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Claus-Ulrich Bielefeld

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Beschreibung

Berliner Schnauze trifft Wiener Schmäh: Thomas Bernhardt aus Berlin und Anna Habel aus Wien ermitteln gemeinsam im Fall des ermordeten Schriftstellers Xaver Pucher. Start einer grenzüberschreitenden Serie.

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Seitenzahl: 383

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Ähnliche


Claus-Ulrich Bielefeld

Petra Hartlieb

Auf der Strecke

Ein Fall für Berlin und Wien

Die Erstausgabe erschien

2011 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto

von Sven Stillich (Ausschnitt)

Copyright © Sven Stillich

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24068 9 (4.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60171 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Alle Personen und Ereignisse in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen oder mit tatsächlichen Ereignissen wären also rein zufällig.

[7] 1

Alles Unglück in der Welt beginnt damit, dass die Leute nicht zu Hause bleiben.

Warum muss mir denn nun gerade diese Lebensweisheit durch den Kopf schießen?, fragte sich Xaver Pucher und stemmte sich entschieden gegen Wind und Regen, die über den Platz vor dem Wiener Westbahnhof fegten. Papier und Unrat wurden von den Sturmböen aufgewirbelt, die wenigen Passanten, die an diesem windigen Septemberabend über den Platz eilten, wirkten wie Verurteilte.

Pucher atmete auf, als er endlich den Bahnhof erreicht hatte, dessen hell erleuchtete Glasfassade in diesem Moment etwas geradezu Tröstliches ausstrahlte. Unter dem Vordach klappte er seinen Schirm zusammen, wischte sich mit der freien Hand über sein regennasses Gesicht und leckte mit der Zunge über die Lippen. Der Geschmack von nassem Gummi, Benzin und Schmutz bereitete ihm Übelkeit. Er schluckte kurz und angewidert und versuchte dann wie die anderen Passanten, sich halbwegs herzurichten. Die Haare, die ihm wie ein feuchter Waschlappen ins Gesicht hingen, strich er hinter die Ohren. Ein kleines Wasserrinnsal lief in den Kragen seines dunkelbraunen Kamelhaarmantels, der ihn wie ein nasser Sack umhüllte. Die Reisetasche aus hellem Kalbsleder hatte sich dunkel verfärbt, und seine [8] rahmengenähten Budapester waren offensichtlich nicht wasserdicht. Kurzum: Die elegante Erscheinung, die er mit seinen gut dreißig Jahren so gerne abgeben wollte und an deren Perfektionierung er täglich arbeitete, war gründlich derangiert.

Sich jetzt nur nicht entmutigen lassen! Er begab sich auf eine gefährliche Expedition, das wusste er, aber am Ende würde er als Sieger dastehen. Und zwar auf der ganzen Linie. Er würde ein weit berühmterer Schriftsteller sein, als er es jetzt war, eine Art Bret Easton Ellis der Deutschen, ein amoralischer Moralist, einer, in dem alle Großen steckten, einer, dessen Bücher begierig erwartet und gelesen und weltweit vertrieben würden. Und er würde reich werden. Zu seiner geerbten Wohnung in der Bäckerstraße, die ihm langsam ein wenig eng wurde, könnte eine Wohnung in Berlin kommen, eventuell auch eine alte Mühle im Waldviertel, doch das ging nur mit dem nötigen Kleingeld. Schließlich hatte er keine Lust, seine Wochenenden im Baumarkt zu verbringen. Nur Größenwahnsinnige können groß werden. Ein Aphorismus von ihm. Oder: Wer sich nicht weit entfernt vom Ufer, wird auch keine neuen Kontinente entdecken. Valéry. Oder war es doch Gide? Er verwechselte die beiden immer.

Pucher straffte sich, was ihn allerdings auch nicht wesentlich größer werden ließ, und durchquerte die Bahnhofshalle, in der sich kaum mehr Reisende aufhielten. Obdachlose, Tauben, Reinigungspersonal, was für ein Kaff dieses Wien doch ist, mitsamt seinem hässlichen, provinziellen Westbahnhof. Fast bereute er schon seinen Entschluss, mit [9] dem Zug nach Berlin zu fahren; doch als er auf den Bahnsteig trat und sah, dass der Zug schon bereitstand, war er wieder versöhnt. Die letzten Getränke wurden aufgefüllt, ein paar Kisten angeliefert, schummriges Licht leuchtete aus den großen Fenstern. Abfahrt: 22:12Uhr. Der Euronight von Wien nach Berlin stand bereit. Diese Billigflieger, mit denen alle unterwegs waren, gingen ihm auf die Nerven. Mit der Bahn durch die Nacht fahren, vom leisen und manchmal lauten Schwellenschlag eingelullt… Er hatte den Schlafwagen gebucht, die Luxuskabine mit einem Bett, Dusche und WC. Ganz schön teuer, immerhin fast 250Euro. Aber bald würde er ja nicht mehr rechnen müssen.

Als der nach Essen und Schweiß riechende Schaffner ihm mürrisch sein Abteil zuwies, musste er seinen Missmut unterdrücken. So wie in alten Zeiten würde es natürlich nie wieder werden. Schade, dass er das nicht erlebt hatte: exzellente Bedienung, ein Diner im Speisewagen, Champagner, schöne Frauen in Seidenkleidern, während der Zug durch die Nacht zog, unbekannte kleine Stationen passierte und morgens der Nebel über reifbedeckten Wiesen lag. Xaver Pucher schaute sich in seinem kleinen Kabuff um. Immerhin: Die Bettwäsche war fleckenlos weiß und hatte scharfe Bügelfalten, das Tischchen am Fenster wies keine Fingerabdrücke auf, die Dusche und die Kloschüssel waren sauber.

Er hängte seinen Mantel auf einen Bügel, ebenso das Kaschmirjackett. Die nassen Schuhe stopfte er mit dem Anzeigenteil des Standard aus. Dann lockerte er die Armani-Krawatte, legte sie aber nicht ab. Jetzt noch die Ärmel seines chamoisfarbenen Maßhemdes hochkrempeln. So mochte er [10] das. Irgendwie, fand er, sah er dann aus wie der Chefredakteur eines amerikanischen Magazins. Er entspannte sich, seufzte behaglich und griff in seine Reisetasche. Eine Flasche Bordeaux und einen Flachmann mit altem Calvados, den er aber erst kurz vorm Einschlafen zum Einsatz bringen würde, platzierte er auf dem Tischchen neben dem Bett. Er goss sich ein Glas Wein ein, nicht ohne den Gedanken, dass im TrainBleu oder im Orientexpress sicher nur feinste Kristallgläser zum Einsatz kamen. Nach dem ersten Schluck griff er nach dem Päckchen mit dem weißen Pulver und schob es tiefer unter seine Hemden, das brauchte er jetzt nicht.

In diesem Moment fuhr der Zug langsam an. Als er über eine Weiche ratterte, fing das Rotweinglas an zu tanzen. Xaver umfing es mit einer Hand, führte es an den Mund und nahm einen tiefen Schluck, dann noch einen. Ein angenehmer Wärmestrom durchpulste ihn. Jetzt war er sich sicher: Alles würde klappen. Der Zug nahm Fahrt auf, die Vorstädte mit ihren riesigen Gemeindebauten zogen vorbei, dieses rötlich in der Nacht schimmernde Steingebirge. Er hatte einmal für ein Magazin eine Reportage über das »Rote Wien« geschrieben, über den sozialen Wohnungsbau der dreißiger Jahre. Die Architektur hatte ihn verwirrt: Er fand sie totalitär, überall roch er den Gestank sozialer Kontrolle, und doch spürte er auch das Gefühl der Solidarität, das dort einmal geherrscht haben musste. Es war seine schwächste Reportage. »Das ist nicht für die Zeit«, hatte der Chefredakteur gemault, »wo bleibt dein legendärer Zynismus?« Ja, wo war der damals geblieben? Auch er hatte seine schwachen Momente.

[11] Er lehnte sich zurück, ließ den Wein im Glas kreisen und dachte an das Manuskript. Es faszinierte ihn immer noch, was mit Wörtern möglich war, wie ihre kunstvolle Fügung und Mischung eine neue Wirklichkeit schufen. Und auch das Motto seines neuen Romans war schlichtweg genial: Ich bin die Lüge, die die Wahrheit spricht. Jean Cocteau, aber wer kannte den noch?

Draußen Dunkelheit, verschattete Wälder und Felder, manchmal funzlige Lampen, einsame Häuser. Hier war er schon einmal im Zug entlanggefahren, auf dem Weg nach Prag. Damals hatte er in einem Privatzimmer in irgendeinem Arbeitervorort übernachtet. Man musste erst mit der U-Bahn fahren. Die langen hölzernen Rolltreppen, die in den Untergrund führten, hatten ihm Angst gemacht. Er verstand die Sprache nicht, an jeder Haltestelle erklang eine sanfte Frauenstimme aus dem Lautsprecher: Wie einen Zauberspruch sagte sie immer das Gleiche, noch nach Jahren konnte er sich an die vielen Zischlaute erinnern. Ein Mädchen hatte ihn damals begleitet, das er gar nicht richtig kannte und das sich wie eine kleine schnurrende Katze an ihm gerieben hatte. Und die Frauen, die er diesmal in Wien hinter sich gelassen hatte? Da wollte er jetzt nicht dran denken.

Ein leiser Luftzug strich über seinen Nacken. Das trübe Licht in dem Abteil loderte auf, explodierte, er begriff nichts. Etwas riss ihn nach unten, er fiel in einen Trichter, er fiel, das Licht erlosch, es wurde schwarz. Er musste atmen, tief atmen, aber es ging nur schwer, atmen, wer hatte ihm die Zwinge um die Brust gelegt, wer zog sie zu? Atmen, noch immer fiel er, aber der Sturz verlangsamte sich. [12] 

[13] 2

»Piep-piep«. Anna Habel schreckte hoch. In den 22-Uhr-Nachrichten beteuerte gerade der Bundeskanzler mit schiefem Grinsen, dass der aktuelle Streit in der Koalition sicher nicht an seiner Partei liege. Anna versuchte, sich zu orientieren. Auch wenn sie nur knapp 1,60Meter maß, das Fernsehsofa war eindeutig zu kurz zum Schlafen, ihr Ischiasnerv zog besorgniserregend bis ganz unten ins Bein und von da wieder hoch bis in ihr schlaftrunkenes Hirn. Vor dem Sofa lagen unzählige zerknüllte Tempos, und der Becher mit Tee balancierte gefährlich auf einem Bücherstapel. Warum kann ich nicht einfach nur Schnupfen haben wie andere Menschen auch, dachte Anna und fischte das letzte Taschentuch aus der Packung. Seit Tagen plagte sie eine schlimme Erkältung, das feuchtkalte Septemberwetter tat sein Übriges, und die halbe Flasche Rotwein, die sie sich gestern als therapeutische Maßnahme genehmigt hatte, war für ihren Brummschädel wohl nicht die richtige Medizin gewesen. Das Handy, dachte sie, wer will denn um diese Uhrzeit noch was von mir? Mühsam zog sie das Mobiltelefon aus ihrer Hosentasche. »1 neue Mitteilung«, Absender Andrea. »Melk« las sie und musste grinsen. Seit mehr als sieben Jahren pflegte sie mit ihrer Freundin Andrea den »Melk-Brauch«. Immer wenn eine der beiden an dem [14] imposanten Benediktinerkloster zwischen Wien und Linz vorbeifuhr, schrieben sie sich eine SMS. In völlig unmöglichen Situationen bekam sie Andreas Melk-Meldungen, und jedes Mal war sie froh, ein Lebenszeichen ihrer besten Freundin zu erhalten. »Sofa, Bett« schrieb sie zurück, holte sich eine neue Packung Tempos aus dem Bad, schlüpfte in den Flanellpyjama, zog die Frotteesocken an und schlurfte in ihr Schlafzimmer. Arme Andrea, dachte sie noch, schon wieder auf der Autobahn, hoffentlich wenigstens Richtung Wien. Vom Bücherstapel neben ihrem Bett reizte sie heute nichts – alles viel zu anstrengend für ein schnupfengeplagtes Hirn. Sie stellte den Wecker auf 7Uhr30 und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Anna schlug auf den Wecker ein, doch das durchdringende Klingeln hörte nicht auf. 5Uhr10. Was soll das denn, lasst mich doch alle in Ruhe. Plötzlich war sie hellwach: Scheiße, kein Wecker, irgendwo klingelte ihr Handy. Sie sprang aus dem Bett, der schweißnasse Pyjama klebte unangenehm auf ihrer Haut, der Klingelton verstummte. Ich könnte so tun, als hätte ich es nicht gehört, dachte Anna und machte sich seufzend auf die Suche nach dem ständigen lästigen Begleiter. Viel zu pflichtbewusst war sie für so eine Schummelei. Zwischen den Sitzpolstern des Fernsehsofas fand sie endlich das Handy: »1Anruf in Abwesenheit«, Anrufer: »Kolonja«. Anna drückte auf die Rückruftaste, und nach dem ersten Klingeln schnaufte ihr der Kollege ins Ohr:

»A Leich. Im Weinviertel. Im Zug.«

»Auch ich wünsch Ihnen einen schönen guten Morgen, [15] Herr Kollege, ich bitte um nähere Angaben.« Robert Kolonja mit seinem Floridsdorfer Gemeindebau-Slang reizte Anna auch nach drei Jahren Zusammenarbeit noch immer dazu, in eine sehr gewählte Ausdrucksweise zu verfallen.

»Ich steh da auf einem Abstellgleis der Österreichischen Bundesbahnen, irgendwo zwischen Bernhardsthal und Hohenau. Leiche männlich, zwischen 25 und 30Jahre alt, aufgefunden im Schlafwagen.« Auch Kolonja konnte schön sprechen, wenn er sich bemühte. Dennoch blaffte Anna ihn aus reiner Gewohnheit noch einmal an.

»Erschossen, erdrosselt, erstochen oder gar vergewaltigt?«

»Der Doktor Schima is noch nicht da, aber die Leich is in Wien-West in Zug eingstiegen und bald darauf war’s scho tot. Jetzt hat er an ganzn Waggon für sich allein.«

Richtig witzig heute, der Kolonja, dachte Anna. »Okay, gib mir zehn Minuten, ich ruf dich an, wenn ich im Auto sitze, dann gibst du mir die Koordinaten durch.«

Ein kurzer Abstecher ins Bad, ein hoffnungsloser Blick in den Kühlschrank und dann die Suche nach dem Autoschlüssel. Schon in Jacke und Schuhen ging sie noch mal in die Küche, stellte einen Teller auf den Tisch, nahm die Butter aus dem Kühlschrank und schnitt zwei Scheiben Brot von dem nicht mehr ganz frischen Laib. »Musste früh weg, schönen Tag! Komm nicht zu spät, und kauf dir was zu essen«, schrieb sie auf einen kleinen Zettel, den sie zusammen mit einem Zehn-Euro-Schein unter den Teller schob.

Auf einem Nebengleis stand ein einsamer Waggon der Österreichischen Bundesbahnen, er hing ein wenig schief in [16] der Kurve und sah irgendwie absurd aus. Eine Tür stand offen, Leute liefen geschäftig umher, und aus einem Autoradio plärrte die Musik von Radio Niederösterreich. Aus dem Waggon stieg gerade der Gerichtsmediziner, Doktor Schima. Wie immer wirkte er gutgelaunt.

»Also, ein netter junger Mann, Typ: Schwiegermutterliebling. Wurde wohl mit einer dünnen Drahtschlinge erwürgt. Die Mordwaffe haben wir allerdings noch nicht gefunden. Der Schaffner hat ihn kurz nach der Tat gefunden, so um 22Uhr45. Mehr gibt’s von meiner Seite nicht zu sagen. Der braucht ja leider keinen Arzt mehr. Aber mir scheint, Sie bräuchten einen. Soll ich Ihnen was verschreiben?«

Anna lächelte gequält. »Mindestens eine Woche Krankenstand und einen guten Krimi.«

Ein blasser Trenchcoat mit Schnauzer und Kappe kam auf sie zu.

»Grüß Gott, mein Name ist Kronberger, ich bin der zuständige Beamte aus St.Pölten.«

»Guten Tag, Habel, Mordkommission Wien.«

Sie bemühte sich, freundlich zu klingen, sie wollte diesen niederösterreichischen Polizeibeamten so schnell wie möglich loswerden und das Mordopfer sehen.

»Ach, die Wiener san da. Ja, da samma froh.«

O je, das wird nicht leicht, dachte Anna und blickte zu Kolonja, der mit den Schultern zuckte. Sie bemühte sich um ein Lächeln und einen herzlichen Händedruck für den Herrn Kollegen. Doch der ging gleich in die Offensive.

»Wieso kommts’ ihr denn so spät?«

Anna merkte, dass sie gleich in die Luft gehen würde. Sie [17] wusste stets von Anfang an, wie ihre Stimmung bei einer Untersuchung sein würde. Und wenn ein neuer Fall mit einem so übereifrigen Provinzbeamten wie diesem Trenchcoat begann, verhieß das nichts Gutes.

»Spät, Herr Kronenburger? Ich find’s ziemlich früh.«

»Mein Name ist Kronberger! Wie ich gesehen hab, dass der Tote Wiener ist, hab ich euch sofort informiert. Mit eurem Alarmierungssystem läuft was schief, das ist das Problem, ihr habt ja erst Stunden später reagiert.«

Kolonja lief rot an. »Ja, ich hab da irgendeinen Knopf falsch gedreht. Aber jetzt samma ja da.«

Kronberger lief augenblicklich zur Hochform auf.

»Na schauts’, einen Knopf falsch gedreht… Und wir machen hier die Arbeit. Ihr habts’ jetzt ja gar nix mehr zu tun.«

Anna schnaufte und nieste dreimal vulkanmäßig. Jetzt musste auf der Stelle ein Punkt gesetzt werden.

»Das entscheiden immer noch wir, lieber Kronenburger. Immerhin handelt es sich hier um einen Mord, und ich glaube, den aufzuklären ist ein bisschen mehr Arbeit, als den Tatort zu sichern und ein paar zuständige Kollegen anzurufen. Was weiß man denn über die Identität des Opfers?«

Kolonja kam Kronberger zuvor.

»Alles, also, ich meine nicht viel außer den Personalien.«

»Und die wären?«

»Xaver Pucher, geboren am 30.August 1973 in Salzburg, wohnhaft in Wien, erster Bezirk, Bäckerstraße 7.«

»Was sagst du da? Xaver Pucher? Der Xaver Pucher?«

»Was meinst du damit? Kennen wir den? Ist der einschlägig?«

[18] »Ja, sag mal, liest du denn nie Zeitung? Hörst kein Radio und schaust nicht fern?«

»Doch, schon, aber anscheinend nicht die gleichen Ressorts wie du.«

Kolonja wurde nicht müde, Anna mit ihrem »Kulturtick« aufzuziehen. Bücher, Theater, Kulturradio, all das war ihm zuwider, er empfand ein tiefes Misstrauen gegen alles, was im Entferntesten mit Kunst und Kultur zu tun hatte.

»Jetzt sag schon, wer ist der Typ?«

»Xaver Pucher ist – Verzeihung war – der Shooting-Star der deutschsprachigen Literaturszene. Sein letzter Roman Herodots wilde Reisen ist überall besprochen worden und verkauft sich wie warme Semmeln.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich Ihre Literaturvorlesung unterbreche, aber möchten Sie vielleicht einen Blick auf das Opfer und den Tatort werfen?«

Kollege Kronenburger wird langsam ungeduldig, er sehnt sich wohl nach der Wärme der St.Pöltener Amtsstube, nach Kaffee und Kipferl, dachte Anna, stapfte an ihm vorbei durch den inzwischen völlig aufgeweichten Boden und zog sich am Haltegriff des Waggons in den hell erleuchteten Zug. Der Tote lag halb im Abteil, halb im Zuggang, bedeckt mit einem makellos weißen Leintuch der Österreichischen Bundesbahnen. Anna ärgerte sich, dass sie so spät dran war, sie fühlte sich betrogen um den ersten Eindruck, das Gespür für einen Fall, das entsteht, wenn man ein Opfer so sieht, wie es sein Mörder hinterlassen hat. Dieses Zugabteil hatte nicht mehr viel mit einem Tatort zu tun, und auch der Tote, der so akkurat unter seinem Laken lag, sah irgendwie seltsam normal aus. So, als müsse er hier liegen. Anna hob [19] vorsichtig das Tuch an, und das Gesicht erinnerte nur vage an das des jungen Schriftstellers, den sie ein paar Wochen zuvor bei einer Signierstunde in einer großen Wiener Buchhandlung gesehen hatte. Jung hatte er da ausgesehen, sein Bad in der Menge sichtlich genossen, wenn auch sein freundliches Lächeln ein wenig arrogant wirkte. Nun hatte sein Gesicht nichts Jugendliches mehr an sich. Aschfahl und verzerrt war es, die Augen quollen hervor, und die Zunge hing ihm aus dem Mund. Und wie ein Blitz durchfuhr sie die Erinnerung, dass es vor ein paar Monaten Drohungen gegeben hatte von Seiten irgendeiner islamistischen Gruppierung, die sich von Puchers jüngstem Buch verunglimpft fühlte.

Nicht sehr vorteilhaft, dachte Anna, dieses Bild würde dem eitlen Bubi wohl nicht gefallen. Kolonja blickte über ihre Schulter.

»Elegant, der Herr. Hast du seine Klamotten gesehen? Allein die Schuhe mein halber Monatslohn.«

»Der hat auch gut Geld verdient in den letzten Monaten, und arm war er schon vorher nicht gewesen. Irgendetwas Auffälliges im Abteil gefunden?«

»Allerdings! In seiner hübschen Reisetasche befinden sich nicht nur frische Unterhosen.« Kolonja schwenkte einen Beutel mit weißem Pulver.

»Ich glaube jedenfalls nicht, dass es Waschpulver ist.«

»Das ist ja eine ganze Menge. Mehr als bloß ein wenig Reiseproviant. Sonst noch was?«

»Das Übliche. Wäsche für drei, vier Tage, Portemonnaie, eine Flasche Rotwein, ein Flachmann mit einem wohlriechenden Schnaps, ein Mantel und ein Handy. Das hat auch schon ein paarmal gepiepst.«

[20] »Wer hat die Leiche gefunden?«

»Der Schlafwagenschaffner. Er ist da hinten in seinem Abteil.«

Anna stieg vorsichtig über den Toten und klopfte an die offene Tür des Dienstabteils. Der junge Mann, der zusammengesunken auf der schmalen Bank saß, sprang sofort auf und hielt die Luft an.

»Guten Morgen. Mein Name ist Anna Habel, ich bin von der Mordkommission. Sie haben den Toten gefunden?«

»Jawoll, Frau Kommissar! Ich geklopft und keine Antwort, ich noch einmal geklopft und dann Tür aufgemacht, und da liegt toter Mann! Und da ich hab Tür schnell zugemacht und sofort gegangen zu Zugchef. Und der hat Nothalt gemacht. Aber: Vielleicht besser bis Bahnhof gefahren?«

»Woher wussten Sie denn, dass der Mann tot ist?«

»Na, die Augen! Er mich angeschaut. Ich weiß, wie ausschaut, wenn tot.«

Interessant, dachte Anna, fragte den Schlafwagenschaffner jedoch nicht nach seinen einschlägigen Erfahrungen mit Leichen.

»Was hatten Sie denn in dem Abteil zu tun, der Zug war doch noch gar nicht lange unterwegs?«

»Hat gefragt nach Polster. Obwohl Erste-Klasse-Abteil eh hat zwei.«

Er schüttelte missbilligend den Kopf.

»Dann dank ich Ihnen erst mal, wir haben sicher noch weitere Fragen. Haben die Kollegen Ihre Daten aufgenommen?«

»Ja, ich nicht mehr wissen, ich nix gesehen, nix gehört.«

[21] Der Schlafwagenschaffner wollte sichtlich nichts mit der Polizei zu tun haben.

»Ja, ich glaub Ihnen ja. Sie können jetzt gehen.«

Als Anna zum Abteil des Toten zurückkam, wurde der gerade aus dem Zug verfrachtet. Die beiden Männer hatten Schwierigkeiten, die Bahre durch den engen Gang zu manövrieren. Früher hätte man ihn einfach aus dem Fenster gehievt, doch die konnte man in den Zügen ja nicht mehr öffnen, dachte Anna und sah sich im Abteil um. Ein Paar, wie Kolonja schon richtig bemerkt hatte, teure Schuhe, ausgestopft mit dem lachsfarbenen Papier der »Zeitung für Leser« stand unter dem Bett, an der Tür hing ein etwas ramponierter Kamelhaarmantel und die zerknautschte Reisetasche – all diese Gegenstände wirkten wie die Requisiten in einem schlechten Theaterstück.

Eine Flasche Rotwein stand auf dem kleinen Tisch am Fenster, doch das eingeschenkte Glas auszutrinken hatte er wohl nicht mehr geschafft. Auf dem Teppich ein hässlicher Rotweinfleck.

»Na dann wollen wir mal.«

Anna sprang aus dem Zug und steuerte Kronberger an, der missmutig unter seinem Regenschirm stand und rauchte.

»Ich würde vorschlagen, wir teilen uns die Befragung der Zuggäste.«

Hinter Kronbergers Schulter zwinkerte ihr Kolonja zu, rollte mit den Augen, tippte bedeutungsvoll mit dem Finger an seine Stirn.

Kronberger nahm einen letzten tiefen Zug aus seiner Zigarette und trat sie dann entschlossen in den Matsch.

»Die anderen Passagiere sind längst in Berlin, aber keine [22] Angst, während ihr noch im Traumland wart, haben wir die Befragung durchgeführt. Niemand hat etwas gehört oder gesehen.«

»Sie haben was?«

»Hier ist eine Liste mit den Namen und den Telefonnummern der Zuggäste.«

Anna fühlte, dass sie kurz davor war zu explodieren, und bemühte sich, so sachlich wie möglich aufzutreten. Jetzt ganz ruhig bleiben.

»Mein lieber Herr Kollege. Was bitte hat Sie dazu veranlasst, den Zug weiterfahren zu lassen? Das gibt’s ja wohl nicht! Und der Täter sitzt jetzt in Prag und lacht sich ins Fäustchen. Oder glauben Sie, unser junger Mann hat sich selbst erdrosselt? Und wo ist der Zugchef?«

»Auf dem Weg nach Berlin, beim Frühstück, was weiß ich. Im Übrigen habe ich natürlich alles mit meinen Vorgesetzten abgesprochen. Und ihr wart ja im Traumland.«

Kronberger wirkte beleidigt. Anna war sauer.

»Das wird ein Nachspiel für Sie haben und für Ihre dämlichen Vorgesetzten auch. Die Liste, bitte.«

Drei Seiten Namen, Adressen, Telefonnummern. Unmöglich, die alle innerhalb der nächsten 24Stunden zu befragen.

»Komm, Kolonja, wir haben hier nichts mehr zu tun. Die Kollegen haben eh schon die ganze Arbeit erledigt. Ah ja, und Herr Kollege Kronenburger, würden Sie mir bitte das Handy des Toten geben? Die übrigen Sachen schicken Sie mir bitte ins Präsidium!«

»Jawohl.«

»Und noch was: keine Presse! Sie rufen jetzt nicht Ihren [23] Spezi aus der Stammtischrunde an, der zufällig bei den Niederösterreichischen Nachrichten arbeitet. Wir brauchen ein paar Stunden Vorsprung, bevor wir die ganze Meute am Hals haben.«

Kronberger sah wohl ein, dass jedes weitere Wort seine Lage nur verschlimmert hätte.

Obwohl jede Faser ihres Körpers nach Frühstück schrie, hatte Anna Habel genug von der niederösterreichischen Provinz und nahm den direkten Weg nach Wien. Sie sehnte sich nach ihrem Büro, nach einer Tür, die sie – zumindest kurzfristig – hinter sich schließen konnte. Und selbst der Automatenkaffee auf dem Polizeipräsidium war dem sogenannten »Verlängerten«, den sie einem auf dem Land servierten, vorzuziehen.

Nun also ein toter Autor, sinnierte sie. So etwas hatte sie noch nie gehabt. Überhaupt war bisher noch in keinem ihrer Mordfälle ein Prominenter involviert gewesen, weder auf der Opfer- noch auf der Täterseite. Anna war klar, dass ihre Arbeit diesmal anders als gewohnt verlaufen würde. Sie würde nicht so lange grübeln und vor sich hin puzzeln können, bis sie dann mehr oder weniger im Alleingang zur Lösung des Falls gelangte. Nun war von Anfang an die Presse mit dabei. Und ihr Chef, der eitle Hofrat Hromada, würde sich keine Pressekonferenz entgehen lassen. Mit einer gefährlichen Verrenkung fischte sie eine halbe Packung Taschentücher vom Rücksitz. Und dazu die CD, die ihr vor mehreren Monaten ein guter Freund geschenkt hatte und die sie seitdem erst einmal gehört hatte. Guten Tag, guten Tag, ich will mein Leben zurück. Guten Tag, ich gebe zu, [24] ich war am Anfang entzückt.

[25] 3

Bewaffnet mit einer Extrawurstsemmel und einem Coffee-to-go warf Anna die Bürotür hinter sich zu. Auf ihrem Schreibtisch klebten unzählige pinkfarbige Post-its, auf denen Susanne Schellander in ihrer peniblen Schrift sämtliche Anrufer notiert hatte.

Anna schaltete den Computer an und kramte in ihrer Handtasche nach dem sichergestellten Mobiltelefon. Durch die Plastiktüte sah sie mehrere Anrufe in Abwesenheit und diverse Mitteilungseingänge. »Sprachbox«. Sie zögerte kurz, sollte sie wirklich die Mobilbox von Xaver Pucher abhören? Quatsch, was soll das denn, Promi hin oder her, der gute Mann ist tot. Die erste Nachricht kam von einer nicht angezeigten Rufnummer: »Hey, hier ist Philip-Peter. Bist du schon wach? Vielleicht kannst heute schon etwas früher kommen? Bevor die ganze Bagage hier auftaucht. Dann könnten wir noch zwei ruhige Worte wechseln. Tschüs, bis später.«

Und auch die zweite Nachricht war von derselben Stimme: »Hier spricht noch mal Philip-Peter. Warum hast du eigentlich dein Handy immer noch nicht eingeschaltet? Hast du eigentlich alles dabei? Ich bin schon gespannt, ruf mich doch kurz zurück.«

Na, da wartet einer ja schon ganz sehnsüchtig auf unseren Star, dachte Anna und tippte gedankenverloren »Xaver [26] Pucher« in die Google-Startseite. 270000 Einträge – und ganz oben die eigene Homepage des jungen Autors. Sehr professionell, nicht zu voyeuristisch, und trotzdem hatte man als Betrachter das Gefühl, einen Einblick in das Privatleben des Autors zu erhaschen.

So kommen wir nicht weiter, jetzt muss ich die Mühlen wohl zum Laufen bringen. Anna kramte in ihrer Tischlade und förderte einen blauen Schnellhefter zutage. »Mordkommission BRD« hatte ihn jemand vor vielen Jahren mit blauen Schnörkeln beschriftet. Na hoffentlich sind die Nummern nicht so alt wie der Umschlag, dachte Anna und wählte die fettgedruckte Berliner Nummer.

»Thomas Bernhardt«, tönte nach dem zweiten Freizeichen eine tiefe Stimme aus dem Hörer.

»Hm, entweder ich hab mich verwählt, oder aber – nein– hier spricht Ingeborg Bachmann.«

»Gar nicht schlecht, gab aber schon bessere. Mordkommission Berlin, Abteilung 5, mein Name ist Thomas Bernhardt. Na, Frau Bachmann, womit kann ich dienen?«

Anna wusste nicht, was sie von der Stimme halten sollte: nicht unangenehm und eigentlich ganz freundlich, zugleich aber auch distanziert. Sie nahm einen Schluck lauwarmen Kaffee aus ihrem Plastikbecher. Schwierig, sagte sie sich, mit dem wird es schwierig. Sie seufzte.

»Ich weiß nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin, es geht um Mord, Herr Bernhard…«

»Mordkommission ist meist ganz gut, wenn’s um Mord geht, oder? Bernhardt mit dt am Schluss übrigens.«

»Na, immerhin. Ich bin Chefinspektor Anna Habel aus Wien.«

[27] »Ich denke, Sie heißen Bachmann.«

»Das war ein Scherz.«

»Wieso?«

»Weil Sie Bernhardt heißen.«

»Ja und?«

»Thomas Bernhard war ein berühmter österreichischer Schriftsteller, das wissen Sie?«

»Ja natürlich.«

»Und Ingeborg Bachmann war…«

»Ach so, ja, verstehe. Erklär mir Liebe, Böhmen liegt am Meer, Anrufung des Großen Bären, Undine geht zum Strand…«

»Undine geht reicht.« Anna zog heftig die Nase hoch und nieste. Dann holte sie tief Luft und schnauzte ihn an: »Wieso stellen Sie sich dann so dumm?« Was bei diesem Kronenburger richtig war, konnte bei Bernhardt nicht falsch sein.

»Ach, das ist ’ne kleine berufliche Deformation. Damit kommt man bei Verbrechern und Frauen am weitesten. Ist meine Erfahrung.«

Anna bedauerte sehr, dass sie von der Erkältung und vom frühen Aufstehen so geschwächt war. Sie schluckte trocken, unterdrückte den plötzlich aufflammenden Halsschmerz und wollte schon zum Gegenschlag ausholen. Doch Bernhardt kam ihr zuvor.

»Ist das eigentlich Wienerisch, was Sie da sprechen?«

Anna fasste es nicht: Was bildete der sich denn ein?

»Das ist Oberösterreichisch mit einem Schuss Wienerisch. Sollen wir einen vereidigten Dolmetscher bestellen, oder können wir jetzt mal langsam zur Sache kommen?«

[28] Bernhardt lachte, was Anna zu ihrer Verblüffung gar nicht so unsympathisch fand.

»Ich kann nur Hochdeutsch, mit einem ganz kleinen hessischen Einschlag.«

»Na, herzliches Beileid. Hören Sie mal, lieber Kollege, seid ihr in Preußen alle so langsam?«

»Gegenfrage: Warum seid ihr in Wien denn gleich so hektisch? Bis zur Lagebesprechung hab ich noch’n bisschen Zeit. Und da können wir uns doch in aller Ruhe aneinander gewöhnen. Anscheinend haben wir einen gemeinsamen Fall. Bevor wir loslegen, aber noch eine Frage: Was machen Sie eigentlich gegen Ihre Erkältung? Hört sich echt schlimm an. Ich empfehle Lindenblütentee.«

»Ich danke. Und jetzt hören Sie mir mal zu: Wenn Sie mich noch einmal unterbrechen, werde ich echt böse. Also…«

Thomas Bernhardt legte seine Füße auf den Schreibtisch und folgte dem gleichmäßigen Redefluss, der aus dem Telefonhörer drang. Die beißt sich fest, die lässt nicht locker, bis sie alles weiß, war sein Eindruck. Er versuchte sich ein Bild von ihr zu machen: Mehr so der alpenländische Typ, braune Haare, braune Augen, brauner Teint, scharfgeschnittene Nase? Da fehlt ja nur noch das Dirndl, sagte er sich und verwischte das Bild schnell wieder. Er blickte auf die Fensterscheibe, an der der Regen hinunterrann. In Berlin begann der Winter eben im September und endete Ende April, so war das nun mal.

Die Figur, die das Fenster leicht verzerrt reflektierte, brachte ihn auch nicht auf freundlichere Gedanken, obwohl: Dass er die Haare neuerdings ganz kurz trug, gefiel ihm, da [29] wirkten sie nicht mehr so grau. Die Tränensäcke unter den Augen, die von den Brillengläsern noch vergrößert wurden, würden wohl nicht mehr weggehen. Wobei, wer weiß, mit weniger Alkohol… Aber gab es überhaupt jemanden in diesem Riesenbau in der Keithstraße, wo er und seine Kollegen von der Berliner Mordkommission arbeiteten, der ohne Alkohol leben konnte? Thomas Bernhardt bezweifelte das.

In der Tür sah er Cornelia Karsunke, die ihm signalisierte: Sitzung! Bernhardt nannte sie im Stillen und nur für sich »die Tatarin«, wegen ihrer schiefgeschnittenen Augen. Sie war erst Mitte zwanzig, sehr begabt, manchmal arbeitete sie schlampig, hin und wieder kam sie zu spät und roch nach Alkohol. Sie hatte zwei kleine Kinder, zwei Mädchen. Wie sie alles auf die Reihe bekam, war ihm rätselhaft. Sie war in Neukölln aufgewachsen, irgendwo zwischen Hermannstraße und Karl-Marx-Straße. »Alter Proletarieradel«, hatte sie einmal mit einem verlegenen Lachen gesagt, »uns wirft so schnell nichts um.« Über ihre Schulter lugte sein zweiter Assistent, Volker Cellarius, von ihm »der Durchstarter« oder »der Akademiker« genannt, Anfang dreißig. Die beiden würden es noch weit bringen. Andererseits: Sollten sie doch erst einmal so alt werden wie er.

Er winkte ihnen zu: Komme gleich nach.

»…und dann lässt dieser Idiot Kronenburger den Zug weiterfahren.«

Thomas Bernhardt nahm die Füße vom Schreibtisch und streckte sich. Also gut: Dann wird jetzt gearbeitet.

»Tja, ob das schlimm ist, weiß ich nicht. Wenn er wirklich alle Personalien aufgenommen hat, ist das schon mal ’ne [30] gute Leistung. Wobei wir, glaube ich, davon ausgehen können, dass der Täter…«

»…oder die Täterin.«

»Oder die Täterin… Sind Sie eigentlich Feministin?«

»Sind Sie eigentlich Chauvinist?«

»Nein, ich weiß nur immer gerne genau, mit wem ich es zu tun habe.«

»Und da glauben Sie, es ist hilfreich, die Menschen gleich in Schubladen zu packen?«

»Lassen Sie uns doch lieber über unseren Fall sprechen. Also: Der Täter wäre ziemlich blöd, wenn er nach der Tat im Zug geblieben wäre. Andererseits: Wie ist er rausgekommen? Wie hat er das Weite gesucht? Hatte er ein Auto in der Nähe geparkt, ist er per Anhalter davongefahren, hat er ein Taxi genommen? Erdrosseln mit einem dünnen Metallseil spricht eher für einen Täter, ich gebe aber zu, dass die Frauen erhebliche Fortschritte gemacht haben. Ich kann mir also auch eine Mörderin vorstellen.«

»Ich unterbreche mal, nix dagegen, oder?«

»Überhaupt nicht. Apropos: Lindenblütentee. Bitte wirklich richtige Lindenblüten in der Apotheke kaufen, die aus der Provence sind die besten, nicht die Beutel, wo nur ein bisschen Staub drin ist…«

»Hören Sie jetzt endlich auf. Wir in Wien sind auch nicht blöd. Der Täter, die Täterin ist weitergefahren oder nicht. Wir wissen’s nicht. Immerhin haben wir die Liste aller Personen, die zum Zeitpunkt des Mordes im Zug waren. Aus dem fahrenden Zug wird er wohl nicht gesprungen sein.«

»Okay, faxen Sie mir die Liste, ich setze gleich jemanden darauf an.«

[31] »Die Untersuchung muss wasserdicht sein, damit wir uns hinterher keine Vorwürfe zu machen brauchen.«

Thomas Bernhardt stöhnte kurz auf. »Meine liebe Frau Habel. Wir hier in Berlin sind in der Lage, eine Namensliste auf Übereinstimmungen mit dem Opfer zu untersuchen. Wir haben hier eine funktionierende EDV, Zugriff auf die gängigen Datenbanken und sogar Internet.«

»Jetzt sinds’ nicht gleich beleidigt. Ich meine ja nur, wir sollten uns beeilen. Wir versuchen hier, eine DNA zu kriegen. Wir werten seinen Laptop aus, gehen jede Nummer auf seinem Handy durch, mein Kollege Kolonja ist schon in der Stadt unterwegs und sucht seine Freunde und vor allem seine Freundinnen auf. Aber ich hätte auch schon einen konkreten Auftrag.«

»Das ist aber nett.«

»Wir haben auf seinem iPhone den Terminkalender durchgesehen, er hatte heute um siebzehn Uhr eine Verabredung bei seinem Berliner Agenten. Der heißt Philip-Peter Weber. Er war auch mehrmals auf seiner Sprachbox, der kann es anscheinend nicht erwarten, bis Pucher ankommt. Also Philip-Peter Weber, ist klar, oder?«

»Können Sie mir nicht beide Namen buchstabieren?«

»Das schaffen Sie doch selbst.«

»Na ja, so halbwegs. Mit oder ohne Bindestrich? Und können Sie mir noch sagen, was ich fragen soll?«

Anna Habel antwortete mit einem mächtigen Nieser. Und noch einem. Und noch einem. Dann schwieg sie eisern.

»Gut, ich werd schon selbst drauf kommen. Küss die Hand, Frau Kollegin. Man hört sich heute Abend noch mal, [32] so gegen 20Uhr, schlag ich vor. Würde das der Frau Kollegin konvenieren, oder ist man da schon im Beisel?«

»Ach, hörens’ auf. Bis heut Abend.«

Anna Habel knallte den Hörer auf und lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück. Ein Arsch, ein echter Arsch, aber wirklich. Als sie einen Schluck Kaffee aus ihrem Becher genommen hatte, schüttelte sie sich. Dieses kalte Gesöff ätzte einem ja die Magenwand durch.

[33] 4

Thomas Bernhardt ging schnell in Richtung »Großes Sitzungszimmer«. Er schaute nicht links und nicht rechts. Er ertrug einfach nicht die grünlich-bräunliche Farbe, mit der die Wände gestrichen waren. Als er tief durchatmend die Tür des Sitzungszimmers öffnete, waren alle schon versammelt.

Bernhardt kam grundsätzlich zu spät, dann konnte er sich in die zweite Reihe setzen und auf Tauchstation gehen. Cornelia Karsunke hatte ihm einen Platz frei gehalten. Er faltete sich möglichst schnell und unauffällig auf seinem Stuhl zusammen, was aber nichts nutzte.

»Ah, der Herr Erste Kriminalhauptkommissar Bernhardt ist auch schon da. Wie schön.«

Das war der Leiter der Mordkommission, sein Freund, Kollege und gelegentlicher Feind, Karl Freudenreich. Wie Bernhardt hatte er sein Soziologiestudium irgendwann abgebrochen, nach dem Motto »Lieber ein frustrierter Polizist als ein frustrierter Soziologe« bei der Polizei angefangen und sich langsam hochgearbeitet. Im Gegensatz zu Bernhardt hatte er irgendwann Spaß am Karrieremachen bekommen. Er war ein bisschen weniger melancholisch und weniger zynisch als Bernhardt. Als der ihm einmal nach dem fünften Bier vorgeworfen hatte, dass er jetzt endgültig »im [34] System angekommen sei«, hatte Freudenreich eine verblüffende Antwort gegeben: »Früher haben wir für das Gute gekämpft, und wenn wir Pech gehabt hätten, wären wir irgendwann Bombenwerfer geworden oder hätten ein paar Menschen mit Genickschuss getötet. Heute versuchen wir, Regelverletzungen zu verhindern. Ist dir mal aufgefallen, dass viele der Zehn Gebote fordern, dass du etwas nicht tun sollst?« Bernhardt hatte über diesen Satz Freudenreichs immer wieder nachgedacht. Sein anfänglicher Widerspruch hatte langsam nachgelassen. Wahrscheinlich hatte Freudenreich recht: Es ging darum, dass Gewalt nicht stattfand, dass sie verhindert und, falls sie doch ausgeübt worden war, bestraft würde. Ein paar Monate später hatte er Freudenreich eine Karikatur gezeigt: Ein älterer Mann lag da bei einem Psychoanalytiker auf der Couch. In der Sprechblase über seinem grämlichen Gesicht war zu lesen: »Früher wollte ich alles in die Luft sprengen.« Daraufhin der Analytiker sichtbar gelangweilt: »Ja und?« Die Antwort des Mannes: »Jetzt habe ich Angst, dass es einer tut.« Als Bernhardt im Gespräch mit Freudenreich meinte, dass sei inzwischen doch auch ihre Haltung, ganz klar, war Freudenreich leicht errötet, hatte eine wegwerfende Handbewegung gemacht und dann ziemlich verärgert gesagt: »Du bist immer noch der Typ, dem es ums Grundsätzliche geht. Spitz doch nicht alles zu. Sieh’s doch mal so: Wir sind Beamte, wir machen unsere Arbeit.«

»…also, Thomas, du hast ja schon Kontakt mit der Kollegin aus Wien gehabt, Anna Haferl…«

»Habel, Habel.«

»Egal, sie hat mir jedenfalls gesagt, dass sie in Wien schon [35] voll im Einsatz sind. Was haben wir denn bisher im Fall Buch… Buchinger?« Freudenreich blätterte in den Papieren, die vor ihm lagen.

»Pucher, Xaver Pucher. Ich mache mich mit Cornelia und Volker gleich an die Arbeit. Ich geh zu seinem Agenten, Cornelia und Volker werden sein Umfeld in Berlin checken, und Katia beginnt mal, die Namen der Fahrgastliste durch die Datenbanken zu jagen. Und alle einmal mit Xaver Pucher kombiniert durchs Google. Ich weiß, das dauert Stunden, wir versuchen, noch eine Hilfskraft abzustellen.«

Die Sitzung war zu Ende, und alle drängten zum Ausgang, Cornelia Karsunke ging auf Thomas Bernhardt zu und grinste ihn an.

»Schön, dass wir wenigstens auf der Sitzung erfahren haben, worum’s geht. Besser wär’s gewesen, du hättest uns das vorher gesagt.«

»Komm, sei nicht sauer, ich habe doch gerade erst mit der Kollegin aus Wien gesprochen, und die hat sich dann offensichtlich direkt danach an Freudenreich gewendet. So sind sie halt, die Wiener, brauchen eben einen Hofrat, dem sie alles erzählen können.«

Bevor sie wieder in ihre Büros traten, gab auch Cellarius noch ein paar säuerliche Worte von sich, doch am grimmigsten schaute definitiv Katia Sulimma.

»Ihr fahrt ein wenig spazieren, und ich bekomm mal wieder eine Liste, von der ich jetzt schon weiß, dass ich sie ganz umsonst bearbeiten werde.« Sie seufzte und ließ sich in ihren Bürostuhl fallen.

[36] Bernhardt schloss die Bürotür und setzte sich an seinen Schreibtisch. Ein paar Minuten starrte er ins Leere, verfolgte, ohne dass er es merkte, die Regenrinnsale auf dem Fenster, die sich zu immer neuen Mustern formten. Bevor er sich Xaver Pucher zuwenden konnte, galt es, noch eine andere Arbeit zu erledigen. Er musste sich zwingen, die Akten im Fall des Videomörders noch einmal zu öffnen. Das war das Schlimmste, was er je erlebt hatte. Er hatte wirklich ernsthaft überlegt, ob er aufhören sollte. Kloakenreiniger waren sie, nichts anderes, und der Gestank, der sie umgab, würde für immer an ihnen haften bleiben. Endlich begann er, seinen Abschlussbericht zu schreiben. Doch nach den ersten Sätzen schrillte das Telefon. Er las den Absatz zu Ende und ließ es lange klingeln.

»Ja, hier ist die Anna Habel. Schön, dass Sie doch noch rangehen. Arbeitet ihr eigentlich mit Zeitverzögerung in Berlin? Das dauert ja endlos, bis einer abhebt…«

Bernhardt merkte, wie der Jähzorn in ihm hochstieg. So ein blöder Akzent, so ein blödes Getue, was bildete sich diese blöde Wiener Kuh denn ein?

»Was bilden Sie sich denn ein? Endlos. Was haben Sie denn für Vorstellungen? Wenn ihr in Wien so schlecht ermittelt, wie ihr unpräzise vor euch hin quatscht, na dann, gute Nacht. Habt ihr, haben Sie überhaupt den Hauch einer Ahnung…«

Bernhardt merkte, dass er sich verhedderte, und wurde noch wütender, was Anna die Chance gab einzuhaken.

»Sorry.«

»Ja, sorry, sorry. Was Besseres fällt Ihnen auch nicht ein. Also, was ist?«

[37] »Wir haben jetzt den Namen seiner Berliner Freundin, besser gesagt: seiner Hauptfreundin. Es scheint nämlich mehrere Nebenfreundinnen zu geben. Aber ich will Sie ja nicht überlasten. Der Name der Hauptfreundin: Miriam Schröder. Soll ich das wieder buchstabieren? Und dann die Adresse: Hufelandstraße 57. Soll Prenzlauer Berg sein.«

»Wo auch sonst. Gut, vielen Dank.«

Es ärgerte Thomas Bernhardt, wenn sein Jähzorn zu schnell in sich zusammensackte, wie gerade jetzt. Das wirkte dann so, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Und wenn er es sich genau überlegte: So war es ja auch.

»Ja also, jetzt seins’ mir net bös. Wir telefonieren heut Abend, wie verabredet, ja?«

Na warum denn plötzlich so zuckersüß, Frau Kollegin, sagte Bernhardt zu sich selbst. Sollte die gute Anna auch ein schlechtes Gewissen haben, a bisserl wenigstens?

[38] 5

Als Anna ihr seltsames Telefonat mit diesem Berliner Kommissar hinter sich gebracht hatte, saß sie lange auf ihrem Schreibtischstuhl und malte gedankenverloren Strichmännchen und Buchstaben auf ihre Schreibtischunterlage. Es gab mehr als genug zu tun, doch sie wusste, wenn sie jetzt zum Hörer griff und alles in Gang setzte, dann würden sich die Dinge überstürzen und das Chaos über sie hereinbrechen. Sie wollte sich wenigstens noch ein paar Minuten Zeit zum Nachdenken gönnen.

Anna blätterte in ihrem Tischkalender, der wie jedes Jahr von der Wiener Städtischen Versicherung gestiftet und von Anna, die jeglicher Form von elektronischen Notizbüchern zutiefst misstraute, heftig vollgekritzelt war, und fand den gesuchten Eintrag rasch: Donnerstag, 25.Mai, 20Uhr, Buchhandlung Wallner – Xaver Pucher. Da hatte sie den jungen Autor kennengelernt, und jetzt lag er quasi tot vor ihr auf dem Tisch.

Sie ging zu Kolonja ins Nebenzimmer, nahm den Besucherstuhl aus der Ecke und stellte ihn mitten ins Zimmer.

»Mein Gott, ist das ordentlich bei dir!«

Anna betrachtete die penibel aufgeräumte Schreibtischplatte, die in gleichmäßigem Abstand das Fensterbrett schmückenden Kakteen und die Pinnwand, an der [39] geometrisch angeordnet einige Post-its und der Wochenspeiseplan der Kantine hingen.

»Ja, ich weiß. Bei dir könnte man sich nicht so einfach auf den Stuhl setzen. Aber kommst du deswegen rüber? Suchst du Asyl?«

»Nein. Natürlich nicht. Ich wollte dir was erzählen.«

»Ja?«

»Ich kannte den Toten.«

»Ja, das sagtest du bereits. Er war ja angeblich berühmt.«

»Nein, ich meine, ich kannte ihn persönlich.«

»Echt? Wie gut?« Kolonja zog die linke Augenbraue hoch und lehnte sich erwartungsvoll nach vorne. »Der war doch viel jünger als du!«

»Nein, doch nicht so. Was glaubst du denn?! Ich war mal bei einer Lesung.«

»Ah so.«

Kolonjas Aufmerksamkeit sank rasch wieder.

»Nein, aber hör zu, das war trotzdem echt interessant. Er wurde nämlich vom Staatsschutz bewacht.«

»Warum das denn?«

»Weil irgend so eine dubiose Islamistengruppe Morddrohungen gegen ihn ausgestoßen hatte.«

»Mein Gott. Ist das womöglich was Politisches? Al Kaida nicht auf einem der internationalen Flughäfen, sondern im Zug durchs Weinviertel?«

»Nein, das glaub ich nicht. Aber verfolgen müssen wir die Spur trotzdem.«

»Und wie war er so, der große Star? Hast sein Buch auch gelesen?«

[40] Es war einer ihrer seltenen freien Abende gewesen, und Andrea hatte sie dazu überredet, eine Lesung des Jungstars in einer großen Wiener Buchhandlung zu besuchen: Xaver Pucher sollte aus seinem neuen Buch Herodots wilde Reisen lesen. Bis dahin hatte es schon so viel lobhudelnde Kritik über das Buch des jungen Autors gegeben, dass ihr schon ganz die Lust vergangen war, es zu lesen, obwohl es seit drei Wochen auf ihrem Nachttisch lag. Als sie es kurz nach Erscheinen in ihrer Stammbuchhandlung erstanden hatte, hatte die Buchhändlerin gelacht. »Na, da bin ich ja mal gespannt.«

Sie hatten einen sehr ähnlichen Buchgeschmack, und Anna hielt sich meist an die Empfehlungen des Teams des kleinen Ladens in ihrem Wohnviertel.

»Wieso, ist es nicht gut?«

»Na ja, gut ist es schon. Irgendwie zu gut. Fast ein wenig zu perfekt. Ich hätte es Ihnen jedenfalls nicht empfohlen, aber ich freue mich schon, mich mit Ihnen darüber zu unterhalten.«

Und dann lag das Ding wie Blei zu Hause, sie hatte die Plastikfolie abgemacht und mit angehaltenem Atem die erste Seite gelesen – sie liebte dieses Gefühl, ein neues Buch aufzuschlagen –, doch irgendetwas hatte sie dann abgelenkt, und seitdem war sie nicht weitergekommen.

Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, die Lesung zu besuchen, das würde sie bestimmt zur Lektüre animieren, hatte Anna nach dem Anruf von Andrea gedacht.

Andrea war dann wie so oft zu spät gekommen. Sie hatten gerade noch Zeit gehabt, einen schnellen Kaffee gemeinsam zu trinken, dann rannten sie die Wollzeile hoch zur [41] Buchhandlung. Wie immer bei solchen Veranstaltungen bestand das Publikum hauptsächlich aus Frauen mittleren Alters, die bereits eifrig die vorderen Reihen besetzt hielten. Wenige Männer verteilten sich im Raum, ganz hinten standen drei farblose Schnauzbärte, uninteressiert und dennoch aufmerksam, eindeutig Kollegen von der Staatspolizei. Anna war etwas irritiert, widerstand aber dem Impuls, mit ihnen zu sprechen. Die drei kannten sie entweder nicht oder versuchten, sie erfolgreich zu ignorieren.

Nachdem Andrea die anwesenden Buchhändler und Verlagsleute begrüßt hatte, setzten sie sich an den Rand und warteten auf den Auftritt des jungen Autors. Eine etwas langweilige Verlagsmitarbeiterin hielt eine kurze Einleitung, sie sprach vom magischen Moment, wenn man als Lektorin ein Manuskript in den Händen hält, die ersten Seiten liest und den Atem anhält. Da kann Herr Pucher ja froh sein, dass nicht ich seine Lektorin war, dachte Anna und betrachtete den blassen jungen Mann, der nervös in seinem Buch blätterte und die Augen immer nur kurz auf sein Publikum richtete. Doch als er zu lesen begann, war seine Stimme überraschend fest, routiniert trug er ein paar perfekt zusammengestellte Passagen vor, die Artikulation ein wenig übertrieben, wie ein Burgtheaterschauspieler, der seine Rolle etwas zu gut auswendig gelernt hatte. Gar nicht schlecht. Doch den langanhaltenden Applaus, der einsetzte, nachdem Xaver Pucher sein Publikum mit einem Augenaufschlag und einem gehauchten »Danke« bedacht hatte, fand Anna dann doch etwas übertrieben. Als sich im Anschluss an die Lesung vor dem Tisch des Autors eine lange Schlange bildete – ausschließlich Leserinnen, die ihre [42] Bücher signiert haben wollten –, zog Andrea sie am Ärmel: »Komm, wir gehen noch ins Büro ein Glas Wein trinken, dann kannst du noch ein wenig mit dem Autor plaudern.«

Da stürmte auch schon der sogenannte Eventmanager auf sie zu, begrüßte Andrea mit Küsschen links, Küsschen rechts, während er bei Anna einen Handkuss andeutete.

»Küss die Hand, Frau Inspektor, das freut mich aber, dass Sie sich auch mal wieder zu uns verirren, da hätten wir uns Ihre Kollegen vom Staatsschutz ja sparen können.«

»Grüß Sie, Herr Herzog, ja, ich hab mich auch schon gewundert über dieses Literaturinteresse der Kollegen da draußen, so wichtig ist Herr Pucher doch wohl noch nicht?«

»Wir wollten das nicht an die große Glocke hängen, aber wir haben eine Drohung erhalten.« Herzogs Augen glänzten vor Freude, mit so einer Sensation aufwarten zu können.

»Eine Drohung? Von wem? Von einem eifersüchtigen Schriftstellerkollegen? Vom Autorenverband, mit dem es sich der Pucher verscherzt hat, oder gar vom Grünanger Verlag, den er so schmählich im Stich gelassen hat?« Andrea machte sich sichtlich lustig über Herzogs geheimnisvolle Wichtigtuerei.

»Na, die Damen haben wohl beide den Roman nicht gelesen. Da gibt’s ein paar Stellen, die finden unsere islamischen Brüder nicht gut. Sie fühlen sich mal wieder in ihrer Würde verletzt. – Ah, Herr Pucher, wunderbar, ganz toll, die Leute sind hingerissen! Wollen Sie ein Glas Wein?«

Xaver Pucher war vom Geschäftsführer ins Büro geleitet worden, er schwitzte stark und sah deutlich älter aus als auf den Pressefotos des Verlags.

»Darf ich Sie bekannt machen: Andrea Ringhofer, [43] Vertreterin Ihres größten Konkurrenzverlages – und Anna Habel, sie ist Chefinspektor bei der Kriminalpolizei, Mordkommission, aber sehr belesen, sehr belesen.«

Xaver Pucher reichte ihr förmlich die Hand, deutete eine kleine Verbeugung an. »Ist das nicht eine ungewöhnliche Kombination, eine literaturinteressierte Polizistin?«