Morina - Reiner Kotulla - E-Book

Morina E-Book

Reiner Kotulla

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Beschreibung

Ein Zeitungsartikel lässt den Wetzlarer Journalisten Alexander Fabuschewski aufhorchen: Auf einer Klassenfahrt nach England soll der Schüler Kai Ludwig seine Mitschülerin Morina Vlado vergewaltigt haben. Doch bereits auf den ersten Blick ergeben sich einige Unstimmigkeiten. Was hat der Klassenlehrer der beiden, der junge und beliebte Juri Bredlow, damit zu tun? Hat er ein Verhältnis mit Morina? Oder ist die Ursache eher in den "Klassenkämpfen" zwischen den Lehrern der Realschule Am Stoppelberg zu suchen? Immer tiefer verstrickt sich der Journalist in den Recherchen, bis es zu einem dramatischen, unvorhergesehenen Ende kommt, bei dem nicht nur sein Freund Juri Bredlow in tödliche Gefahr gerät.

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Seitenzahl: 275

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Reiner Kotulla

Morina

Ein Wetzlar-Sardinien-Krimi

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Erster Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Zweiter Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Dritter Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierter Teil

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Impressum neobooks

Erster Teil

Eins

2. August 2004, auf den Tag genau vor vierzig Jahren, da hatte Peter Fabuschewski Cornelia kennengelernt. Ein Tag wie heute.

Schon drei Wochen lang hat es nicht mehr geregnet. Die Pflanzen in der Colchesteranlage sind nur deshalb noch nicht vertrocknet, weil die Leute vom Bauhof der Stadt ständig mit den Bewässerungswagen unterwegs sind. Die Lahn führt Niedrigwasser, und Bootstouristen können ihre Kanus trockenen Fußes das Wehr hinuntertragen.

Wie in jedem Jahr an diesem Tag will er seinen Sohn Alexander, der in Siegen lebt, besuchen. Diese Besuche sind inzwischen zu einer Tradition geworden, seit jenem Jahr, als Cornelia starb. Alexander Fabuschewski war nach der Scheidung bei seiner Mutter geblieben, hatte an der Uni Siegen Germanistik und Geschichte studiert und war, wie sein Vater, Journalist geworden.

Das Volontariat hatte er bei einer großen Dortmunder Zeitung absolviert, hatte danach in verschiedenen Abteilungen Berufserfahrungen gesammelt und war nun freier Mitarbeiter einiger Zeitungen und Zeitschriften geworden. Das hatte ihn, auch hinsichtlich seines Wohnortes, unabhängig gemacht. Trotzdem war er in Siegen geblieben.

Als Peter Fabuschewski seine Wohnung in der Wetzlarer Weißadlergasse verlässt, wundert er sich zunächst über die angenehme Kühle, die ihn empfängt. Beide Straßenseiten liegen im Schatten. Ein leichter Wind ist aufgekommen. Er schaut nach oben, sieht weiße Wolken, einige im Kern schon dunkel. Endlich, so denkt er, wird es regnen.

Er erreicht seinen Parkplatz bei der alten Post, öffnet beide Türen seines Autos, um den Zeitraum zu verkürzen, den die Klimaanlage benötigt, um eine gewisse Abkühlung des Innenraums zu erreichen.

Als er schon auf der Höhe des Wetzlarer Bahnhofs angekommen ist, fragt er sich plötzlich, ob er die Kaffeemaschine ausgeschaltet hat. Das passiert ihm nicht zum ersten Mal, und er weiß sofort, dass er zurückfahren wird.

Diese Marotte, so bezeichnet er sein Verhalten, ärgert ihn. Die Kontrolle war bisher immer negativ verlaufen, so oft er auch zurückgefahren war, die Maschine war immer ausgeschaltet gewesen. So auch heute. Das Zurückfahren und Nachschauen verzögert seine Abfahrt, weil er, bedingt durch einen Feuerwehreinsatz in der Innenstadt von Wetzlar, die Autobahn eine Stunde später als geplant erreicht.

Als er an der Abfahrt Ehringshausen vorbeifährt, beginnt es zu regnen. Er achtet nicht darauf, auch nicht, als der Regen stärker wird. Zwischen der Abfahrt Herborn-Süd und Herborn setzt er an, eine, wie es scheint, längere Lastwagenkolonne zu überholen. Als sein Auto nicht mehr auf die Lenkbewegungen reagiert, denkt er zunächst an Glatteis. Die Absurdität des Gedankens wird ihm erst bewusst, als der Wagen zum ersten Mal gegen die Leitplanke an der linken Fahrbahnseite prallt.

Von nun an bleibt er wie erstarrt sitzen, umklammert das Lenkrad und erlebt alles Weitere wie ein Zuschauer von außen.

Das Auto schleudert herum, schlägt mit dem Heck gegen die Leitplanke, schleudert noch einmal. Dann kommt es zum Stillstand.

Obwohl er nicht mehr fährt, ist er nun in der Situation eines Geisterfahrers.

Anstatt jetzt zu versuchen, den Wagen so dicht wie möglich an die inzwischen rechts von ihm sich befindende Leitplanke zu steuern, versucht er, den ursprünglich rechten Seitenstreifen zu erreichen.

Schon nach etwa einem Meter bleibt sein Auto stehen, der Motor ist ausgegangen. Er schaut in die eigentliche Gegenrichtung, noch immer wie ein unbeteiligter Zuschauer. Er sieht den ihm entgegenkommenden Wagen, reagiert nicht. Der Aufprall erfolgt augenblicklich. Erneut wird er zuerst nach vorne und dann zurück in den Sitz geschleudert. Mit dem Hinterkopf schlägt er gegen die Nackenstütze, erwacht aus einer Art Lethargie. Rechts neben sich sieht er die Leitplanke, die ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hat. Die Autos, die jetzt auf ihn zukommen, können ausweichen, ohne die Fahrbahnseite wechseln zu müssen.

Er schaut in den Rückspiegel. Etwa zweihundert Meter in seiner ursprünglichen Fahrtrichtung steht auf dem rechten Standstreifen ein Auto mit eingeschalteter Warnblinkanlage. Das muss der Wagen sein, denkt er, dessen seitlicher Aufprall ihn in die lebensrettende Position gebracht hatte.

Peter Fabuschewski schaltet nun ebenfalls die Warnblinkanlage seines Autos ein. Er registriert ein schnelles Klicken und schließt daraus, dass zumindest eine der beiden Lampen blinkt. Nun öffnet er die Fahrertür, steigt aus und bleibt mitten auf der Fahrbahn stehen. Hinter sich hört er einen Schrei: „Weg von der Fahrbahn.“

Da wird er sich der Gefahr bewusst, in der er sich nun befindet. Er springt vor sein Auto, überklettert die Leitplanke, landet in einem Gebüsch, das zwischen den beiden Leitplanken wächst.

Die Stimme hinter ihm ruft laut, aber ohne zu brüllen: „Stellen Sie ihr Warndreieck auf, aber bleiben Sie bitte nahe der Leitplanke.“

Peter überklettert diese erneut, läuft hinter sein Auto, versucht den Kofferraum zu öffnen. Es gelingt ihm nicht, der Deckel lässt sich nicht bewegen. Er schaut nach vorn, erkennt in der Ferne ein ihm entgegenkommendes Auto. Die Entfernung reicht aus, denkt er und rennt über beide Fahrbahnen bis hin auf den Standstreifen. Erst jetzt sagt er dem Mann, der nun auf ihn zukommt, dass er den Kofferraum seines Wagens nicht öffnen kann. Der Mann bedeutet ihm, sich nicht von der Stelle zu rühren und zu warten. Er rennt zu seinem Fahrzeug und kommt kurz darauf zurück, ein Warndreieck in der Hand. Wieder ordnet er an, dass Peter seinen Standort nicht verlassen soll, läuft circa zweihundert Meter gegen die Fahrtrichtung.

Peter beobachtet, dass der Mann einen günstigen Moment abwartet, die Fahrbahnen überquert und das Warndreieck aufstellt. Kurz darauf ist er zurück. „Wie ich sehe, waren Sie alleine in ihrem Fahrzeug.“ Peter bestätigt das.

Erst jetzt beginnt er, die Situation zu erfassen. Gleichzeitig wird ihm schlecht. Er beugt sich über die Fahrbahnbegrenzung und erbricht sich. Dann setzt er sich auf die Straße und lehnt sich mit dem Rücken an die Planke.

„Haben Sie Schmerzen?“

„Nein, mir ist schwindlig.“

„Bleiben Sie sitzen, ich hole Hilfe.“

Der Mann greift in die Seitentasche seiner Weste, dann wählt er eine Nummer, wartet und macht die notwendigen Angaben. „Es wird gleich jemand hier sein, bleiben Sie am besten bis dahin sitzen.“

Kurz darauf hören sie die Sirene und sehen das Blaulicht. Später wird Peter erfahren, dass, beginnend mit dem ersten Aufprall auf die Leitplanke bis zum Eintreffen des Notarztwagens, knapp fünfzehn Minuten vergangen waren. Noch während beide erste Hilfe erhalten, erscheint der Abschleppdienst mit zwei Fahrzeugen.

Peter und sein Helfer werden zur weiteren ärztlichen Behandlung in das Dillenburger Krankenhaus gebracht. Er erfährt, dass der Mann Gerhard Braun heißt, Handlungsreisender für Klimaanlagen ist und auf der Fahrt nach Hause, nach Dortmund, war. Peter bedankt sich für die Hilfeleistung, als sie auch schon die Klinik erreicht haben.

Später hört Peter von einer Krankenpflegerin, dass Gerhard Braun das Krankenhaus noch am selben Tag verlassen konnte. Er selbst wird stationär aufgenommen und wieder, wie schon vor einigen Jahren, lautet die Diagnose des behandelnden Arztes Kommotio, also Gehirnerschütterung.

Auf die Frage, wer benachrichtigt werden soll, gibt er die Telefonnummer seines Sohnes, Alexander Fabuschewski, an. Der verspricht, so wird Peter übermittelt, so schnell wie möglich zu kommen.

Peter schläft ein, träumt, kann sich später nur erinnern, dass Cornelia in seinem Traum eine Rolle spielte. Plötzlich ist es dann aber Renate, die diese Rolle übernimmt. Als er wach wird, erkennt er Alexander, der neben seinem Bett steht und auf ihn herabschaut. Der bemerkt, dass sein Vater wach geworden ist.

„Hallo Peter, was ist passiert?“

„Schuld war die Kaffeemaschine“, beginnt Peter seinen Bericht. Alexander ist erschrocken und zugleich erleichtert, als er den Bericht seines Vaters hört.

Danach, Peter ist eingeschlafen, überlegt er, ob er heute noch nach Siegen zurückfahren soll, wozu er eigentlich keine Lust verspürt. Wieder einmal, wie so oft in letzter Zeit, denkt er darüber nach, seinen Wohnort zu wechseln. Jetzt hätte er einen konkreten Anlass dazu.

Die Ursachen sind vielfältig: Die Landschaft, das Tal der Sieg, ist nicht sehr breit, Hauberge auf beiden Seiten. Viele dieser Birken- und Buchenwälder werden auch heute noch holzwirtschaftlich genutzt. Deshalb werden die meisten der Bäume nicht älter als etwa achtzehn Jahre. Dementsprechend wirken die Wälder etwas eintönig. Die Seitentäler der Sieg sind noch enger und dunkler und sind bewachsen mit Bäumen derselben Art.

Das Wetter besteht aus vielen Regentagen. Oft ziehen Tiefdruckgebiete von Westen her bis zur sogenannten Wetterscheide, einem Mittelgebirgszug mit seiner höchsten Erhebung von etwa fünfhundert Metern bei Kalteiche, bleiben hängen und regnen ab. Oft, wenn er mit seinem Vater in Wetzlar telefoniert, beschreibt dieser das Wetter in Wetzlar als sonnig und ergänzt ironisch: „Ich weiß, bei dir regnet es.“

Auch heute war es so gewesen, Dauerregen. Als er auf der A45 die Abfahrt Haiger-Burbach hinter sich gelassen hatte, klarte es auf, und die Sonne schaute durch die schon etwas helleren Wolken.

Die Menschen in Siegen waren geprägt durch die abseits der großen Verkehrswege gelegenen Städte und Ortschaften, oft konservativ in ihrer Weltanschauung und meist stolz auf ihre Heimat, das Siegerland.

Als die Gesamthochschule gegründet wurde, soll der Siegener Bürgermeister gesagt haben, dass man nun seine Söhne und Töchter vor dem Sumpf der großen Städte bewahren könne.

Während seines Studiums an dieser Hochschule hörte er oft von Siegener Studenten, wie ihm schien, eigentümliche Aussagen. So zum Beispiel in einem Seminar zum Thema Industrialisierung im Siegerland. Ein Student, bekannt als Linker, referierte zum Thema Marxismus. Als er den marxistischen Klassenbegriff definierte, meldete sich ein Student und protestierte. Klassenunterschiede, so erläuterte er, gebe es wohl im Ruhrgebiet, jedoch nicht im Siegerland. Hier hätten die Industriearbeiter meist eigenes Land besessen und seien demzufolge nicht arm gewesen und konnten somit nicht zur Arbeiterklasse gehört haben. Jetzt meldet sich Alexanders innere Stimme: „Achtung Alexander, alles nur Vorurteile.“ „Ich weiß“, entgegnet er, „trotzdem.“

Jetzt gäbe es einen Anlass zu gehen. Erika hat ihn verlassen. Sein Vater weiß noch nichts davon, der mag Erika. Heute wollte er erzählen. Nun war es anders gekommen.

Als Peter Fabuschewski wach wird, fragt er ihn, welche Dinge aus seiner Wohnung er ihm bringen solle. Sein Vater erklärt, dass er heute nichts mehr benötige. Alexander könne in Wetzlar übernachten und auf dem Rückweg nach Siegen mit den Sachen vorbeikommen. Alexander stimmt zu und verabschiedet sich.

Er fährt nach Wetzlar, vorbei an Peters Unglücksstelle. Auf dem Parkplatz Lahninsel stellt er sein Auto ab und geht zu Fuß in die Weißadlergasse. Bevor er die Wohnung seines Vaters erreicht, biegt er rechts ab, geht in Richtung Domplatz, will noch auf ein Bier ins Bistro. Er kennt die Kneipe, hat dort schon öfter mit seinem Vater gesessen.

In der Schwarzadlergasse, im Schaufenster eines Friseursalons, entdeckt er die Annonce:

Wohnung zu vermieten, hier im Haus. 115 Quadratmeter, drei Zimmer, Küche, Bad, Abstellraum, im dritten Obergeschoss. Miete: 560,– plus Nebenkosten.

Nicht schlecht, denkt Alexander Fabuschewski und nimmt sich vor, am folgenden Tag eine Besichtigung vorzunehmen.

Er findet einen Platz in der Fensterecke. Linker Hand schaut er in die Schwarzadlergasse, durch das Fenster ihm gegenüber sieht er den Dom. Vor ihm auf dem Tisch liegt die heutige Ausgabe der Regionalzeitung.

Gedankenlos greift er danach, würde sich viel lieber mit jemandem unterhalten, aber außer ihm sitzen noch fünf Personen an drei Tischen, die mit sich selbst oder ihrem Tischnachbarn beschäftigt sind.

Pressevielfalt, denkt er, als er dieselben Artikel erkennt, die er auch auf den ersten Seiten der Dillenburger Regionalzeitung gesehen hatte. Er ist sich ziemlich sicher, dass die Siegener Zeitung denselben Inhalt aufweist.

Dann fällt sein Blick auf einen Artikel im Regionalteil.

Drei Begebenheiten an einem Tag, die sein Leben verändern sollten.

Zwei

Hallo, ich hoffe, es geht dir gut!? Du hast mich krankgemacht! Seit Dienstag habe ich wieder meine Kreislaufprobleme, die so schön weg waren. Schäm dich, ha! Geh in die Schämecke, los! Meine Haare reichen mir nur noch bis auf die Schulter. Ich lasse demnächst noch mal Passfotos von mir machen, dann siehst du ja, wie es aussieht. Mir gefällt es!

Apropos Bilder, hatte ich dir erzählt, dass ich dich manchmal zeichne? Zwei Zeichnungen von dir liegen dem Brief bei, die schenke ich dir.

Oh, heute habe ich wieder ausgiebig mit Kater Charly gekuschelt. Der arme Kerl musste als Ersatz für dich herhalten, ha!

Ich vermisse dich so! Und ich hoffe, dass du mir zurückschreibst.

Weißt du, was ich mir heute gekauft habe?

Eine Neue, wie du immer sagst, Schundzeitschrift. Von etwas muss der Mensch ja leben.

Hoffentlich gefällt dir die Kassette, die ich dem Brief beilege. Das eine Lied habe ich an dem Tag, an dem ich dir den ersten Brief geschrieben habe, von achtzehn bis nachts um drei Uhr gehört.

Es ist gar nicht so einfach, ohne den Menschen auszukommen, der mir am wichtigsten ist. Wenn du jetzt hier sein könntest, das wäre sooo toll!!!

Morgen wird mein Vater 44!

Ich mach jetzt lieber Schluss, sonst weine ich wieder. Ich hab dich immer noch über alles lieb!

Drei

Schon oft haben Zeitungsartikel den Kern für die Handlung eines Romans abgegeben.

Sexuelle Nötigung auf Klassenfahrt

Wetzlar (rk). Das Wetzlarer Jugendschöffengericht hat einen 16jährigen Schüler aus Braunfels der sexuellen Nötigung für schuldig befunden. Das Gericht sprach eine Verwarnung aus, außerdem muss der Jugendliche 120 Arbeitsstunden für eine gemeinnützige Einrichtung ableisten. Der Angeklagte bestritt die ihm zur Last gelegte Tat und legte gegen das Urteil Berufung ein.

Wie die Verhandlung ergab, hatte der Angeklagte im Mai dieses Jahres an einer Klassenfahrt teilgenommen. Laut Anklage war er dort zusammen mit allen anderen Schülerinnen und Schülern der Klasse in verschiedenen Zimmern, auf einem Flur der Jugendherberge untergebracht. Nachts soll er sich, laut Gericht, in das Bett einer Klassenkameradin begeben und sexuelle Handlungen vorgenommen haben.

Die betroffene Schülerin hatte ihre Mutter unterrichtet, die den Fall bei der Polizei in Wetzlar zur Anzeige brachte.

Alexanders Neugier ist geweckt. Der Stoff um die Nachricht herum, das ist es, was er schaffen möchte. Dazu braucht er die Wohnung, denn er nimmt an, dass sich die Schule, von der in dem Artikel die Rede ist, in Wetzlar befindet. „Interessant, nicht wahr? Aber ich denke, so etwas hat es immer schon gegeben. Wenn ich da an meine Schulzeit denke.“

Alexander schaut erschrocken hoch. Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er nicht bemerkt hatte, dass die Kellnerin an seinen Tisch getreten war.

„Ich habe Sie hoffentlich nicht zu sehr erschreckt, eigentlich wollte ich nur fragen, ob Sie noch einen Wunsch haben?“

„Nein, danke, aber Sie haben recht, ein interessanter Fall.“

„Ich kenne eine Freundin der Schülerin, sie geht in dieselbe Schule.“

„Ich glaube, ich nehme doch noch einen Kaffee, und wenn Sie einen Moment Zeit hätten, würde ich Sie bitten, mir mit einer Tasse Kaffee Gesellschaft zu leisten.“ Die Kellnerin schaut sich im Lokal um, nickt ihm zu und geht zur Theke.

Alexander ist nun wirklich erstaunt und fragt sich, ob nun vielleicht eine Glücksphase sein Leben bestimmt, als die Kellnerin zwei Tassen, ein Kännchen, Milch und Zucker auf den Tisch stellt. Sie setzt sich ihm gegenüber, schaut etwas unsicher.

Alexander stellt sich vor und berichtet kurz über den Grund seines Hierseins. Dann erklärt er ihr seine Idee.

Die Kellnerin nennt ebenfalls ihren Namen, Michelle, und sagt, dass sie ihm vielleicht bei seinen Erkundigungen helfen könne. Alexander nimmt dieses Angebot dankend an.

Inzwischen hatten einige Gäste das Lokal betreten. Die Kellnerin nimmt ihre Tasse, steht auf, zögert einen Moment, dann nimmt sie ihren Kugelschreiber und schreibt eine Telefonnummer auf den Bierdeckel.

„Sie können mich anrufen.“ Sie bringt ihre Tasse zur Theke und kümmert sich um die neuen Gäste.

Alexander wartet, bis sie an seinem Tisch vorbeikommt.

„Nur noch eine Frage?“ Sie bleibt stehen. „Können Sie mir sagen, welche Schule das ist?“

„Die Realschule ‚Am Stoppelberg‘, hier in Wetzlar.“

„Ich werde Sie anrufen und – vielen Dank.“

Jetzt müsste es nur noch mit der Wohnung klappen, denkt er, als er an dem Friseursalon vorbeigeht. In der Jackentasche der Bierdeckel, Michelle Carladis, 0171-3888975.

Vier

Er packt die notwendigen Sachen für seinen Vater zusammen. Früh war er wach geworden, wie immer, wenn sein Interesse an einer Sache geweckt ist. Im Gefrierschrank findet er eingefrorene Brötchen. Butter, Salz und Kaffee vervollständigen sein Frühstück.

Er betritt den Friseursalon und schaut sich suchend um. Noch ist kein Kunde im Geschäft. „Was kann ich für Sie tun?“ Ein Mann, etwa in seinem Alter, steht vor ihm, schaut ihn erwartungsvoll an.

„Ich möchte mir gerne die Wohnung ansehen.“

„Kein Problem, ich gebe Ihnen den Schlüssel, die Wohnung ist im dritten Stock, Sie finden sich sicher alleine zurecht.“ Er drückt ihm den Schlüssel in die Hand und wendet sich dem ersten Kunden zu, der soeben den Laden betritt.

Schwarzadlergasse, Ecke Fischmarkt. Ein historisches Gebäude, liest er: Dieses Haus war von 1606 bis 1690 Rathaus der Reichsstadt Wetzlar. Von 1693 bis 1806 Sitz und ab 1756 Kanzlei des Reichskammergerichtes. So steht es auf einer Tafel, die in die Hauswand eingelassen ist. Er weiß, dass Goethe hier von Mai bis September 1772 als Rechtspraktikant am Reichskammergericht gearbeitet hat.

„In dieser Zeit lernte er Charlotte Buff kennen.“

Erklärt gerade ein Mann seiner Begleiterin, beide offensichtlich Touristen, Videokamera umgehängt und Reiseführer in der Hand. Er fährt fort: „Als Goethe sich in sie verliebte, war sie bereits vier Jahre mit dem hannoverschen Legationssekretär Johann Christian Kestner verlobt. Die unerfüllte Liebe zu ihr machte sie zum Vorbild der Lotte im Werther, der zwei Jahre später erschien. Auch der Selbstmord Werthers hatte einen realen biografischen Hintergrund: Der braunschweigische Legationssekretär Karl Wilhelm Jerusalem hatte sich in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober umgebracht, vornehmlich wegen seiner Liebe zur Ehefrau des pfälzischen Legationssekretärs. Goethe selbst wohnte Am Kornmarkt Nr. 11, zu Fuß in etwa fünf Minuten von hier zu erreichen.“

Ein gutes Training, denkt Alexander, als er die schmale Treppe bewältigt hat und die Wohnungstür aufschließt. Dahinter liegt ein nicht sehr breiter Flur. Eine Tür führt geradewegs in die Küche. Von hier aus gelangt man linker Hand in das Bad. Rechts der Küche schließt sich ein großer Wohnraum an. Vom Bad, von der Küche und von diesem Raum aus schaut man hinunter auf die Schwarzadlergasse.

Durch eine Verbindungstür kommt er in einen kleineren Raum, vielleicht ein Schlafzimmer, und wiederum durch eine Verbindungstür in ein zweites, ebenso großes Zimmer. Durch die Fenster dieser Räume sieht er hinunter auf den Fischmarkt.

Gegenüber steht das Stadthaus Am Dom mit dem Bistro im Erdgeschoss. Am Stadthaus vorbei der Dom und der namensgleiche Platz.

Die Anordnung der Räume innerhalb eines Rechtecks und ihre verbindenden Türen ermöglichen einen Rundgang – Flur, Küche, großer Wohnraum, Schlafzimmer, kleines Zimmer, Flur.

Alexander ist begeistert. Als er die Treppe hinuntersteigt, nimmt er sich vor, diese Begeisterung nicht zu zeigen, wenn es um die Höhe der Miete geht. Er weiß von sich, dass er kein Händler ist, dass es ihm schwerfällt zu versuchen, einen Preis zu drücken. Dieses Mal will er es versuchen. Coole Miene, als er den Friseursalon betritt.

„Und, gefällt sie Ihnen?“ „Ja, ganz gut, aber die Miete.“ „Was sind Sie von Beruf?“

Alexander erkennt seine Chance. „Ich bin Schriftsteller“, und damit der Mann nicht auf die Idee kommt, er könne die Miete nicht bezahlen, ergänzt er, „ich war Journalist, habe etwas zusammengespart und denke, dass ich davon etwa ein Jahr leben kann, wenn, ja wenn Sie mir mit dem Mietzins etwas entgegenkommen können.“

„Ihre Offenheit gefällt mir, sagen wir fünfhundert Euro.“

Der Mann hält ihm die Hand entgegen. Alexander schlägt ein.

„Haben Sie heute Nachmittag noch einen Termin frei, denn ich glaube, zu der neuen Wohnung gehört auch eine neue Frisur?“

„Wenn Ihnen siebzehn Uhr recht ist? Dann können wir auch gleich den Mietvertrag machen.“

Alexander ist einverstanden, nennt seinen Namen, grüßt und verlässt den Salon. Er geht um die Ecke, in die Weißadlergasse, holt die Sachen für seinen Vater und macht sich auf den Weg nach Dillenburg. Sein Vater ist wach, als er das Zimmer betritt, und macht heute schon einen besseren Eindruck. Alexander wickelt die Blumen aus, schaut sich nach einer Vase um. „Draußen, im Flur. Schön, dass du mir Blumen mitgebracht hast, auch Männer mögen Blumen, mich stimmen sie optimistisch.“

Alexander geht raus, findet aber keine Vase, geht ins Stationszimmer. Die Krankenpflegerin steht vor einem Schrank, sucht anscheinend nach einem Medikament. Alexander schaut, lässt sich Zeit, bevor er sich bemerkbar macht. Tiefschwarzes Haar, wahrscheinlich sehr lang, zu einem dicken Zopf geflochten. Sie trägt Hosen und darunter, so vermutet er, eine dieser zurzeit modernen Unterhosen, sodass ihr Hintern detailgetreu abgebildet wird. Menschen spüren den Blick im Rücken, und so dreht sie sich um. Toll denkt er noch, als sie ihn fragend anschaut.

„Ich suche eine Vase, für meinen Vater, ich meine, für die Blumen, also, ich habe meinem Vater ...“ – sie lacht. „Im Flur, gleich gegenüber dieser Tür ist ein Wandschrank, dort finden Sie Vasen.“

Er dreht sich um, sucht den Schrank, als sie noch sagt: „Schön, wenn Männer Männern Blumen schenken, aber jetzt lassen Sie mich bitte vorbei, ich habe noch zu tun.“

Er findet den Wandschrank und auch ein passendes Gefäß. „Wer ist denn diese hübsche Krankenschwester?“

„Hübsch ist untertrieben, wenn du Tamara meinst?“

„Wenn sie tiefschwarzes Haar hat, dann meine ich Tamara.“

Alexander stellt die Blumen in die Vase und diese auf den Tisch, der sich unter dem in einem Wandregal aufgestellten Fernsehgerät befindet. Er nimmt einen Stuhl und setzt sich neben das Bett. „Erinnere mich daran, dass ich die Sachen auspacke, bevor ich gehe. Aber bitte berichte, wie es dir geht.“

„Schon besser, aber ich werde wohl noch ein paar Tage hierbleiben müssen. Ist alles in Ordnung mit meiner Wohnung?“ wechselt er das Thema. Alexander weiß, dass sein Vater kein wehleidiger Mensch ist. Anders als Männer allgemein lässt er es sich nicht gerne anmerken, wenn mit seiner Gesundheit etwas nicht in Ordnung ist. Seltsam findet er es schon, dass Männer, die sich sonst gern als hartgesotten darstellen, gegenüber ihren Partnern zimperlich erscheinen. Vielleicht brauchen sie diese Nische als Ausgleich für den Stress des beruflichen Konkurrenzkampfes. Das wäre eine Untersuchung wert, im Vergleich dazu natürlich auch eine bei berufstätigen Frauen.

Alexander bestätigt, dass mit der Wohnung seines Vaters alles in Ordnung sei, will nun seinerseits das Thema wechseln, weiß aber nicht, wie er anfangen soll. Deshalb beginnt er am Schluss. „Ich habe eine Wohnung gefunden, ganz in der Nähe deiner Behausung.“

Sein Vater schaut ihn verdutzt an. „Ich wusste gar nicht, dass du eine Wohnung suchst.“

„So genau wusste ich das bisher auch nicht, aber als ich gestern Abend noch auf ein Bier ins Bistro gegangen bin, sah ich im Schaufenster des Friseursalons, in der Schwarzadlergasse, eine Anzeige. Heute Morgen habe ich mir die Wohnung angesehen.“

„Wo, sagst du, ist die Wohnung?“

„Im dritten Obergeschoss des Hauses, das früher das Rathaus und das Reichskammergericht beherbergte.“

„Dann kenne ich diese Wohnung und den Vormieter ebenfalls. Du hast mir aber immer noch nicht gesagt, warum du nach Wetzlar umziehen willst.“

Alexander überlegt, möchte aber im Moment keine umfassende Erklärung abgeben. „Ich habe mich von Erika getrennt oder besser, sie sich von mir, wie auch immer. Das Siegerland, und jetzt übertreibe ich ein wenig, dieses große Freilichtmuseum im Verbund mit dem Sauerland, ist mir nicht zur Heimat geworden. Mehr möchte ich im Augenblick zu den Ursachen nicht sagen. Über den Anlass, nach Wetzlar zu ziehen, ist schnell berichtet. Es gab gestern drei Begebenheiten, die mich zu dem Entschluss kommen ließen, nach Wetzlar zu wechseln. Du weißt, ich glaube nicht an Zufälle.

Zuerst sah ich die Wohnungsanzeige. Später im Bistro, las ich in der Regionalzeitung einen Nachrichtenartikel, der den Erzählkern für einen Roman bilden könnte. Du weißt, dass ich beruflich nicht gebunden bin. Ich habe so viel Geld gespart, dass ich ein Jahr davon leben kann, und ich denke, dass ich ein Jahr brauchen werde, um dieses Buch zu schreiben, mein schon lange gehegter Wunsch.“

Peter schaut seinen Sohn an, will nicht weiter in ihn dringen, weiß, dass Alexander irgendwann mehr erzählen wird. „Wie hoch ist die Miete?“

„Der Vermieter wollte 560,– Euro. Ich konnte ihn auf 500,– herunterhandeln. Bei der Gelegenheit habe ich auch gleich einen Friseur gefunden.“

„Wann willst du umziehen?“

„Ich denke, dass ich heute noch nach Siegen fahren werde, um mit den Vorbereitungen zu beginnen.“

„Nun, Alexander, dann mach dich mal auf den Weg.“

Schon sehr bald wird Alexander Fabuschewski erfahren, dass nicht nur das Siegerland ein großes Freilichtmuseum sein kann.

Fünf

Der Vorteil einer kleinen Wohnung besteht darin, dass sich dort auch über einen längeren Zeitraum nicht so viel ansammelt, sodass ihm ein kleiner LKW ausreicht, sein gesamtes Umzugsgut aufzunehmen. Den Wagen hat er in Wetzlar ausgeliehen. Die Fahrt nach Siegen reicht ihm aus, sich mit dem Fahrverhalten des Wagens vertraut zu machen.

In einem Supermarkt hat er Bananenkisten zum Verpacken des Kleinkrams gefunden. Ein Mitbewohner hilft ihm beim Verladen der schweren und sperrigen Stücke.

Der Abschied von Siegen wird ihm erst bewusst, als er die Wetterscheide bei Kalteiche überquert. Dieses Mal ist es anders als sonst, wenn er seinen Vater besucht hatte: Es regnet auf der hessischen Seite.

Am späten Nachmittag kommt er in Wetzlar an, parkt vor dem Haus am Fischmarkt. Er klappt die hintere Ladeklappe herunter, schaut unschlüssig auf das Umzugsgut. Der Laderaum ist so beladen, dass zuerst die schweren und sperrigen Sachen ausgeladen und in den dritten Stock transportiert werden müssen. „Das scheint nicht einfach zu sein.“

Erschrocken dreht sich Alexander Fabuschewski um. Hinter ihm steht Michelle Carladis, die Bedienung aus dem Bistro.

„Sie haben recht, ich habe vergessen, dass alles in den dritten Stock getragen werden muss.“

„Da haben Sie aber Glück, ich bin frei und kann Ihnen helfen. Einen Moment, Klaus wird sicher mithelfen“, sie dreht sich um und läuft ins Bistro.

„Klaus Wagner“, stellt sie ihn vor, „ein Freund von mir.“

Er registriert, dass sie nicht sagt, „mein Freund“.

Alexander stellt sich nun ebenfalls vor, gibt jetzt auch Michelle die Hand. Er spürt einen kräftigen Händedruck und denkt an seinen Vater, der immer zu ihm gesagt hatte: „Fest zudrücken, Alexander.“

Klaus greift sogleich nach der Waschmaschine. Gemeinsam heben sie diese auf die Straße herunter. Alexander öffnet die Haustür und oben die Wohnungstür. Knapp zwei Stunden später steht alles in der Wohnung, noch nicht auf seinem endgültigen Platz, aber das, so sagt er, würde er alleine schaffen. Unschlüssig stehen sie in der Küche.

„Falls Sie überlegen, wie Sie uns danken können, schlage ich eine Pizza vor, drüben beim Wirt am Dom.“

Tatsächlich hatte Alexander gerade darüber nachgedacht, wie er fragen sollte. Nacheinander waschen sie sich im Badezimmer die Hände, verlassen gemeinsam die Wohnung und gehen hinüber in die Pizzeria. Wie es sich herausstellt, handelt es sich bei diesem Lokal nicht um eine Pizzeria im üblichen Sinne, sondern um ein, wie man oft sagt, gutbürgerliches Restaurant unter italienischer Leitung. Alle drei bestellen sie Pizza und Bier.

„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen genug danke, wenn ich das hier bezahle?“

„Ich denke schon“, sagt Klaus, „zumal das heute unser letzter Arbeitstag vor dem Urlaub ist. Morgen werden wir abreisen, zwei Wochen Korsika. Jetzt, im September, ist das Wetter dort noch sehr angenehm, nicht zu warm und nicht zu kalt.“

Im Stillen bedauert Alexander nicht nur ihre Abreise. Er ist also doch ihr Freund, denkt er. Zudem muss er nun noch vierzehn Tage warten, bis er Michelles Hilfe in Anspruch nehmen kann.

„Sicher wird es später noch eine Gelegenheit geben, dass ich mich für Ihre Hilfe erkenntlich zeigen kann“, und an Michelle gewandt, „darf ich dann auch noch auf Ihre Unterstützung rechnen bei meiner Recherche in Sachen Klassenfahrt?“ „Ja, sicher“, sie klärt nun Klaus darüber auf, um was es dabei geht.

Der ist ein wenig erstaunt. „Davon hast du mir ja gar nichts erzählt.“

Michelle erscheint ein wenig verlegen. „Habe ich nicht? Seltsam.“ Kurz darauf verabschieden sie sich mit der Aussage, sie hätten noch einiges vorzubereiten.

Alexander bleibt sitzen, bestellt sich noch ein Bier. Er will sich Zeit lassen, beabsichtigt, erst am kommenden Tag die Wohnung weiter einzuräumen.

Am Morgen, denkt er, wird er im Bistro frühstücken und danach seinen neuen Friseur aufsuchen. Noch einmal überdenkt er die Ereignisse der letzten Tage. Der Unfall seines Vaters, die Besuche im Krankenhaus, der Artikel in der Zeitung, die Wohnung, Michelles Angebot und deren Hilfe beim Umzug.

Er wundert sich, dass er sie in Gedanken Michelle nennt, zumal sie sich mit „Sie“ und Nachnamen anreden. Seltsam auch seine scheinbar grundlose Reaktion auf die Urlaubsankündigung der beiden. Er denkt auch an die Situation im Krankenhaus, als er eine Vase suchte und dabei die Krankenpflegerin kennenlernte, wobei dies wohl etwas übertrieben ist. Ihren Namen, Tamara, hatte er von seinem Vater erfahren.

Und überhaupt fragt er sich, warum er so kurz nach der Trennung von Erika, die er zu lieben glaubte, derartige Gedanken hegt. Sollte der seiner Ansicht nach dumme Spruch „Männer, können besser sehen als hören“ doch eine tiefere Bedeutung in sich bergen?

Warum fasziniert ihn der Anblick eines runden Hinterns so, dass er sich sofort nach dem Namen der Frau erkundigt? Die Frage deutet ja wohl die Absicht an, mit ihr Kontakt aufnehmen zu wollen. Er beschließt, diesen Fragen jetzt nicht weiter nachzugehen, bezahlt die Rechnung und geht hinauf in seine Wohnung.

Weil er müde ist, macht er nur sein Bett, lässt alles andere so stehen, wie es abgestellt wurde, zieht sich aus, wäscht sich und legt sich hin. Bald ist er eingeschlafen.

Der erste Traum in einer neuen Wohnung sei von besonderer Bedeutung, so sagt man. Er erinnert sich an ihn, als er am nächsten Morgen im Bistro ein umfangreiches Frühstück zu sich nimmt.

Zuerst vernahm er ein Klopfen in seinem Traum, rief „herein“ und wurde wach, glaubte sich in seiner alten Wohnung und rief noch einmal. Er hörte, wie unten auf dem Parkplatz eine Autotür geschlossen wurde. Jetzt erinnerte er sich daran, wo er sich in Wirklichkeit befand, und schlief wieder ein.

Kurz darauf, wie er meint, vernahm er wieder das Klopfen, und noch einmal rief er „herein“.

Die Tür öffnete sich, und Erika kam herein, sagte, sie wolle den Kühlschrank abholen, da dieser schließlich ihr gehöre. Sie trug nichts am Körper außer einem roten Tanga. Er bat sie, in sein Bett zu kommen. Daraufhin wandte sie sich ihm zu, hatte plötzlich das Gesicht von Tamara, der Krankenschwester im Dillenburger Krankenhaus. Die sagte zu ihm, sie habe noch zu tun, käme aber später noch einmal wieder und verließ den Raum. Er stand auf, wollte ihr folgen, verlief sich aber in der Wohnung. Dann erinnerte er sich daran, dass alle Räume miteinander verbunden waren. Trotzdem fand er das Schlafzimmer nicht mehr.

Statt dessen saß er jetzt in einem Auto, schaute aus dem Fenster und sah auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen PKW, der sich offensichtlich überschlagen hatte. Er wollte anhalten, fand aber das Bremspedal nicht.

Wieder wurde er wach, bemerkte eine Erektion, war erleichtert darüber, dass alles nur ein Traum war. Trotzdem überlegte er, wo Tamara hingegangen sein könnte und wie er der Person, die in dem Unfallauto saß, helfen sollte. Endlich schlief er wieder ein, blieb traumlos, wie er glaubte.

„Wie war die erste Nacht in der neuen Wohnung?“, fragt ihn der Friseur.

„Freud hätte seine wahre Freude an meinen Träumen gehabt. Ansonsten habe ich gut geschlafen, und die Wohnung gefällt mir immer noch sehr gut, auch, wenn da noch einiges an Arbeit zu leisten ist.“

„Und die Frisur?“, fragt ihn der Friseur, als er ihm den Spiegel hinter den Kopf hält.

„Sehr gut“, sagt er und ist aufrichtig.

Um nicht ständig auswärts essen zu müssen, will er zunächst die Küche fertig einräumen, anschließend doch noch einmal irgendwo zu Mittag essen und am Nachmittag nach Dillenburg ins Krankenhaus fahren.

Auf dem Stationsflur begegnet ihm Tamara. Sie lächelt ihn an und sagt, dass er, wenn er eine Vase benötige, ja wisse, wo diese zu finden sei. Er lächelt zurück und bedankt sich höflich. Dann klopft er an die Krankenzimmertür, tritt ein und ist überrascht.

Vor dem Bett seines Vaters sitzt eine ihm unbekannte Frau. Auch Peter Fabuschewski scheint etwas verlegen zu sein, stottert ein wenig, als er ihm, wie er sagt, eine Freundin, Renate Wolzow, vorstellt. Auch die erscheint durch seinen Besuch etwas verunsichert, als Peter ihr seinen Sohn Alexander vorstellt.

Peter überbrückt die Situation mit dem Hinweis, dass der Arzt ihm erlaubt hätte, die Cafeteria aufzusuchen. Er steigt aus dem Bett, zieht den Bademantel über und macht eine einladende Geste in Richtung der Tür. Im Fahrstuhl dann die übliche Situation. Man steht dicht beieinander und weiß nicht, wo man hinschauen soll. Interessant, denkt Alexander und zwingt sich, Renate Wolzow nicht offen anzuschauen.

„Peter hat erzählt, dass Sie nach Wetzlar umziehen wollen.“ Und schon ist die Fahrstuhlsituation entspannt.

„Schon geschehen, Schlafzimmer und Küche sind bereits bewohnbar.“ So bleibt es auch, als sie in der Cafeteria um einen kleinen Tisch herum sitzen. Peter und Renate berichten abwechselnd darüber, wie sie sich kennengelernt haben und dass sie eine recht offene Beziehung zueinander unterhalten.

Alexander ist beeindruckt, als Renate sagt: „Wir treffen einander, wenn uns danach ist und wir Zeit füreinander haben.“

Alexander bemerkt, dass Peter ihn beobachtet, gibt sich locker und bekundet seinerseits Sympathie für eine solche Beziehung. Peter lacht ihn an, nicht genau wissend, ob Alexander auch meint, was er sagt.