Auf der Kanzel - Benjamin Stückelberger - E-Book

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Benjamin Stückelberger

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Beschreibung

Zwölf Jahre bekämpfte Roger Gabathuler bei der Kantonspolizei Zürich Frauenhandel und organisierte Kriminalität. Bis zu jenem Einsatz, der ihn vordergründig zum Helden machte, letztlich aber das Ende seiner Karriere bedeutete. Auf der Suche nach neuen Herausforderungen stößt Gabathuler auf ein Programm für Quereinsteiger bei der reformierten Kirche. Er beschließt, Theologie zu studieren, und wird Pfarrer in Winterthur-Ganterwald. Bei der Besichtigung des Pfarrhauses, das zwischenzeitlich einem Asylbewerber zur Verfügung gestellt wurde, erkennt Gabathuler in dem Mann jenen russischen Mafiaboss, den er als Polizist nie dingfest machen konnte. Dass Jakovlev immer noch frei herumläuft und ihm außerdem direkt vor der Nase sitzt, frustriert Gabathuler. Er räumt auf. Und trotzdem kehrt keine Ruhe ein: Neue Falltüren öffnen sich, und für Gabathuler beginnt eine Reise in die Vergangenheit – seine eigene und die seiner Familie. Gleichzeitig fängt ein junger Polizist an, unangenehme Fragen zu stellen, und die russische Mafia ist Gabathuler auf den Fersen. Und dann muss auch noch seine Einsetzung als Pfarrer vorbereitet werden …

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Benjamin Stückelberger

Auf der Kanzel

Pfarrer Gabathuler räumt auf

Kriminalroman

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1

»Ich habe entschieden, nicht mehr das Böse zu bekämpfen, sondern das Gute zu fördern.« Rückblickend war für Roger Gabathuler klar, dass es diese Antwort war, die ihm den Wahlvorschlag der Pfarrwahlkommission sicherte. Aufmerksam hatten die rund zwanzig Personen seinen Ausführungen gelauscht. »Das ist genial!«, war die spontane Reaktion von Walter Rohner, dem Kirchenpflegepräsidenten.

Die Kirchgemeinde Winterthur-Ganterwald hatte einen neuen Pfarrer gesucht, der sich vor allem auch um die Jugendarbeit »mit besonderem Fokus auf die Zeit nach der Konfirmation« bemühen sollte. Das Ziel war, Angebote zu entwickeln, um die Jugendlichen über die Konfirmation hinaus an die Kirche zu binden. Mit dem nicht besonders originellen Motto »Die Jugend ist unsere Zukunft« hatte die Pfarrwahlkommission einen jungen und dynamischen Pfarrer gesucht. Wirklich jung war Gabathuler mit seinen sechsundvierzig Jahren nicht mehr. Umso mehr war ihm daran gelegen, dass er als dynamisch wahrgenommen wurde. Er hatte daher auf die standardisierte Kombination von Hemd und Krawatte verzichtet und sich stattdessen für ein sonnengelbes T-Shirt entschieden, über dem er ein blaues Jackett trug. Das enganliegende Shirt, das seinen trainierten Oberkörper zur Geltung brachte, und der starke Kontrast der Farben würden, da war er sicher, die nötige Portion Dynamik vermitteln.

Gabathuler hatte Theologie auf dem zweiten Bildungsweg studiert. Nach der Matura hatte er sich zunächst bei der Kantonspolizei Zürich beworben. Im Anschluss an die Grundausbildung stieß er zu den Polizeigrenadieren und wurde schließlich Ermittler in einer Abteilung, die sich überwiegend mit Frauenhandel beschäftigte.

Nach zwölf Jahren Jagd auf die Hintermänner dieses üblen Geschäfts stieg er aus und studierte Theologie. Wenn er sein Gegenüber irritieren wollte, pflegte er zu sagen, dass er nur wegen der schönen Theologinnen das Studium angepackt habe. Und das war auch nicht ganz falsch. Nur, die Wahrheit hatte natürlich auch noch tiefer liegende Gründe. Er hatte damals nicht nur nach einer Alternative zum Job bei der Polizei gesucht, sondern den Kontrast, die völlig andere Aufgabe. Dann war er im Netz auf das Programm für Quereinsteiger bei der Zürcher Landeskirche gestoßen. Das hatte ihn elektrisiert. Erst nach und nach begriff er den Grund dafür. Aber sein Entschluss hatte in jenem Moment festgestanden.

Jedenfalls war so eine Biographie in der Kirchenlandschaft unüblich. Im Gespräch mit der Pfarrwahlkommission stellte daher die Ressortverantwortliche der Kirchenpflege für Diakonie, Marlies Schober, die Frage, die wohl die meisten der Anwesenden beschäftigte: ob denn das kein Widerspruch sei, die Tätigkeiten als Polizist und Pfarrer. Der Polizist müsse doch vor allem streng sein und für die Einhaltung der Gesetze sorgen, während der Pfarrer eher Barmherzigkeit walten lasse. »Können Sie uns dazu etwas sagen?« Darauf gab Gabathuler eben jene Antwort, die ihm Rang eins in der Kandidatenliste bescherte. Damit war seine Wahl so gut wie sicher.

»Es gibt da allerdings ein Problem«, sagte Walter Rohner, nachdem er Gabathuler die frohe Nachricht verkündet hatte. Er rang hörbar nach Worten. »Wir wollten es im Bewerbungsgespräch nicht zum Thema machen, und da Sie nicht danach gefragt haben, was übrigens positiv zur Kenntnis genommen wurde, muss ich es jetzt ansprechen. Es geht um das Pfarrhaus …«

Ein Pfarrer hatte Wohnsitzpflicht in der Gemeinde. Im Gegenzug stellte ihm die Gemeinde in der Regel ein stattliches Haus zur Verfügung. Damit war das Pfarrhaus nicht nur Lohnbestandteil, sondern auch Statussymbol. Nicht selten strahlte es noch den Glanz längst vergangener Zeiten aus, in denen Kirche und Pfarrer anerkannte Autoritäten waren. Gabathuler verstand, dass Rohner das Thema unangenehm war.

»Im Pfarrhaus lebt derzeit ein Asylbewerber zusammen mit seiner Frau und seinem Neffen.« Endlich war es ausgesprochen. »Wie Sie wissen, war Ihr Vorgänger, Pfarrer Graf, zweiunddreißig Jahre in unserer Gemeinde tätig. Nach seiner Pensionierung wollten wir bewusst eine Zäsur machen und haben die Stelle nicht gleich ausgeschrieben, sondern Valerie Aebersold als Verweserin engagiert.«

Gabathuler hatte sich noch immer nicht an diesen altertümlichen Begriff gewöhnt. Im Lernvikariat hatte er einmal gehört, dass Verweserin nichts mit Verwesung zu tun hatte, sondern von »verwaist« abstammte. Ob diese Erklärung korrekt war, wusste er nicht. Sie leuchtete ihm aber ein. Denn eine Verweserin war eine Pfarrerin, die die Aufgaben einer verwaisten Pfarrstelle wahrnahm.

»Und damit das große Pfarrhaus nicht einfach leer stand«, fuhr Rohner fort, »haben wir den Wohnraum für Asylbewerber zur Verfügung gestellt. Es wohnt jetzt eine russische Familie dort, die politisches Asyl beantragt hat.«

»Das war doch eine gute Idee! Mit anderen Worten, ich werde dort nicht einziehen können«, versuchte Gabathuler die Konsequenzen auf den Punkt zu bringen.

»Doch, doch!«, entgegnete Rohner schnell. »Selbstverständlich werden wir zusehen, dass Sie schnellstmöglich einziehen können. Nur wird das noch eine Weile dauern. Sie wissen schon: Kündigungsfrist et cetera.«

»Ich werde schon eine Lösung finden.« Gabathuler dachte dabei an sein Elternhaus in Andelfingen, wo er seit dem Studium wieder lebte. Seine Eltern waren bereits eine Weile tot.

»Das wird nicht nötig sein«, wandte Rohner schnell ein. »Wir könnten Ihnen für die Übergangszeit die Wohnung in unserer Scheune anbieten.«

Das irritierte Gabathuler nun doch ein wenig. »In der Scheune?«, fragte er ungläubig.

»Verzeihen Sie. Das war missverständlich. Vor bald fünfzig Jahren haben wir an der Stelle einer alten Scheune einen Neubau mit Büros und zwei Einliegerwohnungen erstellen lassen. Intern reden wir immer noch von der Scheune.«

Das klang doch deutlich attraktiver.

 

All das hatte sich vor den Sommerferien ereignet. Nach den Sommerferien war Gabathuler dann im Rahmen einer außerordentlichen Kirchgemeindeversammlung gewählt worden, und nun stand er mit Walter Rohner im Eingangsbereich des Kirchgemeindehauses, um die Örtlichkeiten kennenzulernen, künftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Hand zu schütteln und diverse Schlüssel entgegenzunehmen.

»Was das Pfarrhaus angeht: Wir können der russischen Familie erst zum Ende des Jahres kündigen. Danach haben sie ein weiteres halbes Jahr Zeit, sich eine neue Bleibe zu suchen.«

Der Kirchenpflegepräsident händigte ihm einen Generalschlüssel für sämtliche kirchlichen Räume aus.

»Am besten zeige ich Ihnen die Wohnung gleich.« Gabathuler folgte Rohner über den Kirchplatz. Unterwegs begegnete ihnen eine Frau mit einem Besen in der Hand. »Das ist Judith Hanselmann, unsere Hilfssigristin«, stellte Rohner die Frau vor. »Sie ist zu vierzig Prozent angestellt, arbeitet aber viel mehr.« Anerkennend legte er ihr die Hand auf die Schulter.

»Die Arbeit erledigt sich eben nicht von selbst«, antwortete die klein gewachsene Frau. Gabathuler schätzte sie auf circa sechzig Jahre. Sie reichten sich die Hand. »Judith«, sagte die Aushilfsküsterin.

»Roger«, erwiderte Gabathuler mit einem freundlichen Lächeln. Und um das Gespräch noch einen Moment im Fluss zu halten, sagte er mit Verweis auf die ersten bunten Blätter am Boden: »Offensichtlich hat der Herbst schon begonnen. Und wenn ich mir die Bäume hier anschaue, wird in den kommenden Wochen noch deutlich mehr Arbeit auf euch zukommen.« Tatsächlich begrenzten ein paar prächtige Ahorne und Linden den Kirchplatz.

»Ich sage immer: Das Laub, das wir jetzt aufsammeln, wird uns morgen keine Arbeit machen«, antwortete Judith sehr pragmatisch.

Als sie weitergingen, erklärte Rohner dem neuen Pfarrer: »Judith ist ein Schatz. Sie ist ungemein hilfsbereit und macht viel zu viel. Wir können ihr all die Überstunden gar nicht bezahlen.«

»Wer ist denn der Hauptsigrist?«

»Ihr Mann, Erwin Hanselmann«, antwortete Rohner. »Die beiden sind ein tolles Team.«

In der Zwischenzeit waren sie die Außentreppe der »Scheune« hochgestiegen, einem Betonbau aus den sechziger Jahren. »Dieser Bau ist an der Stelle und mit den Maßen jener Scheune erstellt, die ursprünglich hier gestanden hatte. Der Denkmalschutz hatte es so gewollt«, erklärte Rohner.

Im Erdgeschoss befanden sich das Sekretariat und das Büro des Jugendarbeiters, das zurzeit unbesetzt war. Im Obergeschoss gab es zwei kleine Wohnungen.

»Hier wohnt Frau Zimmermann«, sagte Rohner mit Verweis auf die andere Wohnungstür. »Sie war früher mal Kirchenpflegerin. Nach dem Tod ihres Mannes ist sie in diese Wohnung gezogen. Sie werden sich gut mit ihr verstehen. Falls Sie sich überhaupt begegnen. Und hier«, Rohner schloss die Wohnungstür auf, »können Sie es sich gemütlich machen. Zumindest vorübergehend.«

Ein kurzer Flur öffnete sich in einen großzügigen Raum. Ein Fenster gab den Blick auf eine Straßenkreuzung frei.

Gabathuler blickte hinaus. Vor der Straßenkreuzung befand sich zur Linken ein alter Gebäudekomplex. Zum Wilden Mann konnte er auf dem Schild über der Tür lesen. Davor waren einige Tische und Stühle aufgestellt. Auf der rechten Seite entdeckte er einen Lebensmittelladen, ein Schuhmachergeschäft, einen Kiosk und eine Pizzeria namens Da Giorgio. Zwischen dieser Ladenzeile und dem Platz, auf dem die Tische des Wilden Mannes aufgestellt waren, führte eine Quartierstraße auf die Kreuzung zu.

»Das scheint so etwas wie das alte Dorfzentrum zu sein«, sagte Gabathuler. Er hatte gelesen, dass Ganterwald einst ein eigenständiges Dorf nahe Winterthur war, nach dem Ersten Weltkrieg aber eingemeindet worden war und seither eines der sieben Stadtviertel bildete.

Rohner nickte. »Seit Jahrzehnten wälzt sich nun der Hauptverkehr hier durch und zerteilt unser Quartier. Es hat schon viele Initiativen gegeben, den Platz neu zu gestalten. Aber bisher konnte nichts verwirklicht werden.«

Als Gabathuler sich umwandte, sah er eine kleine offene Küche, lediglich durch eine Theke vom Wohnraum getrennt.

»Die haben wir vor etwa fünf Jahren neu eingebaut. Sie sollte noch in gutem Zustand sein. Und hier hinten«, Rohner wies auf eine offene Tür, »wäre dann das Schlafzimmer und rechts finden Sie WC und Bad.«

Gabathuler sah sich alles an. »Das ist doch ideal. So kann ich mir hier«, er zeigte in die Stube, »ein kleines Büro und eine Sofaecke einrichten. Und wenn ich mich mal etwas länger zurückziehen will, gehe ich in mein Haus in Andelfingen.«

»Sie haben eine Wohnung in Andelfingen?«

»Mein Vater konnte das Haus vor einigen Jahren erstehen. Nach seinem Tod habe ich es übernommen.«

Als sie wieder draußen standen, überreichte Rohner Gabathuler den Schlüssel. Dann hielt er kurz inne. »Wissen Sie was? Ich zeige Ihnen gleich noch das Pfarrhaus, wenigstens von außen. Dann haben Sie mal einen ersten Eindruck, und vielleicht lernen Sie noch jemanden von der Russenfamilie kennen.«

Über eine kleine Zufahrt gelangten sie in das Wohnquartier hinter dem Kirchplatz. Die Mehrfamilienhäuser reihten sich aneinander. Es war ein Arbeiterquartier.

»Dies hier ist die Weiherwieslistrasse. Sie führt am Friedhof vorbei, überquert da vorne die Autobahn und geht nahtlos in die Flurstrasse über. Von dort aus sehen wir in den Pfarrhausgarten. Als das Pfarrhaus gebaut wurde, stand es alleine am Rand des Quartiers. Mittlerweile ist es von Wohnblöcken wie diesen hier umgeben. Früher wohnten hier viele Italiener und Spanier. Heute sind es eher Familien aus dem Balkan und der Türkei.«

Die beiden kamen am Friedhof vorbei, der zur Straße hin von einer hohen Mauer begrenzt war. Lediglich das schmiedeeiserne Tor, das offen stand, gab den Blick auf die Grabstätten frei.

Gabathuler blieb stehen und sah hinein. »Dies also wird von Zeit zu Zeit mein Arbeitsplatz sein.« Er hatte keine besondere Beziehung zu Friedhöfen. Es waren keine Orte, an denen er sich gerne aufhielt. Er ließ die gemähten grünen Wiesen auf sich wirken. Dürrenmatt hatte recht. Der Tod ist grün.

Sie überquerten die Autobahn und gelangten in die Flurstraße.

»Hier rechts ist die Primarschule. Das Schulhaus Flur grenzt an Ihr Pfarrhaus. Zwischen Pfarrhaus und Schulareal geht der Schulweg durch. Ihr Vorgänger hat sich mit den Kindern schwergetan. Dann und wann fliegt schon mal ein Ball in den Garten. Für Ernst Graf war das ein Problem. Und seine ohnehin schon ernste Miene wurde noch ernster, wenn die Kinder an der Haustür klingelten, um sich den Ball zurückzuholen. Darum nannten sie ihn irgendwann Graf Ernst.«

Rohner ging weiter und zeigte auf eine große Rasenfläche mit einem freistehenden Einfamilienhaus dahinter. »Da vorne sehen Sie auch schon das Pfarrhaus mit dem großen Garten.« Das Einfamilienhaus mitten in der Arbeitersiedlung nahm sich seltsam aus. Mochte es früher ein ruhig gelegenes Haus am Rand der Stadt gewesen sein, so stach es nun als Villa von fast schon provokativem Luxus heraus. Auf der Wiese vor dem Haus war ein Blumenbeet angelegt worden, das aber ungepflegt wirkte und kaum Blumen aufwies. Durch den großen Garten war das Haus sicher noch einmal zehn Meter von der Straße zurückversetzt.

»Da werde ich viel zu mähen haben«, meinte Gabathuler, »und ich glaube nicht, dass ich dem Beet mehr Blumen werde entlocken können.«

»Ja, einen grünen Daumen haben diese Russen tatsächlich nicht. Aber sie sind pflegeleicht, und wir sind froh, dass wir das Haus vermieten und damit etwas Einnahmen erwirtschaften konnten. Ah, da ist ja Alexej!«

Erst jetzt, als er aufgestanden war und den Rasen überquerte, bemerkten die beiden den Mann, der auf der überdachten Terrasse gesessen hatte. An der Stelle, an der Rohner und Gabathuler in den Garten blickten, war die Hecke höchstens hüfthoch und stark ausgedünnt. So konnten sich der Kirchenpflegepräsident und der Russe über die Hecke hinweg die Hand reichen.

»Wie geht es Ihnen, Alexej?«, fragte Rohner.

»Danke, geht mir gut.« Dass er russischer Abstammung war, hörte man sofort.

»Ihrer Tante und Ihrem Onkel auch?«

»Igor und Katja geht sehr gut, danke. Und wie geht Ihnen, Herr Rohner?«

Gabathuler hatte dem freundlichen Geplänkel nur mit halbem Ohr zugehört. Schon als der Mann in seinem Anzug und den gepflegten schwarzen Lederschuhen auf sie zugekommen war, hatte Gabathuler ihn erkannt. Seinen Gang, seinen Körperbau und schließlich auch sein Gesicht! Gabathulers Körper schlug Alarm, instinktiv spannten sich seine Muskeln an. Plötzlich war Gabathuler bereit, auf alle möglichen Gefahren zu reagieren. Vor ihm stand Alexej Donskoi, Jakovlevs Kofferträger. »Die Nase« hatten sie ihn genannt, weil sein Riechorgan ziemlich schief im Gesicht stand. In jungen Jahren musste Alexej bei einer Schlägerei die Nase gebrochen worden sein. Jahrelang hatten sie gegen ihn und vor allem gegen seinen »Onkel« ermittelt, Igor Jakovlev, polizeiintern Großfürst genannt. Jakovlev war alles Mögliche, aber bestimmt nicht Alexejs Onkel. Wochenlang, monatelang hatten sie ihn observiert und seine Telefongespräche abgehört. Zweimal hatten sie Jakovlev festgenommen. Beide Male war er schon nach kurzer Zeit wieder auf freiem Fuß gewesen. Stets schafften es Jakovlevs Anwälte, irgendwelche Formfehler anzubringen, die alle Indizien absolut zahnlos machten. Und wieder war der Großfürst davongekommen und die Arbeit des ganzen Teams für die Katz. Der dritte Zugriff schließlich wurde zum Debakel. Er machte Gabathuler zwar zum Helden, erwies sich aber letztlich als Anfang vom Ende seiner Karriere bei der Polizei.

Und nun stand die Nase wieder vor ihm, plauderte mit dem Präsidenten der Kirchenpflege, erzählte von Jakovlev und dessen Frau, mit denen er im Pfarrhaus lebte!

Als Rohner Gabathuler als neuen Pfarrer vorstellte, wusste Gabathuler im selben Augenblick, dass auch die Nase ihn wieder erkannt hatte. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hatte Donskoi gezögert. Aber eben doch lange genug. Selbst sein sogleich freundlich aufgesetztes Lächeln konnte es nicht mehr ungeschehen machen.

»Ah! Sie sind …«, er blickte noch einmal kurz zu Rohner und fuhr dann zu Gabathuler gewandt fort, »… Pfarrer! Welche Ehre. Ihr Name, verzeihen Sie, ich habe nicht verstanden Ihren Namen?«

Du weißt ganz genau, wie ich heiße, du beschissenes Arschloch, dachte Gabathuler bei sich, sagte dann aber freundlich: »Mein Name ist Gabathuler. Roger Gabathuler.«

Das kurze, aber unüberhörbare Schweigen, das folgte, beendete Rohner, indem er sagte: »Nun, ich wollte unserem neuen Pfarrer zeigen, wo er eigentlich … Ich meine, Sie verstehen sicher, dass …«

»Aber sicher, Herr Rohner, wir verstehen«, half ihm Alexej mit einem etwas zu freundlichen Lächeln. »Wir werden schnell suchen ein neues Haus, damit Herr Pfarrer«, diesen Titel betonte er besonders, »damit Herr Pfarrer hier wohnen kann.«

Rohner und Gabathuler verabschiedeten sich und zogen weiter. »In der Thomas-Stiftung können wir noch zu Mittag essen«, meinte Rohner. »Diese Stiftung betreut geistig und mehrfachbehinderte Menschen und versucht, sie so weit als möglich in den normalen Arbeitsprozess zu integrieren. Sie führt unter anderem auch ein einfaches Restaurant. Ich lade Sie ein!«

Gabathuler war noch zu beschäftigt damit, das eben Erlebte zu verarbeiten, als dass er auf das muntere Geplauder des Präsidenten hätte eingehen können. Nicht nur war die Begegnung äußerst verstörend gewesen, Gabathuler musste sich auch überlegen, was er von seinem Wissen über die Pfarrhausbewohner dem engagierten Kirchenpflegepräsidenten weitergeben durfte. Seine Gedanken rotierten. Und schnell war ihm klar: nichts. Er wollte nicht seine Pfarrstelle antreten und sich gleich zu Beginn zu dieser offensichtlich noch nicht ganz verheilten Wunde äußern müssen. Er beschloss stattdessen, sich vorsichtig an das Wissen seines Gegenübers heranzutasten.

 

»Was wissen Sie über diese Russenfamilie im Pfarrhaus?«, fragte er, nachdem sie sich gesetzt hatten und von einer Bewohnerin der Thomas-Stiftung bedient worden waren.

Rohner, der sich gerade etwas Salat in den Mund geschoben hatte, überlegte einen Moment kauend und sagte dann: »Igor Jakovlev war ein erfolgreicher Getreidehändler in der Ära Jelzin. Er kaufte damals sogar die Mühle Zürich! Er war wohl einer dieser Oligarchen, bis er vor etwa fünf Jahren Putin ins Gehege kam. Von da an war er seines Lebens nicht mehr sicher. Sein Auto wurde in die Luft gesprengt. Es war reiner Zufall, dass er selbst nicht drin saß. Aber sein Chauffeur kam dabei ums Leben.«

»Woher wissen Sie das?«

»Von Tillmann Kunz hauptsächlich. Er ist in der Kirchenpflege für die Liegenschaften zuständig und kann zum Glück Russisch. Hat, glaube ich, mal eine Dolmetscherschule besucht. Jedenfalls pflegt er den Kontakt zu der Familie.«

»Ist nicht gerade üblich, dass ein Asylbewerber sich die Miete eines Pfarrhauses leisten kann.«

»Jakovlev ist kein Wirtschaftsflüchtling. Geld hat der genug. Er fürchtet um sein Leben.«

»Igor Jakovlev sagen Sie«, Gabathuler tat so, als würde nachdenken. »Woher kenne ich diesen Namen?«

»Man hat mehrfach versucht, ihn festzunehmen! Aber die Beweise waren offensichtlich nicht stichhaltig. Im Gegenteil: Die Polizei musste sich sogar bei ihm entschuldigen, und ihm wurde Schmerzensgeld zugesprochen. Das haben Sie doch bestimmt mitbekommen!«

Selbstverständlich hatte Gabathuler all das mitbekommen, sogar hautnah. Nach der zweiten Festnahme gingen Jakovlevs Anwälte in die Offensive und verklagten die Zürcher Polizei, die sich daraufhin tatsächlich entschuldigen und eine Genugtuung bezahlen musste.

»Meine Abteilung hatte nichts damit zu tun«, log Gabathuler.

»Jedenfalls hat man ihn seither in Ruhe gelassen. Wir kommen sehr gut mit ihm zurecht.«

In Gabathuler tobte ein Sturm, der alles, was er sich in den vergangenen fünf Jahren aufgebaut und zurechtgelegt hatte, zum Einsturz zu bringen drohte. Er hatte doch entschieden, nicht mehr das Böse zu bekämpfen, sondern das Gute zu stärken. Keine Verbrecherjagd mehr! Die Menschen froh zu machen, das war sein Plan. Ihm selbst hatte das Studium der Theologie gutgetan. Er hatte Zeit und Muße, sich den biblischen und theologischen Texten hinzugeben, sie eingehend zu studieren. Das war etwas ganz anderes als Indizien zu sammeln, Verhöre zu führen, verdeckte Operationen zu leiten oder – wie während jener Schießerei – Verbrecher zu töten. Im Laufe seines Studiums hatte ganz allmählich und doch mit der Unaufhaltsamkeit der aufgehenden Sonne ein Satz aus der Weihnachtsgeschichte in ihm Raum gewonnen. »Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird.« Dieser Botschaft wollte er nachfolgen. Nun aber hatte sich mitten in diese neue, wohlgeordnete Welt Igor Jakovlev eingenistet, der skrupellose Frauenhändler und Mörder. Und damit nicht genug! Gabathuler würde ihm nicht ausweichen können. Denn selbst wenn der Großfürst auszog, könnte Gabathuler nicht darüber hinwegsehen, dass Jakovlev nun ganz legal hier wohnte und, da war Gabathuler sich sicher, unbemerkt weiter sein Unwesen trieb. Wieso lief der noch frei herum? Wieso hatte die Polizei es bis heute nicht geschafft, ihn hinter Gitter zu bringen?

 

Ohne sich darüber im Klaren zu sein, wohin er denn eigentlich wollte, hatte sich Gabathuler nach dem Essen von Rohner verabschiedet, war in seinen Saab 900 Cabrio Baujahr 1993 gestiegen, hatte Winterthur verlassen und automatisch die Autobahn in Richtung Andelfingen genommen. Nun erst, als er mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit gegen Osten raste, überlegte er, wohin die Fahrt gehen sollte. Richtig, Möbel für die neue Wohnung wollte er kaufen. Die gab es aber am ehesten im Wohnland in Dübendorf. Also fuhr er bei der nächsten Ausfahrt ab und wendete. Im Wohnland angekommen, kaufte er ein Bett samt Nachttisch, einen kleinen Unterschrank für das Waschbecken, ein Sofa sowie einen Salon- und einen Beistelltisch. Gabathuler fehlte die Ruhe, Preise zu vergleichen oder sich auch nur zu fragen, ob ihm die Möbel gefielen. Wenn er das Gefühl hatte, dass die Maße passten, kaufte er das Teil. So fand er im nächsten Einrichtungshaus einen Schreibtisch, einen Bürostuhl sowie diverse Tisch-, Steh- und Deckenlampen. Er mietete gleich noch einen Kleintransporter, lud alles in das Fahrzeug und fuhr damit zurück nach Ganterwald.

Der Zorn über Jakovlevs Anwesenheit in seiner Gemeinde ließ ihn zielgerichtet und effektiv arbeiten. Als er nach zwei Stunden wieder auf dem Kirchplatz einfuhr, sah er einen Mann in Arbeitskleidung, vermutlich Erwin Hanselmann, den Sigristen. Der kräftig gebaute Mann trug einen blauen Kittel. Sein dichtes, grau meliertes Haar hatte etwas Ungestümes. Aber unter seinen ebenfalls dichten Augenbrauen lugten freundliche Augen hervor. Gabathuler stellte sich vor und sah seine Vermutung bestätigt. Nach einem kurzen Schwatz bat er Hanselmann um Hilfe. Gemeinsam entluden sie den Kleintransporter und trugen die gut verpackten Möbel in Gabathulers Einliegerwohnung.

Als sie alles in die Räumlichkeiten über dem Sekretariat geschafft hatten, schaute sich Hanselmann die zahlreichen neuen Möbel nachdenklich an und fragte schließlich: »Wo haben Sie denn bisher gewohnt?«

»Ich habe ein Haus in Andelfingen.«

»Haben Sie dort keine Möbel, dass Sie nun alles neu angeschafft haben?«

»Ich will das Haus nicht aufgeben. Darum richte ich mich hier neu ein«, antwortete Gabathuler. Aber er musste zugeben, dass er sich das gar nicht überlegt hatte. Er war einfach froh, dass er etwas zu tun hatte, das ihn ablenkte.

»Verschwendung!«, gab Ernst Hanselmann zurück. »Wenn Sie ins Pfarrhaus einziehen, müssen Sie gleich noch einmal neue Möbel kaufen.«

»Stimmt eigentlich.« Gabathuler hatte das alles in der Tat nicht wirklich durchdacht. »Übrigens, ich bin der Roger.«

»Ernst.« Sie gaben sich die Hand.

Ernst wollte sich gerade ans Auspacken und Aufbauen der Möbel machen, doch Gabathuler winkte ab. »Lass nur. Ich mach das später. Ich muss nun zurück ins Wohnland und den Lieferwagen zurückgeben.« Er wollte Ernst zum Dank einen Schein in die Hand drücken, der aber lehnte ab.

»Damit fangen wir gar nicht erst an. Wir werden zusammenarbeiten müssen. Und in einem guten Team hilft man sich gegenseitig auch mal privat.«

Gabathuler gefiel diese Einstellung. Er bedankte sich herzlich und stieg wieder in den Transporter. Obwohl er nun durch den Abendverkehr fuhr und deutlich langsamer vorankam, war er ruhiger als bei seiner Fahrt am frühen Nachmittag. Das Schleppen der Möbel zusammen mit Ernst, der jeden Handgriff ein klein wenig ruhiger ausführte als Gabathuler, hatte auch ihn ruhiger werden lassen. Und die kleine Plauderei hatte ihn vollends auf andere Gedanken gebracht.

Im Wohnland angekommen, gab er den Kleintransporter zurück, stieg in seinen Saab und ließ das Dach im Heck verschwinden.

Seine Stimmung entsprach nun ziemlich dem warmen und sonnigen Herbsttag. Und daran hätte sich wahrscheinlich auch nichts geändert, wenn er in Ganterwald beim Abbiegen zur Kirche und seiner Wohnung nicht dem entgegenkommenden braunen Mercedes die Vorfahrt gelassen hätte. So aber wartete er, bis der Mercedes seine Fahrbahn kreuzte und er den Fahrer des Wagens erblickte. Igor Jakovlev! Ungezählte Stunden hatte er ihn von einem geparkten Auto aus durch den Sucher seiner Kamera oder aus einer Wohnung durchs Fernglas beobachtet. Und der fuhr jetzt seelenruhig an die Flurstrasse und machte es sich im Pfarrhaus bequem! Erst das Hupen eines hinter ihm stehenden Fahrzeugs holte Gabathuler wieder in die Gegenwart.

 

Zurück in der Wohnung begann er damit, die Möbel auszupacken. Ohne System öffnete er Schachteln und Verpackungen, war aber nicht in der Lage, auch nur den kleinen Badezimmerschrank zusammenzusetzen. Nach kurzer Zeit stand er inmitten eines Chaos von Verpackungsmaterial und Einzelteilen, die zu Möbeln hätten zusammengebaut werden müssen. Die Ruhe und Gelassenheit von eben war verflogen. Er konnte sich auf nichts konzentrieren.

Er hatte Hunger. Er ging ins Da Giorgio und bestellte sich Salat, Pizza und ein Bier. Erst als er den ersten Schluck in der Kehle spürte, realisierte er, dass er auch unglaublich durstig war. Schnell war die erste Stange geleert. Er bestellte eine zweite. Gabathuler saß an einem Zweiertisch mit dem Rücken zur Wand und konnte sehen, wer kam und ging. Einige neu eintreffenden Gäste steuerten gleich auf die Küche zu, passierten sie und kamen nicht wieder. Offensichtlich gab es noch einen zweiten Bereich im Restaurant, zu dem man auf diesem Weg gelangte.

Als der Salat gebracht wurde, begann er sogleich zu essen und wurde ruhiger. Und als er schließlich die Pizza vor sich hatte, staunte er einmal mehr über die tröstende Wirkung des Essens. Jeder Bissen war eine Streicheleinheit, die ihn beruhigte, als wollte sie ihm sagen: »Alles wird gut. Es wird alles gut!«

Die zweite Hälfte der Pizza verschwand deutlich langsamer in seinem Magen. Es war wieder genug Energie im System. Sein Hirn sprang an. Seine Gedanken setzten sich in Bewegung.

Viele Jahre hatte er sich an Jakovlevs Fersen geheftet. Kein Schnupfen war ihm entgangen und kein Besuch beim Friseur. Er kannte alle seine Aufenthaltsorte und hatte akribisch festgehalten, wann er wen traf. Nach jeder gescheiterten Verhaftung hatte sich Gabathuler nur noch intensiver hineingekniet, Daten gesammelt und Informationen beschafft. Er war gut, und Rechsteiner, sein Chef, gewährte ihm viel Freiraum. Es war ihm und seinem Team sogar gelungen, Frank als Abnehmer seiner Ware – das heißt: einiger Frauen – einzuschleusen. Frank war seit den Tagen in der Polizeischule Gabathulers Freund. Gemeinsam hatten sie Jakovlev gejagt. Und als er schließlich angebissen hatte und sich mit Frank treffen wollte, hatten sie diesen Coup gefeiert. Aber eben dieser Erfolg hatte Gabathuler auch nachlässig werden lassen. Es hätte ihm auffallen müssen, dass auch er einen Verräter in der Truppe hatte. Und es ärgerte ihn immer noch zutiefst, dass er, der doch so nahe an Jakovlev dran war, nicht mitbekommen hatte, dass der Großfürst seinerseits Gegenmaßnahmen getroffen hatte. Dabei hatte es doch in der Luft gelegen. Ein Mann wie Jakovlev, der zweimal verhaftet worden war, sah nicht tatenlos zu, bis die Falle ein drittes Mal zuschnappte. Er würde sein verbrecherisches Gift ausstreuen und ein Opfer finden, das gerne davon kostete.

So war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ein Kollege Gabathulers schwach wurde. Auch Polizisten sind Menschen. Das wissen die Guten und die Bösen. Und alle nutzen es zu ihrem Vorteil. Und so sickerte Jakovlevs Gift mehr oder weniger zur selben Zeit in den innersten Kreis der Ermittler ein, in der Gabathuler seinen Freund als V-Mann und potenziellen Geschäftspartner des Großfürst platziert hatte.

 

Gabathuler hatte die vergangenen Jahre genutzt, um sich ein neues Leben aufzubauen. Plötzlich stand er nicht mehr unentwegt unter Erfolgsdruck. Er hatte vielmehr Zeit, gewissen Fragen in Ruhe nachzugehen. Er lernte, sorgfältiger, systematischer zu denken. Er schuf sich ein Gedankengebäude, das ihm Ordnung und Überblick verschaffte. Und nun, da er bereit war, die Welt mit dieser erhellenden Ordnung zu beglücken, durchkreuzte Jakovlev seinen Plan. Es war, als hätte er sich mitten in das wohnliche Gebäude gesetzt und Gabathulers Ordnung durcheinandergebracht.

In Moskau hatte sich Jakovlev schon früh als Zuhälter einen Namen gemacht. Für seine Skrupellosigkeit war er berüchtigt. Unliebsame Konkurrenten hatte er aus dem Weg geräumt. Frauen, die nicht parierten, lebten nicht lange. Damals waren in Moskau regelmäßig Leichen gefunden worden, die alle etwas gemeinsam hatten: Sie alle waren durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe getötet worden. Mitten in die Stirn. Das war Jakovlevs Markenzeichen. Als er sich dann unter Jelzin den Getreidehandel unter den Nagel reißen konnte, benutzte er diesen als Deckmantel, um sein Geschäft mit den Frauen zu internationalisieren. Großfürst wurde er wegen seines immensen Vermögens genannt. Und unmittelbar neben ihm, zu seiner Rechten, war die Nase, sein Kofferträger. Wo immer der Fürst auftrat, die Nase war gleich neben ihm, in der Hand den roten schlanken Lederkoffer.

Als Gabathuler von den Polizeigrenadieren zu den ermittelnden Kollegen wechselte, wurde er auf die Hintermänner des Frauenhandels angesetzt. So war Jakovlev in sein Leben getreten. Um ihn mit der Person Jakovlev bekannt zu machen, zeigte ihm sein Chef ein Überwachungsvideo, das ihnen von der ungarischen Polizei zugespielt worden war. Darauf war unter anderem zu sehen, was sich in besagtem Lederkoffer befand. In einer Lagerhalle warteten rund zwanzig Frauen, die für den Export nach Westeuropa bestimmt waren. Offensichtlich hatten sie Probleme gemacht. Jakovlev kreuzte auf und sprach kurz mit der Rädelsführerin. Auf ein Zeichen von ihm entriegelte die Nase die Verschlüsse und hielt ihm den geöffneten Koffer hin. Darin war nichts außer einer Pistole mit aufgeschraubtem Schalldämpfer. Jakovlev griff nach der Pistole, hielt sie der Frau an den Kopf und drückte ab. Dann legte er die Waffe wieder zurück und verließ den Raum. Der Widerstand der Frauen war gebrochen. Die Leiche der Rädelsführerin wurde am nächsten Tag im Rechen eines Stauwehrs gefunden. Weil die Aufnahmen im Ausland entstanden waren, konnten sie hier in der Schweiz nicht gegen Jakovlev verwendet werden.

 

Jakovlev war ein Schwein, das stand außer Frage. Dass Gabathuler daran gescheitert war, ihn hinter Schloss und Riegel zu bringen, war bitter. Besonders ärgerte ihn aber, dass er es während des Studiums nicht geschafft hatte, eine emotionale Distanz zwischen ihm und Jakovlev zu schaffen. Das alles war in ihm wieder hochgekommen, als er in der Pizzeria saß und den kombinierten Trost aus Salat, Bier und Pizza empfing. Anschließend fuhr er nach Andelfingen in sein Elternhaus. Dort trank er vor dem Fernseher ein weiteres Bier und dann noch eines. Es war gegen ein Uhr früh, als er sich ins Bett schleppte. Aber drei Stunden später war er bereits wieder hellwach. Er stand auf, ging joggen, stemmte Gewichte und frühstückte eine Kleinigkeit. Nichts half. Die Gedanken rotierten.

Also packte Gabathuler Kleidung und andere Dinge, die er in den nächsten Tagen in Winterthur brauchen konnte, in eine Tasche. In den Rucksack kamen Bücher, die er am ehesten benötigen würde. Hauptsächlich theologische Werke: Bibeln, ein Griechisch-Wörterbuch, exegetische Kommentare. Er konnte später ja noch mehr holen. Dann ging er in einen Nebenraum, in dem ein Gästebett und ein Wäscheschrank standen. Aber da er kaum Gäste hatte, betrat er diesen Raum eigentlich nur, wenn er an den Schrank musste. Er legte die Bettwäsche heraus, die er mitnehmen wollte, und stopfte alles in seine Tasche.

Als er die restliche Wäsche im Schrank wieder ordnete, tat er das mit der Sorgfalt dessen, der ein Möbelstück kennt, weil er es einst selber repariert hatte. Nach dem Tod seines Vaters hatte er alle Zimmer und Schränke ausgemistet. Im Laufe der Jahrzehnte hatten sich zahllose Dinge angesammelt, die der Strom der Zeit angespült und in Sedimentschichten abgelagert hatte. Diese Ablagerungen wollte er abtragen und neuen Raum erschließen. Das galt auch für den Wäscheschrank. Er grub sich durch die Schichten von Laken, Bezügen, Frottiertüchern, Waschlappen und was sich sonst noch darin gesammelt hatte. Dabei erging es ihm wie überall im Haus: Während ihn gewisse Sedimentschichten ratlos oder kopfschüttelnd zurückließen, konnte er andere lesen und betrachten wie ein Bilderbuch. Erinnerungen stiegen hoch an Momente, als er dieses Badetuch oder jene Taucherbrille benutzt hatte. Die Bezüge mit den aufgedruckten Teddybären und Abendsternen aus Kindertagen ließen ihn schmunzeln. Seine Eltern hatten alles aufgehoben! So gab es viel, sehr viel Material zu entsorgen. Einiges flog direkt in den bestellten Container, andere Dinge brachte er zum Trödler oder in den Caritasladen. Vor allem aber freute er sich an dem neugewonnen Platz.

So war er auch mit diesem Schrank verfahren, vor dem er nun stand. Als er schließlich leer war, hatte er die Holztablare gereinigt und neu mit Papier ausstaffiert. Beim Einräumen der Tablare stellte er fest, dass ein Brett in der Rückwand des Schrankes lose war. Also musste er den Schrank von der Wand abrücken, um das Brett wieder zu fixieren. Dabei war ihm dann eine Leiste in der Täfelung aufgefallen, die etwas mehr nachgab, als er sich daran lehnte. An diese Leiste in der Täfelung, und was sich dahinter verbarg, musste er nun wieder denken. Und es brachte ihn auf eine Idee.

Gabathuler schloss den Schrank, verließ das Haus und fuhr nach Ganterwald. Die Straßen waren leer. Die ruhige Fahrt lenkte die Gedanken in geordnete Bahnen. Seine Idee entwickelte sich zu einem Plan. Es war nicht in Ordnung, dass Jakovlev ihn daran hinderte, ein neues Leben zu beginnen. Vor allem aber war es nicht in Ordnung, dass er der Justiz bis jetzt hatte entkommen können. Dieser Verbrecher gehörte verurteilt. Wie konnte ein Asylgesuch von so jemandem überhaupt ernsthaft erwogen werden? Ein Hohn war das! Gabathuler war entschlossen, die verlorene Ordnung wiederherzustellen und Gerechtigkeit walten zu lassen.

 

»Dann musst du zum Torkel gehen.« Ernst Hanselmann stand auf dem Kirchplatz und spielte mit seinem großen Schlüsselbund. Gabathuler hatte den Morgen genutzt, um seine neuen Möbel aufzubauen und den Verpackungsmüll zu entsorgen. Nun sah es schon fast wohnlich aus in seiner kleinen Bleibe. Die Wände waren zwar noch kahl, aber auf dem Pult standen ein paar Bücher, im Schrank hingen die ersten Hemden, und das Bett war bezogen. Danach wollte er noch den Kühlschrank mit dem Nötigsten bestücken, zudem sollten wenigstens ein Rot- und ein Weißwein vorhanden sein. Auch eine Flasche Whisky und etwas Coke durften nicht fehlen. Und ein Netz Orangen! Er liebte ihre süßsaure Frische. Zudem sahen sie einfach schön aus. Ein paar Orangen in einer Schale schmückten den Raum wie ein Blumenstrauß. Auf dem Rückweg vom Einkauf überlegte Gabathuler, wo er etwas zu Mittag essen konnte. Das Da Giorgio kannte er bereits, nun wollte er ein neues Lokal ausprobieren.

»Im Torkel isst man immer gut, und zu Fuß bist du in einer gemütlichen halben Stunde da. Es ist aber nicht ganz billig«, fügte Hanselmann an.

»Das passt schon«, antwortete Gabathuler, »ich muss ja nicht jeden Tag dort essen gehen.« Er schlug die von Hanselmann angegebene Richtung ein und erreichte bald den Spazierweg, der ihn zum Torkel führte.

Ein Tisch im Schatten mit Aussicht auf die Stadt war frei. Gabathuler setzte sich und bestellte bei der Chefin des Hauses. Entrecote vom Rind mit Kartoffelgratin und Bohnen und zur Vorspeise einen marktfrischen Salat an Himbeerdressing. Angelika Schubert, so hieß die Wirtin, war eine blonde Mittvierzigerin. Ihr akzentfreies Deutsch ließ keinen Zweifel an ihrer Herkunft.

»Sind Sie neu in der Gegend?«, fragte sie ihn, als sie den Salat brachte.

Gabathuler freute sich über die Gelegenheit, ein wenig mit ihr zu plaudern: »Könnte es nicht sein, dass ich zufällig bei einer Wanderung hier vorbeigekommen bin?«

»Eher nicht.« Die Wirtin sah ihn keck an. »Sie sind kein Wanderer. Dafür sind Sie nicht passend gekleidet. Sie arbeiten doch hier in der Gegend und haben nun Mittagspause.«

»Durchschauen Sie alle Ihre Gäste so schnell?«

»Man bekommt mit der Zeit ein Auge für die Kundschaft. Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«

»Das erraten Sie nie!«

Diese Bemerkung schien ihren Ehrgeiz anzustacheln. Sie kniff die Augen zusammen, überlegte kurz und sagte dann: »Sie sind der neue Pfarrer.«

Gabathuler war beeindruckt.

»Menschenkenntnis!«, sagte Schubert nicht ohne Stolz. »Menschenkenntnis und die regelmäßige Lektüre des Kirchenblattes. Sie wurden doch vor Ihrer Wahl dort vorgestellt. Mit Bild!«

»Sie sind gut informiert«, antwortete Gabathuler.

»Ich weiß gerne, was in der Gegend vor sich geht. Darf ich Ihnen als Willkommensgruß ein Cüpli offerieren?« Ohne Gabathulers Antwort abzuwarten, gab sie einer Mitarbeiterin hinter der Theke ein Zeichen. »Aber ist das Pfarrhaus nicht bewohnt?«, fuhr sie fort.

Gabathuler staunte einmal mehr, wie gut die Wirtin über Ganterwald Bescheid wusste. »Ja, noch lebt dort ein Ehepaar mit seinem Neffen.« Den Ärger, der augenblicklich wieder in ihm aufstieg, ließ er sich nicht anmerken.

»Na ja, ob das der Neffe ist … ich weiß nicht. In meinen Augen verhält er sich eher wie ihr Chauffeur.«

»Sie kennen die Leute?« Gabathulers Interesse war geweckt.

»Sie kommen jeden Freitagabend hierher zum Essen. Immer an denselben Tisch.«

»Jeden Freitagabend?«

»Ausnahmslos. Auch für kommenden Freitag haben sie reserviert. Haben Sie sie schon kennengelernt?«

»Ich hatte gestern das Vergnügen, dem Neffen die Hand zu schütteln. Aber Onkel und Tante habe ich noch nicht gesehen. Dazu werde ich dann ja spätestens bei der Hausübergabe Gelegenheit bekommen«, antwortete Gabathuler.

Das Cüpli kam, Schubert wünschte ein »Zum Wohl!« und ging zum nächsten Tisch.

 

Nach dem hervorragenden Essen erkundete Gabathuler noch ein wenig die Gegend. Landwirtschaft und Wald ließen einen vergessen, dass man sich in unmittelbarer Nähe der Stadt befand. Die Gegend war ein Naherholungsgebiet, das auch fleißig von Hundebesitzern genutzt wurde. Gabathuler ging zunächst einem offenen Feld entlang, bevor der Weg in einen Wald mündete. Gerade als er in den Wald eintauchen wollte, fiel sein Blick auf einen Hochsitz, der rund zwanzig Meter weiter oben am Waldrand stand. Er verließ den Weg und steuerte darauf zu. Sein Vater war Jäger gewesen. Die Eröffnung der Jagdsaison hatte ihn stets mit einer Aufregung erfüllt, die Gabathuler sonst nicht von ihm kannte. Gerne und mit Stolz zog er dann seine Jägermontur an und verabschiedete sich in seinen Wald. Als Gabathuler etwa sechzehn Jahre alt war, gab er dieses Hobby jedoch auf. Die Zeit sei immer knapper geworden, hatte er ihm einmal erklärt. Davor aber hatte sein Vater ihn gelegentlich auf Spaziergängen auf einen Hochsitz mitgenommen. Gabathuler musste lachen, als ihm einfiel, dass die Jäger den Hochsitz ebenfalls Kanzel nannten. Da hatte er doch etwas mit seinem Vater gemeinsam. Und so bestieg Gabathuler den hölzernen Turm und schaute sich um. Von hieraus öffnete sich der Blick über einen Acker, der sich bis zum Parkplatz und dem dahinterliegenden Eingang des Torkel erstreckte. Gabathuler staunte, dass hier ein Hochsitz stand. Die Lage dieser Kanzel erforderte viel Verantwortung des Jägers, damit Restaurant und Gäste nicht in die Schusslinie gerieten.