Auf den Schwingen des Windes - Harry Baumann - E-Book

Auf den Schwingen des Windes E-Book

Harry Baumann

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Beschreibung

Kurfürstentum Brandenburg, Mai 1687. Die junge Adelige Aurelie de Abremont verliert bei einem Überfall ihren Vater und damit den letzten Halt im Leben. Der Handwerksmeister Walter Binder nimmt sich ihrer an. Als im Dorf Hexerei-Vorwürfe gegen die Fremde laut werden, fliehen sie gemeinsam nach Berlin. Aurelie wird von der französischen Gemeinde in Berlin abgewiesen. Walter sieht keine andere Möglichkeit, die junge Frau weiter zu schützen und macht ihr einen Heiratsantrag. Als sich das frisch vermählte Paar zu einem Einsatz in der kurfürstlichen Kolonie Groß Friedrichsburg in Westafrika meldet, ahnen sie nicht, dass es nur der Anfang eines gefährlichen Abenteuers ist. Vor dem Hintergrund eines weniger bekannten Kapitels der deutschen Geschichte, der Beteiligung von Brandenburg-Preußen am internationalen Sklavenhandel, erzählt der Autor Harry Baumann eine Abenteuer- und Liebesgeschichte mit vielen überraschenden Wendungen und manchen, voller Erotik prickelnden Momenten.

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Inhalt

Überfall

Die Flucht

Berlin

Hochzeit

Intrige zu Cölln

Emden

„Wasserhund“

Auf den Schwingen des Windes

Das Kastell Arguin

Seeblockade

Die Festung in Afrika

Paradies im Schatten

Gyane Conney

Weihnachten in Afrika

Reise ins Ungewisse

Nanyanika

Aurelies Tagebuch – Im Reich der Ashanti

Aurelies Tagebuch – Durch den Dschungel

Das französische Schiff

Ein neuer Einsatzbefehl

Aurelies Mission

Sklavenküste

Blutige Überfahrt

Kurs West - Nord - West

Sankt Thomas

Abena

In der Fragkammer

Der Prozess

Das Urteil

Freiheit

Piraten

Wilkes Farm

Der lange Treck

Walters Village

Niagara

Epilog

Nachwort

Danksagung

Leseprobe: Wer den Wind säht …

Überfall

Aurelie hatte Angst. Sie umklammerte das Necessaire mit beiden Händen und drückte den schmalen Körper tiefer in das rote Sitzpolster der rumpelnden Kutsche.

Sie wagte nicht, ihren Vater zu fragen, warum der Fuhrknecht die vier Pferde zu solch einem mörderischen Galopp über das Kopfsteinpflaster antrieb. Vermutlich wusste der es auch nicht.

Martin de Abremont schien nervös zu sein, hatte den Degen bereits auf dem Schoß liegen, war sich aber unschlüssig, ob er die Waffe aus der ledernen Scheide ziehen sollte.

Er wollte um jeden Preis vermeiden, dass sich seine Unruhe auf die Tochter übertrug.

Man hatte ihm versichert, die Straßen im Kurfürstentum Brandenburg seien ungefährlich – und jetzt das! Vielleicht gab es ja einen banalen Grund für die halsbrecherische Geschwindigkeit, aber Marquis de Abremont glaubte nicht wirklich daran.

Es gab nur eine Chance, dies herauszufinden: Er musste die Tür einen Spalt breit öffnen und den Kutscher anrufen. De Abremont nahm den Dreispitz vom Kopf, damit diese neuartige Kopfbedeckung nicht vom Winde verweht wurde.

„Qu'est-ce qui se passe? Was ist los?“

Im gleichen Moment flog eine Kugel an ihm vorbei, verfehlte ihn und auch den Kutscher auf dem Bock nur um Haaresbreite. De Abremont zog den Kopf sofort ein, ließ aber die Tür noch offen, umklammerte den Griff des Degens fester.

„Bande de voleurs, Marquis! Nur noch zwei Meilen zum nächsten …“ Der letzte Teil der Antwort wurde vom Fahrtwind, den wiehernden Pferden, Pistolenschüssen und dem Geschrei hinter ihnen verschluckt. Marquis de Abremont wusste nicht, ob der Überfall ihm persönlich galt oder die Kutsche nur zufälliges Ziel der berittenen und gut bewaffneten Briganten war.

„Du hast doch eine abgenähte Tasche in deinem Unterkleid, ma cherie fille?“

Aurelie wusste nicht, was die Frage sollte, aber sie nickte eifrig. „Oui, ma pére!“

„Hier, steck die Transportrolle mit den Zeichnungen da rein! Falls mir etwas zustößt, bring die Rolle zu Pastor Beauvenont nach Berlin!“ Im gleichen Augenblick ahnte de Abremont, wie töricht dieses Ansinnen war. Sie würden seine Tochter entführen und schänden.

Aber soweit wollte er nicht denken. Er würde sich so teuer wie möglich verkaufen. Wozu hatte sein Vater einst einen Fechtlehrer engagiert?

Aber das war inzwischen mehr als zwanzig Jahre her … Dem Kutscher entglitten die Zügel, er sank auf seinem Bock zusammen, fiel wie durch ein Wunder aber nicht herunter. Die Pferde waren verwirrt, da sie nicht mehr angetrieben wurden und verlangsamten das Tempo.

An der Kutsche vorbei galoppierte ein Reiter, griff in das Geschirr und brachte das Gefährt zum Stehen. Wahrscheinlich war auf der anderen Seite das gleiche geschehen, aber Aurelie war viel zu verängstigt, um aus dem Fenster zu schauen.

Martin de Abremont hatte sich entschieden. Es war zwar kaum Erfolg versprechend, aber er würde die Ehre seiner Tochter verteidigen. Vielleicht geschah ja ein Wunder und irgendjemand kam ihm zu Hilfe. Hatte der tote Kutscher nicht vor seinem Ableben etwas davon gesagt, das nächste Dorf wäre nur zwei Meilen weg?

Er zog den Degen aus der Scheide, befahl seiner verängstigten Tochter, unbedingt sitzenzubleiben und stellte sich auf einen Kampf gegen eine Übermacht ein.

Nachdem er aus der Kutsche gesprungen war, sah er sich zunächst nur zwei Gegnern gegenüber, mit denen er es vermutlich aufnehmen konnte. Halunken, die sicher keine Fechtausbildung hatten. Ihm gelang es sogar, in das Wams eines der Räuber ein Loch zu stechen, allerdings ohne ihn dabei ernsthaft zu verletzen.

Das musste er bei der nächsten Attacke unbedingt besser machen! Völlig unbeeindruckt von der Kampfszene kletterten zwei weitere Briganten auf den hinteren Teil der Kutsche, wo das Gepäck festgeschnallt war und luden es ab.

Aurelie de Abremont hatte den Hut abgenommen, sich zwischen die Sitzbänke geworfen und war bisher unentdeckt geblieben. Wie mochte es ihrem Papa da draußen ergehen?

Sie hörte nur das Klirren des Metalls, betete um einen guten Ausgang.

Marquis de Abremont machte einen Ausfallschritt, parierte einen Angriff und ihm gelang es tatsächlich einen der verbissen attackierenden Gegner am Oberarm zu verwunden.

Die zwei anderen Räuber hatten die Truhen aufgehebelt und durchwühlten sie, fanden aber nur Frauenkleider. Dies konnte nur bedeuten, in der Kutsche hielt sich ein Weib versteckt!

Ein fünfter Mann galoppierte auf seinem Pferd herbei, schaute sich den Fechtkampf nur wenige Sekunden an.

Als das Pferd ruhig stand, hob er seine Pistole, zielte und drückte ab. Er hatte keinen blassen Schimmer, wen er da gerade erschoss.

De Abremont stürzte sofort zu Boden und der Degen fiel ihm aus der Hand.

Aurelie hörte, dass der Gefechtslärm verstummt war, ihre Neugier siegte und sie lugte durch den Spalt der Kutschentür. Dann hielt sie nichts mehr. Sie stürzte nach draußen und warf sich auf ihren Vater.

„Papa! Papa!“, schrie sie.

Der Räuberhauptmann steckte die Pistole in den breiten Gürtel.

„Erspart uns die Arbeit, das Weibsstück aus der Kutsche zu zerren“, kommentierte er mit breitem Grinsen das Geschehen.

Aurelie hatte schon einmal einen Degen in der Hand gehalten, das war lange her – zu einer Zeit, als sie noch eine Burg in Frankreich bewohnten. Ihr Vater hatte es nicht gerne gesehen, dass ein Mädchen … Nun war ihr alles egal. Ihre Mutter war bereits vor zwei Jahren in Holland am Fieber gestorben und jetzt war ihr Vater tot. Diese Bande würde sie entführen, misshandeln und noch ein paar ganz andere Dinge mit ihr anstellen, die sie sich lieber nicht vorstellen mochte.

Aurelie griff nach dem Degen ihres Vaters.

Der Anführer der Meute war von seinem Pferd gesprungen, war mit drei schnellen Schritten bei ihr und trat auf die Klinge.

„Tss, tss, Mademoiselle, Sie werden doch nicht? Durchsucht den Toten, wird’s bald!“, herrschte er seine Spießgesellen an.

Es dauerte nicht lange, da hatte einer den Beutel, gut gefüllt mit Reichstalern, gefunden.

„Was wird mit dem Weib?“, fragte einer der Straßenräuber den Hauptmann.

„Mitnehmen und später Lösegeld von den Franzosen in Berlin einfordern?“

Er hatte am Akzent, wie Aurelie „Papa“ aussprach, erkannt, dass es sich um Refugies handeln musste.

„Daraus wird leider nichts!“ Der Räuberhauptmann zuckte bedauernd mit den Schultern, stieg wieder auf sein Pferd und zeigte mit dem Daumen nach Norden, wo sich auf der Landstraße eine Staubwolke näherte.

„Sie wäre nur ein Ballast auf der Flucht! Aufsitzen, Kerls, oder wollt ihr am Galgen hängen?“

Sie fürchteten sich nicht vor der Staubwolke. Mit einem Bauern oder Händler wären sie schnell fertig geworden. Jetzt erkannten sie, was ihren Chef umtrieb.

In der Sonne glänzten Rüstungen!

„War wohl doch keine so gute Idee, auf dieser Straße …“, sagte einer vorwitzig.

„Halte er das Maul, Hans!“, brüllte der Hauptmann. Es konnte nur noch zwei Minuten dauern, bis die erste Musketen-Kugel in ihren Haufen einschlug.

Aurelie musste fassungslos miterleben, wie sich der Spuk, der ihr den letzten Halt im Leben genommen hatte, verflüchtigte.

Ihr blieb nur noch die Hoffnung, dass die Reiter in den glänzenden Harnischen und altmodischen Helmen wirklich ihre Rettung bedeuteten.

Die ankommende Truppe brachte die Pferde auf ein Zeichen gleichzeitig zum Stehen. Militärische Präzision, wie man sie von einer Eliteeinheit Ihrer Kurfürstlichen Majestät erwarten konnte.

Leider machten sie keine Anstalten, die Räuberbande zu verfolgen, obwohl man sehen konnte, wohin diese flohen.

Der Anführer sprang aus dem Sattel, neigte kurz den Kopf und stellte sich vor: „Major von Brück, Erstes Garde-Kürassier-Regiment zu Brandenburg!“

Der Major nahm den Helm vom Kopf, faltete die Hände und sprach ein kurzes Gebet für den im Kampf mit Straßenräubern Gefallenen im teuren, seidenen blauen Rock, der jetzt voller Blut war.

Es war ganz offensichtlich, dass die junge Dame hier einen nahen Angehörigen, vermutlich ihren Vater, verloren hatte.

Aurelie stand auf und nahm eine steife Haltung an. Sie machte keinen Knicks. Ihr Retter mochte zwar von brandenburgischem Adel sein, aber auch sie war von edlem Geblüt.

Bevor der Offizier die erste Frage stellen konnte, schleuderte ihm Aurelie entgegen: „Ich bin Aurelie de Abremont! Mein Vater, Martin de Abremont, wurde von Wegelagerern ermordet! Ich stehe als Refugie unter dem Schutz Ihres Kurfürsten, Monsieur! Wollen Sie nicht endlich die Verfolgung der Mörder aufnehmen?“

Major von Brück bewunderte die Standhaftigkeit der jungen, hübschen Französin, die sich gerade eine Locke des goldbraunen Haares von der Stirn strich.

Die musste doch nach dem gerade Erlebten völlig verzweifelt sein, stellte aber entschlossen eine Forderung.

Major von Brück deutete eine Verbeugung an.

„Das Edikt von Potsdam ist mir wohlbekannt, Mademoiselle, aber ich habe leider andere Order!“

Der Offizier winkte zwei seiner Männer heran und gab Befehl, zum nächsten Dorf zu reiten. Ein Bauer oder Fuhrknecht solle sich um Mademoiselle de Abremont, die Leichname und die Kutsche kümmern.

Die beiden Soldaten salutierten und stoben im Galopp davon.

Andreas von Brück befand sich in einer Zwickmühle. Einerseits hatte er dringende Order, sich bei seinem Obristen in Berlin zu melden. Es konnte gut sein, dass man sich in diesen unruhigen Zeiten bereits wieder im Kriegszustand befand – vorzugsweise mit dem Erzfeind Schweden.

Andererseits war die junge Dame vor ihm im Recht: Sie stand unter dem besonderen Schutz des Landesherrn, Kurfürst Friedrich Wilhelm I.

Es musste ein Kompromiss gefunden werden. Er würde mit seinen Männern hier ausharren, bis am Horizont ein Wagen auftauchte.

Aurelie de Abremont gab sich mit dieser Auskunft nicht zufrieden.

„Soll das heißen, Ihr geleitet mich nicht nach Berlin, Monsieur le Major?

Ihr habt doch selbst gesehen, was hier alles passieren kann!“

Sie wollte noch hinzufügen: ‚Dank Euch bin wenigstens ich noch am Leben!‘ – Es blieb aber unausgesprochen.

Andreas von Brück wirkte verlegen. Er würde ihr ja gern helfen, aber mit der Französin im Schlepptau bedeutete das zwei Tagesreisen. Wenn sie die Pferde nicht schonten, konnten sie schon morgen in Berlin sein.

Der Offizier deutete wieder eine Verbeugung an.

„Es tut mir unendlich leid, gnädiges Fräulein, ich sorge für Euren Schutz, bis der Pfarrer im nächsten Ort informiert ist und Euch ein Fuhrwerk dahin bringt!“

Für den Schutz dieser Landstraße war eigentlich eine Miliz zuständig.

Wo steckten die Burschen? Vermutlich in einer Gastwirtschaft bei Bier und Branntwein.

Andreas von Brück hätte am liebsten die hübsche Französin, die ihn mit ihren blauen Augen anblitzte, vorn auf den Sattel gehoben und wäre mit ihr davongaloppiert.

Aber er unterstand militärischen Befehlen und musste diese Regung unterdrücken.

Er wies zwei seiner Männer an, die Leichname des Martin de Abremont und des Kutschers in Decken zu hüllen, die durchwühlten Truhen wieder zu schließen und alles für den Abtransport vorzubereiten.

Aurelie de Abremont kniete wieder vor ihrem Vater, betete für sein Seelenheil, aber auch für das ihrer verstorbenen Mutter. Schon bald schweiften ihre Gedanken ab.

Der Pöbel mit Fackeln vor ihrem Schloss im Osten Frankreichs, aufgehetzt von katholischen Geistlichen, die gegen die Ketzer, die Hugenotten, wetterten.

Die Flucht nachts nach Norden durch von nicht minder fanatischen katholischen Spaniern besetzte Gebiete bis zu den sieben freien Provinzen der Niederlande.

Der Titel eines Marquis galt hier nichts mehr. Ihr Vater ging ungeachtet seines Alters in die Lehre eines holländischen Baumeisters, entwickelte eigene Ideen für den Bau von Kirchen und Rathäusern. Dann der Tod ihrer geliebten Mutter, der Ruf der französischen Gemeinde zu Berlin, die dringend einen Baumeister für ein eigenes Gotteshaus suchten, unterstützt vom Kurfürsten, der selbst Calvinist war, im Gegensatz zu seinen meist evangelisch-lutherischen Untertanen … Aurelie de Abremont hatte keine Tränen mehr. Sie blickte einer ungewissen Zukunft entgegen. Würden die entfernten Verwandten und Bekannten in Berlin sie aufnehmen? Immerhin hielt sie in ihrem Unterkleid die Baupläne für eine prächtige Kirche der Refugies versteckt.

„Fritz, wie heißt eigentlich die nächste Ortschaft hier?“, wandte sich von Brück an seinen Fahnenträger.

„Lubolz, Herr Major!“, kam die prompte Antwort. „Da drüben verläuft ein Graben, die Grenze zum Kurfürstentum Sachsen!“

Das kam Andreas von Brück sehr gelegen. Falls ihn jemand fragte, warum er die Verfolgung der Wegelagerer nicht aufgenommen hatte, konnte er sagen, die hätten sich ins Sächsische geflüchtet.

Von Norden, von Lubolz her, näherte sich eine Staubwolke. Major von Brück schwang sich auf sein Pferd, um den Fuhrmann höchstpersönlich zu instruieren.

„Euer Name, Kerl?“, herrschte er den Ankommenden an.

„Reinhold Wagner, Euer Hochwohlgeboren“, katzbuckelte der Mann, dem das größte Transportunternehmen in Lubolz und Umgebung gehörte.

Wenn alles gut ging, konnte man hier eine Kutsche und vier gesunde Zugpferde abstauben. Deshalb hatte sich Wagner selbst auf den Weg gemacht, allerdings auch einen Knecht mitgebracht, der einen Leiterwagen lenkte.

„Ihre Instruktionen, Wagner, im Namen Ihrer Kurfürstlichen Majestät!“, plusterte sich von Brück auf, der sich wieder einmal dabei ertappte, dass er die reizende Französin am liebsten in den Arm genommen hätte, um sie zu trösten.

„Die Leichname des Marquis de Abremont und des Kutschers zu eurem Pfarrer für ein angemessenes Begräbnis. Die Ausgaben übernimmt die Staatskasse. Mademoiselle de Abremont ist auf Kosten derselben der französischen Gemeinde in Berlin zu überstellen. Habt Ihr das verstanden, Wagner?“

„Jawohl, Herr Major!“ Reinhold Wagner hatte zwar nicht gedient, passte sich aber den Gegebenheiten schnell an.

„Verzeiht, äh, die Kutsche und die Zugpferde?“

Andreas von Brück wandte sich wieder an Aurelie.

„Gehörte die Kutsche Eurem Vater, Mademoiselle?“

„Nein, Monsieur le Major, im Hessischen gemietet!“

„Bis zur Klärung der Eigentumsverhältnisse könnt Ihr, Wagner, das Gefährt und die Zugtiere treuhänderisch bei Euch verwahren!“

„Danke, Herr Major!“ Genau darauf hatte Reinhold Wagner spekuliert.

Der Besitzer im Hessischen konnte unmöglich wissen, dass sein Eigentum irgendwo im nirgendwo in Lubolz stand, am Rande von Kurbrandenburg.

Unverhofft war ihm noch ein anderer Schatz in die Hände gefallen und er musterte die zierliche Französin unauffällig aus den Augenwinkeln.

Die Anweisungen des Offiziers, der in Eile schien, würde er sehr großzügig zu seinen Gunsten auslegen.

Nach dem alles geregelt war, bat der Fuhrmann Aurelie in der Kutsche Platz zu nehmen und Wagner stieg selbst auf den Bock. Die Leichname der beiden Toten wurden auf den Leiterwagen verfrachtet, den sein Knecht Karl lenkte.

Major von Brück salutierte, stieg auf seinen Schimmel, ließ die Schwadron in einem exakten Manöver wenden und in Richtung Berlin traben.

Reinhold Wagner hatte den gleichen Weg, zumindest bis Lubolz, war aber viel weniger in Eile, als das Militär.

Aurelie wurde wieder auf dem Kopfsteinpflaster durchgerüttelt, wie vor einer Stunde, als die Welt noch in Ordnung war. Sie wurde sich der Leere in der Kutsche bewusst, griff nach einem Spitzentaschentuch, tupfte sich die Tränen von den Wangen und schnäuzte hinein.

Sie durfte den Gefühlen des Schmerzes und der Angst vor der Zukunft nicht zu viel Raum geben. Sie krampfte das Taschentuch in der rechten Hand zusammen.

‚Es wird alles gut! Gleich nach der Beisetzung von Papa wird man mich nach Berlin bringen, der Offizier hat es versprochen und der Fuhrmann wird sich nicht mit der Obrigkeit anlegen‘, redete sie sich ein.

Das frische Grün der Bäume, Wiesen und Felder, die an ihrem Fenster vorbeizogen, konnten sie nicht aufheitern. Die Maisonne tauchte alles in ein helles Licht. Aber dieses Land war ihr immer noch suspekt, obwohl sie sich die fremde Sprache schneller als ihr Vater angeeignet hatte.

Aurelie hatte ein Talent dafür, sprach auch Spanisch, Englisch, Holländisch und Latein.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als das Fuhrwerk mit den beiden Leichen rechts abbog, aber ihr Kutscher eine andere Richtung einschlug.

Aurelie riss die Tür einen Spalt breit auf, wie es ihr Vater während des Überfalls getan hatte.

„Monsieur, Monsieur Wagner! Wohin fahren wir?“

„Bis zur Trauerfeier sind Sie selbstverständlich mein Gast“, rief Reinhold Wagner.

Das schiefe Grinsen auf seinem Gesicht konnte Aurelie nicht sehen, aber wirklich beruhigt war sie auch nicht. Sie fügte sich in ihr Schicksal.

Was machte es für einen Unterschied, ob sie die Nächte bis zur Reise nach Berlin beim Dorfpfarrer oder dem Fuhrmann verbrachte?

Sie bogen auf einen Dreiseiten-Hof ein und Aurelie machte große Augen.

Dieser Fuhrmann nannte ein stattliches Anwesen sein Eigen. Sofort kamen zwei Knechte und spannten die Zugpferde aus, führten sie in einen Stall. Drei weitere Hilfsarbeiter rangierten die Kutsche, nachdem Aurelie ausgestiegen war, rückwärts in einen Schuppen.

Der Besitzer des Anwesens, den Aurelie ursprünglich für einen unbedeutenden Fuhrknecht gehalten hatte, machte keinen Diener vor ihr und reichte ihr auch nicht die Hand.

„Willkommen auf meinem Anwesen! Leider kann ich nicht den Luxus bieten, wie du es sicher gewohnt bist!“ Reinhold Wagner grinste sie an und musterte sie unverhohlen.

Die zierliche Französin entsprach nicht dem gängigen Schönheitsideal, dafür war sie zu mager, aber sie hatte blitzende blaue Augen und ein hübsches Gesicht.

Aurelie war versucht, die Fäuste an die Hüften zu stemmen, ihm entgegenzuschleudern, was er sich einbildete, eine Aurelie de Abremont plötzlich zu Duzen! Unverschämtheit!

Andererseits war sie auf das Wohlwollen des Fuhrunternehmers angewiesen – der sollte sie ja noch nach Berlin bringen. Sie verkniff sich jede Kritik.

Wagner rief nach der Großmagd, die die Aufsicht über das Gesinde hatte. Binnen weniger Minuten stand eine stämmige, ältere Frau vor Aurelie, die sie gutmütig musterte.

Sie griff nach der schmalen Hand der jungen Frau.

„Ich bin Magda! Du wirst dir allerdings eine Kammer mit Anna teilen müssen!“

Aurelie wusste nicht, ob man ihr im Pfarramt des Ortes mehr Luxus geboten hätte, folgte einfach der Frau, die ihr viel sympathischer als der umtriebige Fuhrunternehmer erschien.

Sie erschrak, als Magda ihr das Nachtlager zeigte: Ein flaches Kastenbett mit einem Strohsack, darüber nur eine dünne Decke! Am Abend, der noch nicht angebrochen war, würde nur ein Kerzenstummel die Kammer erhellen. Auf einem Tischchen standen ein Krug Wasser und eine Waschschüssel, daneben lagen zwei Handtücher zum Abtrocknen. Zwei hölzerne Schemel vervollständigten die spartanische Einrichtung.

Aurelie ließ sich ihren Schock nicht anmerken.

‚Ist ja nur vorübergehend‘, tröstete sie sich.

Magda verabschiedete sich mit dem Hinweis, sie dürfe das Abendessen zusammen mit dem Gesinde einnehmen. Aurelie war im Moment viel zu verwirrt, um darauf hinzuweisen, dass sie eine de Abremont sei. Sie setzte sich auf einen der klapprigen Schemel.

Sie würde sich umgehend beschweren, nahm sie sich vor, sie war doch keine Dienstmagd!

Sie sprang auf, um wenigstens den Transport ihrer Kleider in diese vorübergehende, nicht angemessene Unterkunft zu organisieren.

Im Hof traf sie auch auf einen Knecht, der beeindruckt schien von der resolut auftretenden und zudem hübschen jungen Dame.

„Auf der Kutsche, die in diesen Unterstand vorhin geschoben wurde“, Aurelie zeigte auf den Schuppen, „waren zwei Truhen! Bring‘ sie in meine Kammer!“

„Jawohl, gnädiges Fräulein!“, sagte der Knecht und Aurelie schöpfte Hoffnung, dass man sie hier doch noch standesgemäß behandeln würde.

Auf dem Rückweg traf sie auf eine junge Frau, etwa in ihrem Alter, nur etwas stämmiger gebaut.

„Ich bin Anna! Du bist die Neue, nicht wahr? Habe gehört, du wurdest bei mir einquartiert?“

„Keine Sorge, nur ein paar Tage, dann bin ich wieder weg“, sagte Aurelie freundlich lächelnd.

Zurück in der Kammer wunderte sich Anna, dass man dort kaum noch treten konnte, denn zwei große, hölzerne Truhen standen im Weg.

„Hätte der Knecht ja auch in die Ecke stellen können“, meckerte Aurelie.

„Der Jakob? Der ist etwas einfältig“, plauderte die junge Magd.

„Sieh dich vor dem Großknecht Rüdiger vor, der meldet jedes kleinste Vergehen an den Wagner!“

„Ich habe nicht die Absicht, mich mit allem hier vertraut zu machen, so lange bleibe ich ohnehin nicht“, sagte Aurelie etwas schnippisch.

„Ach, ja? Da habe ich aber etwas Anderes gehört! Du sollst hier ab morgen mitarbeiten!“

„Wer sagt das?“ Aurelie wirbelte herum und fixierte die Zimmergenossin mit ihren hellblauen Augen.

„Na, wer schon! Die Magda! Mach‘ mal deine Truhen auf, in diesem feinen, blauen Seidenkleid brauchst du morgen gar nicht erst antreten!“

Da Aurelie keine Anstalten machte, den Deckel der ersten schweren Truhe anzuheben, machte es Anna selbst.

„He, was ist denn das?“ Ehe Aurelie protestieren konnte, schwenkte die Magd ein Buch, blätterte dann darin, versuchte sogar, etwas zu entziffern.

„Leg‘ das sofort zurück! Das ist ein Roman von Madame de la Fayette!“,

rief Aurelie.

„In Frankreich schreiben auch Frauen Bücher?“ Die junge Magd besann sich dann auf ihre eigentliche Aufgabe, ein Arbeitskleid herauszusuchen, wurde aber nicht so schnell fündig.

„Wozu braucht eine Frau so viele Kleider? Ich habe nur drei“, staunte Anna.

Unter all den bunten Roben aus Seide oder feinem Leinengewebe fand sie dann doch noch ein schlichtes Gewand aus dunkelblauer Wolle.

Aurelie kam wieder einmal nicht zum Protestieren, denn Anna drängte sie, sich umzuziehen.

„Die werden dich ohnehin alle angaffen, so fällst du weniger auf!“

Die junge Magd zog Aurelie einfach am Handgelenk nach draußen hin zur Gesindestube.

„Bonne soirée, äh, guten Abend“, sagte Aurelie höflich, erhielt aber kaum ein Murmeln zur Antwort. Stattdessen wurde sie von den Knechten und Mägden angestarrt wie eines dieser Fabeltiere aus Afrika mit einem Hals, so hoch wie ein Baum.

Das Interesse erlosch bald wieder, da Aurelie sich schweigend am Rande niederließ und auf ihren Holzteller starrte. Das Abendessen war spartanisch. Es gab Stockfisch, Käse, Butter und frisches Brot. Sie hatte angesichts des Todes ihres Vaters, der erst wenige Stunden zurücklag, keinen Appetit, trank nur einen Becher Wasser und aß eine Scheibe Brot.

Sie gingen früh zu Bett, denn wie Anna ihr versicherte, mussten alle morgens früh raus. Die für den Stalldienst Eingeteilten sogar vor Sonnenaufgang.

Mitten in der Nacht wachte Aurelie auf. Das Stroh im Sack, der ihr als Unterlage diente, piekte und das Kopfkissen war nass von ihren Tränen.

Ihr Vater war einer Übermacht an Strauchdieben entgegengetreten und mit dem Degen in der Hand gestorben. Sie würde sich den Herausforderungen stellen, genau wie ihr Vater es getan hatte.

Nach ein paar Stunden unruhigen Schlafes wurde Aurelie vom Hahnengeschrei und dem Rütteln an ihrer Schulter geweckt. War denn schon acht Uhr? In Frankreich und auch später in Holland hatte sie meist das Frühstück erst gegen neun Uhr eingenommen.

Sie blinzelte gegen das Sonnenlicht, das durch das schmale Fenster auf ihre Schlafstatt fiel.

„Sonnenaufgang, wünschen Sie aufzustehen oder weiter zu ruhen, Madame?“, lachte Anna.

„Für den zweiten Fall hätte ich eine Kanne Wasser parat!“

Darauf hatte Aurelie keine Lust, folglich schwang sie sich aus den Federn. Aus dem Stroh, korrigierte sie sich. Sie musste sich erst mühsam wieder daran erinnern, dass sie hier mitten in der finstersten brandenburgischen Provinz gelandet war.

Anna und Aurelie machten nacheinander Katzenwäsche an der Schüssel, kleideten sich an, bürsteten das lange Haar. Aurelie betrachtete die feine Haarbürste. Das war erstklassige Qualität, fast so, wie sie es aus Frankreich gewohnt war.

„Woher bezieht ihr die feinen Haarbürsten, Anna?“, wollte sie wissen.

„Das ist eine Werkstatt hier im Ort. Der Bürstenmacher heißt Walter Binder!“

Anna verdrehte dabei die braunen Augen Richtung Zimmerdecke, so dass Aurelie nachfragen musste.

„Ist der Mann so beliebt hier?“

Anna fühlte sich ertappt. „Na, ja, wie soll ich sagen, der begehrteste Junggeselle in Lubolz, schon dreißig Jahre alt, aber hat noch keine gefreit“, seufzte Anna, so dass bei Aurelie der Verdacht aufkam, die junge Magd würde selbst gern in den Armen dieses Handwerksmeisters liegen.

Beim Frühstück wurde kräftiger aufgetafelt, als beim Abendessen. Es duftete nach Eiern, Speck und frischem Brot. Aurelie hatte diesmal mehr Hunger, trank Milch, butterte eine dicke Scheibe Brot und belegte sie mit Käse.

Gleich nachher würde sie bei Reinhold Wagner vorstellig werden, nahm sie sich vor. Notfalls würde sie ihn an die Instruktionen des Majors von Brück erinnern und auch daran, dass sie als Refugie unter dem Schutz des Kurfürsten stand. Sie konnte erwarten, dass man sie anders behandelte, als das Gesinde hier am Tisch.

Dazu kam es vorerst nicht. Die resolute Magda teilte allen die Aufgaben zu, die sie zu erledigen hatten. Anna und Aurelie mussten Feuerholz holen, aber wie ihre Zimmergenossin ihr zuraunte, müsse man dazu nicht in den Wald, sondern nur zum Holzschuppen.

Aurelie fügte sich, schleppte zwei Bündel Holz in die Küche, damit man das Mittagsmahl für alle kochen könne. Danach musste sie Wasser am Ziehbrunnen holen, anschließend Kräuter für die Suppe im Gemüsegarten. Natürlich musste Anna ihr den Weg zeigen, sie hätte allein nicht dahin gefunden.

Aurelie schwitzte an diesem Maimorgen in ihrem Wollkleid. Sie war die Arbeit nicht gewohnt.

Inzwischen war die Zeit herangerückt, in der sie sich normalerweise aus dem Bett erhob, aber sie war jetzt schon das erste Mal müde.

In einer Ecke des Hofes spielte der einfältige Knecht von gestern mit einem jungen Schäferhund. Er erschien Aurelie nicht als der bevorzugte Ansprechpartner, aber sie schlenderte dennoch dahin.

„Guten Morgen, Jakob, ist denn der Herr Wagner zu sprechen?“

Der Knecht Jakob bohrte mit dem Zeigefinder im rechten Ohr. Er war es nicht gewohnt, so förmlich angesprochen zu werden.

Meist hieß es: „He, da, Kerl, treibe Er die Kühe auf die Weide, wird’s bald!“

„Nein, der is‘ nich‘ da!“, stotterte der Knecht.

„Und wer hat während seiner Abwesenheit das Sagen hier, wenn ich fragen darf?“

„Äh, das ist der Großknecht Rüdiger!“ Fast hätte er hinzugefügt „Gnädiges Fräulein!“ – aber die stand ja im schlichten Wollkleid vor ihm und hatte Arbeiten wie eine Magd verrichtet.

„Dann führ‘ mich zu ihm, Jakob!“, forderte Aurelie mit fester Stimme. Sie hatte sowohl in Frankreich als auch in Holland Dienstboten und Zofen gehabt und war es gewohnt, diese zu kommandieren.

Knecht Jakob duckte sich, als erwarte er Schläge, aber wenn die Französin darauf bestand. Er hielt es jedenfalls für keine gute Idee.

Jeder hier ging dem Reinhold Wagner und dem Rüdiger Großmann aus dem Weg, soweit das möglich war.

Jakob führte Aurelie zu einem Respekt einflößendem Mann mit grauem Bart, der seinen Familiennamen zu Recht trug. Der Großknecht war mindestens sechseinhalb Fuß groß.

„Was hast du vorzubringen, Aurelie? Aber bitte schnell, ich habe nicht den ganzen Vormittag Zeit“, knurrte der Großknecht.

„Eine Beschwerde, Herr Rüdiger …?“

„Großmann! Beschwerden höre ich immer mit besonderem Vergnügen, kleine Französin, nur zu!“ Der Großknecht setzte sich auf einen Schemel, klatschte mit seinen breiten Pranken auf die Oberschenkel und begann zu lachen.

„Ich bin eine de Abremont und werde hier wie eine Magd zu niederen Arbeiten eingeteilt! Darf ich auch die Frage an Euch richten, wo sich der Herr Wagner aufhält?“

Aurelie bemühte sich um eine steife Haltung, war aber von der Reaktion des Großknechts irritiert.

„Wer zu viele Fragen stellt, landet irgendwann da drüben!“ Rüdiger hob den rechten Daumen und zeigte zu einem Gestell in der Nähe einer Linde. Zwei Baumstämme und darüber ein Querbalken. Aurelie hatte sich schon heute Morgen gefragt, wozu das Gestell wohl dienen möge.

„Da du noch neu bist, erweise ich dir die Gunst einer Antwort!“

Aurelie empfand es als paradox. Ein Großknecht, der einer Adligen eine Gunst erwies?

„Auf diesem Hof sind Herr Wagner und ich das Gesetz, merke dir das, kleine aufmüpfige Französin! Mir wurde gesagt, du musst dir die Reise nach Berlin erst verdienen. Der kürzeste Weg ist, du erweist dem Herrn Wagner deine Gunst, aber das soll er dir selbst erklären!“

Rüdiger machte eine Pause und befahl dem einfältigen Jakob, einen Krug Dünnbier zu holen, er habe Durst.

Erst, als er einen kräftigen Schluck genommen hatte, setzte der Großknecht seine Rede fort.

„Der zweite, längere Weg ist, du erarbeitest dir mit viel Fleiß als Magd den Fuhrlohn, aber da sehe ich im Moment schwarz! Auch wenn es dich nichts angeht, der Herr ist im Pfarramt und regelt die Beisetzung des Knechts aus dem Hessischen und deines Vaters, alles in deinem Sinne.

Zur Beerdigung gewähren wir dir natürlich einen halben freien Tag. Noch Fragen?“

Rüdiger Großmann richtete wieder unmissverständlich den Blick zum hölzernen Gestell.

„Ja, Herr Großmann! Warum wurde ich nicht dazu eingeladen, mitzufahren, denn die Beisetzung meines Vaters geht auch mich etwas an?“, sagte Aurelie trotzig.

„Du hast es immer noch nicht verstanden, was? Wer nicht hören will, muss fühlen! Jetzt ab an die Arbeit!“

Der einfältige Jakob stand immer noch in der Nähe und glotzte. Er glaubte wieder einmal, seinen Ohren nicht zu trauen. Die kleine Französin redete sich um Kopf und Kragen!

Bevor er ihr Handgelenk ergreifen konnte, um sie zu Magda zu bringen, schleuderte ihm Rüdiger entgegen: „Schaff‘ sie mir aus den Augen, Kerl!“

Das hatte Jakob ohnehin vor. Er beeilte sich, das Franzosenweib mit der lockeren Zunge bei der Großmagd abzuliefern, damit sie eine neue Aufgabe erhalte und nicht zu viel nachdachte.

Wahrscheinlich war es besser, künftig dieser Jung-Magd aus dem Weg zu gehen, die gerade dabei war, in Ungnade zu fallen.

Jakob pfiff nach dem Hund, um nach den Schafen zu sehen.

Aurelie nahm mit einem Teil des Gesindes das Mittagsmahl ein. Es gab leckeren Eintopf, die Kräuter dazu hatte sie selbst geschnitten und klein gehackt.

Da sie sich nicht ungeschickt angestellt hatte, wurde sie gleich zum Küchendienst dabehalten. Auch Magda hielt es für das Beste, Aurelie von Rüdiger und vom Herrn fernzuhalten.

Dies gelang ihr allerdings nur ein paar Stunden lang, dann kam Meister Wagner persönlich vorbei, sagte, für den Abend brauche er gebratenes Fleisch, Brot und Käse sowie Rotwein vom Besten, im Keller müssten noch ein paar Flaschen sein.

Dann grinste er Aurelie an. Es war ihm nicht anzusehen, ob ihn Rüdiger über die Beschwerde informiert hatte oder nicht. Magda und auch Anna waren sich sicher, er hatte es getan. Sie wussten, wie der Hase hier lief.

„Euch beiden, Anna und Aurelie, wird die Ehre zuteil, meine Gäste zu bewirten. Für meine Freunde nur der lieblichste Wein und die hübschesten Mädchen!“

Reinhold Wagner zwinkerte ihnen zu, gab beim Hinausgehen Anna einen sanften Klaps auf den wohl geformten Po.

„Der scheint heute richtig gute Laune zu haben, der Herr“, seufzte Magda.

Aurelie hingegen erschrak. Was sollte das heißen? Durften diese Kerle sie am Abend unzüchtig berühren? Sie hatte von Gelagen in Frankreich gehört, da mussten die jungen Mägde unter dem Tisch knien und den Herren … Aurelie schüttelte sich vor Ekel, nur bei dem Gedanken daran.

„He, wird nur halb so schlimm, Aurelie“, versuchte Anna, ihre Freundin zu beruhigen.

„Meist sind die Kerle nach ein, zwei Stunden so besoffen, dass sie sich mit einem Klaps auf den Po begnügen! Das wird auch dein kleiner, französischer Hintern verkraften!“

Es sollte aufmunternd klingen, bestätigte Aurelie aber nur darin, dass hier andere Regeln galten und wenn alles nichts half, würde sie sich dem durch Flucht entziehen. Bis zur Beisetzung ihres Vaters würde sie das durchhalten müssen.

Der Abend brach heran und der Tisch war reich gedeckt. Sie servierte die Speisen mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen und wurde das Gefühl nicht los, Reinhold Wagner präsentiere sie hier wie einen exotischen Vogel. Denn keiner der Anwesenden konnte behaupten, eine französische Magd in seinen Diensten zu haben.

Es wurden auch Witze gemacht, die sie nicht verstand. In der Küche schnupperte Aurelie am Becher, den sie gerade eingeschenkt hatte.

Dieses Getränk musste den Vergleich mit den Rotweinen aus ihrer alten Heimat nicht scheuen, roch nur etwas süßer. Die Geschäfte des Reinhold Wagner mussten wirklich gut laufen, wenn er seinen Gästen so etwas vorsetzte.

Aurelie wagte es nicht, daran zu nippen, sondern brachte das Tablett mit den vollen Bechern nach draußen.

Anna hatte recht behalten. Die Männer machten zwar anzügliche Bemerkungen, wurden aber nicht handgreiflich.

„Weißt du was, Aurelie, meine französische Perle“, Wagner ließ wirklich keine Gelegenheit aus, damit zu prahlen, woher sie kam. „Schütte einfach zwei Flaschen in einen irdenen Krug und bring ihn her, wir bedienen uns dann selbst!“

Aurelie machte gute Miene zum Spiel, deutete einen Knicks an, sagte: „Jawohl, mein Herr!“ und entschwand wieder in die Küche.

Anna hatte zwei weitere Flaschen entkorkt und reichte sie Aurelie, die in einem Regal einen Tonkrug fand, diesen sorgfältig mit Wasser ausspülte und den süßlich duftenden Wein hineinschüttete. Vorsichtig balancierte sie das Tablett nach draußen.

Im flackernden Licht der Kerzen stolperte sie, der Krug mit dem wertvollen Inhalt zersprang an der harten Tischkante und der Wein ergoss sich unter dem Gejohle der Zechkumpane auf den Hosenlatz des Wagners.

Aurelie hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, rief dann aber nach Anna, sie solle schnell zwei Tücher bringen.

Reinhold Wagner umklammerte ihr rechtes Handgelenk so fest, dass es schmerzte.

„Bist du wahnsinnig, Dirne? Das war bester Tokajer aus dem Ungarn-Lande! So etwas säuft sonst nur der Kurfürst zu Sachsen in seinem Schloss in Dresden! Melde dich morgen am frühen Abend zur Bestrafung, dumme Gans!“

Anna eilte herbei, um den vergossenen Wein aufzuwischen. Einige der Zechkumpane forderten, die beiden Mägde sollten den Hosenlatz öffnen und das köstliche Getränk aus der Unterhose saugen.

Aurelie sammelte benommen die Scherben des Kruges auf und beeilte sich, in die Küche zu gelangen. Erst hatte sie sich mit dem Großknecht Rüdiger angelegt, der sich wie ein Dorfschulze aufspielte und nun auch noch den Herrn über ihre Zukunft besudelt.

Seitdem sie in diesem Brandenburg angelangt war, lief alles schief! Sie musste hier weg, aber in der Nacht wurde das große, zweiflügelige Tor verriegelt und mit einer Kette und einem Schloss gesichert. Zudem hatte sie sich geschworen, bis zur Beisetzung ihres Vaters hier auszuharren!

Sie verbrachte eine unruhige Nacht auf dem harten Lager, am Tage hatte sie wenigstens Abwechslung durch die Aufgaben, die ihr Magda gab. Sie musste Mehl sieben und Brotteig kneten, dann Sahne in ein Butterfass schütten und so lange an der Kurbel drehen, bis sich Butterklumpen bildeten. Die Buttermilch war ein beliebtes Erfrischungsgetränk während der warmen Monate. Aurelie kostete vorsichtig davon. Sie verzog das Gesicht, es schmeckte etwas säuerlich.

Diese Deutschen waren schon ein seltsames Völkchen. Anna schnitt Weißkohl in dünne Streifen, warf Kohl und Salz in einen großen Bottich, zog die Schuhe aus und trampelte mit stetig wachsender Begeisterung barfuß auf dem Kohl herum, wobei sie ein Lied sang.

„Was wird das, wenn es fertig ist, Anna?“, wollte Aurelie wissen. Andere Länder – andere Sitten.

„Sauerkraut! Muss nur eine Weile stehen und gären!“

So verging der Tag wie im Fluge, aber unerbittlich rückte die fünfte Nachmittagsstunde näher und Aurelie schlich mit gesenktem Kopf zu Herrn Wagner, der sie bereits erwartete.

Zur Abwechslung wollte sie mal die reumütige Magd spielen, vielleicht stimmte das den Fuhrunternehmer milder.

„Ich sollte mich bei Ihnen melden, Herr?“ Aurelie machte einen Knicks und hielt weiter den Kopf gesenkt.

„Bevor wir dazu kommen, warum du dich melden solltest, Aurelie, der Hinweis, die Beisetzung deines Vaters findet übermorgen zur fünften Stunde morgens statt. Pfarrer Lehmann hat noch einiges zu erledigen, daher dieser Termin. Du bekommst frei und darfst früher dahingehen, um dich von deinem Vater zu verabschieden!“

Reinhold Wagner klang wie ein Wolf, der Kreide gefressen hatte. So kannte Aurelie den umtriebigen Fuhrunternehmer gar nicht.

„Danke, Herr Wagner!“ Sie machte wiederum einen Knicks, obwohl sie das vor einem Mann niederen Standes nur ungern tat.

„Nun zu der Frage, warum du dich melden solltest. Also?“

„Ich habe teuren Wein verschüttet und Eure Kleidung besudelt und bitte dafür um Entschuldigung, Herr Wagner!“

„Ein bisschen was hast du schon gelernt in der kurzen Zeit, Aurelie, aber ich kann es dabei nicht bewenden lassen, ich würde den Respekt verlieren! Wenn ich dir die übliche Strafe erlasse, gibt es Gerede unter dem Gesinde und du machst dir damit auch keine Freunde! Dreißig Rutenhiebe, in einer Stunde, nur im Unterkleid, drüben an der Linde! Du kannst gehen!“

Aurelie wollte wieder einmal aufbegehren. Was bildete sich dieser Fuhrmann ein? Eine Züchtigung, als wäre sie seine Leibeigene! Das war so ungeheuerlich, dass es Aurelie die Sprache verschlug.

Eine Flucht erschien ihr im Moment noch unmöglich. Wagner hatte sicher Anweisung gegeben, das Tor zu bewachen.

Sie hatte nur eine Chance: Das Strafgericht über sich ergehen lassen und dann Mittel und Wege finden, die weltliche Gerichtsbarkeit über ihr Schicksal in Kenntnis zu setzen.

Reinhold Wagner schickte seinen Großknecht Rüdiger los, damit sich alle zur sechsten Stunde abends an der Linde einfanden.

Und wie Aurelie befürchtet hatte, sicherten zwei mit Knüppeln und Hirschfängern bewaffnete Knechte das Gehöft.

Magda griff sofort zu einem irdenen Topf. Sie wusste, dreißig Hiebe mit gewässerten Haselnussruten würde die zarte Haut der zierlichen Französin nicht aushalten.

„Was ist das, Magda?“, fragte Aurelie, deren Rücken gerade sorgfältig eingecremt wurde.

„Bilsenkraut, Fett und ein paar andere Kräuter, lindert den Schmerz und beugt Entzündungen vor. Seit den Hexenbränden vor vierzig Jahren gibt es nicht mehr viele Frauen, die sich auf so etwas verstehen. Ich habe die Salbe von einer wendischen Kräuterhexe …“ Magda biss sich auf die Lippen.

„Zu keinem ein Wort, Aurelie!“ Die Großmagd hatte den Hexenwahn noch als kleines Mädchen miterlebt und ihre Großmutter hatte ihr zugeraunt, dass immer nur Unschuldige hingerichtet wurden. Wer sich wirklich auf Hexerei verstand, verschwand einfach spurlos und ließ sich nicht fangen. Aber das war auch in diesen Zeiten, Anno 1687, immer noch gefährliches Wissen … Aurelie hatte das mehlbestäubte Wollkleid ausgeklopft und zusammengelegt.

Wie angewiesen ging sie zur sechsten Stunde des Nachmittags zum Gestell in der Nähe der Linde. Zwei Knechte eskortierten sie, damit sie nicht doch noch in letzter Minute die Flucht ergriff – aber sie würde nicht weit kommen.

Reinhold Wagner verzichtete auf eine Ansprache. Alle Versammelten wussten, dass man hier schon für das kleinste Vergehen bestraft wurde und einige hatten es auch am eigenen Leibe erfahren. Das Mitleid für Aurelie hielt sich in Grenzen. Sie war eine Fremde und wenn der Wagner der Meinung war, sie habe es verdient, dann war es so.

Rüdiger riss ihr das Unterkleid bis zu den Hüften herunter, streckte ihre Arme nach oben, fesselte die Handgelenke. Dann wurde Aurelie in einen Haken, der ihr bisher nicht aufgefallen war, eingehängt. Sie war jetzt durchgestreckt und ihre Füße berührten gerade noch den Boden.

Aurelie schämte sich, obwohl die meisten Anwesenden nur ihre nackte Rückenpartie sehen konnten.

Reinhold Wagner ließ meistens Rüdiger die Prügelstrafe vollziehen, aber bei dieser zart besaiteten Französin erschien ihm das Risiko zu groß, weshalb er selbst nach der ersten Rute griff, die in einem Eimer mit Essigwasser steckte.

„Dreißig Hiebe und du wirst zukünftig sorgfältiger mit meinem Eigentum umgehen! Möchtest du einen Beißknebel, Magd?“ Wagner wartete gar nicht erst auf eine Antwort, sondern schob ihr ein Stück geschnitztes weiches Weidenholz zwischen die Zähne. Es sollte auch verhindern, dass sich Aurelie auf die Zunge biss.

Die ersten Schläge mit der Haselnussgerte empfand Aurelie gar nicht als so schlimm. Die Wundersalbe von Magda wirkte zunächst. Reinhold Wagner spürte das auch und erhöhte die Intensität der Hiebe.

Nach zehn Schlägen zerbrach die erste Rute und Wagner winkte Rüdiger, dass er ihm die zweite reichte. Als auch diese zerbrach, zeichneten sich deutlich die roten Striemen auf dem Rücken ab. Bei den Hieben einundzwanzig bis dreißig platzte die Haut an einigen Stellen auf.

Aurelie keuchte, aber sie hatte sich nicht die Blöße gegeben, den Beißknebel auszuspucken und ihren Schmerz laut herauszuschreien. Nein, diese Genugtuung wollte sie Wagner nicht geben.

„Genug geglotzt! Geht wieder in die Gesindestuben!“, hörte Aurelie wie in Trance. Ihr ganzer Rücken bis zum Po stand in Flammen, sie zitterte und ahnte, ohne die lindernde Salbe von Magda wäre es noch schlimmer gewesen.

Sie musste hier weg, noch heute Nacht, auch wenn sie sich gegenwärtig nicht in der Lage fühlte, auch nur bis zu ihrer Kammer zu schleichen.

Reinhold Wagner machte zunächst keine Anstalten, sie auszuhängen.

Sie spürte seinen Atem ganz nah an ihrem Gesicht.

„Ich musste das tun, Aurelie, die hier kennen es nicht anders …“ Es klang fast wie der Beginn einer Entschuldigung, aber Aurelie wusste, diesem Mann, der sie gerade geschlagen hatte, konnte man nicht trauen.

„Wenn du mir zu Willen bist, Aurelie, kannst du übermorgen nach Berlin, deine Entscheidung!“

Reinhold Wagner fuhr mit seiner linken Hand über ihre schweißnasse Flanke, bis die Finger die Wölbung ihrer Brust erreichten und dort verweilten. Sein Zeigefinger umkreiste den linken Warzenhof, berührte den Nippel.

Vielleicht würde es irgendwann in ihrem Leben mal einen Mann geben, bei dem sie das erregend fand – aber das war ganz bestimmt nicht Reinhold Wagner!

„Nein, niemals!“ Aurelie spuckte jetzt den Beißknebel aus. Es wirkte auf den Mann neben ihr, als hätte sie zu seinen Füßen ausgespuckt.

Wagner löste das Haar, das man hochgesteckt hatte, damit es nicht den Rücken verdeckte.

Dann griff er hinein und riss ihren Kopf schmerzhaft nach hinten. Bei all den Schlägen hatte sie nur gepresste Laute von sich gegeben, aber ohne den Beißknebel schrie sie ihren Schmerz hinaus, hatte deshalb sofort die linke Hand des Kerls an der Kehle.

Nein – das würde er nicht wagen, das nicht!

„Wie du willst, du dumme Gans! Beim nächsten Mal darfst du dir noch aussuchen, ob meine Gäste oder drei meiner Knechte dich auf einen Tisch werfen und deine Furche ackern – beim übernächsten Mal nicht mehr!“

Reinhold Wagner ließ endlich los und Aurelie atmete durch. Erst, als er sie ausgehängt hatte und ihr gestattete, die Träger des beschmutzten Unterkleides wieder über die Schultern zu ziehen, zischte sie ihm entgegen: „Nique ta mère!“

Aurelie wusste selbst nicht mehr, woher sie das hatte, wahrscheinlich von Tagelöhnern aufgeschnappt, als sie noch im Osten Frankreich lebte, wohlbehütet auf einem Schloss.

Ihr Glück war auch, dass ihr Peiniger kein Französisch verstand – er hätte sie bewusstlos geschlagen.

Reinhold Wagner sah der schmalen Silhouette hinterher, wie sie in den Unterkünften der Mägde verschwand. Wenn er mit ihr das Lager teilen wollte, dann hätte er sie vielleicht anders behandeln sollen. Er schlurfte zu seinem Vertrauten Rüdiger, der viel mehr war, als nur der dienstälteste Knecht und ließ sich einen Becher Branntwein einschenken.

„Ich glaube, wir haben einen Fehler gemacht, Rüdiger!“ Wagner nahm einen tiefen Schluck und schüttelte sich.

„Ach, ja, wieso? Dieser widerborstigen Französin Mores zu lehren, war richtig gewesen“, grunzte der Großknecht.

„Wo kommen wir hin, wenn wir jede Magd mit Samthandschuhen anfassen, die tanzen uns auf dem Kopf …“ Weiter kam Rüdiger nicht. Reinhold Wagner unterbrach ihn mit einer unwirschen Handbewegung.

„Du verstehst nicht, Rüdiger! Das ist nicht irgendeine Jungmagd, wir haben ihre Aufsässigkeit nicht gebrochen, die wird sich beschweren!“,

brauste der Fuhrunternehmer auf.

„Dann müssen wir sie daran hindern! Ich gebe sofort Anweisung, dass sich Karl vor dem Gesindehaus postiert!“ Rüdiger stand auf und rief nach einem seiner zuverlässigsten Leute.

Zwei davon bewachten bereits das Tor und den hohen Zaun, gebaut wie eine Palisade.

Aber sie konnten nicht überall sein, das Grundstück war weitläufig.

„Wir verstärken die Wachen, Rüdiger! Zusätzlich zwei Mann, die Patrouille laufen, die ganze Nacht!“

„Wird gemacht, Reinhold!“ Der Großknecht gab die entsprechenden Anweisungen.

Die Flucht

Im Gesindehaus im Trakt der Mägde liefen die Vorbereitungen zur Flucht der Aurelie de Abremont auf Hochtouren. Selbst die Großmagd, sonst ihrem Herrn und Brotgeber treu ergeben, war der Meinung, so könne es nicht weitergehen.

Zum einen war die junge Französin nicht für die Arbeit geeignet, obwohl sie sich in der Küche anstellig gezeigt hatte, zum anderen sollte man ihr Gelegenheit geben, mündlich und schriftlich verbrieftes Recht durchzusetzen.

Anna und Magda wussten genau, wenn es herauskam, hatten sie harte Strafen zu befürchten, wobei Hiebe mit einer Rute noch das geringere Übel waren. Viel schlimmer schien es, wenn man sie als alleinstehende Frauen auf die Straße warf.

„An wen kann ich mich wenden?“, fragte Aurelie, nachdem sie das verschmutzte Unterkleid ausgetauscht hatte, ein Gewand aus ihren Truhen überzog und ein weiteres in einem Bündel verstaute.

„Pfarrer Lehmann?“, versuchte Anna, einen Rat zu geben.

„Nein!“, sagte Magda resolut, wie es ihre Art war. „Vielleicht hilft dir der Graf zu Lynar in Lübbenau, der ist Landrichter – allerdings gehört dies zu Kursachsen! Aber er hat Einfluss, gerade hier, im Grenzgebiet!“

‚Ein Graf? Das klingt erstmal gut‘, dachte Aurelie. Der würde sie sicher empfangen, wenn er erfuhr, dass eine de Abremont die Bittstellerin war.

Sie machte sich keine Gedanken darüber, dass das Edikt zu Potsdam in Sachsen gar nicht galt.

„Wo finde ich diesen Grafen zu Lynar?“

„Genau das ist das Problem, liebe Aurelie! Zu Fuß schaffst du es in deinem Zustand bis zum Morgengrauen nicht dahin. Das ist in Lübbenau, dazwischen Moor, dichte Wälder, Fließe …“ „Fließe?“, fragte Aurelie.

„Kanäle, welche der Fluss Spree gebildet hat. Der kürzeste Weg ist der mit einem Kahn. Du läufst am Dorf vorbei genau nach Osten, orientiere dich an den Sternen …“ Aurelie nickte. Sie hatte damals beim Privatunterricht aufgepasst. Im Osten stand zu dieser Jahreszeit das Sternbild Herkules.

„Am ersten Fließ, auf das du triffst, wendest du dich nach rechts, suchst nach der Hütte vom jungen Fischer Jurek! Er ist ein Wende, aber keine Sorge, der spricht auch Deutsch! Vermutlich wird er nicht begeistert sein, dich in der Nacht nach Süden zu staken. Die Wenden glauben, ihre Wälder sind von Ludkis, kleinen Kobolden, Wassermännern und anderen Geisterwesen bevölkert.“

Aurelie war egal, an welche Geister dieses Volk glaubte, Hauptsache, man half ihr weiter.

Das naheliegende Problem, wie Aurelie überhaupt von hier wegkam, hatten die drei Frauen zunächst vernachlässigt. Anna ging nach draußen, um nach dem Rechten zu sehen und fand zu ihrem Entsetzen vor der Tür den Knecht Karl mit einem Knüppel in der Hand vor.

Anna wusste, wie man den männlichen Bewohnern des Anwesens um den Bart ging.

„Nachtschicht heute, Karl?“, fragte sie mit kokettem Augenaufschlag.

„Ein stärkender Trunk gefällig?“

„Da sage ich nicht nein, Anna, noch lieber wäre mir allerdings ein Küsschen von dir!“, lachte der Knecht. Dem passte die neue Aufgabe gar nicht. Er war hier doch angestellt, um Waren mit einem Fuhrwerk nach Kottbus, Berlin oder Cölln zu bringen.

Anna kam nach wenigen Augenblicken mit einem Becher Branntwein wieder. Magda hatte einen Extrakt aus Mohnsaft und Kräutern beigemischt.

Nach zehn Minuten hörten sie nur noch das laute Schnarchen des Knechtes, der an eine Wand gelehnt, zusammengesunken war.

Magda war entgangen, das Graf Siegmund Casimir zu Lynar bereits verstorben war und sein Sohn Friedrich Casimir das Amt eines Landrichters aufgrund seiner Jugend noch gar nicht bekleiden konnte. Aurelie wurde auf eine unnütze Mission geschickt – aber das ahnten die drei Frauen nicht.

Anna und Aurelie warfen sich in dieser lauen Maiennacht in das feuchte Gras. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass der Weg zum Garten, den Aurelie bereits kannte, ebenfalls bewacht wurde.

Sie hielten den Atem an. Wenn die beiden Männer stehenblieben und sie entdeckten, dann war alles vorbei. Aber die zwei bewaffneten Knechte unterhielten sich nur kurz, wie es schien, nahmen sie auch einen Schluck aus einem Flachmann und schlenderten dann weiter.

Anna und Aurelie atmeten leise keuchend aus. Noch mal gut gegangen!

Im Dunkeln war es schwer, den Weg der beiden Büttel zu verfolgen, aber als es Anna so erschien, die liefen am Weg zum Kräutergarten vorbei, gab sie ihrer Gefährtin ein Zeichen.

In gebückter Haltung huschten die beiden Frauen an den Beeten mit Gemüse und Kräutern vorbei. Man konnte kaum etwas sehen, der Mond wurde von vorbeieilenden Wolken verhüllt.

Aurelie erschien es inzwischen keine so gute Idee mehr, von diesem Gehöft mitten in der Nacht zu fliehen. Sie hatte Angst, aber auch das Bild vor Augen, wie ihr Vater mit gezücktem Degen aus der Kutsche gestiegen war, um sie und ihre Ehre zu verteidigen.

„Hier sind zwei Latten locker! Du bist schmal, du kannst da hindurchkriechen! Alles Gute für dich, Aurelie, ich bete für dich!“

Aurelie nahm die neu gewonnene Freundin, die sie jetzt schon wieder verlor, kurz in den Arm. So viel Zeit musste sein.

„Danke für alles, Anna, und grüß Magda von mir! Ihr habt so viel auf euch genommen, um mir zu helfen. Au revoir!“

Sie wusste, wenn es herauskam, würden die beiden Frauen, die ihr geholfen hatten, leiden müssen. Aurelie kannte nur ein Ziel: Nach Osten zu diesem Fischer Jurek!

Sie stolperte durch die Dunkelheit über feuchte Wiesen, die Häuser von Lubolz immer in Sichtweite – aber nur, wenn die Wolkendecke aufriss.

Aurelie kümmerte sich nicht um die Schmerzen in ihren Schultergelenken, hervorgerufen durch die Aufhängung am Strafgerüst. Die Striemen, die ihr der Wagner beigebracht hatte, spürte sie dank der lindernden Salbe von Magda kaum.

Sie war zu sehr in Gedanken versunken, wie es weiterginge, so dass sie am Waldesrand eine Wurzel übersah, darüber stolperte und stürzte. Erst das Missgeschick mit dem teuren importierten Wein und jetzt das!

Ihr Fußknöchel schmerzte. ‚Nein, nicht das auch noch!‘

Als sie sich wiederaufrichten wollte, blickte sie in das zähnefletschende Maul eines Schäferhundes, der sie anknurrte.

Aurelie nahm ihre ganze Willenskraft zusammen. Hunde spüren, wenn man Angst hat. Nur keine zeigen!

„Cher chien!“, keuchte sie. „Lieber Hund!“

Der Schäferhund spitzte die Ohren und hielt Abstand.

„Hasso, zurück!“, rief eine dominante, männliche Stimme.

Die Situation war zunächst gerettet – aber was passierte, wenn dieser nächtliche Spaziergänger ein Freund des Reinhold Wagner wäre? Aurelie wollte die Konsequenzen nicht zu Ende denken.

Der Mann half ihr auf, der Hund stand schwanzwedelnd daneben, inzwischen davon überzeugt, dass von der jungen Frau keine Gefahr ausging.

Aurelie versuchte, im fahlen Mondlicht, das durch die Wolken drang, zu erkennen, wer sie am Arm hielt.

Es war zumindest ein stattlicher Mann, das dunkelblonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Sie hatte keine andere Wahl, als diesem völlig überraschend aufgetauchten Wanderer zu vertrauen. Wenn sie richtiges Pech hatte, dann brachte der sie zurück zum Wagner, denn in diesem Dorf im Brandenburgischen hielten wahrscheinlich alle zusammen.

Aber soweit mochte Aurelie nicht denken, zumal sie wieder ein stechender Schmerz im linken Fußknöchel durchzuckte.

Der Herr an ihrer Seite spürte das und stützte sie weiterhin am Unterarm.

Immer, wenn er nicht einschlafen konnte, ging Walter Binder spät am Abend noch einmal mit dem Hund spazieren. Es war fast schon eine tägliche Angewohnheit geworden.

Wenn ihm eine fremde, junge Frau in der Nacht vor die Füße fiel, konnte es sich nur um eine handeln. Für Walter Binder erübrigte sich die Frage nach dem Namen.

„Sind Sie verletzt, Aurelie de Abremont? Stützen Sie sich weiter auf meinen Arm! In meinem Haus legen wir dann kühlende Umschläge auf den geschwollenen Knöchel!“

Walter war stark genug, um die zierliche Französin auch ein Stück des Wegs zu tragen, aber das erschien ihm zu anzüglich.

Aurelie atmete erleichtert aus. Eines stand fest: Das war ein anderer Mann als der Reinhold Wagner, dem sie gerade entkommen war. Die Stimme war angenehm, beruhigte sie und sie schöpfte Hoffnung, dass der Mann ihr helfen würde.

Aurelie hinkte neben ihm her. Hoffentlich war der Weg zu seinem Haus nicht so weit!

„Oh, entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt! Walter August Binder mein Name, ich betreibe eine Werkstatt, die Besen und Bürsten herstellt!“

Aurelies Augen leuchteten auf, was Walter im Dunkeln nicht sehen konnte.

„Ich habe Ihre Handwerkskunst schon bewundert, Meister Binder!“

„Das freut mich! Sogar einige Beamte am Hofe des Kurfürsten zu Sachsen in Dresden beziehen meine Haar- und Kleiderbürsten“, sagte Walter nicht ohne Stolz.

„Leider habe ich es noch nicht bis zum Hoflieferanten bei unser Allergnädigsten Durchlaucht, dem Kurfürsten zu Brandenburg gebracht“, fügte Walter Binder bedauernd hinzu.

Offen blieb die Frage, weshalb die junge Französin mitten in der Nacht vom Hofe seines Freundes aus Kindheitstagen, dem Wagner, geflohen war.

Aber diese delikate Frage wollte Walter jetzt noch nicht stellen. Es ging erstmal darum, das Mädchen zu sich nach Hause zu bringen und den Knöchel zu versorgen.

Nach einer Aurelie endlos erscheinenden halben Meile kamen sie an einem schmucken Fachwerkhaus an, an das sich ein weiteres Gebäude anschloss.

„Greta! Greta!!“, rief Walter nach seiner Haushälterin, die sich offensichtlich schon zur Ruhe begeben hatte.

Hasso bellte kurz auf, wurde aber mit erhobenem Arm zum Schweigen gebracht.

„Du weckst noch die ganze Nachbarschaft auf!“, tadelte Walter seinen Hund.

Es dauerte einige Zeit, bis die Dame, den Schlaf aus den Augen reibend, auftauchte.

„Eine Schüssel mit eiskaltem Wasser und Essig, Greta!“, sagte Walter.

Es klang wie ein Bitte, weniger wie ein Befehl. Aurelie gewann einen ersten Eindruck, dass es hier ganz anders zuging, als beim umtriebigen Fuhrunternehmer.

Greta, eine ältere Frau, etwa in dem Alter wie Magda, bat Aurelie, auf einem Hocker Platz zu nehmen, ignorierte zunächst die Anweisung, befühlte stattdessen den linken Knöchel des späten Gastes.

In einer Stadt mochte es Barbiere, Apotheker und sogar Chirurgen geben, aber hier auf dem Lande musste man sich um die Versorgung von Verletzten selbst kümmern. Die älteren Frauen waren recht gut darin, auch wenn viel Wissen während der Hexenjagden vor ein paar Jahrzehnten verloren gegangen war.

„Scheint nicht gebrochen, aber wohl verstaucht“, sagte Greta und legte einen kühlenden Umschlag um den lädierten Knöchel.

Bei Aurelie flossen jetzt, nach dem sie hier so gut behandelt wurde, niemand dumme Fragen stellte und die Anspannung langsam von ihr wich, die Tränen.

„He, alles gut, junges Fräulein“, sagte die alte Haushälterin. „Sie werden nur in den nächsten zwei Tagen einen Stock zur Entlastung brauchen!“

„Das ist es nicht“, schluchzte Aurelie. „Ich müsste nur dringend zum Grafen von Lynar, damit jemand an das Garde-Kürassier-Regiment schreibt, dem Major von Brück, und ein Brief an die französische Gemeinde zu Berlin, Pfarrer Beauvenont, da ich etwas in meinem Unterkleid …“ Aurelie erschrak, als sie nach der Rolle mit den Bauzeichnungen greifen wollte. Sie war nicht mehr in der geheimen Tasche in ihrem Unterkleid!

„Suchen Sie das, edles Fräulein?“ Walter zauberte das röhrenförmige Behältnis aus braunem Leder hinter seinem Rücken hervor.

„Sie haben es verloren, Hasso, der Hund, hat es apportiert und ich habe es unbemerkt an mich genommen. Natürlich erhalten Sie es zurück!“

Dann wechselte Walter einen schnellen Blick mit seiner Haushälterin.

Beiden war unklar, was die Französin bei diesem jungen Grafen in Lübbenau wollte, der noch nicht einmal volljährig war und zudem in Sachsen residierte.

„Graf Friedrich Casimir zu Lynar wird Ihnen kaum weiterhelfen, der lernt selbst gerade erst schreiben! Wenn es Ihnen recht ist, übernehmen wir das, edles Fräulein!“, sagte Walter mit einem Schmunzeln.

Jetzt war es an Aurelie, die Stirn in Falten zu legen. Magda hatte ihr einen anderen Namen genannt, sie kam nur nicht mehr drauf.

„Ein Schüler? Ist der Graf zu Lynar nicht der zuständige Landrichter?“

„Der ist vor ein paar Monaten gestorben, hat man Ihnen das nicht gesagt?“, mischte sich Greta ein.

Aurelie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Gleichzeitig spürte sie die kühlende, lindernde Wirkung des Essigwassers an ihrem geschwollenen Knöchel.

Der Ausflug mittels dieses Fährmanns Jurek nach Lübbenau fiel buchstäblich ins Wasser, stattdessen hatte sie neue Verbündete gefunden – zumindest hoffte sie das.

„Ich glaube, das Fräulein de Abremont ist rechtschaffen müde“, sagte Walter Binder.

“Ist das Gästezimmer bereit, Greta?“

„Ist bereit“, sagte die Haushälterin. „Ich bringe sie rüber!“

Walter verschwand mit einer grüßenden Handbewegung in den Tiefen des Hauses. Wenn sich die junge Französin entkleidete, wollte er nicht zugegen sein, das wäre unschicklich gewesen.

Greta trocknete den linken Fuß ab, stützte Aurelie, die noch unendlich viele Fragen hatte. Gleichzeitig fielen ihr auch fast die Augen zu. Es war alles ein bisschen viel gewesen in den letzten zwei Tagen … Als Greta wie eine Kammerzofe beim Entkleiden half, wurde der alten Haushälterin plötzlich klar, weshalb das Mädchen mitten in der Nacht geflohen war. Sie hatte rote Striemen auf dem Rücken, die allerdings medizinisch gut versorgt schienen, soweit sie das im flackernden Kerzenlicht beurteilen konnte.

„Die Striemen: Reinhold Wagner. Die Behandlung: Magda Schneider“, stellte sie nüchtern fest. Greta lebte seit Jahrzehnten hier und kannte die Handschriften der Dorfbewohner.

„Ja, Greta“, sagte Aurelie und fasste zunehmend mehr Vertrauen zu den Menschen auf diesem Anwesen, „das Problem ist nur, ich möchte morgen zur Beisetzung meines Vaters und habe Angst, dass Reinhold Wagner dort auftaucht! Darf ich das Ansinnen stellen, dass mich Herr Binder und zwei Stockknechte begleiten, nur für den Fall, dass …?“

„Wir beschäftigen keine Stockknechte“, sagte Greta spitz. „Das ist nur ein Handwerksbetrieb, der seine Waren vertreibt. Aber wenn es dir etwas hilft, dann gehen Herr Binder, meine Wenigkeit und der Altgeselle morgen mit dir mit. Man wird dich schon nicht entführen, falls du das befürchtest!“

Aurelie war mit dieser Antwort noch nicht ganz zufrieden. Es blieb ein mulmiges Gefühl.

„Ihr kennt euch doch alle in diesem Dorf. Darf ich fragen, wie das Verhältnis von Herrn Binder zu Reinhold Wagner ist?“

Greta gab zunächst keine Antwort, sondern führte den Gast in das Schlafgemach.

Natürlich gab es auch hier nur einen Strohsack, aber es war viel gemütlicher eingerichtet, als die Mägdekammer, die sie sich mit Anna geteilt hatte.

Greta stellte eine Kerze ab, die den Raum etwas erhellte. Dann setzte sie sich Aurelie gegenüber auf einen Schemel.

„Der Reinhold und der Walter waren in der Kindheit die besten Freunde, heckten gemeinsam Streiche aus“, begann sie. Aurelie erschrak, genau das hatte sie befürchtet.

„Und – sind sie es immer noch?“, flüsterte Aurelie.

„Nein. Walter war bei den Gelagen, bei denen junge Mägde gezwungen wurden, Dinge zu tun … Wie auch immer. Walter behagte das nicht, stellte seinen Freund zur Rede, der wohl sagte, Weiber sind dazu da, dass man sie benutzt. Seither gehen sie sich aus dem Weg, grüßen sich nur kurz beim Kirchgang.“

„Danke, Greta!“ Aurelie war hundemüde, fand aber zunächst keinen Schlaf, wälzte sich hin und her. Die Informationen, die Greta ihr gegeben hatte, waren interessant, aber sie konnte sie im Moment noch nicht einordnen.

Sie wusste nur, hier ging es ganz anders zu, als sie es bisher erlebt hatte – dabei befand sie sich immer noch im selben Dorf in dieser Einöde, die sich Brandenburg nannte.

Draußen heulte Hasso wie ein Wolf den Mond an. Sie hörte es nur ein, zwei Mal – dann fiel Aurelie in einen tiefen Schlaf … Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte. Die Sonnenstrahlen, die durch das schmale Fenster fielen, kitzelten sie an der Nase.

Aurelie musste niesen, gleichzeitig versuchte sie, den linken Fuß zu bewegen. Der feuchte Lappen, den Greta aufgelegt hatte, war verrutscht und fast abgetrocknet.

An einer Waschschüssel erledigte sie die Morgentoilette und legte dann das schwarze Wollkleid an, diesem Tag angemessen.

Am Frühstückstisch erwarteten sie Greta, Walter Binder und ein Mann, den sie nicht kannte.

„Guten Morgen, Fräulein de Abremont! Das ist mein Altgeselle Peter Brunner, er war so freundlich, Ihnen eine Gehhilfe zu schnitzen“, sagte ihr Gastgeber.

Die Gehhilfe war aus dem Ast einer Eiche gefertigt, reichte Aurelie bis über den linken Ellenbogen. Auf halber Höhe war ein Griff für die Hand und am oberen Ende eine Astgabel im rechten Winkel.

Der Altgeselle hatte alles sorgfältig poliert, so dass sich Aurelie keinen Splitter einreißen konnte. Sie probierte es aus und stellte erfreut fest, dass sie beim Laufen den Knöchel entlasten konnte.

„Danke, Herr Brunner“, sagte Aurelie freundlich lächelnd.

„Keine Ursache, edles Fräulein“, sagte der Altgeselle bescheiden.

Greta tafelte auf und das Frühstück unterschied sich kaum von dem, was man ihr bei Reinhold Wagner vorgesetzt hatte, ergänzt durch Konfitüre aus Waldbeeren.

Die schmierte sich Aurelie aufs Butterbrot, das hatte sie vermisst.

„Sehr lecker, Greta, selbst gemacht?“

„Ja, habe ich, auch wenn der Zucker dafür teuer aus Westindien importiert werden muss.“

„Alle bereit?“, fragte Walter und ihm wurde zugenickt.

„Die Schwellung am Fuß erlaubt es noch nicht, dass Sie weite Wege laufen, Fräulein de Abremont.“

Walter blieb weiter förmlich, denn er wusste, war die Beisetzung ihres Vaters erst einmal vorbei, würde die junge Französin alles daransetzen, nach Berlin zu gelangen.

„Ich habe daher anspannen lassen!“

Vor dem Kastenwagen, konstruiert zum Transport von Bürsten und Besen, wieherte nur ein Pferd, die alte Fuchsstute Lotte, weshalb auch nur die beiden Frauen darauf Platz nahmen und Greta die Zügel ergriff. Die Männer würden nebenherlaufen.

Aurelie setzte sich vorn neben Greta, spürte Feuchtigkeit in den Augen aufsteigen.

Dieser Tag bedeutete den endgültigen Abschied von ihrem Vater, zugleich erhoffte sie sich Hinweise, wie ihre Zukunft aussehen würde.

Am meisten bange war Aurelie immer noch vor der Wiederbegegnung mit Reinhold Wagner – falls dieser dort überhaupt auftauchte. Sie versuchte, den Gedanken daran zu verdrängen.

Zunächst wunderte sie sich, wie klein die Kapelle des Ortes war. Bei den Gottesdiensten zu den höchsten kirchlichen Feiertagen, wie Ostern oder Weihnachten, fasste diese sicher nicht alle Gläubigen von Lubolz.

„Ein Kirchenneubau ist längst geplant, wird aber noch ein paar Jahre dauern“, erklärte ihr Greta, als hätte sie die Gedanken erraten.

Die Särge des hessischen Kutschers und ihres Vaters waren aufgebahrt.

Aurelie kniete davor, faltete die Hände, betete für das Seelenheil der beiden Männer. Vor allem nahm sie Abschied von ihrem geliebten Vater.

Die glückliche Kindheit, die Jugend auf der Flucht und in Holland – all das war unwiderruflich vorbei. Sie war jetzt auf sich allein gestellt. Diese Erkenntnis war nicht neu, traf sie aber wie ein Hammerschlag.