die Raumfahrer gewarnt wurden. Die Slums der Stadt, wo jeder zwar vorzüglich essen, aber auch ebenso schnell ausgeraubt werden konnte.

»Fliegen Sie zu den Slums?«, erkundigte er sich müde. Die Spannung ließ nach, er fühlte, wie sich die Erschöpfung in seinem geschundenen Körper breit machte.

»Slums?« Kopral Stimme wurde vorwurfsvoll. »Herr! Sie beleidigen die Idylle der einfachen Wohnquartiere, in denen schon meine tugendhaften Eltern geboren wurden. Man gab dem Gebiet die poetische Bezeichnung Kashba von Tecknoth.«

»Ich schlafe heute also in der Kashba?«

Mit fast philosophischer Gelassenheit erwiderte der seltsame Mietbruder: »So Orbanaschol will, schlafen Sie in einem meiner prunkvollen Gemächer, Admiral Saxon.«

»Danke.«

Die Straßen wurden schmaler, aber nicht unbedingt schmutziger. Die Beleuchtung nahm ab. Rechts verschob sich die Silhouette der Stadt mit ihren wenigen wirklich hohen Bauwerken. Der kleine Gleiter schwebte im Zickzack in ein breites Tal, in dem Saxon durch die schmutzige Frontscheibe eine Vielfalt verschiedenfarbiger Lichter und lange, verwinkelte Reihen kleiner Häuser erkannte. Schließlich, in einer Kurve, steuerte der Mietbruder den Gleiter scharf rechts an die selbststrahlende Mauer und deutete an Saxons Gesicht vorbei nach unten.

»Dort, am Fluss des reinen Wassers, zwischen uralten Bäumen mit aromatischen Blüten und köstlichen Früchten, erstreckt sich die Kashba. Alle Arten von Laster sind dort ebenso beheimatet wie die Gutherzigkeit der Bewohner. Sie können die exotischen Speisen ebenso genießen wie die exotischen Riten der Minderheiten. Nur die Fremden, die allzu aufdringlich sind, werden gewissen Unannehmlichkeiten ausgesetzt. In meinem Schutz sind Sie sicherer als in den Kerkern des Imperators.«

»Sparen Sie sich Ihre Märchen«, knurrte der Kommandant gähnend. »Zeigen Sie mir lieber, wo ich schlafe. Ich bin unsagbar müde.«

Wieder kicherte Kopral, steuerte den Gleiter zur Piste zurück und dirigierte ihn einige Serpentinen abwärts. Der Hang war mit dichtem Buschwerk bewachsen. Immer mehr fühlte sich Mexon nicht unter der Obhut, sondern in der Gewalt Koprals. Neben einem hohen, schmalen Haus, dessen Vorderseite mit einem bizarren Strichmuster bemalt war, hielt Kopral an und drückte viermal kurz auf den Signalknopf. Ein magerer Junge in einer pelzgefütterten Raumfahrerjacke ohne Ärmel, die ihm als Mantel diente, kam aus dem Haus und setzte sich auf die Fronthaube des Gleiters.

»Missratener Balg«, schrie Kopral aus dem geöffneten Seitenfenster. »Verlass sofort den Platz. Der Gleiter ist frisch poliert. Sieh dir diesen Mann gut an.«

Der Junge streckte Kopral die Zunge heraus, machte ein ordinäres Geräusch und starrte Mexon durch die Scheibe an. »Ja? Und jetzt?«

»Hör zu, du frühreifer Tunichtgut. Sag allen, dass dieser Mann unter meiner Verantwortung steht. Dass ihn ja keiner belästigt, sonst schlage ich erbarmungslos zu.«

Der Junge glitt von der Haube, lief zurück zum Haus, drehte sich halb herum und kreischte: »Quatschkopf!«

Der Gleiter ruckte an und schwebte weiter. Missmutig knurrte der Mietbruder: »Immer dasselbe mit der jungen Brut. Keine Ehrfurcht vor dem Alter. Wir sind gleich im warmen Nest, Steuermann.«

Mexon schloss die Augen, sah nicht, welchen Weg der Gleiter nahm. Die Eindrücke wurden verwischter und leiser. Der Gleiter glitt langsam und in einem wilden Zickzackkurs zwischen vielfarbigen Hauswänden entlang durch schmale, von Lärm erfüllte Straßen und Gassen. Schließlich bugsierte Kopral den Gleiter unter einem Torbogen durch und ließ ihn in einem gerümpelübersäten und überwachsenen Hof zu Boden sinken. Ein kräftiger Stoß auf die Brustplatte ließ Mexon aufschrecken. Er hatte gedöst und nahm sich mit aller verbliebenen Kraft zusammen. »He … was … wo sind wir?«

»Zehn Meter von Bett und Bad entfernt«, sagte Kopral scharf. »Los, kommen Sie. Auch ohne Vorauszahlung erfolgt Leistung.«

Er half Mexon aus dem Gleiter und bugsierte ihn eine klappernde Metalltreppe aufwärts. Der Geruch stark gewürzten Essens, das in unmittelbarer Nähe gekocht wurde, stieg Mexon in die Nase. Er dachte nur noch an Schlaf und Ruhe. Vor ihm knarrte eine Tür. Licht flammte auf, er fand sich in einem Raum wieder, der ein Fenster und drei Türen aufwies. Es war vollkommen leer, nur ein vielfarbiger Teppich bedeckte den Boden. Im Innern eines derart verfallenen, aber mit Blumenornamenten bemalten Hauses hätte er diesen Anblick nicht vermutet. Brummend fragte er: »Soll ich auf dem Teppich schlafen?«

»Es wäre der bisherigen Bezahlung angemessen, unter einer Brücke zu schlafen«, sagte Kopral gelassen. »Moment.«

An beiden Längswänden gab es Multischränke. Abermals eine höchst ungewöhnliche Sache, aber der Umstand drang nicht bis in Mexons Verstand durch. Er blieb in der Mitte des Raumes stehen und sah schweigend zu, wie Kopral mit einem Griff ein zwei Quadratmeter großes Bett aus dem Multischrank klappte, ein weiteres Fach aufriss, das ein Waschbecken, einen Spiegel, Beleuchtung und Toilettenbedarf samt Einweghandtüchern enthielt, ein weiteres Fach nach vorn klappte, das mit Visifon, Leselampe, Uhr und Glas sowie Flaschen ausgestattet war. Und erst ein Viertel der Wand war nun ausgeklappt.

»Sie sind allein bis morgen, drei Tontas nach Sonnenaufgang, Vere’athor Saxon ter Kanayath. Sie können ruhig schlafen, niemand wird Sie stören. Vielleicht kommt Ayklida vorbei. Behandeln Sie die Mietschwester mit der angebrachten Höflichkeit und Zurückhaltung. Gute Nacht, Admiral.«

»Gute Nacht«, murmelte Mexon. Er riss sich Stiefel und Kleidung vom Körper, hatte gerade noch die Kraft, einen tiefen Schluck aus der Flasche zu nehmen, dann zog er die dicke Decke bis zum Kinn, schaltete die Lichter aus und schlief augenblicklich ein.

2.

Aus: Welten des Großen Imperiums, autorisierte Info-Sammlung des Flottenzentralkommandos (Geheimwelten unterliegen Zugriffskode ***-****-**), reich bebildert, 89. Auflage der Kristallchips, 10.495 da Ark

Travnor: Stützpunktwelt des Sicherungsgürtels rings um den Hauptstützpunkt Trantagossa, 3. von 15 Planeten der gelben Sonne Perlitton, 20.970 Lichtjahre vom Arkonsystem entfernt im Bereich der Hauptebene der Öden Insel.

Basisdaten: Mittlere Distanz zur Sonne: 157 Millionen Kilometer; Umlauf: 366,5 planetare Tage zu 18,66 Tontas; Durchmesser: 12.976 Kilometer; Schwerkraft: 1,02 Gravos; Achsneigung: 18 Grad; ein Mond: Travsheyn. Vier Kontinente mit insgesamt 34,1 Prozent der Gesamtoberfläche: Tecknoth, Kalamdayon, Mersiboor, Pervron.

Tecknoth ist der Hauptkontinent der Südhemisphäre und reicht grob bis zum 45 Breitengrad Süd, ergänzt um einen bis etwas zum zehnten südlichen Breitengrad reichenden Subkontinent, der in West-Ost-Richtung etwa 6000 und in Süd-Nord-Richtung rund 4000 Kilometer misst. Gesamtfläche: 104,8 Millionen Quadratkilometer.

Die Hauptstadt Krone von Tecknoth hat die Koordinaten 15° 5’ Süd, 3° 15’ West. Innerhalb des fünfzig Kilometer durchmessenden Peripherie-Rings leben annähernd 1,5 Millionen Bewohner, das Gros im 25 Kilometer durchmessenden Kernstadtbereich. Das militärisch genutzte Hauptlandefeld im Norden erreicht einen Durchmesser von zwanzig Kilometern, der sich westlich anschließende Handelshafen einen von zehn Kilometern. Eine besondere Attraktion ist das östlich des Hauptlandefelds gelegene Keruhmo-Vermächtnisfeld mit den Ruinen und Riesenstatuen eines unbekannten Volks.

Neben der Nachschubproduktion für die Raumflotte – Lebensmittel wie auch diverse Aggregate aller Größen – liefert Travnor verschiedene Speisefischsorten, die bis ins Arkonsystem exportiert werden; als besondere Delikatesse gelten der Lurz, der katzenköpfige Würmling und der Schleimspeier …

Travnor: 31. Prago der Coroma 10.499 da Ark

Mexon alias Saxon ter Kanayath erwachte. Sein Körper schmerzte nicht, aber er fühlte jede Sehne und jeden Muskel. Alarmiert blickte er um sich, aber es fehlten weder seine Kleider noch die Einkaufspackung, die neben dem Bett auf dem bunten Spannteppich stand. Es befand sich auch niemand im Raum und bedrohte ihn. Helligkeit flutete durch das Fenster, von draußen drang der Lärm von Stimmen und irgendwelchen Gefäßen herein, die krachend und klappernd umhergestoßen wurden. Entspannt schloss Saxon wieder die Augen und streckte sich aus. Das Bett war herrlich gewesen, aber in dieser Nacht hätte er vermutlich auch auf einem Nagelbrett geschlafen.

»Ein merkwürdiger Mietbruder«, brummte er und genoss die Zeit zwischen Schlafen und Wachen.

Etwas später sah er auf die Uhr und merkte, dass er zehn Tontas lang ununterbrochen geschlafen hatte. Langsam stand er auf, fand die Toilette und wusch sich in aller Ruhe. Als er gerade in den linken Stiefel schlüpfte, öffnete sich die Tür. Er zwinkerte überrascht, als er eine junge, sehr gut aussehende Frau sah, die ihn ernst anblickte.

»Kopral erwartet Sie im Hof. Frühstück.«

»Danke«, sagte er etwas verwirrt. Die Frau war höchstens dreiundzwanzig Arkonjahre alt, trug dünne, buntbestickte Stiefel bis drei Fingerbreit unterhalb des Knies. Dazu einen engen Rock und eine Jacke, die höchst merkwürdig geschnitten war und dicke Ziersäume aufwies. Er hatte derlei selten gesehen, meist in den Abbildungen der Nachrichtenmedien. Wieder einmal kam Mexon schmerzend zum Bewusstsein, dass er offensichtlich die meisten Dinge nicht kannte und unendlich viel versäumt hatte.

»Warum starren Sie mich so an?«, fragte sie emotionslos. Ihr weißblondes Haar fiel glatt bis auf die Schultern. »Haben Sie noch nie ein Paar Stiefel gesehen?«

Er lächelte verlegen und zerrte den Stiefel hoch. Mit belegter Stimme sagte er: »Solche Stiefel – niemals. Außerdem habe ich hier in der Kashba Frauen wie Sie nicht vermutet.«

»Sondern?«

»Vergessen Sie’s«, murmelte er und stand auf. »Hat Kopral gesagt, ob er …?«

Ihre entschiedene Geste schnitt seine Frage ab. Sie schüttelte energisch den Kopf und erwiderte scharf: »Ich weiß nie, was Kopral tut. Fragen Sie ihn selber, Raumfahrer.«

Mexons Laune, die sich gerade etwas erholt hatte, sank wieder einem neuen Tiefpunkt entgegen. Er folgte der Frau, entsann sich noch der eisernen Treppe, die eine Tonfolge grässlicher Geräusche von sich gab. Unter einem ganz neuen Prallschirm mit Strahlungsautomatik zur Lichtdämpfung, der nur etwas kleiner war als der Hof, saß Kopral an einem überreich gedeckten Tisch. Der Mietbruder sah nicht anders aus als gestern Nacht. Die Frau ging an Mexon vorbei und schmetterte hinter sich die Tür zu.

Mit einem breiten, schadenfrohen Grinsen begrüßte ihn Kopral. »Ich sehe, Sie haben bereits ihr Wohlwollen errungen. Hunger, Durst, Unternehmungsgeist, Admiral?« Auf dem Tisch stapelten sich Nahrungsmittel und Geschirr. Mit einer Gabel, auf der ein riesiges Stück Schinken gespießt war, deutete Kopral auf den freien Stuhl. »Nehmen Sie Platz. Nur große Ungunst des Schicksals lässt einen Tag ohne Frühstück beginnen.«

Er hatte schon getrunken; zwischen Broten, Butter und riesigen Käsewürfeln entdeckte Mexon eine halbgeleerte Schnapsflasche. Als er das Etikett entdeckte, wusste er, dass es einer der teuersten Schnäpse war, die im Intermarkt gekauft werden konnten. Der Mietbruder wurde Mexon von Tonta zu Tontas rätselhafter.

»Ich habe tatsächlich einen gewaltigen Hunger. Was haben Sie herausgefunden?«

»Nichts. Essen Sie.«

Mexon fügte sich ohne Argumentieren. Er selbst aß nicht gerade wenig, aber der Mietbruder schien periodenlang gehungert zu haben. Kopral, der gewaltige Mengen in sich hineinschaufelte, sagte nach einer Weile, die Flasche schwenkend: »Ich habe einige Kontakte zu wichtigen Persönlichkeiten. Aber bisher weiß niemand etwas von einer größeren Gruppe von Gefangenen. Auch Ihr Name ist nicht bekannt. Das Schiff kennen viele. Und zu Shekur Agh’Zorghan, unserem allmächtigen Chef, habe ich keinen direkten Draht. Ähnliches gilt für die beiden Kommandanten der Wechton-Stationen, die Has’athorii Warsoon Tikaloor und Woorhn Ter’Bsorr, die dem direkten Befehl des Sonnenkur unterstehen.«

»Nichts? Absolut nichts?«, fragte Mexon verzweifelt und beugte sich vor. Kopral schüttelte den Kopf.