Auf den Tag genau, heute in einem Jahr - Reiner Kotulla - E-Book

Auf den Tag genau, heute in einem Jahr E-Book

Reiner Kotulla

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Beschreibung

Larissa Keller und Mischa Lentrod beginnen etwa zum selben Zeitpunkt eine Radtour entlang derLahn. Sie von der Mündung zur Quelle, er in der anderen Richtung. Ohne von einander zu wissen, nennen sie die Tour ihre Reise des Vergessens. Zu verarbeiten haben Larissa Keller eine gescheiterte Ehe und Mischa Lentrod eine langjährige Beziehung. Sie erleben die Schönheiten einer Flusslandschaft, lerne Städte und deren Geschichte kennen. Ein Unfall führt sie auf etwa halber Strecke zusammen. "Auf den Tag genau, heute, in einem Jahr", versprechen sie sich zum Abschied.

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Reiner Kotulla

Auf den Tag genau, heute in einem Jahr

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Auf den Tag genau, heute in einem Jahr

Impressum neobooks

Auf den Tag genau, heute in einem Jahr

In Wetzlar, einer Stadt im Lahn-Dill-Kreis, etwa 70 Kilometer nördlich von Frankfurt am Main, öffnet seit ein paar Jahren, immer um die Osterzeit, auf der Lahninsel ein Biergarten seinen Ausschank.

Diese Insel wird durch den Fluss und einen ehemaligen Schleusenkanal gebildet. Sie besitz eine wechselvolle Geschichte, war Standort für ein Zwangsarbeiterlager, einen Rummelplatz und ist heute ein großer Parkplatz, um nur einige ihrer Bestimmungen zu nennen. In ihrem östlichen Teil, dort, wo über den Schleusenkanal eine Brücke in die Altstadt führt, unterhalb der Alten Lahnbrücke befindet sich besagter Biergarten.

Dort saß ich im Juli des vergangenen Jahres. Vor mir ein noch unberührtes Bier genoss ich, wie immer, wenn ich hierher komme, die Aussicht auf die Alte Lahnbrücke, die Hospitalkirche, die Spitze des Doms, das Wehr des Flusses und den Kanal, dessen Wasser heute weiter unterhalb ein kleines Wasserkraftwerk antreibt. Mein Fahrrad habe ich vor dem Biergarten an einen Laternenpfahl angeschlossen.

Ich hob das Glas und überlegte, ob ich mir zum Bier eine Bratwurst bestellen sollte, als ich vom Eingang her ein zweistimmiges „Hallo“ vernahm. Ich wandte mich um und erblicke zwei Personen, die sich eng umschlungen hielten. Kurz danach nahmen die beiden am Tisch neben dem meinen Platz.

„Was möchten Sie trinken“, fragte er sie.

„Ein Weizenbier wäre nicht schlecht“, antwortete sie.

Ich hatte mir die heimische Zeitung zum Lesen mitgebracht, las den Leitartikel - Ebola. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, dass der Mann die beiden Gläser auf den Tisch stellte und sich, ihr gegenüber, niederließ. Eine Zeit lang, beide hatten einander zugeprostet und getrunken, sprachen sie kein Wort.

Ich verlor das Interesse an den beiden, las weiter über die Seuche.

„Wissen Sie noch?“, hörte ich ihn sagen, „dort oben“, er zeigt in Richtung der Alten Lahnbrücke, „genau dort sind wir uns zum ersten Mal begegnet.“

„Aber ja, wie könnte ich das vergessen?“

„Sie gingen ein paar Meter vor mir her, trugen schwarze Shorts und hatten ein rotes Tuch um die Hüften gewunden, durch das ich ihre Pobacken andeutungsweise erkennen konnte.“

„Das Tuch habe ich eigentlich als Sichtschutz verwenden wollen. Vielleicht erinnern Sie sich auch noch an anderes?“

„Natürlich. Sie trugen ein schwarzes, tief ausgeschnittenes T-Shirt, und nun sagen Sie bloß nicht, dass Sie nicht wussten, welchen Einblick es mir gewährte?“

Ich hielt die Zeitung vor mich, las aber nicht mehr darin, lauschte stattdessen dem Gespräch am Nachbartisch. Die beiden wirkten derart aufeinander bezogen, dass es ihnen entgangen sein musste, einen Zuhörer zu haben.

„Berichten Sie, wie es Ihnen ergangen ist, seit …“

Sich abwechselnd, erzählten sie, was sie erlebt hatten, seit damals.

Da kam mir der Gedanke, die Geschichte der beiden aufzuschreiben, die Leerstellen zwischen dem Gehörten zu erfinden. Sie hatten sich hier wohl nach einem Unfall getroffen. Woher sie beide kamen, und ob sie zusammen etwas unternommen hatten, konnte ich ihrem Gespräch nur bruchstückhaft entnehmen. Zuerst wollte ich diese Roadstory nach dem Namen der Frau benennen. Doch dann erinnerte ich mich an eine Aussage, ich wusste nicht mehr ob von ihm oder von ihr: „Auf den Tag genau, heute vor einem Jahr.“

Ich versuchte, eine Mitschreiberin zu finden, denn ob es mir gelingen würde, den Teil der Erzählung, der aus der Sicht der Frau geschrieben werden müsste, als Mann angemessen beschreiben zu können, erschien mir zweifelhaft. Leider fand ich in meinem Bekanntenkreis keine Frau, die diese Aufgabe übernehmen wollte. Also machte ich mich allein an die Arbeit.

Ich bin ein unbekannter Autor, dementsprechend der Erlös aus dem Verkauf meiner Bücher. Um Kosten zu sparen, verzichte ich auf ein Fremdlektorat. Meine Leserinnen und Leser mögen mir bitte die Fehler im Text nachsehen, für die ich natürlich die volle Verantwortung trage.

Eins

Heute bin ich ihm dankbar, dass er mir das Rad überlassen hat. Maik, mein bester Freund, war damit gestürzt, und hatte die Nase voll vom Mountainbiken, wollte, wie er mir gestand, von nun an nur noch auf sicheren Wegen verkehren.

„Worüber lachst du, Mischa?“

Ich musste über seine Ausdrucksweise lachen, von wegen „sicheren Wegen“.

„Ich dachte gerade, was man alles darunter verstehen kann, auf sicheren Wegen verkehren.“

„Und, Mischa, was meinst du?“

„Na ja, alles, was man erreichen will, erreicht man schließlich auf irgendwelchen Wegen: einen Ort, ein Arbeitsergebnis, einen Beruf, eine Frau …“

„Verstehe, einen Fick über ein Kondom …“

„Genau Mischa. Und du meinst, ich sei jemand, der stets auf Nummer sicher geht?“

„Das habe ich so nicht gemeint. Ich sagte doch nur …“

„Schon gut, ich schenke dir das Rad. Fahr damit, wohin und auf welchen Wegen auch immer.“

Maik schien jetzt ein wenig genervt zu sein, und so ließ ich es bei dem Gesagten und bedankte mich mit dem Hinweis, mich irgendwie revanchieren zu wollen.

Das Rad nahm ich mit in meine Wohnung, stellte es im Flur ab, und jedes Mal, wenn ich den Haustürschlüssel auf das Garderobenschränkchen werfe, fühle ich mich animiert, es zu benutzen. „Warte noch ein paar Tage“, sage ich dann in seine Richtung, „dann habe ich Urlaub.“

Seit ich allein lebe, passiert es immer öfter, dass ich mit den Dingen rede.

„Na los, mach schon“, zu der Kaffeemaschine oder „halt endlich dein Maul“, in Richtung Fernseher, wenn auf dem Bildschirm der heuchlerische Gaukler erscheint.

Wieso hab ich das früher nicht getan? Früher, das war, bevor sie sich davongemacht hat. Früher und jetzt sind für mich die Bezeichnungen für meinen vormaligen und gegenwärtigen Lebensabschnitt. Jetzt muss ich mich daran gewöhnen, dass da niemand mehr ist, mit der ich mich zu Haus austauschen kann.

Eigentlich vermisse ich sie nicht, na ja … Ich genieße die Ruhe nach all dem Theater in der letzten Zeit von früher. Eine Ruhe, die es mir erlaubt, nachzudenken, wann ich will, zu reden, mit wem ich will, auch wenn es zurzeit nur die Waschmaschine ist.

Doch wie habe ich früher das Zusammensein mit Claudia genossen? Die Gespräche nach getaner gemeinsamer Arbeit, des Morgens, des Abends oder des Nachmittags, je nach Schichtart. Ein Privileg, das ich uns erstritten habe, die gemeinsame Arbeitszeit. Und jetzt? Ich würde sonst etwas dafür geben, sie nicht ständig sehen zu müssen: auf dem Gang, im Dienstzimmer, am Bett der Patienten. Sehen, ist nicht das richtige Verb, besser ist ertragen. Denn sehen lassen, das kann sie sich immer noch oder besser, wieder. Denn kaum, dass sie von mir befreit war, wandelte sie sich erneut zu dem attraktiven Weib, das sie vorgab zu sein, als wir uns früher nähergekommen waren.

Weib, auch ein Begriff aus dem Wortschatz von früher. Claudia bezeichnete sich selbst so, legte Wert darauf, als ein solches gesehen zu werden. Vielleicht hatte diese Bezeichnung einen Platz in ihrer Vergangenheit. Es gibt da einige auf der Station, die sie auch so sehen, die auf eine Chance hoffen, das Weib in ihr erleben zu dürfen.

Warum geht mir das jetzt durch den Kopf, da ich denke, aus den Augen, aus dem Sinn. Aber, wie gesagt, aus den Augen war sie mir noch nicht. Doch das würde sich ändern, nach Urlaubsbeginn, und vielleicht auch später.

„Halte durch“, sage ich zu mir, „noch drei Tage.“

Zwei

„Und, wo geht es hin?“ Zuerst bin ich versucht, zu lügen, zu sagen, auf die Kapverden führe ich. Doch warum soll ich sie ärgern, denn diese Inseln waren unser Traumurlaubsziel. Doch nie hatte das Geld dazu gereicht. Es hätte schon, wenn Claudia nicht … Wie oft habe ich diesen Halbsatz gedacht: wenn Claudia nicht …

„Ich werde lahnabwärts fahren, mit dem Rad“, sage ich und erst in diesem Augenblick ist die Idee geboren.

„Seit wann hast du ein Fahrrad?“

„Weißt du nicht mehr, dass es schon lange mein Wunsch war, eines zu besitzen? Lediglich aus Rücksichtnahme dir gegenüber habe ich ihn mir bisher versagt.“

Ich kann mir den Sarkasmus in der Stimme nicht verkneifen, und Claudia reagiert entsprechend: „Lügenarsch“, sagt sie, wendet sich ab und geht den Gang hinab.

Nein, sie geht nicht, schwebt eher dahin, mit entsprechenden Hüftschwüngen. Was hat mich dieser Gang früher fasziniert. Früher? Verdammt, verfluche ich mich, dass ich ihr immer noch auf den Hintern starre, wenn sie sich derart bewegt, dabei die Füße überkreuz auf den Boden setzt nach Mannequinart. Ich weiß, dass das ihre Reaktion ist, auf meinen Sarkasmus.

Zusammen haben wir vor fast drei Jahren in diesem Krankenhaus angefangen. Ich sehe sie vor mir, als wäre es gestern gewesen. Ich saß im Dienstzimmer am Schreibtisch hinter der Trennscheibe und sehe Claudia auf die Klingel laufen, eben mit diesem Gang und war mir sicher, dass sie wusste, wo ich hinblickte. In diesem Augenblick hat sie mein Verlangen nach ihr geweckt. Jetzt habe ich mich wieder gefangen, nehme mir vor, ihr heute, an meinem letzten Tag vor dem Urlaub, möglichst aus dem Weg zu gehen.

Es gelingt, und als ich meine Wohnung betrete, meine ich, es lacht mich an mein Fahrrad, als wüsste es bescheid. Ich bereite mir ein einfaches Mahl: Bratkartoffeln mit Spiegelei. Danach setze ich mich an meinen Rechner.

Der Lahntalradweg ist 245 Kilometer lang und führt von der Lahnquelle am Lahnkopf bei Netphen im Siegerland bis zur Mündung der Lahn in den Rhein bei Lahnstein, lese ich bei Wikipedia.

Ob ich das wohl schaffe, 245 Kilometer? Ich kann es mir noch nicht vorstellen, untrainiert, wie ich bin. Zwanzig Kilometer am Tag müssten es schon sein, und das mit vollständiger Ausrüstung, die ich mir noch anschaffen muss. Angefangen vom kleinen Zelt über den Schlafsack, einen Minikocher bis hin zur Badehose und so weiter. Ich erstelle eine Gepäckliste. Zuerst würde ich die Satteltaschen kaufen, um mir ein Bild von der Lademöglichkeit zu verschaffen.

„Den Golf kannst du behalten“, hatte Claudia scheinbar großzügig erklärt. Ich wusste, dass sie ihn nie gemocht hat. Einen Mini hat sie sich angeschafft.

Am Morgen mache ich mich auf den Weg. Ich weiß, dass es in Siegen einen großen Fahrradladen gibt. Dort beginne ich die Einkaufstour. Wenn es klappt, und ich habe alles zusammen, kann ich am Montag starten.

Und so kommt es, dass am Sonntagabend alles verpackt und verschnürt ist. Ich verzichte auf die übliche Fahrradbekleidung, die mich wie einen Teilnehmer der Tour de France aussehen lässt. Turnschuhe, olivgrüne Militärhose, Sweatshirt und eine leicht erreichbare Regenjacke, so will ich es angehen.

In der Nacht von Sonntag auf Montag schlafe ich unruhig, wie immer, wenn ich eine Reise vor mir habe. Und doch bin ich frohen Mutes, als ich am dritten August Rad und Gepäck herunter auf die Straße schleppe und schließlich um genau zehn Uhr antrete, mein rechtes Bein über den Gepäckberg hinter mir schwinge, mit dem Fuß am Schlafsack hängen bleibe, mich gerade noch fangen kann. Der zweite Startversuch gelingt. Die Lahnquelle ist mein erstes Ziel.

Drei

Die Schönheit der Natur hier im waldreichsten Kreis Deutschlands nehme ich kaum wahr, so sehr strengt mich das Bergauffahren an. Mehr als einmal bin ich versucht das ganze Unternehmen abzubrechen, bevor es überhaupt richtig begonnen hat. Im kleinsten Gang, oftmals nur im Schritttempo quäle ich mich bergan. Nur das Wissen, dass Wasser von selbst nicht bergauf fließt, und es demzufolge von der Lahnquelle aus bergab gehen muss, lässt mich den Aufstieg schaffen.

Das Forsthaus und die Lahnquelle lasse ich links liegen, und bald, nach dem sich die beiden Räder ohne Kraftanwendung drehen, es endlich bergab geht, suche und finde ich einen schattigen Platz am Waldrand und lege die erste Rast ein. Hunger verspüre ich nicht, nur Durst. Einen Liter Wasser fasst die Flasche, und ich muss mich beherrschen, nicht alles sofort in mich hineinzuschütten.

Ich mache es mir auf dem trockenen Waldboden bequem, genieße die Ruhe und hätte nichts dagegen, hier zu verweilen und mein Ziel, noch ein gutes Stück auf dem Weg nach Bad Laasphe voranzukommen, aus den Augen zu verlieren. Doch schließlich raffe ich mich auf, orientiere mich mithilfe der Karte, überquere die Lahn zweimal, verlasse den Radweg, biege in einen Waldweg ein, finde eine kleine Lichtung und entschließe mich, hier die erste Nacht zu verbringen.

Was bin ich so froh, dass ich beim Zeltkauf nicht auf den Preis geschaut habe. Wie von Geisterhand gesteuert, entfaltet sich die Zelthaut, dessen Boden ich mit vier Heringen fixiere. Das Rad sichere ich an einem Baum, trage mein Gepäck ins Zeltinnere, entrolle die sich selbst aufblasende Luftmatratze, breite auf ihr den Daunenschlafsack aus, krieche hinein, schließe die Augen und bin augenblicklich weg, zum ersten Mal seit Langem, ohne die quälenden Gedanken an früher.

Vier

Ich lernte Sven Ratinger lieben, da war er am Boden. Wieder einmal ging es mit mir durch, mein Helfersyndrom. Ich komme nicht dagegen an. Kaum dass sich jemand, der in einer Krise steckt, mir öffnet, fühle ich mich dazu berufen, ihm meine Hilfe anzubieten. Manchmal ist das unproblematisch, wenn es sich um eine praktische Unterstützung handelt. Wenn zum Beispiel die Kinder von Freunden mal kurz beaufsichtigt werden müssen, weil die Eltern einen unaufschiebbaren Termin haben, oder ich eine Besorgung übernehmen kann, weil eine Freundin zu Hause unabkömmlich ist. Hätte ich es vorausgesehen, dass es in diesem Fall in eine Katastrophe führt …

Schon lange gehörte Sven zu unserem Freundeskreis. Er leitet eine Versicherungsagentur, ist gut im Geschäft. Wenn er einlädt, sagt kaum einer der Freunde ab. Egal ob Garten- oder Silvesterparty, immer ist etwas los bei ihm und seiner Frau Katrin. Dieter Ebener gehörte auch zu dem Freundeskreis der Ratingers. Katrin und er schienen sich zu mögen, denn man sah sie bei solchen Gelegenheiten oft zusammensitzen und miteinander reden.