Auf dem Schachbrett der Sowjetunion, die DDR - Thilo Koch - E-Book

Auf dem Schachbrett der Sowjetunion, die DDR E-Book

Thilo Koch

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Beschreibung

In dieser Studie wählt Thilo Koch einen komplett neuen Ausgangspunkt für die Betrachtung der DDR. Statt diese aus der deutschen Sicht zu sehen, beleuchtet er die Situation von verschiedenen Punkten der Welt aus. Bei diesen ist Moskau zweifellos der wichtigste Standort, von dem aus die DDR hier betrachtet wird. Dieses Werk macht die Bedeutung deutlich, welche die DDR für die Sowjetunion hatte. Kochs Studie ist eine klare Analyse der Zusammenhänge und ist in ihrer knappen Form sehr überzeugend. Dazu sind noch verschieden historische Dokumente beigefügt, die dem Leser zu einem klaren Überblick über die derzeitige Situation verhelfen.-

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Thilo Koch

Auf dem Schachbrett der Sowjetunion, die DDR

Saga

Auf dem Schachbrett der Sowjetunion, die DDRCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1970, 2019 Thilo Koch und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711836200

1. Ebook-Auflage, 2019 Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Ein persönliches Vorwort

Es hat mich nie befriedigt, die deutsche Frage immer nur von deutschen Stand punkten aus zu betrachten. Was der Krieg von Deutschland übrig ließ, ist unauflöslich gebunden an die bestimmende Welt-Konfrontation des Vierteljahrhunderts seither, an den Ost-West-Konflikt. Man versteht also nicht, was Teilung Deutschlands und Wiedervereinigungsverlangen, Entwicklung zweier deutscher Staaten in den letzten zwanzig Jahren, Berlin-Frage, Ulbricht-Regime, Alleinvertretungsanspruch usw. sind, wenn man nicht all das auch von Washington und Moskau, London, Paris, Prag, Warschau aus betrachtet.

Ich lebte von 1945 bis 1960 in Westberlin. Es waren entscheidende Jahre und sicherlich die prägenden Jahre in meiner journalistischen Tätigkeit. Schon lange reizte es mich, die Deutschlandpolitik Moskaus einmal näher zu betrachten. Meine Jahre in Washington und die Zeit jetzt wieder in Deutschland ergaben den inneren Abstand, den eine solche Betrachtung fordert.

Wie es dem Journalisten geht – es ist kein wissenschaftlichzeitgeschichtliches Werk daraus geworden. Vielmehr entstand von August bis Dezember 1969 zunächst eine Fernsehsendung (NDR) und dann dieses hier vorgelegte Buch. Es wendet sich an Leser aller Generationen im heutigen Deutschland – erreichen kann es nach Lage der Dinge nur wieder die 60 Millionen hüben, nicht die 17 Millionen drüben.

Was ich mir im Text dieses Versuchs soweit wie möglich versagte, das Persönlich-Gefühlsmäßige – hier darf ich ein Wort dazu sagen. Ich bin drüben geboren und aufgewachsen, freilich zu einer Zeit, als die Provinz Sachsen noch ebenso selbstverständlich zu einem Deutschen Reich gehörte wie meine derzeige Wahlheimat Baden-Württemberg. Ich ging sehr frühzeitig aus der »Zone« nach Westberlin, weil ich schon 1945 überzeugt war, daß jeder Sieger seine Beute halten und nutzen würde.

Ohne jeden inneren Vorbehalt, ja in Dankbarkeit, bin ich heute ein Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Aber vergessen kann ich Kindheit und Jugend an Saale und Elster ebensowenig wie meine 15 Jahre an der Spree. Überblicke ich meine journalistische und schriftstellerische Arbeit, so galt sie zum größten Teil dem Problem der deutschen Teilung. Dies erklärt, warum es mir schwer wurde, eine politische Bilanz zu schreiben, die keine Wiedervereinigungshoffnungen mehr zuläßt.

Diese Schrift erscheint in einem Augenblick, da eine neue Bundesregierung es mit einer Politik der »besonderen Beziehungen« zum zweiten Staat deutscher Nation versucht. Es sieht, fürchte ich, nicht so aus, als würden diese besonderen Beziehungen Platz haben auf dem Schachbrett der Sowjetunion. Aber vielleicht sollten wir sehr langfristig denken, was die Entwicklung in Europa angeht. Nur: werden kommende Generationen von Deutschen hüben und drüben überhaupt noch besondere Beziehungen zueinander wollen?

Ich möchte hier einigen Persönlichkeiten dafür danken, daß sie aus ihrer profunden Erfahrung heraus zu einzelnen Aspekten des Themas im Rahmen meines Textes Stellung nahmen. Es sind dies, in der Reihenfolge, in der sie zu Worte kommen:

Kamil Winter, bis 1968 Chef der Fernsehtagesschau in Prag, heute in London lebend;

Johann Adolf Graf Kielmansegg, bis 1968 NATO-Oberbefehlshaber Europa-Mitte;

Dr. Klaus Dieter Arndt, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium der Bundesrepublik;

Wolfgang Leonhard, Autor von Büchern wie »Die Revolution entläßt ihre Kinder«, »Sowjetideologie heute« u. a. m.; Dr. Hans Walter Berg, Asienkorrespondent der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands (ARD) und vieler Zeitungen.

Zu danken habe ich ferner Michael Wolf Thomas, der den dokumentarischen Anhang des Buches besorgte. Schließlich danke ich meinen Freunden und Kollegen Peter Otto, Hans-Ullrich Barth, Helmut Reinhardt für ihre Hilfe beim Manuskript der diesem Buche vorausgegangenen Fernsehsendung.

Hamburg, im Dezember 1969 Thilo Koch

Auf dem Schachbrett der Sowjetunion: die DDR

Der Blick auf eine Mauer führt nicht zur Ensicht in die Dinge, die dahinterliegen. Wer mit dem Kopf gegen Mauern anrennt, bringt sie nicht zum Einsturz. Die Mauer quer durch Berlin, die tiefgestaffelten Grenzbefestigungen quer durch Deutschland machen es uns Deutschen im Westen schwer, zu verstehen, warum diese Ärgernisse politische Realitäten sind. Es ist auch nicht leicht zu verstehen.

Deshalb geht man im allgemeinen zur westlichen oder östlichen Tagesordnung über – in der Bundesrepublik oder in der DDR – und läßt diese Realitäten auf sich beruhen. Ein zur Routine gewordenes Propagandageräusch auf beiden Seiten trug dazu bei, besonders die jungen Deutschen mißtrauisch zu stimmen gegenüber Erörterungen der deutschen Frage. Umfragen erweisen, daß immer mehr junge Westdeutsche dafür sind, einen Schlußstrich zu ziehen und die DDR ohne Einschränkung, also auch völkerrechtlich, anzuerkennen.

DDR und Bundesrepublik wurden in diesem Jahr 1969 zwanzig Jahre alt. Das ist im Leben der Völker keine sehr eindrucksvolle Zeitspanne. Aber in unserem motorisierten Jahrhundert scheint auch das Geschick der Nationen rascher voranzustürmen. Was ist nicht alles dahingegangen über Deutschland in den vergangenen 70 Jahren: ein Kaiserreich, eine Republik, eine »tausendjährige Diktatur«, vier Besetzungen und Militärregierungen – und nun haben wir da zwei neue deutsche Staaten auf einem Territorium, das nur noch ein Torso, ein. verstümmelter Rumpf des ehemaligen Deutschen Reiches ist.

Wie kam es zu der Situation, vor der wir heute stehen? Was bedeutet diese Situation eines geteilten Volkes im Herzen Europas? Wie steht es um die Sicherheit, um die Zukunft dieses Gebietes? Ich glaube, daß eine Antwort darauf nicht gegeben werden kann, ohne Einsicht in die Absichten jener Weltmacht, die nach 1945 zur stärksten Kraft auf dem europäischen Kontinent wurde, deren Politik entscheidend dazu beitrug, daß Deutschland schrumpfte und geteilt wurde. Ein unvoreingenommenes Verständnis der sowjetischen Deutschlandpolitik tut not.

Ich möchte in diesem Versuch einer politischen Bilanz einmal soweit wie möglich von der Mauer abrücken und untersuchen, was die DDR »auf dem Schachbrett der Sowjetunion« für eine Figur abgibt, welche Funktion diese Figur im großen weltpolitischen Spiel Moskaus heute macht. Der in Ostberlin mit Pomp begangene 20. Jahrestag der Gründung der DDR ist zudem keine schlechte Gelegenheit für diesen Versuch einer politisch-navigatorischen Standortbestimmung.

Der Führer der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Leonid Breschnjew, erklärte am 20. Jahrestag der Gründung der DDR in Ostberlin: »Wir sind mit Ihnen sozusagen doppelt verbündet, durch den Vertrag zwischen unseren Ländern und durch den Warschauer Vertrag. Wer sich anmaßen sollte, die Festigkeit unserer Freundschaft sowie die Unantastbarkeit der Grenzen unserer Staaten zu prüfen, der muß im voraus wissen: er wird sofort und vernichtend zurückgeschlagen unter Einsatz der gesamten Macht . . . ich wiederhole, der gesamten Macht der Streitkräfte der Sowjetunion und der ganzen sozialistischen Gemeinschaft.«

Walter Ulbricht ergänzte: »Wenn wir zurückblicken auf unserem Weg, von der Beseitigung der Trümmer bis zum sozialistischen Aufbau, so sind wir uns bewußt, daß unsere großen Erfolge nicht möglich gewesen wären ohne die Befreiertat des Sowjetvolkes.«

Welche politischen Absichten stehen hinter diesen Worten? Sind es überhaupt klare, vorausschauende Absichten, die das ganze komplizierte Schachspiel der weltpolitischen Verflechtung im Auge haben? Handelt Moskau nach einem sorgfältig programmierten Konzept, und wird dieses Konzept Zug um Zug verwirklicht – ähnlich exakt und berechenbar wie die Entsendung des ersten Sputnik und des ersten Menschen – Juri Gagarin – in den Weltraum? Oder machen auch die Russen nur eine opportunistische Politik, richten sie ihre Handlungen und Schachzüge nach dem Stand des Spiels, wie es sich aus den tausend Unvorhersehbarkeiten der lebendigen Geschichte ergibt? Ferner: sind die Russen immer »die Russen«, d. h. geht die politische Willensbildung in einem kommunistisch-totalitären System ohne innere Widersprüche vor sich?

Natürlich nicht. Der Sturz Chruschtschows 1964 ist ein Beispiel für die Spannungen in den obersten Führungskadern. Auch Russen sind Menschen. Und Menschen irren. Menschen handeln unlogisch. Menschen müssen sich arrangieren – innerhalb des eigenen Herrschaftsapparates und nach außen. Geben wir also getrost erst einmal die Vorstellung auf, Lenin und Stalin und ihre Nachfolger hätten immer alles richtiger vorausgeplant und verwirklicht als Churchill, Roosevelt, de Gaulle, Kennedy.

Gewiß, die Sowjetunion ist zur Weltmacht aufgestiegen, zur zweitstärksten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das ist eine Leistung. Aber dieser Aufstieg war nicht geradlinig, verlief vielmehr dialektisch, um es marxistisch auszudrücken, d. h. im dramatischen Prozeß zwischen Pro und Kontra, These und Antithese und jenem Dritten, das daraus resultiert, und immer so fort . . . Lassen wir gleich auch die andere Stereotype hinter uns, als handelten die Führer der Sowjetunion in erster Linie als Kommunisten und erst in zweiter Linie als Russen. Es ist umgekehrt.

Spätestens seit der Invasion der ČSSR ist dieser Punkt klar. Hierzu äußert sich Kamil Winter, der bis zur Okkupation der Tschechoslowakei Chefredakteur der Fernsehtagesschau in Prag war; heute lebt er in England, wohin er schon einmal emigrieren mußte: 1939, damals auf der Flucht vor der deutschen Okkupationsarmee:

»Die DDR, so glaube ich, erfüllt gleich mehrere Funktionen zu gleicher Zeit. Wenn ich die Rolle der DDR oder besser gesagt des Ulbricht-Regimes vom Gesichtspunkt der Tschechoslowakei aus betrachte, aufgrund unserer eigenen langjährigen Erfahrungen, so würde ich sagen: das Ulbricht-Regime fühlt und handelt als Gendarm der Sowjetunion im Ostblock – natürlich nicht nur in deren, sondern auch in seinem eigenen Interesse. Lassen Sie mich daran erinnern, daß es das DDR-Regime war, das als allererstes gegen die ersten Schwalben des ›Prager Frühlings‹ zu Felde zog, lange vor 1968, zur Zeit, als der Versuch unternommen wurde bei uns, die Rolle des Prager Dichters Franz Kafka neu, positiv einzuschätzen. Damals wurde eine wüste Propagandakampagne vom Stapel gelassen von der SED-Führung, und besonders hat sich der Chefideologe Professor Hager hervorgetan. Die Methode, die hierbei angewandt wurde, war derartig, daß sie selbst den damaligen tschechischen Staatspräsidenten Novotný in Harnisch gebracht hat.

Sehr beliebt waren auch die unablässigen Warnungen, die das DDR-Regime Bruderparteien und Regierungen anderer Ostblockstaaten erteilte, wann immer es vermutete, eine Abweichung von der Linie des reinen Marxismus-Leninismus feststellen zu können. Und besonders tat sich das Regime in Denunzierungen hervor, wenn es um Ansätze einer selbständigen nationalen Außenpolitik dieser anderen Länder ging, insbesondere in ihren zweiseitigen Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland. Ich würde in dieser Tätigkeit, für die ich nur einige Beispiele angeführt habe, auch den bedeutendsten Beitrag der DDR speziell zu der Initiative sehen, die der Vorbereitung des bewaffneten Angriffes gegen die Tschechoslowakei im August 1968 gedient hat.

Selbstverständlich liegen dieser Tätigkeit des SED-Regimes und der DDR nicht nur ihre subjektiven Wünsche und Interessen zugrunde, sondern sie wird auch mitbestimmt von den objektiven Bedingungen der Existenz des Regimes im Rahmen des gesamten Ostblocks. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, daß die DDR-Führung heute der verläßlichste Wachhund des Sowjetgefängnisses ist, in dem Moskau die Nationen Mittel- und Osteuropas abgeriegelt hat.«

Ulbricht wäre also jetzt gewissermaßen der deutsche Schäferhund Moskaus, der die Satellitenherde der Sowjetunion zusammenzuhalten hätte. Das ist eine These, die der Auffassung zu widersprechen scheint, die DDR sei zu allererst der westliche Brückenkopf der Sowjetunion, ihre Lanzenspitze, mit der sie auf das Herz Mitteleuropas ziele.

Welche Bedeutung haben die 300 000 Mann Rote Armee – 20 Divisionen –, die zwischen Elbe und Oder stehen, und dazu die Nationale Volksarmee? Hat der deutsche »Läufer« oder »Bauer« auf dem Schachbrett der Sowjetunion einen offensiven oder einen defensiven Auftrag?

Diese Frage beantwortet General Graf Kielmansegg. Er war bis 1968 als NATO-Oberbefehlshaber der verbündeten Streitkräfte für die militärische Verteidigung des Abschnitts Europa-Mitte verantwortlich:

»In das Bild vom Schachbrett der Sowjetunion ist die DDR mit ihrer Volksarmee wohl am richtigsten als Bauer zu ordnen, das heißt als Damen-Bauer, denn der Stein deckt zunächst die wichtigste Figur auf dem Brett, dann öffnet er ihr den Weg und, wenn möglich, begleitet er sie. Die Position dieses Bauern ist wichtig, aber sie kommt erst ganz heraus, wenn man die Position der DDR mit derjenigen der Tschechoslowakei zusammen sieht, denn beide zusammen ergeben ein sehr günstiges Vorfeld mit einer doppelten Eigenschaft: mit der politischen Eigenschaft des Riegels und der militärischen Eigenschaft der Plattform für einen möglichen Angriff.

Daraus muß sich auch der Auftrag für die sechs Divisionen der Volksarmee und die 18 bis 20 Flugzeugstaffeln ableiten, wobei es auf die Einzelheiten nicht so sehr ankommt, die wir ja auch nicht wissen. Worauf es aber ankommt, ist, daß man mit Sicherheit annehmen kann, daß der Auftrag der Volksarmee auf der gleichen Linie liegen wird wie der der sowjetischen Streitkräfte.

Die Gesamtstärke der Streitkräfte des Warschauer Paktes auf dem Boden der DDR und der Tschechoslowakei liegt nur geringfügig unter derjenigen, die für einen Angriff notwendig wäre, d. h. es bedarf nur einer geringen und rasch heranführbaren Verstärkung, um eine Aggression beginnen zu können. Dann nämlich, wenn die Sowjetunion sich einmal entschließen sollte, politische Ziele mit Waffengewalt zu erreichen, und insbesondere dann, wenn der Westen durch zunehmende Schwäche sie in diese Versuchung führen würde. Ohne die DDR-Plattform wäre das alles sehr viel schwieriger. Die strategische Bedeutung der DDR liegt also darin, daß sie der Sowjetunion die Aufrechterhaltung einer latenten Drohung ermöglicht, die jederzeit in militärische Aktion umgesetzt werden kann. Der DDR-Bauer ist also besonders für die Eröffnung wichtig. Aber er kann auch eine entscheidende Rolle im Endspiel haben, wenn die Partie nach den Vorstellungen der Sowjets verläuft, und diese Rolle würde dann nicht nur militärisch sein, sondern vor allem auch politisch.«

Ihr defensives Interesse an einer militärischen Riegelstellung zwischen der Ostsee und den deutschen Mittelgebirgen können die Russen aus der Geschichte herleiten. Immer wieder wurden Angriffe gegen Rußland aus der norddeutschen Tiefebene heraus vorgetragen. Nicht nur 1941 und 1914 von den Deutschen, sondern schon 1812 von Napoleon, übrigens mit vielen zwangsrekrutierten deutschen Soldaten. Auch damals gingen ungezählte deutsche Männer in den russischen Steppen und im russischen Winter elend zugrunde.

Das Sicherheitsbedürfnis der Russen, ihre Furcht vor Überfällen, kann historisch gerechtfertigt werden. Entschuldigt dieses Sicherheitsbedürfnis aber den aggressiven Imperialismus der Sowjetunion? Entschuldigt es die Gewalt, mit der Moskau seine deutsche Kriegsbeute festhält? Mit der es den Arbeiteraufstand von 1953 niederschlug?

Entschuldigt dieses Sicherheitsbedürfnis die Unterdrückung des Reformkommunismus in der ČSSR 1968, den Prager Staatsstreich 1948, durch den eine europäische Republik ihre gerade wiedererlangte Freiheit verlor und ein stalinistisches Terrorregime hinnehmen mußte? Gibt es eine Rechtfertigung für die blutige Unterdrückung des Ungarischen Aufstandes 1956 und – weiter zurückliegend – die Teilung Polens 1939 durch einen Pakt Stalins mit Hitler, die Verschiebung ganz Polens um Hunderte von Kilometern nach Westen?

Weiter: entschuldigt dieses verständliche russische Sicherheitsbedürfnis die unmenschliche Behandlung von Millionen deutscher Kriegsgefangener, die noch nach der Kapitulation 1945 nach Sibirien transportiert wurden, obwohl die Sowjetunion nicht einmal in der Lage war, das eigene schwer geschlagene Volk zu ernähren? Die deutschen Verbrechen gegen und in Rußland rechtfertigten nicht den Wandalismus der Roten Armee bei der Eroberung Berlins und der deutschen Ostprovinzen 1945; die grausame Vertreibung von zwölf Millionen Deutschen aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien, eine Vertreibung, bei der drei Millionen Ostdeutsche starben.

Rechtfertigt das russische Sicherheitsbedürfnis den Raubkrieg gegen das entschlossen Widerstand leistende kleine Finnland 1939? Und vergessen wir nicht die unendlichen Leiden, die im Namen eines russischen Sicherheitsbedürfnisses dem russischen Volk selbst zugefügt wurden, insbesondere von Stalin.

Dies alles ergibt eine erdrückende Anklage gegen das kommunistische Regime in Moskau. Und selbstverständlich kann ein noch so berechtigtes Sicherheitsbedürfnis nicht als Entschuldigung dienen.

Aber: welche Nation gehörte hier nicht auf die Anklagebank? Kann man, darf man, muß man das politische Handeln der Völker und ihrer Führer in die moralischen Schranken fordern? Als Idee der Philosophen wird diese Frage schon so lange bejaht, wie Menschen ein menschenwürdiges Zusammenleben fordern – zwischen Individuen wie zwischen Völkern. Als Maxime praktischer Polemik machte erst unser Jahrhundert Ansätze zur Verwirklichung dieser Idee einer humanen Politik.

Der Nürnberger Prozeß 1945 verurteilte die Hauptschuldigen des Hitler-Staates wegen ihrer Kriegsverbrechen und ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein internationales Recht schien zu triumphieren. Aber das große »Schuldig!« wurde auch von einem sowjetrussischen Ankläger ausgesprochen, dem General Rudenko. Und hätten nicht auch die Verantwortlichen für die sowjetischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf eine zu erweiternde Anklagebank gehört? Die Verbrechen Stalins standen denen Hitlers wohl kaum nach. Und – ich möchte auch das aussprechen: die Bombardierung Dresdens, die Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki waren auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Wenn wir dies klar und ruhig sehen – ohne moralische Entrüstung, ohne Rache-für-irgendwas-Geschrei, dann gewinnen wir eine Chance, den Völkerhaß zu überwinden, das Aufrechnen von Schuld beiseite zu lassen, weil uns die Forderung nach Sühne nur in neue Schuld führen würde. Mir schien dieser Blick in die tieferen Gründe und Abgründe, in den Zusammenhang von Sicherheitsbedürfnis und Aggression notwendig, weil jedem Begreifen russischer Politik bei uns Deutschen dieses ewige Gegeneinander-Aufrechnen von Wechselweise zugefügter und erlittener Schuld im Wege steht. Lassen wir es also beiseite und blicken wir über die Mauer zwischen uns hinweg, über die Mauern quer durch Berlin und über die Mauern in uns selber. Versuchen wir: zu verstehen.

1955 reiste der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer nach Moskau. Als Rundfunkberichterstatter hatte ich damals Gelegenheit, an Ort und Stelle zu beobachten, wie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Moskau manchen der engsten Berater Adenauers überraschte, ja bestürzte. Dennoch war sie ein Akt des Realismus. Allerdings, deutsche Botschafter in Moskau konnten bisher wenig ausrichten. Wie nimmt sich die Schachfigur DDR auf dem Brett der Sowjetunion aus, wenn man sie von Moskau her betrachtet?

Sicherlich spielt die DDR für die Sowjetunion auch im Verhältnis zu den anderen Satelliten eine hervorragende Rolle. Sie ist militärisch gesehen die Vorhut im Herzen Europas, sie verhindert das Wiederererstehen der durch die Sowjetunion stets gefürchteten politischen und militärischen Macht in Deutschland. Auf dem Gebiet der Wirtschaft hat die DDR innerhalb des sowjetischen Machtbereichs eine ausgesprochene Spitzenposition, denn was man den »Ulbricht-Staat« genannt hat, was man bei uns lange nur in Anführungsstrichen geschrieben und gedacht hat, die sogenannte »sogenannte DDR« ist in einem Sinne wirklich »ein Phänomen«, wie Kurt Georg Kiesinger die DDR einmal nannte: die DDR ist ein Phänomen als Wirtschaftsmacht. Auch dieser Teil Deutschlands erlebte, nein erarbeitete ein wirtschaftliches Comeback, das vielen Beobachtern als ein ähnliches Wunder erscheint wie das vielzitierte deutsche Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik.

Die DDR gehört heute zu den ersten zehn Staaten auf der ökonomischen Weltrangliste – mit nur 17 Millionen Einwohnern. Das Einkommen pro Kopf der Bevölkerung liegt in der DDR vor den vergleichbaren Zahlen aller anderen osteuropäischen Länder und sogar weit vor der UdSSR.

Die DDR-Wirtschaft ist in die Ostblockwirtschaft mindestens so weitgehend integriert wie die Wirtschaft der Bundesrepublik in das System des Gemeinsamen Marktes in Westeuropa. Hier sind auf beiden Seiten der Mauer vollendete Tatsachen geschaffen. Wie ernst müssen gerade sie genommen werden? Sind sie je rückgängig zu machen? Hierzu der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, Staatssekretär Dr. Klaus Dieter Arndt:

»Wenn wir über die DDR nachdenken, vergleichen wir sie unwillkürlich mit uns. Wir kommen zu den Ergebnissen, im Schnitt gesehen sind Produktivität und Lebensstandard dort nicht unerheblich niedriger als in der Bundesrepublik Deutschland. Bei diesem Vergleich übersehen wir etwas Wichtiges. Im Rahmen nämlich der osteuropäischen Volkswirtschaften, verglichen mit ihnen, ist die DDR recht erfolgreich. Sie übertrifft die Staaten des COMECON etwa im selben Maße, wie sie hinter der Bundesrepublik zurückbleibt. Spricht man in Osteuropa von den reichen Deutschen, so meint man alle Deutschen, auch die in Rostock und Leipzig, und man meint, daß so ein reicher Staat besondere Verpflichtungen gegenüber seinen weniger reichen Nachbarn hätte.

Das ist deutsches Erleben in zweifacher Ausfertigung. Die DDR ist eine industrialisierte Volkswirtschaft wie früher, als Mitteldeutschland Teil des Deutschen Reiches war. Nur wickelt sie heutzutage über 70 % ihres Außenhandels mit den COMECON-Ländern ab und weniger als 10 % mit der Bundesrepublik.