Tod an der Schwarzen Elster - Harry Baumann - E-Book

Tod an der Schwarzen Elster E-Book

Harry Baumann

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Beschreibung

Als Matthias nach kurzer Abwesenheit auf den heimatlichen Hof zurückkehrt, bietet sich ihm ein Bild des Grauens. Drei Menschen liegen tot in ihrem Blut. Nur sein Vater und eine Magd fehlen. Gemeinsam mit Margarete, die ihrem gewalttätigen Ehemann, dem Vetter des mächtigen Landvogtes, entflohen ist, macht sich Matthias auf die Suche nach den Mördern und den Vermissten. Dabei erfährt er das Geheimnis seiner wahren Herkunft und muss sich dem Kampf mit dem Ritter stellen, der Margarete zurückholen soll und nicht nur ihm nach dem Leben trachtet. Anlässlich der 600-Jahr-Feier von Naundorf bei Ruhland werden viele Ortschaften entlang des Flusses Schwarze Elster zu Schauplätzen. Über den regionalen Bezug hinaus ist es für alle interessierten Leser*innen ein spannender historischer Abenteuer- und Liebesroman des Autors Harry Baumann.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Danksagung

Nachwort

Kapitel 1

Sie hatten den Hund zuerst erschlagen. Blut quoll aus der Schnauze des Tieres. Matthias hatte als Kind mit dem Welpen gespielt. Sanft strich er über das goldbraune Fell und verscheuchte die Fliegen. Die Gebete würde er sich für die weiteren Opfer des Überfalls aufheben. Ein Knüppeldamm führte zum Hof mit dem Wohnhaus, der Scheune, dem Stall und der alten Mühle. Sie hatten kein Feuer gelegt. Matthias sah keine qualmenden Balken. Am Ende des Dammes lag die Leiche des Knechtes Jakob. Dessen Kleidung war blutüberströmt. Ein Schwerthieb von oben hatte offensichtlich die Halsschlagader verletzt. Daneben lag eine lange Heugabel.

Matthias hatte Bilder vor Augen: Der Hund hatte gebellt, weil sich unbekannte Reiter näherten. Jakob wollte nachsehen, was los war und hatte womöglich versucht, den ersten Angreifer mittels der Gabel vom Pferd zu holen. Beide hatten ihren Mut mit dem Leben bezahlt.

Er war nur vier Tage weggewesen, um einen Freund zu besuchen. Wer waren die Angreifer? Warum hatten sie hier in diesem abgelegenen Gehöft ein Blutbad angerichtet? Er brauchte dringend einen Humpen Bier, um den Durst nach der Wanderung zu löschen. Und einen Schnaps, um alles weitere erträglicher zu machen. Um zur Speisekammer zu gelangen, musste er an den Leichen seiner Schwester und seiner Mutter vorbei. Kleider und Unterkleider waren zerrissen. Falls man sie geschändet hatte, dann waren sie anschließend erschlagen worden.

Matthias suchte zunächst alles ab. Schaute in die Scheune. Die Ställe waren leer. Die Mörder hatten die Kuh, die Schweine und die Hühner mitgenommen. Einige Federn zeugten davon, dass das Hühner und Hahn versucht hatten zu fliehen. Weder in der alten Mühle, die kaum noch betrieben wurde, noch im Wohnhaus fand Matthias weitere Leichen.

Sein Vater Karl und die Magd waren verschwunden. Wollten die Bastarde, die das angerichtet hatten, die Magd noch öfter schänden, um sie erst dann …? Warum hatte sich sein Vater den Angreifern nicht entgegengestellt? Matthias wusste, dass sein Vater ein Schwert besessen hatte. Ungewöhnlich für einen Müller in der Lausitz. Er verfluchte sich, weil er nicht dagewesen war. Was hätte er bewirken können? Matthias schüttelte den Kopf und kämpfte gegen aufsteigende Schwermut und Tränen. Er machte sich nichts vor, sie hätten ihn auch getötet.

Die Mörder hatten bis auf das Vieh nichts weiter mitgenommen. In einem Versteck in der Küche fand er sogar einen Beutel böhmische Groschen. In der Speisekammer waren Brot, Bier, Käse, Schinken und der Branntwein unangetastet geblieben. Nachdem sich Matthias gestärkt hatte, holte er einen Spaten aus der Scheune und machte sich daran, vier Gräber auszuheben. Wegen des morastigen Bodens rann ihm bald der Schweiß von der Stirn. Mit einer Axt schlug er gerade Zweige ab und stellte vier Kreuze her. Der Hund war zwar kein Lebewesen mit einer Seele wie ein Mensch – er bekam trotzdem ein Kreuz am Grabhügel.

Matthias wollte die Nacht nicht an diesem Ort verbringen, wo die Geister der verstorbenen Seelen herumschwirrten. Nach einem weiteren Humpen Bier und zwei kräftigen Schlucken aus dem Tonkrug mit dem Branntwein torkelte er hinunter zum Ufer der Schwarzen Elster.

Dort lag an einem Holzpflock mittels eines Seiles gesichert der Kahn. Der war flach und konnte mit einer langen Stange gestakt, aber auch gerudert werden. Die Bauweise hatte man sich vom slawischen Volk der Wenden im Spreewald abgeschaut.

Als Matthias aus seinem Rausch erwachte, verblassten Mond und Sterne. Das Seil hatte sich gelöst und der Kahn war flussabwärts getrieben worden.

Der junge Mann schüttete sich kaltes Flusswasser ins Gesicht. Am linken Ufer lag eine Truggestalt, eine unglaublich schöne Frau, die ihre Füße ins Wasser hielt. Noch ein Schwall kaltes Nass. Das überirdische Wesen war immer noch da! Als Matthias genauer hinschaute, bemerkte er, dass dieses Wesen die einfache graue Kleidung einer Magd trug. Das lange Haar goss sich wie flüssiges Gold über ihre Schultern und die grüne Wiese. Matthias war wieder klar im Kopf. Er zog den Kahn ein Stück auf die Uferwiese. Dann stupste er das feenhafte Wesen an.

Sie erwachte und erschrak. Ein fremder Mann über ihr – das konnte nur Unheil bedeuten! Unwillkürlich presste Margarete die Knie zusammen. Falls dieser Mann sie schänden wollte wäre sie gewappnet. Ihre Hand tastete nach dem versteckten Dolch.

»He, ich will dir nichts tun! Ich bin Matthias, Sohn des Müllers Karl Brandt. Man hat meine Familie gemeuchelt! Du warst entlang des Flusses unterwegs – hast du etwas gesehen? Reiter, die sich entfernten?« Es war nur die halbe Wahrheit. Sein Vater und die Magd Hanka wurden vermisst.

»Ich bin Gretel, eine entlaufene Magd aus Senftenberg. Nein, ich habe nichts gesehen oder gehört!« Margarete entspannte sich und richtete sich auf. »Es tut mir leid, was passiert ist, Matthias!« Der junge Mann, der sie aus blaugrauen Augen forschend anblickte, stellte keine unmittelbare Gefahr da. Es war dumm und gefährlich gewesen, Senftenberg fluchtartig zu verlassen. Als junge Frau sollte man nachts nicht allein unterwegs sein. Margarete hatte keine andere Möglichkeit gesehen, dem Martyrium zu entkommen.

Matthias griff nach den Handgelenken der Frau, die er zunächst für ein überirdisches Wesen gehalten hatte. Die Hände waren schmal, die Haut hell, er entdeckte keine Schwielen. »Eine Magd aus Senftenberg? Wie kommt es dann, dass deine Hände aussehen, als mussten sie nie schwere Arbeit verrichten?«, knurrte Matthias. »Die Wahrheit Gretel! Ich nehme an, du heißt gar nicht Gretel?«

Margarete kämpfte mit den Tränen. Sollte sie einem fremden Mann, den sie gerade erst kennengelernt hatte, die ganze Wahrheit offenbaren? Wenn dieser Matthias ihr helfen sollte, musste es wohl sein.

»Es tut mir leid, ich bin Margarete Kürschner, Tochter eines Fischhändlers aus Ruhland. Man hat mich vor einem Monat mit dem Vetter des Landvogts Nikolaus von Polenz vermählt. Als ich einen irdenen Krug zerbrach, fesselte mein Gemahl mir die Beine und streckte sie nach oben. Ich bekam vierzig Schläge auf die Fußsohlen. Als ich wieder laufen konnte, fasste ich den Entschluss, Senftenberg zu verlassen. Ich weiß, was Gott zusammengefügt hat, soll man nicht trennen. Ich wurde schon in der Hochzeitsnacht misshandelt. Bitte bring mich heimlich zu meiner Mutter nach Ruhland, sie wird vielleicht Verständnis zeigen und Münzen für eine Weiterreise geben!«

»Ich muss ohnehin nach Ruhland, um den Überfall zu melden. Vielleicht bekomme ich dort Hinweise auf marodierende Söldner, eine Räuberbande oder gar die böhmischen Hussiten«, sagte Matthias. »Du musst nicht zu deiner Mutter, Margarete.« Er klimperte mit dem Beutel böhmischer Groschen. »Wir werden nicht verhungern.«

»Heißt das, du hilfst mir?« Margarete schaute ihn aus großen blauen Augen an. Bei so einer Frau konnte man nicht nein sagen. Matthias kämpfte dagegen an, sie in den Arm zu nehmen.

Sie war das Weib keines Geringeren als Nikolaus von Polenz und damit unantastbar. Sie hatte gesagt, dass der sie misshandelt hatte und sie ihm davongelaufen war. Es änderte nichts an der gottgewollten Ordnung, dass sie einem anderen gehörte.

»Wir haben den gleichen Weg«, antwortete er ausweichend. »Komm, steig in den Kahn, Margarete, ich stake uns nach Ruhland. Ist ja nicht weit.«

Die junge Frau lehnte sich zurück und hielt den linken Unterarm unter Wasser. Es war ein warmer Frühsommertag und die Landschaft mit dem Schilf, dahinter den Buchen und Eichen glitt an ihr vorüber. Linkerhand fiel ihr ein Wagen mit hohen Holzwänden auf, die mit Schießscharten versehen waren. »Matthias, ein Kriegswagen der Hussiten!«, rief Margarete aufgeregt. »Ich habe es schon einmal auf einem Holzschnitt gesehen!«

Matthias lenkte den Kahn an das linke Ufer und vertäute ihn mittels eines Holzpflockes und Seiles. Galant half er seiner Begleiterin, die vorsichtshalber die Kleider raffte, an Land.

»Du hast ein gutes Auge! Ich habe wegen des Schilfes nichts gesehen.« Matthias untersuchte den Kampfwagen. Das Holz roch frisch. Der Wagen war nicht lange im Einsatz gewesen. Ein Rad gebrochen. Pferdedung deutete darauf hin, dass das Kriegsgerät erst kurze Zeit hier herumstand. Die leichten Kanonen und Handrohre hatten die Böhmen umgeladen und mitgenommen. Womöglich hatte ein Bauer dies bereits gemeldet, vielleicht auch nicht.

»Hussiten in unserer Gegend?« Matthias machte ein nachdenkliches Gesicht. Wenn sie es denn waren – warum sollten die böhmischen Ketzer ein abgelegenes Gehöft überfallen? Deren Ziele waren zumeist Klöster, die sie plünderten, um der Papst-Kirche in Rom zu schaden.

Margarete trieben andere Gedanken um. Sie hatte viele Möglichkeiten durchgespielt, wie sie unerkannt in eine Stadt gelangen konnte, wo jeder sie von Kindesbeinen an kannte. Sie hatte zwei seidene Tücher dabei, um sich zu verschleiern. Das Problem war gelöst.

Jetzt würde Matthias Brandt für sie in die Stadt gehen. Sie knotete ein Tuch auseinander und entnahm ihm einen silbernen Ring.

»Ich möchte, dass du meine Mutter aufsuchst, bitte! Dieser Ring, der einst ihr gehörte, beweist, dass du von mir kommst! Kein Wort zu meinem Vater Wilhelm Kürschner!« Margarete legte den Ring auf das Brett in der Mitte des Kahnes.

»Du verlangst einiges von mir, Weib des Nikolaus von Polenz, genannt Nickel!«, sagte Matthias und stakte weiter. Da sie flussabwärts unterwegs waren kam Ruhland bald näher.

»Die hölzerne Brücke und die Zollstation gehören zur Gemeinde Naundorf«, dozierte er.

»Ich weiß, ich wurde hier geboren!« Margarete rollte die blauen Augen.

»Ich werde den Kahn hier festmachen. Du bleibst wo du bist! Ich möchte nicht, dass dich jemand erkennt, es meldet und dein Vater zwei Büttel schickt, um dich nach Senftenberg zurück zu schleifen!«, sagte Matthias strenger als beabsichtigt. »Bis heute Abend, Margarete! Brot, Käse und Wasser sind noch vorrätig!« Ehe die junge Frau etwas erwidern konnte, war ihr Beschützer bereits über die grüne Wiese davongeeilt.

Die Wachleute am Stadttor kreuzten die Hellebarden. »Dein Begehr, Mann!«, knurrte der größere der beiden.

»Ich bin Matthias, Sohn des Karl Brandt! Ich möchte zu den Herren von Ruhland, den Gebrüdern Hentzke …« Weiter kam er nicht. Die beiden Wächter lachten. »Wer möchte das nicht!«

»Ich will einen Überfall der böhmischen Ketzer melden! An der alten Elstermühle! Meine Mutter, meine Schwester, der Knecht – alle erschlagen! Mein Vater verschleppt! Auf dem Weg hierher sah ich einen Kriegswagen der Hussiten, das Rad war gebrochen.«

Den Wachleuten war das Grinsen vergangen. Der ältere der beiden winkte einen dritten Mann herbei.

»Michael, bring den jungen Mann sofort zur Kaupe! Gefahr im Verzug!«

»Jawohl, wird gemacht, Klemenz!«

Matthias wusste, dass die Stadt Ruhland seit einigen Jahren den Brüdern Hentzke gehörte.

Der Knecht Michael eilte voran zur Kaupenburg, dem Sitz derer von Hentzke.

Zugegen war auch Wilhelm Kürschner, was die Sache nicht einfacher machte.

»Hussiten am Mittellauf der Schwarzen Elster!« Johann Hentzke schlug mit der flachen Hand auf den Eichentisch, der einen großen Teil des Raumes einnahm. Darum gruppiert waren einige Stühle mit hohen Lehnen, die mit Schnitzereien verziert waren.

»Was sagst du dazu, Wilhelm?«, wandte er sich hilfesuchend an den reichsten Fischhändler der Stadt.

»Die Horden der böhmischen Ketzer ziehen zumeist entlang der Flüsse Neiße und Spree. Hier an der Schwarzen Elster? Das ist ungewöhnlich, aber nicht auszuschließen. Wir sollten dem nachgehen!«, sagte der Vater von Margarete. Matthias hoffte inständig, dessen Tochter habe sich an die Abmachung gehalten, im Kahn zu verbleiben. Er knetete das Tuch, indem sich der silberne Ring der Maria Kürschner befand.

»Sie können gehen, Matthias Brandt! Wir schicken Bewaffnete den Fluss hinauf, um den beschädigten Kriegswagen zu bergen. Wir werden Sorge tragen, dass der Landvogt Hans von Polenz Kenntnis vom bedauernswerten Überfall erhält!«

Matthias neigte das Haupt und verließ den Saal. Er musste unbedingt das Haus des Händlers Kürschner erreichen, bevor derselbe zum Abendessen erschien. Matthias schlich durch das Markttreiben. Er wich immer wieder Hausfrauen und Mägden aus, die mit geflochtenen Körben unterwegs waren, um Gemüse und Fleisch zu kaufen. In hölzernen Käfigen gackerten Hühner oder quiekten Ferkel, als würden sie ahnen, heute in einem Kochtopf zu landen.

Margarete hatte ihm das Fachwerkhaus südlich des Marktes von Ruhland beschrieben. Matthias schaute sich nach allen Seiten um. Es war niemand da, der ihn beobachtete. Er betätigte den Türklopfer. Als eine Magd einen Spalt breit öffnete, drückte er die junge Frau beiseite.

»Nicht schreien! Matthias Brandt, ich muss dringend zur Hausherrin mit einer Nachricht von ihrer Tochter!« Die Magd war zu überrascht, um Laut zu geben. Ein Räuber würde kaum am helllichten Tag in Ruhland sein Unwesen treiben. Vor ihren Augen blitzte ein silberner Ring.

»Hat deiner Herrin gehört. Nein, ich habe ihn nicht gestohlen, Margarete selbst hat ihn mir als Erkennungszeichen gegeben. Darf ich jetzt durch? Danke!«

Die Magd blieb zunächst verblüfft stehen, dann eilte sie dem jungen Mann hinterher und stolperte in die Wohnstube, wo Maria Kürschner an einem Stickrahmen saß.

»Entschuldigt, Herrin, der junge Mann ließ sich nicht beirren, unangemeldet bei Ihnen vorzusprechen!« Die Magd machte einen Knicks und verschwand.

»Der Ring in euren Händen hat mir gehört. Ihr habt ihn nicht in Senftenberg gestohlen, um mir etwas vorzugaukeln?« Matthias wurde aus blauen Augen angeblitzt. Maria Kürschner war wie ihre Tochter eine betörend schöne Frau.

Das Alter – sie musste mehr als vierzig Lenze zählen – hatte kaum Spuren hinterlassen. Matthias deutete eine Verbeugung an.

»Matthias, Sohn des Karl Brandt von der alten Elstermühle«, sagte er. »Ich habe nicht viel Zeit. Ihr Ehegatte darf nicht erfahren, dass ich hier war! Margarete befindet sich in meiner Obhut. Sie beteuert, dass sie von Nikolaus von Polenz so schwer misshandelt und gedemütigt wurde, dass sie keinen anderen Ausweg als die Flucht sah. Wenn Sie ihrer Tochter helfen wollen, bitte ich Sie um einen Beutel Silber, meine eigenen Mittel sind nach einem Überfall auf die alte Elstermühle begrenzt.«

Maria Kürschner legte den Stickrahmen beiseite. Es war nicht einfach gewesen, die Adelsfamilie von Polenz von einer Hochzeit mit einer Kaufmannstochter zu überzeugen. Nikolaus von Polenz hatte Schulden, die man stillschweigend getilgt hatte. Der Landvogt Hans von Polenz, der nicht nur Verwaltungsbeamter war, sondern dem die Niederlausitz auch gehörte, hatte der Hochzeit zugestimmt, nachdem er die Braut gesehen hatte. Und jetzt war Margarete geflohen, nur weil sie vom Ehegatten gezüchtigt worden war? Man sollte das undankbare Kind ergreifen und zurückschicken!

»Sie sagen, Sie haben meine Tochter in ihrer Obhut. Gehe ich richtig in der Annahme, dass es unweit von Ruhland ist? Sie sind zu Fuß hierher gelangt.«

Matthias ahnte die Falle. Die verwandtschaftliche Verbindung zum Herren der Niederlausitz war zu wichtig, um sie aufs Spiel zu setzen. Er würde den Teufel tun, um den Kahn zu erwähnen.

»Wenn Sie nichts geben wollen, werte Frau Kürschner, empfehle ich mich!«, sagte Matthias und drehte sich auf dem Absatz um.

»Halt! Warten Sie! Was haben Sie vor?«, rief Maria Kürschner. »Wo wollen Sie hin?«

»Das kann und darf ich Ihnen nicht sagen, Sie würden Büttel hinterherschicken!«

Die Kaufmannsgattin eilte Matthias hinterher und drückte ihm einen Lederbeutel in die Hand.

»Für die Weiterreise! Wenn meine Tochter die Trennung will, dann sucht Rat bei einem Rechtsgelehrten in einem Kloster. Sagt ihr, sie wird immer mein geliebtes Kind bleiben, egal, was sie bewogen hat, Senftenberg zu verlassen!« Maria Kürschner hatte Tränen in den Augen. Die mütterliche Fürsorge hatte gegenüber dem Kalkül, mit dem Clan derer von Polenz verbunden zu sein, Überhand gewonnen.

Matthias deutete wiederum eine Verbeugung an. Bei einer Gräfin wäre diese tiefer ausgefallen.

»Ich werde es Margarete ausrichten. Kein Wort zum Ehegatten!«

Matthias beeilte sich, aus Ruhland herauszukommen. Mit einbrechender Dunkelheit würde man das Stadttor zum Grenzstrom schließen. Als er über die morastige Wiese die Anlegestelle des Kahns erreichte, war diese verwaist. Hatte sich Margarete aus dem Staub gemacht? Wo wollte sie hin?

In Ruhland würde ihr Vater sie ergreifen lassen und morgen wäre sie wieder in Senftenberg in der ›Obhut‹ ihres Herrn Gemahl. Der Kahn war verdeckt von Schilf von der Stadt her nicht einsehbar gewesen. Matthias wollte sich schon auf den Weg machen, um die junge Frau im angrenzenden Wäldchen zu suchen, da tauchte sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder auf.

»Schau mal, bereichert unser Abendessen!« Sie knotete ein Tuch auf, aus dem drei Walderdbeeren auf den Boden kullerten. »Leckere rote Früchtchen! Pilze habe ich nicht gefunden, ist noch zu früh im Jahr.« Margarete zuckte entschuldigend mit den Schultern. Erst jetzt entdeckte Matthias rote Flecke neben den geschwungenen Lippen und darunter.

Dieser Frau konnte man nicht böse sein. Er verstand immer weniger, warum ein Mann so ein elfenhaftes Wesen schlug.

»Mein Leckermäulchen, willst du gar nicht wissen, wie es in Ruhland gelaufen ist? Ich habe sowohl deinen Vater als auch deine Frau Mutter gesprochen! – Lass den Beutel nicht fallen, wäre schade um die Erdbeeren!«

»Nun sprich schon! Du hast mich nicht verraten? Bei einem Beutel Silberlinge kann ein Mann schon schwach werden …« Margarete kam näher, sorgfältig darauf bedacht, den Rest der Waldfrüchte nicht auch noch zu verschütten.

»Bin ich Judas? Ich habe tatsächlich einen Beutel Silber erhalten. Der ist allerdings für dich mit einem Gruß von deiner Frau Mutter. Sie sagte, du bleibst immer ihr Kind, auch wenn sie deine Flucht missbilligt. Dein Vater wunderte sich über die mögliche Anwesenheit böhmischer Ketzer. Die Stadt will den beschädigten Kriegswagen bergen und einen Boten nach Senftenberg schicken, um den Landvogt darüber in Kenntnis zu setzen. Nach der langen Rede habe ich Durst. Ist noch etwas Bier da?«, fragte Matthias.

»Ja, ich habe den verschlossenen Krug am Kahn halb im Wasser versenkt, damit das Bier kühl bleibt!« Margarete schenkte ihrem Beschützer noch ein bezauberndes Lächeln.

»Du bist eine aufmerksame Hausfrau. Wenn eine Scheidung möglich ist, mache ich dir einen Heiratsantrag!«, lachte Matthias.

»Du willst mich auf den Arm nehmen!« Margarete bespritzte ihn mit Wasser aus dem Fluss. »Was hast du wirklich vor?«

»Zum Kloster Dobrilugk, dort weiß man sicher Rat, auf welchem Wege eine Trennung von deinem Ehemann möglich ist. Die gleiche Idee hatte übrigens auch deine Frau Mutter.« Matthias blickte nach Westen, wo sich die Sonne anschickte über der Heidelandschaft unterzugehen. »Das Schilf schützt uns vor neugierigen Blicken. Wir übernachten gleich hier.«

Matthias hatte seiner Begleiterin nur die halbe Wahrheit gesagt. Von seinem alten Freund Eberhard, der sich als Mönch Bruder Michael nannte, erhoffte er Hinweise zu bekommen, wer und warum man das abgelegene Gehöft überfallen hatte. Hing es mit den Kriegszügen zusammen, an denen sein Vater Karl teilgenommen hatte? Es gab berechtigte Zweifel daran, dass die böhmischen Ketzer die Täter waren. Der beschädigte Kriegswagen war weiter stromab gefunden worden.

»Leider nur trockenes Brot, Käse und Erdbeeren zum Abendmahl, werter Herr Brandt«, sagte Margarete und schreckte Matthias aus seinen Gedanken auf. »Dafür ist das Bier gekühlt.«

»Gleich morgen früh schleiche ich nochmal in die Stadt, um frisches Brot zu kaufen. An dem Kanten beißt man sich ja die Zähne aus!«

»Sieht nicht sonderlich bequem aus«, meckerte Margarete und machte Anstalten, sich im schwankenden Kahn zur Ruhe zu begeben. »Zum Glück habe ich eine leichte Decke dabei, um mich vor den Mücken zu schützen.«

Matthias trank den Rest des Bieres aus und hatte ebenfalls die nötige Bettschwere erreicht. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als direkt neben der jungen Frau das Lager aufzuschlagen. Er konnte die Wärme ihres Leibes spüren, ihr gleichmäßiger Atem streifte sein Gesicht. Die Sache mit dem Heiratsantrag hatte wie ein Scherz geklungen. Für Matthias war es keiner gewesen.

Sie erwachten wie gerädert. So ein Kahn ist nun mal keine Bettstatt. Matthias streckte sich ein paar Mal, schüttete sich etwas Elsterwasser ins Gesicht und machte sich erneut auf den kurzen Weg nach Ruhland. Margarete überlegte, ob sie ein Bad nehmen sollte. Nach dem Waschen von Händen und Gesicht entschied sie, dass es dafür morgens zu kalt sei. Es war bestimmt auch keine gute Idee, durch Flur und Wald zu laufen.

Wie leicht konnte sie ein Bauer, der hier mit seinem Heuwagen vorbeikam, entdecken und verraten. Es war ein kleiner Junge, der sich eine Angel gebastelt hatte, um in der Schwarzen Elster Fische zu fangen.

»Bist du nicht Margarete? Ich habe dich schon auf dem Marktplatz gesehen, ist aber eine Weile her! Warum sitzt du im Kahn und bist nicht in der Stadt?«, wollte der neugierige Junge wissen.

»Du musst dich irren, Knabe. Ich bin Maria, das Weib des Matthias Brandt von der alten Mühle bei Naundorf! Als wir von einer Reise zurückkamen, fanden wir meine Schwiegermutter, meine Schwägerin und einen Knecht erschlagen vor. Es wurde bereits gemeldet und wir werden uns eine neue Heimstatt suchen!«

Der Junge musterte sie weiterhin aus großen Augen. »Wenn du nicht Margarete bist, dann siehst du ihr ähnlich wie eine Schwester!« Er machte keine Anstalten zu gehen. Die junge Frau überlegte, wie sie den aufdringlichen Knaben loswerden könnte.

»Wenn du mir nicht glaubst, dann geh zurück. Auf dem Wege wirst du vielleicht Matthias treffen!«

Der kleine Friedrich schien immer noch nicht überzeugt, schulterte die Angelrute und lief endlich die Wiese hinauf zur Brücke an der Zollstation.

Für Margarete gab es nur einen Ausweg. Wenn der Knabe herumerzählte, in einem Kahn sitzt eine Frau, welcher der Margarete, Tochter des Fischhändlers Kürschner, zum Verwechseln ähnlich sieht, dann würde ihr Vater jemand schicken, um dem nachzugehen. Margarete löste den Strick vom Pflock und ließ den flachen Kahn unter der Brücke hindurch flussabwärts treiben. Sie konnte nur darauf hoffen, dass ihr Beschützer sie auf dem Landweg wiederfand.

Matthias kam fröhlich pfeifend über die Wiese zurück.

In einem Beutel hatte er seine neu erworbenen Schätze verstaut: Frisches Brot vom Bäcker, Angelhaken und Pfeilspitzen vom Schmied. Er fand nur noch den hölzernen Pflock vor, den er selbst in den Boden gerammt hatte. Der Kahn und mit ihm Margarete waren weg! Jemand musste sie entdeckt haben. Wegen der Angst, ihr Vater könnte Büttel schicken, um sie zu befragen und nach Senftenberg zurück zu schicken, hatte sie sich stromabwärts treiben lassen.

Matthias hatte keine andere plausible Erklärung für ihr Verschwinden. Ohne Reittier würde es schwierig werden, Margarete bald wiederzufinden. Er machte sich auf den mühsamen Weg.

Die Schwarze Elster hatte keinen geraden Lauf. Immer wieder galt es, Nebenarme und morastige Niederungen zu umgehen. Einmal blieb sogar ein Schuh im sumpfigen Gelände stecken.

Matthias war nach nur einer Stunde Suche bereits erschöpft. Er ließ sich nieder und nahm ein verspätetes Frühstück ein. Das frische Brot schmeckte ausgezeichnet. Gerne hätte er es mit Margarete geteilt. Dann sah er sie durch das Schilf hindurch nur wenige Meter stromab. Sie winkte mit einem bunten Tuch. Mit der rechten Hand stemmte sie die lange Stange, die zum Staken diente, gegen die Strömung. Matthias rannte über die feuchte Wiese zum Kahn. Obwohl er vorsichtig hineinstieg, schwankte dieser bedenklich.

»He, willst du uns zum Kentern bringen?«, lachte Margarete. »Der kleine Friedrich Hartmann hat mich erkannt. Ich sagte ihm, ich wäre Maria, das Weib des Matthias Brandt und er würde mich verwechseln. Da ich nicht sicher sein konnte, was er in Ruhland herumerzählt, löste ich das Seil und ließ mich treiben.«

»Ich verstehe dich. Nur meine Schuhe müssten mal wieder geputzt werden!«

Matthias stakte den Kahn weiter flussabwärts. Sein Plan sah vor, noch an diesem Tag Elsterwerda zu erreichen, in der Nähe zu übernachten, um tags darauf nördlich von Liebenwerda in das Flüsschen Dober einzubiegen, welches auch Kleine Elster genannt wurde.

Die Sonne brannte so heiß, dass Matthias in der Nähe des Dorfes Plessa, das von den wendischen Einwohnern Pleso genannt wurde, eine Pause einlegen musste. Hier verästelte sich die Schwarze Elster wiederum in viele Nebenarme. Dort, wo die Strömung stärker war, gab es weniger Algen und Wasserpflanzen und man konnte den Grund erkennen. Matthias entledigte sich der Oberbekleidung und der Schuhe und hüpfte über die Bordwand, was wieder einmal den Kahn ins Schaukeln versetzte. Margarete wartete ab, bis das Boot fast ruhig lag und machte es ihrem Begleiter nach. Sie behielt das Unterkleid an.

Matthias watete durch das Wasser und zog den Kahn halb an Land, sodass dieser nicht davontreiben konnte. Bald darauf bespritzten sich beide übermütig wie Kinder mit Wasser, sorgfältig darauf bedacht, nicht zu laut zu kichern. Matthias hatte weniger Angst davor, von einem wendischen Bauern entdeckt zu werden, als vor Raubrittern und Räubern. Selbst wenn es bei ihnen nicht viel zu holen gab, konnten sie schlimmstenfalls Margarete schänden, ihn dabei zuschauen lassen und anschließend erschlagen. Mit einem Dolch konnte man gegen Schwerter nicht viel ausrichten. Matthias nahm sich vor, gleich heute Abend eine gerade gewachsene Eibe zu suchen und den fünf Fuß langen Stab mit einer aus Ruhland mitgebrachten Sehne zu bespannen. Dann klappte ihm der Unterkiefer herunter!

Margarete zog das quietschnasse Unterkleid über Kopf, wrang es aus und legte es ausgebreitet zum Trocknen aus. Als sie bemerkte, dass der Mund ihres Begleiters offenstand, zog sie es wieder näher heran, um zumindest die Körpermitte zu bedecken.

Matthias gelang es, die Muskeln zu entspannen und den Mund zu schließen. Er rutschte soweit näher, dass er die Wassertropfen auf den goldenen Härchen, die hervorlugten, erkennen konnte.

Margarete wehrte ihn ab. »Bitte, Matthias! Wir dürfen das nicht tun! Bei aller Zuneigung - sollten wir nicht, bis wir das Rechtsgutachten haben, das eine Scheidung möglich macht, wie Bruder und Schwester zusammenleben?«

»Wir sind nicht Bruder und Schwester, du bist meine Nixe, die ich am Ufer dieses Flusses entdeckt habe! Du bist so schön, dass ich dich zunächst für ein überirdisches Wesen hielt.«

Matthias machte eine Pause und rückte Zoll für Zoll näher. »Zugegeben, ich hatte nach dem Schaufeln von vier Gräbern zu tief in den Krug geschaut. Auch nüchtern betrachtet bist du ein so liebreizendes Wesen, dass ich Gott danke, dir begegnet zu sein!«

»Es ist Sünde. Ich bin das Weib eines anderen!« Nach dem ersten Kuss auf die Lippen, dem bald unzählige auf ihrer immer noch feuchten Haut folgten, erlahmte ihr Widerstand. Zarte Fingerkuppen umkreisten sanft die Knospen ihrer festen Brüste. Matthias ging so behutsam mit ihr um, dass sie wusste, es würde ganz anders werden als die brutale Inbesitznahme ihres Körpers durch Nikolaus von Polenz.

Nach dem Akt der Vereinigung blieben beide ermattet auf der Wiese liegen. Sie spürten die Käfer und Ameisen nicht, die auf ihnen herumkrabbelten. Die Welt stand für einige Augenblicke still. Der brutale Überfall auf das Gehöft in der Nähe von Naundorf, die Schläge des Nikolaus von Polenz – die Erinnerung verblasste, ohne ganz zu verschwinden.

Matthias war immer noch nur mit dem feuchten Leibtuch bekleidet, als er eine lange Haselnussrute schnitt, einen Haken an einer Sehne befestigte und die selbstgefertigte Angel ins Wasser hielt.

»Ich möchte mich ja nicht einmischen, aber wenn du etwas fangen willst, wäre ein Köder hilfreich«, kicherte Margarete.

»Dann grabe bitte nach Regenwürmern«., knurrte Matthias und starrte aufs Wasser, als habe er die magische Fähigkeit, Fische mit seinem strengen Blick anzulocken.

Es dauerte nicht lange, bis Margarete mit einer Handvoll Würmer zurückkam. Ein Burgfräulein hätte sich geekelt und das sich windende Gewürm in ein Gefäß geworfen. Ihr schien es nichts auszumachen.

»Such dir den fettesten aus«, lachte sie. Matthias spießte einen Regenwurm auf den Haken und es dauerte nur wenige Minuten bis er einen Barsch von respektabler Größe gefangen hatte.

»Mach bitte Feuer, ich nehme den Fisch aus«, bestimmte Margarete. Matthias holte aus einem Leinenbeutel Schlageisen, Feuerstein und Zunder. Margarete bemerkte die zweifelnden Blicke.

»Schon vergessen? Ich bin die Tochter eines reichen Fischhändlers aus Ruhland. Es gehörte zu den Fertigkeiten, die ich erlernen musste.« Mit geübten Schnitten ihres Dolches trennte sie die Bauchdecke des Fisches auf, entfernte die Innereien, Kopf und Schwanz und ließ die Gräten noch drin.

Matthias hatte von hochwachsenden Disteln die Wolle geerntet und konnte damit aus den geschlagenen Funken, die zunächst auf den Zunder übersprangen, ein Feuer erzeugen. Trockenes Holz war in dieser sumpfigen Niederung Mangelware. Vorsorglich hatte er ein paar Äste gesammelt und zu einem Lagerfeuer aufgeschichtet. Der ausgenommene Fisch wurde auf einen spitzen Stock gespießt und vorsichtig über der Feuerstelle geröstet. Mit dem Brot aus Ruhland schmeckte das Abendessen vorzüglich. Sie kuschelten sich aneinander ohne intim zu werden wie zuvor.

Am nächsten Morgen wurden sie unsanft geweckt.

»Serbska rěc oder Deutsch?«, fragte der Mann mit dem Speer, der wie aus dem Boden gestampft plötzlich vor ihnen stand.

»Deutsch«, stammelte Matthias. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen. Seine rechte Hand tastete nach dem Dolch. Der Bogen mit den Pfeilen lag einige Ellen entfernt. Er verfluchte seinen Leichtsinn.

»Ihr müsst verstehen, wir haben hier in Pleso eine Bürgerwehr eingerichtet, die ein Auge auf Fremde hat. Viel zu oft ziehen kriegerische Horden aus dem Markgrafentum Meißen nach Norden und Raubritter genau in die andere Richtung nach Süden. Die Obrigkeit hilft uns nicht. Es scheint, als ob Recht und Ordnung nicht mehr durchsetzbar sind«, seufzte der Mann von der wendischen Landwehr. »Ihr seid ein Paar? Ich habe hier nur Dolche und einen Bogen gefunden. Von euch scheint keine Gefahr auszugehen. Mein Name ist Juri, Gott segne euch!« Die Gestalt stieg in einen Kahn und stakte davon, bevor Matthias etwas erwidern konnte.

Margarete stocherte mit einem Stock in der Feuerstätte herum. Die Glut war erloschen.

»Ich suche trockene Äste und Distelwolle und entfache ein neues Feuer, wenn du es möchtest«, sagte Matthias und blickte sie von der Seite an. Ihre langen blonden Haare waren verfilzt und das Kleid etwas schmutzig. Dennoch war die junge Frau traumhaft schön. ›Zeit für ein Gebet, um Gott dem Herrn für jeden Tag zu danken, den ich mit diesem Geschöpf verbringen darf‹, dachte Matthias. Er sah, dass auch seine Begleiterin die Hände flach zusammengelegt hatte.

»Feuer? Ich dachte, wir staken gleich morgens weiter?« Margarete hatte ihr Gebet beendet. »Weil ich mit dir das Lager teilte und nicht mit meinem Ehemann, wünsche ich in jeder Kirche, die wir passieren, für mein Seelenheil zu beten!«, fügte sie bestimmt hinzu.

Matthias kratzte sich das stoppelige Kinn. »Wie stellst du dir das vor? Sowohl dein Vater als auch Nikolaus von Polenz werden Reiter aussenden, um nach dir zu suchen! In Elsterwerda und Liebenwerda müssen wir vom Fluss durch eine Stadt laufen. Jemand könnte dich erkennen und es melden.« Matthias schüttelte den Kopf. »Nein, meine Liebe, du kannst im Kloster Dobrilugk deine vermeintlichen Sünden beichten!«

»Ich habe zwei Tücher dabei um mich zu verschleiern«, antwortete Margarete trotzig.

»Mir obliegt deine Sicherheit und ich sage nein! Du kannst Gott und seinem Sohn Jesus überall nahe sein. Für deine Gebete brauchst du kein Haus. Vorschlag zur Güte: In Lindena an der Kleinen Elster steht eine uralte Kirche. Dort wird dich niemand vermuten und du kannst deine Sünden beichten. Jetzt steig in den Kahn!«

»Es tut mir leid, Matthias! Manchmal verdränge ich die Gefahr. Wenn Nikolaus erfährt, dass wir beide … Ich mag es mir nicht vorstellen. Er wird sich nicht damit begnügen, uns zu töten. Er wird uns langsam zu Tode foltern. Er hat Spaß daran, ich weiß es.«

»Genau deshalb sind wir unterwegs, Liebste. Niemand außer deiner Mutter weiß, dass wir auf der Schwarzen Elster sind. Ich hoffe, sie hält dicht«, seufzte Matthias. »Wir sind jung und am Leben! Wir werden den Häschern entkommen«, versuchte er, Zuversicht zu verbreiten.

Er stakte den Kahn kräftiger als zuvor voran und sie passierten Elsterwerda. Sie würden hier nicht gemeinsam in die Stadt gehen, obwohl Margarete es sich sehnlich gewünscht hatte. Da sie noch nicht gefrühstückt hatten, machten sie eine Pause. Das Brot war hart und der Käse hatte auch mal besser ausgesehen.

Es blieb Matthias nichts anderes übrig, als in Liebenwerda an Land zu gehen, um auf dem Markt einzukaufen.

Er hatte noch böhmische Groschen und natürlich das Silber von Margaretes Mutter.

Nach weniger als einer Stunde kehrte er zurück und breitete seine Schätze aus.

»Du hast sogar Möhren, Kohl und Zwiebeln mitgebracht!«, freute sich Margarete.

»Ja, und einen kleinen Kessel, in dem wir uns heute Abend eine leckere Suppe kochen können«, sagte Matthias. Er verstaute die erworbenen Güter und stakte Wahrenbrück entgegen.

Diese Ortschaft gehörte der Witwe des Herzogs Albrecht III. von Sachsen-Wittenberg, Euphemia von Oels, genannt Offka. In diesen Zeiten wechselten Herrschaftsansprüche schnell und Güter und Dörfer wurden verkauft oder verpfändet.

Matthias interessierte vielmehr, in diesem Gewirr von Seitenarmen der Schwarzen Elster nicht den Einlauf der Dober, der Kleinen Elster zu verpassen.

Er glaubte zunächst auf dem richtigen Flusslauf zu sein. Der Blick zur Sonne verriet ihm, dass es zurück gegen Osten gehen würde. Es blieb nur, einen Bauern oder Hirten zu fragen. Niemand ließ sich blicken. Das Staken wurde zunehmend anstrengender, weil es jetzt stromaufwärts ging. Irgendwann war er so erschöpft, dass er eine Rast vorschlug. Margarete stellte aus drei geraden Ästen ein Dreibein her und hängte den Kessel auf. Während Matthias Funken schlug und ein Feuer entfachte, putzte sie mit einem Dolch das Gemüse. Nicht das ideale Küchengerät, aber es ging. Danach suchte sie nach Kräutern, um die Suppe zu verfeinern. ›Das hat die Kaufmannstochter auch gelernt‹, dachte Matthias.

In das siedende Wasser wurde etwas Salz gegeben und dann das Gemüse. Erst eine halbe Stunde später gab sie die frischen Kräuter dazu. Matthias schwang bereits den Holzlöffel, bekam aber einen Klaps auf die rechte Hand.

»Zuerst muss die Köchin abschmecken, du frecher Topfgucker«, lachte sie. In Matthias Ohren klang es wie das schönste Glockengeläut.

»Schade, dass wir weder Pfeffer noch Muskatnuss haben. Diese Gewürze sind unglaublich teuer. Meine Mutter hat mir erklärt, dass es so etwas gibt. Den Handel beherrschen die Venezianer.« Margarete rührte nochmals um und probierte vorsichtig die heiße Suppe. Dann gab sie noch eine Prise Salz hinzu und füllte den hohen Holzteller ihres Gefährten.

»Mit dem Brot aus Liebenwerda ein leckeres Abendmahl«, lobte Matthias. »Für eine Kaufmannstochter offenbarst du vielerlei Fertigkeiten. Umso mehr wünsche ich mir, dass man uns in Dobrilugk einen Weg weist, deine Ehe für ungültig zu erklären. Wir schlagen gleich hier unser Lager auf.« Es war nicht mehr so heiß wie an den vorangegangenen Tagen, aber immer noch sommerlich warm.

Margarete kuschelte sich an Matthias. »Ich habe beim Gebet ein Gelöbnis abgelegt. Versuch bitte nicht, mir beizuwohnen. Es ist Sünde.«

»Warum hast du so große Angst, Liebste? Ich sehe die Zuneigung in deinen Augen. Du willst es, sagst aber immer wieder, wir dürfen es nicht wieder tun«, flüsterte Matthias. Sein Mund näherte sich ihrer rechten Gesichtshälfte, um einen Kuss auf das Ohrläppchen zu hauchen. Margarete rückte ein Stück weg.

»Ich musste als Kind bei einer Hinrichtung zusehen. Eine junge Frau aus Ruhland war des Ehebruchs angeklagt worden. Man nahm ihr die Kleider. Dann nähte man sie zusammen mit einer Katze in einen Sack ein und übergab ihn den Fluten des Grenzstroms, ein Seitenarm der Schwarzen Elster. Die Katze zerkratzte in ihrer Todesangst die Haut der Frau. Ich hörte das Kreischen des Tieres und die Schreie der Verurteilten, bis diese verstummten. Das vergisst man nicht, Matthias. Ich weiß, aus deiner Sicht haben wir einmal Ehebruch getrieben – da kommt es auf ein zweites und drittes Mal auch nicht mehr an. Verstehe bitte, dass ich es anders sehe! Ich will ein Dokument, in dem steht, dass die Ehe mit Nikolaus von Polenz ungültig ist!«

Margarete ließ sich den Kuss auf die gerötete Wange gefallen, mehr nicht.

Matthias ergriff ihre rechte Hand. Bald darauf hörte sie nur noch gleichmäßige Atemgeräusche. Es war ihr recht. Sie hoffte, ihr Beschützer hatte verstanden.

Am nächsten Morgen sah Matthias nach kurzer Zeit des Stakens vom Flüsschen aus den Turm der Kirche von Lindena, die hier seit zweihundert Jahren stand.

Er vertäute den Kahn und nahm Margarete bei der Hand, die sich freute, endlich ihre Sünden in einem Gotteshaus beichten zu können.

»Nur zum stillen Gebet oder die Beichte?«, fragte der Küster, der ihnen die Tür öffnete. Die Kirche war aus rotem Backstein gebaut und innen angenehm kühl.

»Ich möchte beichten«, sagte Margarete mit glühenden Wangen.

»Dann hole ich den Herrn Pfarrer!« Der Küster im Habit eines Mönches der Zisterzienser trabte davon und kehrte alsbald mit dem Pfarrer zurück.

»Guten Morgen! Die Kirche diente lange Zeit als Schule für die Novizen des Klosters Dobrilugk«, erklärte der Geistliche. »Jetzt wird hier die Sonntagsmesse für die Bauern und Bürger des Dorfes Lindena und der angrenzenden Gemeinden abgehalten. Natürlich bin ich auch für Begräbnisse und Taufen zuständig. Was kann ich für euch tun?«, fragte der Pfarrer freundlich.

»Mein Name ist Matthias Brandt aus Naundorf bei Ruhland. Meine Begleiterin ist … das soll Sie Ihnen unter Wahrung des Beichtgeheimnisses selbst sagen«, entschied Matthias. Er setzte sich in die erste Reihe und legte die Hände flach zusammen. Er bat Jesus Christus um Vergebung, dass er auf Rache sann. Er wünschte sich Beistand bei der Suche nach den Mördern und warum sie dieses unbedeutende Gehöft überfallen hatten. Dann gedachte er den Seelen seiner Mutter, der Schwester und des Knechtes Jakob, die zu früh und unschuldig aus dem Leben gerissen worden waren. Nach einer Viertelstunde kam auch Margarete mit gesenktem Kopf aus dem Beichtstuhl zurück. Eine Träne kullerte über ihre linke Wange. Matthias unterdrückte den Wunsch, diese weg zu küssen. Man befand sich in einem Gotteshaus.

Er verabschiedete sich vom Pfarrer und wagte erst am Ufer der Kleinen Elster Margarete danach zu fragen, wie es gelaufen war.

»Ehebruch ist eine schwere Sünde. Solange der rechtmäßige Ehemann keine Anklage erhebt, wird mich kein weltliches Gericht zum Tode verurteilen! Unter Würdigung der besonderen Umstände wie der unverhältnismäßigen Züchtigung war der Pfarrer geneigt, mir Absolution zu erteilen. Mein Seelenheil wäre auch in den kommenden Tagen und Wochen noch gefährdet. Dies könne nur durch Keuschheit, innere Einkehr und Gebete wiederhergestellt werden.«

Margarete hatte in der Mitte des Kahnes Platz genommen. Matthias löste das Seil und stakte weiter gen Norden.

»Der Herr Pfarrer fand die Idee, im Kloster vorstellig zu werden, gut«, sagte Margarete und hielt, wie es ihre Art war, die rechte Hand ins Wasser.

»Kein Wunder. Den Mönchen gehört der Grund und Boden hier«, murmelte Matthias. In der Ferne sah man bereits den hohen schmalen Turm der Abteikirche.

Kapitel 2

Am Kloster Dobrilugk wurde erst nach langem Klopfen ein Sichtfenster im Tor geöffnet. Ein Mönch lugte zögerlich hindurch.

»Was ist Euer Begehr?

»Ich bin Matthias, Sohn des Karl Brandt aus Naundorf bei Ruhland! Ich möchte Bruder Michael sprechen!«

»Bruder Michael ist unterwegs. Kommt morgen wieder!« Ehe Matthias etwas fragen konnte, wurde das Sichtfenster wieder verschlossen und verriegelt.

»Dann müssen wir hier übernachten, suchen wir uns eine Bleibe.« Matthias zuckte mit den Schultern und nahm Margarete bei der Hand.

Zwischen dem Kloster und der Ortschaft Kirchhain stand neben einer Schänke ein Haus, vor dem junge Frauen auf einer Holzbank saßen. Sie trugen gelbe Bänder in den Haaren und an den Kleidern. Bei zweien war sogar der Rock geschlitzt, sodass man einen Blick bis hinauf zum rechten Oberschenkel erhaschen konnte. Als eine der so herausgeputzten jungen Frauen Matthias ansichtig wurde, huschte sie ums Hauseck herum. Ihr langes schwarzes Haar flatterte im Wind.

Matthias ließ Margarete einfach stehen und rannte hinterher. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Sein Herz raste. Die Magd, die ihm die Lösung vieler Fragen beantworten konnte, rannte weg. Die Frauen auf der Bank machten eindeutige Bewegungen mit der Hand oder dem Becken, welcherart Dienstleistungen sie anboten.

Matthias ließ sich davon nicht beirren. Auch nicht, als sich eine ihm in den Weg stellte und den Rock raffte. »Wohin so eilig, junger hübscher Mann?«

Er schob sie einfach beiseite. »Ich suche Hanka!«, schnaufte er.

»Ach, die Neue! Möchtest du nicht lieber mit einer, die etwas erfahrener ist, das Lager teilen?«

Matthias beachtete die Dirne nicht weiter. Im Zaun war ein Durchlass, der in den Garten führte. Offensichtlich waren sich die Damen nicht zu schade, Kräuter und Gemüse selbst anzubauen und Unkraut zu zupfen.

»Hanka, komm raus aus deinem Versteck, ich habe dich erkannt! Niemand verurteilt dich dafür, dass du jetzt hier bist und einem anderen Gewerbe nachgehst! Ich will nur wissen, was vor ein paar Tagen an der Schwarzen Elster geschehen ist!«

Die sorbische Magd, die einst in den Diensten des Karl Brandt stand, kam zögerlich hinter einem Gebüsch hervor. »Ich hätte über den hinteren Zaun springen können und fliehen«, sagte die junge Frau, die offensichtlich das Massaker an der Schwarzen Elster überlebt hatte. »Du hast ein Recht darauf zu erfahren, was geschehen ist, Matthias! Versprich mir, dass ich deine Flöte spielen darf, sobald unsere Herrin den Garten betritt! Sie mag es überhaupt nicht, wenn wir unsere Zeit vergeuden!«

»Das kann ich dir nicht versprechen, meine Liebste wartet draußen auf der Straße«, sagte Matthias.

»Die mit den langen blonden Haaren? Wer ist sie?«, wollte Hanka wissen.

»Tochter des wohlhabenden Fischhändlers Wilhelm Kürschner aus Ruhland.« Matthias verschwieg geflissentlich, dass Margarete noch mit Nikolaus von Polenz verheiratet war und gar nicht seine Verlobte sein konnte.

»Oh, das hätte ich nicht gedacht, Glückwunsch, Matthias!« Die ehemalige Magd zwinkerte ihm zu.

»Lass das! Wie konntest du entkommen? Haben sie meinen Vater verschleppt? Wer waren die?« Matthias kam immer näher. Als er die Arme hob, um Hanka an den Schultern zu rütteln, sprang sie einen Schritt zurück.

Zur gleichen Zeit wurde Margarete auf der Straße von einer Frau mittleren Alters angesprochen.

»Du bist recht ansehnlich, junges Ding! Hast du Lust leichtes Geld zu verdienen?«

Margarete hob das Kinn und rümpfte das Näschen. »Ich bin die Tochter eines angesehenen Händlers in Ruhland, auch wenn ich im Moment die einfache Kleidung einer Magd trage, um Wegelagerer zu täuschen!« Die Dirnen auf der Bank gackerten wie die Hühner.

»Habt ihr nichts zu tun? Wenn keine Kundschaft da ist, dann reinigt eure Kemenaten und macht die Wäsche!«, wurden sie angeherrscht.

Matthias wunderte sich, warum Hanka plötzlich vor ihm kniete und an seinem Gürtel nestelte. Die Herrin des Frauenhauses und Margarete hatten fast gleichzeitig den Garten betreten. Die ehemalige Magd hatte zunächst nur ihre neue Gebieterin bemerkt.

»Der junge Herr wünscht, dass seine Flöte im Freien gespielt wird!«, lachte die Frau in Schwarz.

»Das ist ein Missverständnis! Meine Mutter, die Schwester und ein Knecht wurden ermordet. Mein Vater wird vermisst. Hanka war unsere Magd und weiß etwas darüber«, keuchte Matthias und schloss mit einem entschuldigenden Blick hinüber zu Margarete die Schnalle des Gürtels.

Die Herrin über das Hurenhaus machte eine unmissverständliche Handbewegung, indem sie den Daumen am gekrümmten Zeigefinger rieb. »Meinetwegen. Verdienstausfall?«

Matthias zählte ein paar böhmische Groschen ab.

»Reicht nicht, dreißig mehr!« Die Frau im langen schwarzen Kleid steckte die Münzen in eine Gürteltasche. »In zwei Stunden bist du wieder drüben, Hanka! Und lass dir nicht zu viel Wein spendieren – sonst schläfst du beim nächsten Kunden ein!«

»Ich habe Hunger, ihr auch?«, fragte Matthias in die Runde. Die beiden jungen Frauen nickten und man kehrte ein. Der Wirt kam herbeigewuselt. Er trug eine fleckige Schürze, die den dicken Bauch überspannte. Er bedachte das fremde junge Paar mit einem freundlichen Blick. Hanka ignorierte er. Die Dirnen von nebenan genossen kein hohes Ansehen, obwohl sie manchmal auch Bier und Wein für sich und ihre Kunden kauften.

»Schinken, Schweinerippchen oder Rinderbraten? Was wünschen die Herrschaften? – Mathilde«, rief er nach hinten. »Haben wir auch noch Hähnchen auf dem Rost?«

»Ja, Wilhelm!«, tönte es aus der Küche.

Matthias bestellte Hähnchenschenkel und Wein für die Damen, Rinderbraten und einen Humpen Bier für sich selbst.

»Du erinnerst dich noch an meine drei Fragen? Bevor der Wirt die Getränke bringt, möchte ich die erste beantwortet haben!«, zischte Matthias über den grob gezimmerten Eichentisch.

»Ich sollte Wasser aus dem Fluss holen. Dann das Hundegebell, das plötzlich verstummte«, begann Hanka stockend. »Ich hörte Schreie und das Klirren von Schwertern. Ich warf die Zuber neben der alten Mühle weg und sprang in den Fluss. Die alte Trauerweide hat einen dicken Ast direkt über dem Wasser. Meine Kleider sogen sich voll. Ich schaffte es gerade noch, mich hinter dem dicken Ast zu verstecken. Ich hielt die Luft an, aber zunächst kam niemand. Als ich wieder an Land wollte, stach jemand mit einer Lanze ins Wasser nahe des Astes und verfehlte mein Bein nur knapp. ›Hier ist keiner mehr, Gunther, lass uns verschwinden‹, sagte einer der Angreifer …«

Der Wirt brachte die Getränke und Hanka trank umgehend einen Becher Wein halb aus. Die Erinnerung daran, dass man sie beinahe entdeckt und auch erschlagen hätte, war noch frisch.

Margarete und Matthias warfen sich einen langen Blick zu. Für sie stellte es sich so dar, dass es nur so aussehen sollte, als hätten böhmische Ketzer das abgelegene Gehöft überfallen.

»Hattest du nicht gesagt, das Holz des Kampfwagens, den wir fanden, roch frisch? Vielleicht hat man nur einen nachgebaut, um dich auf eine falsche Fährte zu locken, Matthias?«, fragte Margarete mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Habe ich dir schon gesagt, dass du ein kluges Weib bist?«

»Ich höre es immer wieder gern«, lachte Margarete. Hanka ignorierte die Warnung ihrer neuen Gebieterin und füllte Wein aus einer Karaffe nach. Sie hatte keine Ahnung, warum das Paar von einem Kampfwagen der Hussiten schwafelte, es war ihr auch egal.

»Warum hast du den Überfall nicht gemeldet, Hanka?«, fragte Matthias scharf.

»Nach einer gefühlten Ewigkeit wagte ich es, aus dem Fluss zu steigen. Meine Glieder waren klamm. Ich schaute nach, ob ich jemand helfen konnte. Alle waren tot. Ich zog mir trockene Kleider an und lief barfuß los. Ich war verwirrt, wollte nur nach Sallgast, dem Ort, wo ich geboren wurde. Ich hoffte, dir unterwegs zu begegnen. Als ich wieder bei Sinnen war, sagte eine Freundin aus Kindertagen, man erwarte am Kloster Dobrilugk den Erzbischof von Magdeburg. Da könne man gutes Geld verdienen, wenn man sich nicht zu schade sei, den Geistlichen besondere Wünsche zu erfüllen.«

»Warum den Buckel krumm machen, wenn man auf dem Rücken liegend mehr Geld verdienen kann«, bemerkte Margarete schnippisch.

»Du bist die Tochter eines reichen Kaufmanns, hattest nie Geldsorgen«, zischte Hanka über den Tisch. Bevor Matthias die jungen Frauen ermahnen konnte, tafelte der Wirt auf. Es roch köstlich.

»Weil du dich versteckt hast, kannst du nichts Erhellendes zum Verbleib meines Vaters und des Schwertes beitragen«, sagte Matthias und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Bierhumpen.

»So ist es und es tut mir leid«, sagte Hanka während sie am Hähnchenschenkel knabberte.

Margarete entschuldigte sich, sie müsse sich mal dringend erleichtern und fragte den Wirt nach dem Weg.

Hanka schob den Teller beiseite und beugte sich über den Tisch: »Wer hat beim Münzwurf gewonnen? Durftest du den vorderen Eingang benutzen oder musstest du …?«

Matthias wollte mit der flachen Hand auf den Tisch schlagen, besann sich dann aber. Der Wirt lauschte und Margarete konnte jeden Augenblick zurückkommen.

»Meine Freundin Marica hat mir gesagt, dass ihr in Sallgast immer wieder zu Gast wart, du und dein Freund Peter! Nicht zum ersten Mal, weshalb ich vorhin auch erwähnte, dich auf dem Weg zu treffen und die schreckliche Nachricht mitzuteilen«, sagte Hanka.

»Weshalb ist Marica nicht hier?«, flüsterte Matthias über den Tisch. Er behielt dabei den Hinterausgang im Auge, durch den Margarete verschwunden war.

»Sie wollte sich in keine neue Abhängigkeit begeben. Ihr Herr duldet das Treiben, verlangt dafür den fünften Teil ihrer Einnahmen, mit der Begründung, sie würde morgens müde und widerwillig ihre Arbeit verrichten.« Hanka beäugte den Knochen und entdeckte etwas, das sie noch abknabbern konnte.

»Lass die Münzen sofort verschwinden! Kein Wort zu Margarete!« Matthias hatte die Stimme immer weiter gesenkt. »Wann wird denn der Erzbischof mit seinem Gefolge erwartet?« Schnell wechselte er auf ein anderes Thema, weil seine Angebetete zurückkam.

»Übermorgen!« Hanka genehmigte sich noch einen halben Becher Wein.

»Dann habe ich ausreichend Zeit, mit Bruder Michael zu sprechen, der uns vielleicht zu einer Audienz beim Abt verhilft«, sagte Matthias. Margaretes blaue Augen leuchteten auf. Sie hoffte inständig auf ein Rechtsgutachten des angesehenen Klosters, das ihre Ehe für unwirksam erklärte. Vielleicht könnte man den Erzbischof von Magdeburg um seine Unterschrift bitten … Soweit wollte sie noch nicht denken. Wenn allerdings der Abt und der Bischof eine Urkunde ausstellten, konnten weder Nikolaus von Polenz, dessen Vetter, der Landvogt, noch ihr Vater daran rütteln und der Weg wäre, frei um Matthias zu ehelichen. Blieb nur das Problem, dass der Bräutigam in den Augen ihres Vaters nicht standesgemäß war.

Hanka verabschiedete sich mit dem Hinweis, sie wolle keine Strafe mit dem Rohrstock riskieren, wenn sie zu spät käme. Matthias fragte den Wirt nach einer Kammer für die Nacht.

»Ihr habt Glück! Wenn erst einmal der Erzbischof mit seinem Gefolge anrückt, ist hier alles belegt. Heute noch nicht. Ihr seid ein Paar?« Beide nickten eifrig.

Margarete hatte den silbernen Ring ihrer Mutter in der Hand, um ihn notfalls als Verlobungsring vorzuzeigen. Wenn sie sich keiner Lüge bediente, musste sie es auch nicht beichten.

Die Liegestatt in der Kammer sah nicht besonders bequem aus. Dafür gab es mit Daunen gefüllte Kopfkissen und eine breite Zudecke. Margarete hauchte Matthias einen Kuss auf die Wange.

Dieser war nach dem mühsamen Staken gegen die Strömung der Kleinen Elster rechtschaffen müde und hatte keine Lust auf ein Liebesspiel. Margarete besann sich auf die Ermahnungen des Pfarrers von Lindena und drehte sich auf die linke Seite.

Am nächsten Morgen schlug man das Angebot des Gastwirtes auf ein Frühstück aus. Es war in Mode gekommen, die nächtliche Fastenzeit um einige Stunden zu verlängern. Ein gottgefälliges Werk. Sie konnten höheren Beistand gebrauchen. Es ging nebst der Vergangenheit von Karl Brandt, der seit dem Überfall vermisst wurde, vor allem um ein juristisches Hintertürchen, um die Ehe von Margarete für ungültig zu erklären.

Es war der gleiche mürrische Mönch wie am Vortag, der die Klappe mit einem scheppernden Geräusch schwungvoll beiseite schob.

»Ach, ihr schon wieder!«, knurrte der Kuttenträger. Offensichtlich hatte er diesmal Anweisung, das Pärchen einzulassen. Das massive Tor, welches auch Angriffen standhalten musste, wurde gerade soweit geöffnet, dass Margarete und Matthias hindurchschlüpfen konnten.

»Damit meine Mitbrüder durch den Anblick eines Weibes nicht von ihrer Andacht abgelenkt werden – bitte rechts den Arkadengang entlang bis ihr zu einem Rundbogen kommt, der in den Garten führt. Hinter einer Pergola steht ein Pavillon, dort erwartet euch Bruder Michael!«

Als Matthias sich bedanken wollte, war der Mönch damit beschäftigt, das große Tor zu schließen.

Man lebte in der ständigen Angst, die böhmischen Ketzer würden irgendwann das reichste Kloster der Niederlausitz heimsuchen. Gegen deren Kanonen würde ein Holztor nicht lange standhalten, auch wenn es mit dicken Bohlen bewehrt war.

Matthias nahm Margarete bei der Hand und sie liefen den Weg entlang, der ihnen gewiesen worden war. Hinter einer mit Rosen berankten Pergola erwartete sie ein weiterer Mönch. Matthias löste sich von seiner Begleiterin und eilte auf den kräftigen Mann zu.

»Eber … Verzeihung, Bruder Michael! Schön, dich wiederzusehen!«, rief er und klopfte dem Mönch so kräftig auf die Schulter, sodass Margarete glaubte, Staub aufsteigen zu sehen. Die beiden Männer lösten sich aus der Umarmung und Bruder Michael lugte seinem alten Freund über die Schulter.

»Ist das dein Weib, Matthias? Vortreffliche Wahl! Der Herr im Himmel vergebe mir meine sündigen Gedanken, aber dieser Liebreiz und die Anmut müssen gewürdigt werden!« Der Mönch deutete eine Verbeugung in Richtung der jungen Frau an, deren Wangen wegen der Komplimente gerötet waren.

»Leider nein, Bruder Michael. Sie ist noch das Weib des Nikolaus von Polenz, Vetter unseres Landvogtes. Sie wurde von ihm misshandelt, und zwar über das Maß hinaus, was einem Herrn und Gebieter zusteht. Da sind wir gleich beim ersten Anliegen. Wir, das heißt vor allem Margarete, Tochter des Kaufmanns Kürschner zu Ruhland, möchten wissen, in welchen Fällen eine Ehe für nichtig erklärt werden kann.«

»Darf ich euch in die Gartenlaube bitten? Wir besprechen das in Ruhe im Pavillon. Ich wurde vom Abt von der zweiten Morgenandacht freigestellt und stehe euch zur Verfügung.« Bruder Michael machte eine einladende Geste und sie nahmen auf hölzernen Gartenbänken Platz.

»Der Abt wird in einer Viertelstunde zu uns kommen. Ich war selbst überrascht, als er eröffnete, ausdrücklich mit dir, Matthias, sprechen zu wollen.«

Margaretes Herz hüpfte schneller. Ihr Plan schien aufzugehen. Sie faltete die Hände und murmelte ein Gebet. Sie bedankte sich für den Beistand von oben.

»Deine Gefährtin ist sehr fromm«, sagte Bruder Michael.

»Um ehrlich zu sein – sie betet täglich mehrfach um Vergebung ihrer Sünden. Wir sind ein Paar, teilen das Lager, aber sie ist, wie erwähnt, mit einem anderen verheiratet«, seufzte Matthias.

»Verstehe. Ich habe nicht Juristerei studiert, kann euch aber sagen, dass es meines Wissens nach fünf Gründe gibt, eine Ehe zu annullieren: Ehebruch der Frau, Unfruchtbarkeit, zu enger Verwandtschaftsgrad bis ins siebte Glied, Trunksucht der Frau und Verschwendung des in die Ehe eingebrachten Vermögens der Frau durch den Ehemann. Der Abt kann euch dies besser auseinandersetzen.« Bruder Michael zuckte mit den Schultern.

Ein Laienbruder brachte eine Karaffe mit Wasser, in der frische Minzblätter schwammen und stellte vier Gläser auf den Tisch. Bruder Michael schenkte ein. Die Sonne meinte es gut in diesem Sommer, der reich an Wetterkapriolen war. Margarete und Matthias, die noch nicht gefrühstückt hatten, nahmen sofort jeder einen Schluck vom belebenden, aromatisierten Nass.

»Ich bin es auch deshalb hier, weil die alte Mühle an der Schwarzen Elster während meiner Abwesenheit überfallen wurde. Meine Mutter, die Schwester und ein Knecht – alle erschlagen! Die Magd Hanka konnte entkommen, ich habe sie gestern gleich nebenan befragt«, sagte Matthias. Bruder Michael schlug die Hand vor den Mund.

»Alle tot? Und dein Vater?«