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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. »Tim möchte auch ein Fahrrad haben. Tim ist schon groß. Tim kann schon mit Fahrrad fahren.« Der kleine blonde Bub stand stämmig und sehr selbstbewusst vor Schwester Regine. »Ich bin schon fast so alt wie Heidi«, fügte er energisch hinzu. Schwester Regine musste unwillkürlich lächeln. Sie kniete vor dem Knirps nieder. »Das stimmt aber nicht, Tim. Du weißt doch, dass du erst deinen zweiten Geburtstag gefeiert hast, und unsere Heidi ist schon ein großes Mädchen. Sie wird bald in die Schule gehen. Hast du das vergessen?« »Tim möchte auch bald in die Schule gehen. Dann kann Tim auch mit einem richtigen Fahrrad fahren.« »Da wirst du dich noch ein bisschen gedulden müssen«, meinte die Kinderschwester belustigt und nahm den Buben liebevoll auf den Arm. »Was bist du schwer geworden! Ich glaube, ich kann dich kaum noch tragen«, scherzte sie. »Tim ist auch schon groß.
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Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2022
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»Tim möchte auch ein Fahrrad haben. Tim ist schon groß. Tim kann schon mit Fahrrad fahren.« Der kleine blonde Bub stand stämmig und sehr selbstbewusst vor Schwester Regine. »Ich bin schon fast so alt wie Heidi«, fügte er energisch hinzu.
Schwester Regine musste unwillkürlich lächeln. Sie kniete vor dem Knirps nieder. »Das stimmt aber nicht, Tim. Du weißt doch, dass du erst deinen zweiten Geburtstag gefeiert hast, und unsere Heidi ist schon ein großes Mädchen. Sie wird bald in die Schule gehen. Hast du das vergessen?«
»Tim möchte auch bald in die Schule gehen. Dann kann Tim auch mit einem richtigen Fahrrad fahren.«
»Da wirst du dich noch ein bisschen gedulden müssen«, meinte die Kinderschwester belustigt und nahm den Buben liebevoll auf den Arm. »Was bist du schwer geworden! Ich glaube, ich kann dich kaum noch tragen«, scherzte sie.
»Tim ist auch schon groß. Er hat heute seinen ganzen Brei aufgegessen, und davon wird man groß und stark, sagt Tante Isi. Bekomme ich nun ein richtiges Rad wie Pünktchen, Fabian und Heidi?«
»Du bist aber wirklich ein hartnäckiger kleiner Bursche.« Lachend ließ Schwester Regine den kleinen Jungen wieder auf den Boden gleiten. »Als Pünktchen, Fabian und Heidi so alt waren wie du, hatten sie auch noch kein richtiges Fahrrad, sondern ein Dreirad, genau wie du. Und dein Dreirad ist ganz besonders schön, meine ich. Alle finden es sehr schön. Du weißt doch, dass dein Vater es dir zu deinem Geburtstag geschickt hat.«
Bei diesen Worten beobachtete die junge Kinderschwester den Kleinen gespannt, aber er zeigte bei der Erwähnung seines Vaters keinerlei Regung, weder eine freudige noch eine traurige. Der Vater schien dem Kind nichts mehr zu bedeuten, es schien keine Erinnerung mehr an ihn zu haben. Ein Wunder war das nicht, denn schließlich lebte Tim jetzt schon mehrere Monate in Sophienlust, und in dieser Zeit hatte sein Vater ihn nicht ein einziges Mal besucht.
Schwester Regine dachte auch an den Scheck, der zu Tims Geburtstag für den Jungen in Sophienlust eingegangen war, und zwar mit der Bitte, dem Kind dafür etwas zu kaufen. Denise von Schoenecker hatte daraufhin das Dreirad gekauft, das sich Tim schon lange gewünscht hatte. Es war jedoch noch viel Geld übrig geblieben, denn der Scheck hatte einen hohen Betrag ausgewiesen. Tims Vater war kein armer Mann. So war dann für Tim noch Kleidung angeschafft worden, denn er war in der letzten Zeit sehr gewachsen.
Daran konnte Schwester Regine nicht ohne Bitterkeit denken. Sie konnte einfach nicht begreifen, dass sich der Vater nicht mehr um seinen kleinen Sohn kümmerte. Mit Geld allein konnte man im Leben wirklich nicht alles gutmachen. Wie glücklich wären manche Erwachsene, wenn sie ein so hübsches und gesundes Kind, wie Tim es war, hätten. Außerdem war Tim auch ein sehr aufgewecktes und ungewöhnlich intelligentes Kind. In Sophienlust mochte ihn jeder gern. Es war zurzeit das jüngste Kind im Kinderheim, und Schwester Regine musste aufpassen, dass er von den größeren Kindern nicht gar zu arg verwöhnt wurde.
»Hatten Heidi und Pünktchen kein so schönes Dreirad wie Tim?«, fragte der Kleine und zupfte die Kinderschwester energisch an ihrer Kittelschürze.
Schwester Regine schreckte aus ihren Gedanken auf und beugte sich wieder lächelnd zu Tim hinab. »Ich glaube nicht, denn dein Dreirad ist ganz besonders schön. Weißt du, auf Heidis Dreirad sind vorher schon viele andere Kinder gefahren. Jetzt ist es schon recht alt und klapprig. Es steht im Keller in einer Ecke. Wenn ich mal Zeit habe, dann gehen wir in den Keller und sehen es uns an.«
»Können wir nicht jetzt gehen? Tim möchte das alte Dreirad gern sehen.«
»Jetzt geht es nicht, Tim. Ich muss jetzt zu Tante Isi. Wir haben etwas zu besprechen.«
Tim verzog schmollend den Mund. »Immer hast du keine Zeit für Tim.«
Schwester Regine seufzte bekümmert. »Leider, Tim. Leider habe ich viel zu wenig Zeit für dich und auch für die anderen Kinder.«
»Tim möchte aber, dass du immer für Tim Zeit hast, den ganzen Tag.«
»Das geht nicht. Das weißt du doch. Spiele jetzt noch ein bisschen, oder fahre mit deinem Dreirad. Bald kommen die Kinder aus der Schule.«
»Tim will nicht allein spielen. Heidi hat Halsweh und muss im Bett bleiben. Dann geht Tim jetzt zu Magda in die Küche.« Damit drehte sich der Knirps um und lief davon. Bald hörte Schwester Regine seine Stimme aus den hinteren Räumen des ehemaligen Herrenhauses, wo die Küche und die Wirtschaftsräume lagen.
Das Gesicht der jungen Kinderschwester war ernst, als sie an Tim dachte. Ein Kind in Tims Alter brauchte ganz besondere Zuwendung, dachte sie. Wenn Tim in einer Familie aufwachsen könnte, wäre das sehr viel besser. Und gerade für einen Jungen wie Tim, der sich für alles interessiert, der am Tag hundert Fragen stellt, wäre das wichtig. Wer hat hier die Zeit, all seine Fragen zu beantworten?
Es sah zwar so aus, als würde Tim weder die Mutter noch den Vater, noch eine Familie vermissen, aber Schwester Regine wusste aus Erfahrung, dass dieser erste Eindruck täuschte. Ein Kind konnte sich nur in einer intakten Familie gut entwickeln. Zumindest musste es das Gefühl haben, dass ein Elternteil immer da war, dass es nicht allein war. Ja, wenn Tim älter gewesen wäre, als er die Mutter verloren hatte und in das Kinderheim gekommen war …
Schwester Regine nahm sich vor, an diesem Tag noch einmal mit Denise von Schoenecker über Tim zu sprechen. Sie wusste nur wenig über das Schicksal des Jungen. Vielleicht hatte sich in den letzten Wochen auch etwas Neues ergeben?
Die Gelegenheit zu einer Frage über den kleinen Tim Garland ergab sich noch an diesem Vormittag, als die Besprechung über ein Kind, das zur Adoption freigegeben worden war, beendet war.
»Ich hätte gern noch einmal mit Ihnen über Tim gesprochen«, sagte Schwester Regine.
Denise von Schoenecker sah die Kinderschwester fragend an. »Gibt es Schwierigkeiten mit ihm? Bis jetzt hat er sich doch sehr gut angepasst. Ich habe auch immer das Gefühl, dass er gern hier ist und sich bei uns wohlfühlt.«
»Doch, Tim ist gern hier. Er fühlt sich bei uns wohl, und jeder hat ihn gern. Er wird von allen verwöhnt. Ich mache mir aber trotzdem Gedanken über ihn. Er ist noch sehr klein. Es wäre gut für ihn, wenn er in einer Familie aufwachsen könnte. Wie Sie mir einmal sagten, ist sein Vater vermögend. Er besitzt eine Fabrik. Könnte er nicht etwas mehr für das Kind tun?«
Denises Gesicht wurde ernst. Nachdenklich spielte sie mit einem Kugelschreiber, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag. »Wem sagen Sie das? Auch ich mache mir Gedanken darüber, aber im Augenblick ist da nichts zu machen. Nur die Zeit kann uns helfen. Wir müssen hoffen, dass Tims Vater über das schreckliche Unglück hinwegkommt und einsieht, dass er Tim mit seinem Verhalten großes Unrecht antut.«
Schwester Regine sah Denise erstaunt an. »Ich verstehe nicht ganz, Frau von Schoenecker. Was hat Tim … Ich meine, Sie sagten damals, Tims Mutter wäre bei einem Unfall, bei dem auch Tim verletzt wurde, ums Leben gekommen.«
»Das stimmt, aber da ist noch etwas. Ich werde es Ihnen erzählen, obwohl ich eigentlich nicht gern darüber spreche. Mein Mann kennt Tims Vater, Bernd Garland, schon lange. Die beiden lernten sich einmal auf einer Urlaubsfahrt kennen. Damals waren sie als Gymnasiasten mit den Fahrrädern unterwegs. Sie verstanden sich sofort, und so riss die Verbindung zwischen ihnen nie ganz ab, obwohl Bernd Garland jünger als mein Mann ist. Die Familie Garland ist vermögend. Die Textilfabrik, die Herr Garland sehr leistungsfähig ausgebaut hat, wurde bereits von seinen Großeltern gegründet. Vor vier Jahren erhielten wir seine Vermählungsanzeige. Etwas später hatte ich Gelegenheit, Herrn Garlands junge Frau kennenzulernen. Sybille Garland war eine sehr schöne Frau. Ich kann mir deshalb sehr gut vorstellen, dass ein Mann bei ihrem Verlust zusammenbricht. Man kann sagen, sie war eine vollkommene Schönheit. Auf mich machte sie allerdings einen sehr verwöhnten Eindruck. Sie war gewohnt, dass sich alles um sie drehte, dass sie immer der Mittelpunkt war. Sie gehörte auch zu den Frauen, die nie ernsthaft arbeiten mussten. Sie stammte selbst aus einer reichen Familie, in der man stets bemüht gewesen war, ihr jeden Stein aus dem Weg zu räumen. Es hatte in ihrem Leben immer genügend Leute gegeben, die für sie da gewesen waren.«
Denise machte eine kleine Pause und sah nachdenklich aus dem Fenster. Ihre Gedanken weilten bei Sybille Garland. Sie dachte daran, dass ihr die junge Frau sehr fremd gewesen war und dass sie sie eigentlich nicht sehr sympathisch gefunden hatte, ohne dass sie hätte sagen können, warum das der Fall gewesen war. Vielleicht auch, weil ihr die junge Frau kalt vorgekommen war. Nichts schien in ihrem Leben so wichtig gewesen zu sein wie die eigene Person. Oder hatte sie, Denise, sich da getäuscht? Schließlich hatte Sybille Garland bedenkenlos ihr Leben aufs Spiel gesetzt, als ihr Kind in Gefahr gewesen war. Handelte so eine Frau, die kalt und gefühllos war?
Denise hatte schon oft darüber nachgedacht und war schließlich zu dem Ergebnis gekommen, dass wohl jede Mutter so wie Sybille Garland gehandelt hätte. Im Augenblick der Gefahr hatte sie nicht mehr an sich, sondern nur noch an ihr Kind gedacht.
Diese Gedanken behielt Denise jedoch für sich. Dafür sagte sie jetzt: »Als Tim geboren wurde, bekamen wir wieder eine Anzeige. Und dann geschah das schreckliche Unglück. Es ist jetzt ein Jahr her. Tim rannte vom Garten aus auf die Straße. Eine hintere Gartenpforte, die kaum benutzt wurde und immer verriegelt war, stand offen. Man nimmt an, dass Sybille Garland die Abwesenheit des Kindes bemerkt hatte und es suchte. Sie entdeckte die offene Gartenpforte und konnte das Kind gerade noch im letzten Augenblick vor einem Auto zur Seite reißen. Tim erlitt keine lebensgefährlichen Verletzungen, aber seine Mutter stürzte sehr unglücklich. Sie schlug mit dem Kopf auf die Bordsteinkante auf und verlor sofort das Bewusstsein. Als sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde, war sie bereits tot. Auch Tim lag mehrere Wochen in einer Kinderklinik. Nach seiner Entlassung kam er zu uns. Sein Vater brach nach diesem Unglück zusammen. Er ist seitdem ein einsamer und verbitterter Mann, für den das Leben, keinen Sinn mehr hat. Schrecklich ist es, dass er dem Kind die Schuld an dem Unglück gibt. Bis jetzt weigert er sich, das Kind zu sehen. Den schönen großen Bungalow, in dem er mit seiner Frau und seinem Kind kurze Zeit glücklich gewesen war, hat er verkauft. Nichts soll ihn mehr an diese Zeit erinnern und nichts an das Unglück, das sich dort ereignet hat. So wurde auch das Personal, das er zu dieser Zeit eingestellt hatte, entlassen. Nur eine ältere Haushälterin, die schon im Hause von Herrn Garlands Eltern tätig gewesen war, blieb in seinen Diensten. Herr Garland übersiedelte nach dem Verkauf des Bungalows in eine alte Villa, die einst seine Großeltern gebaut hatten und in der sie bis an ihr Lebensende gelebt hatten. Wie ich gehört habe, ist das alte Haus in aller Eile etwas renoviert worden.«
»Wie konnte das Unglück aber geschehen? Ist Tim ohne Aufsicht gewesen? Und wer hatte die Gartenpforte nicht geschlossen?«, fragte Schwester Regine tief erschüttert von dem, was sie soeben erfahren hatte.
»Ja, wie konnte das geschehen? Das Kindermädchen sagte aus, dass Tim bei seiner Mutter gewesen war, aber Frau Garland konnte man nicht mehr fragen. Die Aussage des Kindermädchens ist auch unglaubwürdig, denn der Gärtner sagte aus, dass Frau Garland Besuch von einem Herrn bekommen habe, der aber nur kurze Zeit geblieben sei. Es ist also nicht gut vorstellbar, dass sie während dieser Zeit das Kind bei sich hatte. Und wer hat die Pforte nicht hinter sich geschlossen und verriegelt? Vom Personal will niemand sie benutzt haben. Wer sie offengelassen hat, werden wir wohl nie erfahren.«
»Wie tragisch und wie traurig ist das alles«, sagte Schwester Regine leise und bedrückt. »Besteht denn keine Möglichkeit, Tims Vater davon zu überzeugen, dass das Kind nichts dafür kann, dass seine Mutter auf so tragische Weise ums Leben gekommen ist? Tim war doch damals noch so klein. Sein Vater muss doch einsehen, dass das Kind keine Schuld trifft.«
»Wir hoffen sehr, dass er das eines Tages einsieht«, sagte Denise ernst. »Die Zeit wird uns helfen. Wir müssen Geduld haben. Doch bis jetzt will Herr Garland nicht an das Unglück erinnert werden. Deshalb hat er alles, was ihn daran erinnern könnte, verbannt. Er versucht, die Vergangenheit zu verdrängen.«
»Was man in diesem Fall auch verstehen kann, aber er muss doch auch an sein Kind denken. Tim weiß ja kaum noch etwas von seinem Vater. Er fragt weder nach seinem Vater noch nach seiner Mutter.«
»Vergessen Sie nicht, dass er eben noch sehr klein war, als das Unglück geschah. Danach war er mehrere Wochen in einer Klinik, und später kam er zu uns. Zu Hause wurde er außerdem wohl hauptsächlich von einer Kinderschwester betreut. Wahrscheinlich war sie ihm vertrauter als die Mutter.«
Schwester Regine runzelte die Stirn. »Das stimmt. Tim fragte in der ersten Zeit nach einer Tante Inge. Wahrscheinlich ist dass das Kindermädchen. Und dann erwähnte er noch eine Tante Stumm. In der letzten Zeit fielen die Namen aber nicht mehr.«
»Ich glaube, die Haushälterin, die jetzt noch bei Herrn Garland ist, heißt Stumm.«
»Da fällt mir ein, dass Tim gleich in der ersten Zeit, nachdem er nach Sophienlust gekommen war, ein- oder zweimal seine Mutter erwähnte. Er sagte …« Schwester Regine überlegte einen Augenblick. »Ja, er sagte, Mutti fährt nicht mit dem Onkel im Auto. So ähnlich muss es gewesen sein. Sonst hat er nie nach seiner Mutter gefragt oder von ihr gesprochen, was in diesem Fall ja auch gut ist, nicht wahr?«
Denise nickte. »Ja, das ist gut. Er hat eben keine Erinnerung mehr an sie. Ich würde es aber für gut halten, wenn wir manchmal mit ihm über seinen Vater sprechen würden. Er muss wissen, dass er einen Vater hat und auch ein Zuhause. Ich möchte nicht, dass ihm sein Vater völlig fremd wird. Es könnte ja sein, was ich sehr hoffe, dass sich Herr Garland eines Tages darauf besinnt, dass er einen Sohn hat, dass er dann die Verantwortung für ihn übernimmt. Glauben Sie mir, es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an das tragische Unglück denke. Es tut mir sehr leid, dass das Kind noch heute darunter zu leiden hat.«
»Zum Glück ist Tim ein Kind, das von Natur aus fröhlich und lebensbejahend ist. Er fühlt sich bei uns wohl, und bis jetzt hat er noch nichts vermisst. Wie es allerdings aussehen wird, wenn er älter wird und nachzudenken beginnt, weiß ich nicht. Ich werde mich aber in der Zukunft ganz besonders um Tim bemühen.«
Denise lächelte der jungen Kinderschwester dankbar zu. »Davon bin ich überzeugt, Schwester Regine.«
*
Nach diesem Gespräch mit Denise von Schoenecker versuchte Schwester Regine für Tim noch mehr Zeit aufzubringen als bisher. Abends, wenn der kleine Junge in seinem Bettchen lag, setzte sie sich noch ein Weilchen zu ihm, erzählte ihm eine Geschichte oder ließ das Kind erzählen. Sehr behutsam brachte sie das Gespräch immer wieder auf Tims Vater, wobei sie versuchte, die Erinnerungen, die Tim noch an seinen Vater hatte, wachzuhalten. Viel kam dabei aber nicht heraus. Tim hatte wirklich kaum noch eine Erinnerung, weder an seinen Vater noch an seine Mutter. Aber als Schwester Regine ihn nach seiner Tante Stumm fragte, lachte er.
»Tante Stumm hat Bonbon für Tim in der Tasche.« Tim hielt sein Händchen auf und sah die junge Kinderschwester erwartungsvoll an. Ganz unverhofft wurde dann aber das lachende Kindergesicht ernst, und es sah so aus, als würde Tim jeden Augenblick zu weinen beginnen. Er blickte Schwester Regine ängstlich an. »Mutti fährt nicht fort?«, fragte er.
Schwester Regine schüttelte den Kopf.
»Gut«, sagte Tim befriedigt und drückte seinen Teddy zärtlich an sich.
Schwester Regine wechselte das Gesprächsthema, und Tim erwähnte seine Mutter in Zukunft nicht mehr. Die Kinderschwester musste aber noch oft über das seltsame Verhalten von Tim, als er gefragt hatte, ob seine Mutter fortfahre, nachdenken. Für das Kind schien sich damit etwas Unerfreuliches zu verbinden, etwas, wovor es sich fürchtete.
*
»Warum kann ich keinen Hund haben?«, fragte Jo und schob den Rest seines Brötchens auf einmal in den Mund.
Ruth Degen, Jos Mutter, und die zehnjährigen Zwillinge Jessika und Julia zuckten unwillkürlich zusammen, denn der sechsjährige Joachim, das Nesthäkchen der Familie, hatte mitunter eine sehr durchdringende Stimme. Sie ging anderen durch Mark und Bein, wenn er einen Wunsch zum Ausdruck brachte oder etwas durchsetzen wollte. Ein Hund war Jos größter Wunsch. Es verging kein Tag, an dem er ihn nicht äußerte.
»Bitte, Jo«, sagte Ruth Degen leise. »Du weißt, wie gern ich Hunde habe, aber du weißt auch, dass ich den ganzen Tag nicht zu Hause bin, mich also nicht um den Hund kümmern könnte.«
»Ich bin am Nachmittag immer zu Hause«, sagte Jo stur und griff nach einer neuen Semmel, die er sich dick mit Butter und Honig zu bestreichen begann. »Jessika und Julia sind am Nachmittag auch zu Hause – meistens wenigstens«, fügte er etwas kleinlauter hinzu.
»Wirklich, Mutti, ein Hund wäre eine feine Sache. Wir könnten mit ihm spazieren gehen und mit ihm im Garten spielen. Du hältst es doch immer für so wichtig, dass wir an die frische Luft kommen.« Jessica hielt es nun für angebracht, dem kleinen Bruder zu Hilfe zu kommen. Sie war ein paar Stunden älter als ihre Zwillingsschwester Julia und die Dominierende von den beiden. Wer nicht wusste, dass die beiden Zwillinge waren, hätte Jessika für ein Jahr älter gehalten. Sie war einen halben Kopf größer als Julia, schlank, aber doch kräftig gebaut. Auf den ersten Blick war zu sehen, dass sie viel Sport trieb. Das naturgelockte Haar, das sie kurz geschnitten trug, war dunkel. Das schmale hübsche Gesicht war von der Sonne tief gebräunt. Unternehmungslustig blitzten darin zwei tiefblaue Augen.