Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 5: Die Gefangene - Marcel Proust - E-Book

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 5: Die Gefangene E-Book

Marcel Proust

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Beschreibung

Nach seinem zweiten Sommer in Balbec, wo er Albertine wiedergetroffen hatte und zu der Einsicht gelangt war: "Eine Heirat mit Albertine erschien mir als eine Torheit"? wenig später jedoch beschlossen hatte: "Es ist absolut notwendig, dass ich Albertine heirate" (mit diesen Worten endet Band 4), ist Marcel wieder in Paris. Er quartiert, während die Eltern noch abwesend sind und Françoise wie gewohnt den Haushalt versieht, Albertine bei sich ein, um sie besser vor ihren dunklen Trieben schützen zu können. Das Zusammenleben gestaltet sich zum Teil heiter-erotisch, so in der anspielungsreichen Passage über Pariser Händlerrufe, teils intellektuell anspruchsvoll, so in den Gesprächen über neuere europäische Literatur; in weiten Teilen dagegen ist es von den psychologisch tiefgründigen, quälenden Nachforschungen des Erzählers über das Tun und Lassen Albertines geprägt, wie man sie schon bei Swanns Ausforschungen Odettes in "Eine Liebe von Swann" (in Band 1) kennengelernt hat, die dann auch in fast vorhersagbarer Weise zur Flucht des angeblich so losen Vogels aus seinem goldenen Käfig führen. Im September 2013, 100 Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes der "Recherche"? begann bei Reclam mit "Auf dem Weg zu Swann" eine neue Übersetzung von Marcel Prousts Meisterwerk zu erscheinen, die erste komplett aus einer Hand, die erste auch, die von dem erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts edierten endgültigen französischen Text ausgeht. " Die Gefangene " ist der fünfte Band des insgesamt siebenbändigen Romanwerks. Die Ausgabe bietet in jedem Band einen ausführlichen Anmerkungsapparat, der jene historischen und kulturhistorischen Informationen enthält, die der moderne Leser erwartet. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 1121

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Marcel Proust

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Band 5 Die Gefangene(Erster Teil von Sodom und Gomorrha III)

Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer

Reclam

2015 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2017

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960851-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-010904-5

www.reclam.de

[5] Inhalt

Die Gefangene

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Anhang

Zum fünften Band der Ausgabe

Anmerkungen

Literaturhinweise

Inhaltsübersicht

Namenverzeichnis

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

[7]Erstes Kapitel*

Gemeinsames Leben mit Albertine.

Gleich morgens, mit dem Kopf noch zur Wand und noch ehe ich gesehen hatte, wie der Lichtstreifen über den hohen Fenstervorhängen gefärbt war, wusste ich bereits, was für ein Wetter herrschte. Die ersten Geräusche von der Straße hatten mir das mitgeteilt, je nachdem, ob sie von der Feuchtigkeit gedämpft und verzerrt oder aber vibrierend wie Pfeile durch den hallenden leeren Raum eines weit offenen, eisigen, klaren Morgens zu mir drangen; schon an dem Rollen der ersten Trambahn hatte ich gehört, ob sie im Regen fröstelte oder ins Blaue aufbrach. Und vielleicht war diesen Geräuschen selbst irgendein schnelleres, durchdringen­deres Ausströmen vorausgegangen, das durch meinen Schlaf glitt und darin die traurige Ankündigung von Schnee verbreitete oder eine bestimmte kleine Mittelsperson zum Ruhme der Sonne darin so zahlreiche Lobgesänge anstimmen ließ, dass diese schließlich für mich, der ich noch im Schlaf zu lächeln begann und dessen geschlossene Lider sich darauf vorbereiteten, geblendet zu werden, in ein ohrenbetäubendes musikalisches Wecken übergingen. Im übrigen nahm ich zu jener Zeit das Leben draußen vor allem von meinem Zimmer aus wahr. Ich weiß noch, dass Bloch erzählte, er habe, wenn er mich abends besuchen wollte, jemanden sprechen gehört; da sich meine Mutter in Combray befand und er niemals jemanden in meinem Zimmer antraf, kam er zu dem Schluss, ich hielte Selbstgespräche. Als er viel später erfuhr, dass Albertine damals bei mir wohnte, und begriff, dass ich sie vor aller Welt versteckt hatte, erklärte er, dass er nun endlich den Grund sehe, weshalb ich zu jener Zeit meines Lebens nie hatte ausgehen wollen. Er täuschte sich. Das konnte man ihm allerdings verzeihen, denn die Wirklichkeit [8] ist, selbst wo sie sich zwangsläufig ergibt, niemals vollkommen vorhersehbar, und diejenigen, die über das Leben eines anderen irgendeine Einzelheit erfahren, ziehen daraus umgehend Folgerungen, die gar keine sind, und sehen in der neuentdeckten Tatsache die Erklärung für Dinge, die in keinerlei Zusammenhang mit ihr stehen.

Wenn ich jetzt daran denke, dass meine Freundin seit unserer Rückkehr aus Balbec in Paris unter dem gleichen Dach gelebt hat wie ich, dass sie den Gedanken aufgegeben hatte, eine Kreuzfahrt zu machen, dass sie ihr Zimmer zwanzig Schritte von dem meinen hatte, am Ende des Korridors, in dem mit Wandteppichen ausgekleideten Arbeitszimmer meines Vaters, und dass sie jeden Abend, sehr spät, bevor sie mich verließ, ihre Zunge in meinen Mund gleiten ließ wie das täglich Brot, wie eine kräftigende Nahrung und mit dem fast geheiligten Charakter allen Fleisches, dem die Leiden, die wir um seinetwillen erduldeten, schließlich eine Art moralischer Süße verliehen haben, dann fällt mir sofort als Vergleich nicht etwa jene Nacht ein, die ich mit Erlaubnis des Rittmeisters von Borodino in der Kaserne verbringen durfte als eine Gunst, die letztlich nur einem vorübergehenden Unwohlsein abhalf, sondern jene, in der mein Vater Maman in dem kleinen Bett neben meinem eigenen schlafen hieß. Wenn uns das Leben einmal mehr von einem Leiden verschonen soll, das unvermeidlich erschien, so tut es dies unter so verschiedenen, manchmal derart entgegengesetzten Umständen, dass schon fast ein Frevel darin zu liegen scheint, die Gleichartigkeit der jeweils gewährten Gnade festzustellen!

Wenn Albertine von Françoise erfahren hatte, dass ich in der Nacht meines Zimmers mit den noch geschlossenen Vorhängen nicht mehr schlief, genierte sie sich nicht, in ihrem Badezimmer ein wenig Lärm beim Baden zu machen. Dann ging ich oft, statt [9] abzuwarten, bis sie fertig wäre, in ein anderes Badezimmer, das gleich neben ihrem lag und ein angenehmer Aufenthaltsort war. Früher verauslagte ein Theaterdirektor Hunderttausende von Franc, um den Thron, auf dem die Diva eine Kaiserin spielte, mit echten Smaragden zu besetzen. Die Russischen Ballette haben uns gezeigt, dass ein einfaches Lichterspiel, lässt man es an der richtigen Stelle erscheinen, ebenso prachtvolle und noch vielfältigere Juwelen hervorbringt. Dieses schon weniger substantielle Dekor ist aber dennoch nicht so anmutig wie jenes, mit dem die Sonne um acht Uhr morgens dasjenige ersetzte, das wir für gewöhnlich dort sahen, wenn wir erst gegen Mittag aufstanden. Die Fenster unserer beiden Badezimmer waren, damit man uns nicht von draußen sehen konnte, nicht glatt, sondern mit einem künstlichen, altmodischen Rauhreif überzogen. Die Sonne färbte mit einem Mal diesen gläsernen Mousselin gelb ein, vergoldete ihn, legte behutsam in mir einen früheren, jungen Mann frei, den die Gewohnheit seit langem verborgen hatte, und machte mich trunken von Erinnerungen, als befände ich mich in der freien Natur vor goldenem Laubwerk, das nicht einmal einen Vogel vermissen ließ. Denn ich hörte Albertine in einem fort pfeifen:

Les douleurs sont des folles,

Et qui les écoute est encor plus fou.*

Ich liebte sie zu sehr, um nicht über ihren schlechten Musikgeschmack vergnügt zu lächeln. Von diesem Lied war übrigens Madame Bontemps im vergangenen Sommer ganz hingerissen gewesen, hatte dann aber bald gehört, dass es für eine Schnulze gehalten wurde, weshalb sie Albertine nicht mehr bat, es zu singen, wenn sie Gäste hatte, sondern es durch

[10] Une chanson d’adieu sort des sources troublées*

ersetzte, das seinerseits bald zu einem »alten Gassenhauer von Massenet« wurde, »mit dem die Kleine uns in einem fort die Ohren vollquakt«.

Eine Wolke zog vorbei, verdunkelte die Sonne, ich sah den keuschen, beblätterten Glasvorhang erlöschen und wieder zu einem Grau in Grau werden.

Die Zwischenwand, die unsere beiden Badezimmer trennte (das von Albertine, das ganz dem meinen glich, war eines, das Maman, die noch ein anderes am anderen Ende der Wohnung hatte, niemals benutzte, um mich nicht durch Geräusche zu stören), war so dünn, dass wir, während wir uns jeweils in unserem eigenen wuschen, miteinander sprechen und, nur vom Plätschern des Wassers unterbrochen, eine Unterhaltung in jener Intimität führen konnten, wie sie in Hotels häufig die Enge der Zimmer und die Nähe der Räume zueinander ermöglicht, die in Paris jedoch äußerst selten ist.

Manchmal auch blieb ich im Bett liegen und träumte so lange vor mich hin, wie ich wollte, denn man hatte Anweisung, niemals in mein Zimmer zu kommen, bevor ich geläutet hatte, was aber, da der Klingelknopf so unbequem über meinem Bett angebracht worden war, so lange dauerte, dass ich es oft leid wurde, zu versuchen sie zu erreichen, und zufrieden, allein zu sein, noch einige Augenblicke liegen blieb und fast wieder einschlief. Nicht etwa, dass ich völlig gleichgültig gegenüber Albertines Aufenthalt bei uns gewesen wäre. Die Trennung von ihren Freundinnen bewirkte, dass meinem Herzen neue Leiden erspart blieben. Sie beließ es in einem Zustand der Stille, einer Unbeweglichkeit nahezu, die ihm helfen würden zu gesunden. Doch letztlich war die Ruhe, die meine Freundin mir verschaffte, eher nur eine Linderung des Leidens [11] denn eine Freude. Nicht, dass sie mir nicht ermöglicht hätte, auch davon die eine oder andere zu genießen, die der allzu lebhafte Schmerz mir verschlossen hatte, doch diese Freuden, die nicht im entferntesten Albertine zu verdanken waren, die ich übrigens nicht einmal mehr hübsch fand und mit der ich mich langweilte, von der ich das deutliche Gefühl hatte, sie nicht mehr zu lieben, diese genoss ich ganz im Gegenteil dann, wenn Albertine nicht bei mir war. Deshalb ließ ich sie auch, um den Morgen zu beginnen, nicht sofort rufen, vor allem, wenn schönes Wetter war. Einige Augenblicke lang blieb ich in dem Bewusstsein, dass sie mich glücklicher machen würde als Albertine, allein mit der kleinen inneren Person, die singend die Sonne begrüßte und die ich bereits erwähnt habe. Von denjenigen, aus denen sich unsere Individualität zusammensetzt, sind es nicht die auffälligsten, die uns am wichtigsten sind. In mir werden, wenn die Krankheit eine nach der anderen zu Boden geworfen hat, zwei oder drei übrig bleiben, die ein zäheres Leben haben als die anderen, insbesondere ein gewisser Philosoph, der erst glücklich ist, wenn er zwischen zwei Werken oder zwei Wahrnehmungen eine Gemeinsamkeit entdeckt hat. Doch oft habe ich mich gefragt, ob der letzte von allen nicht das kleine Männlein sein wird, das so sehr jenem anderen ähnelt, das der Optiker von Combray in sein Schaufenster gestellt hatte, damit es das Wetter anzeigt, und das seine Kapuze abstreifte, sobald es sonnig wurde, und sie wieder aufsetzte, wenn es anfing zu regnen. Ich kannte den Egoismus dieses kleinen Männleins; ich mag getrost an einem Erstickungsanfall leiden, den allein einsetzender Regen beruhigen würde, darum schert er sich nicht, und bei den ersten so sehnsüchtig erwarteten Tropfen kommt ihm seine Heiterkeit abhanden, nur übellaunig setzt er seine Kapuze wieder auf. Umgekehrt bin ich davon überzeugt, dass in meiner Todesstunde, wenn alle meinen anderen Ichs schon gestorben sein werden, dieses Barometer- [12] Männlein, wenn zufällig ein Sonnenstrahl hereinfällt, während ich meinen letzten Seufzer ausstoße, sich pudelwohl fühlen und seine Kapuze abstreifen wird, um singend auszurufen: »Ah!, endlich wird es schön.«

Ich läutete nach Françoise. Ich schlug den Figaro auf. Ich suchte darin vergeblich nach einem Artikel – oder was ich dafür hielt –, den ich an diese Zeitung geschickt hatte und der nichts anderes war als der geringfügig redigierte, erst kürzlich wiedergefundene Text über die Glockentürme von Martinville, den ich damals im Wagen von Doktor Percepied geschrieben hatte. Dann las ich den Brief von Maman. Sie fand es absonderlich und schockierend, dass ein junges Mädchen allein mit mir zusammenwohnte. Am ersten Tag, in dem Augenblick, in dem sie Balbec verließ, als sie mich so unglücklich gesehen hatte und beunruhigt darüber war, mich allein zu lassen, war meine Mutter womöglich froh gewesen, als sie erfuhr, dass Albertine mit uns abreiste, und sah, dass man in die Achterbahn neben unseren eigenen Koffern (jenen, neben denen ich die Nacht im Hotel von Balbec weinend verbracht hatte) auch Albertines schmale, schwarze Koffer verladen hatte, die mir die Form von Särgen zu haben schienen und von denen ich nicht wusste, ob sie das Leben oder den Tod ins Haus bringen würden. Doch das hatte ich mich nicht einmal gefragt, so voller Freude war ich darüber, nach dem Grauen bei dem Gedanken, in Balbec bleiben zu müssen, Albertine an diesem strahlenden Morgen zu entführen. Doch wenn auch meine Mutter diesem Vorhaben anfangs nicht ablehnend gegenübergestanden hatte (sie sprach so sanft zu meiner Freundin wie eine Mutter, deren Sohn schwer verwundet wurde und die seiner jungen Geliebten dankbar ist, dass sie ihn so hingebungsvoll pflegt), so tat sie es doch zunehmend, seit es nur allzu sehr Wirklichkeit geworden war und sich der Aufenthalt des jungen Mädchens bei uns hinzog, zudem in Abwesenheit meiner [13] Eltern. Von dieser Ablehnung kann ich nicht einmal sagen, dass meine Mutter sie mich jemals hätte merken lassen. Wie früher, als sie mir nicht mehr meine Nervosität und meine Trägheit vorzuwerfen wagte, hatte sie jetzt Bedenken – die ich in dem Augenblick vielleicht nicht erkannte oder nicht erkennen wollte – zu riskieren, dass sie mit Vorbehalten gegen das junge Mädchen, von dem ich ihr gesagt hatte, dass ich mich mit ihm verloben wolle, mein Leben verdüstern, meine zukünftige Ergebenheit gegenüber meiner Frau vermindern, womöglich gar für die Zeit, wenn sie selbst nicht mehr wäre, den Keim der Reue darüber anlegen könnte, ihr durch die Heirat mit Albertine weh getan zu haben. Maman zog es vor, dem Anschein nach eine Wahl zu billigen, von der sie das Gefühl hatte, dass sie mich nicht davon würde abbringen können. Doch alle, die sie zu jener Zeit gesehen haben, haben mir gesagt, dass zu ihrem Schmerz, ihre Mutter verloren zu haben, noch ein Ausdruck von ständiger Besorgnis hinzutrat. Diese geistige Anspannung, dieser innere Zwiespalt hatten bei Maman einen Hitzestau in den Schläfen zur Folge, und sie öffnete ständig die Fenster, um sich abzukühlen. Doch einen Entschluss zu fassen gelang ihr nicht, aus Angst, mich in einem ungünstigen Sinn zu »beeinflussen« und mir das zu vergällen, was sie für mein Glück hielt. Sie konnte sich nicht einmal dazu durchringen, mich daran zu hindern, Albertine vorläufig im Haus zu behalten. Sie wollte sich nicht als strenger erweisen als Madame Bontemps, die das vor allem anging und die zur großen Verwunderung meiner Mutter nichts Ungehöriges daran fand. In jedem Fall aber bedauerte sie, uns beide allein lassen zu müssen, indem sie gerade in diesem Augenblick nach Combray abreiste, wo sie viele Monate würde bleiben müssen (und in der Tat blieb), während deren meine Großtante sie pausenlos, Tag und Nacht brauchen würde. Dort wurde ihr übrigens dank der Güte und Ergebenheit Legrandins alles leichtgemacht, der keine Mühe [14] scheute und seine Rückkehr nach Paris von Woche zu Woche aufschob, ohne meine Tante recht eigentlich zu kennen, sondern einfach, weil sie zum einen eine Freundin seiner Mutter gewesen war, und dann, weil er spürte, dass die todgeweihte Kranke seine Fürsorge schätzte und nicht auf ihn verzichten konnte. Der Snobismus ist zwar eine ernsthafte Erkrankung der Seele, doch eine lokale, die sie nicht ganz und gar verdirbt. Ich allerdings war, im Gegensatz zu Maman, äußerst glücklich über ihren vorübergehenden Aufenthalt in Combray, ohne den ich hätte befürchten müssen, dass sie hinter Albertines (da ich diese schlecht bitten konnte, es zu verheimlichen) Freundschaft mit Mademoiselle Vinteuil kommen würde. Dies wäre für meine Mutter ein absolutes Hindernis nicht nur für eine Heirat gewesen – über die mit meiner Freundin noch nicht in endgültigen Begriffen zu sprechen sie mich übrigens gebeten hatte und an die zu denken mir immer unerträglicher wurde –, sondern auch dafür, dass sie überhaupt einige Zeit in unserem Haus verbrachte. Außer bei einem so schwerwiegenden Grund, von dem sie nichts wusste, war Maman durch die doppelte Wirkung des erhebenden und befreienden Beispiels meiner Großmutter einerseits, die George Sand bewunderte und für die die Tugend ausschließlich im Adel des Herzens bestand, und meines eigenen verderblichen Einflusses andererseits inzwischen nachsichtig mit Frauen, deren Lebensweise sie früher oder auch heute noch, hätte es sich um bürgerliche Freundinnen aus Paris oder Combray gehandelt, streng beurteilt hätte, deren große Seelen ich ihr gegenüber aber rühmte und denen sie viel vergab, weil sie mich gernhatten. Dennoch und sogar jenseits der Frage der Schicklichkeit glaube ich, dass Albertine unerträglich gewesen wäre für Maman, die aus Combray, von meiner Tante Léonie und allen ihren Verwandten her, Ordnungsvorstellungen beibehalten hatte, von denen meine Freundin nicht ansatzweise eine Ahnung hatte. Sie hätte [15] niemals eine Tür hinter sich geschlossen und hätte sich umgekehrt nicht gescheut, wie sonst nur ein Hund oder eine Katze durch jede Tür einzutreten, die offen stand. Ihr etwas lästiger Charme bestand also darin, im Haus weniger wie ein junges Mädchen als wie ein Haustier anwesend zu sein, das in den Räumen ein- und ausgeht, sich überall aufhält, wo man es nicht erwartet, und das sich – was für mich eine tiefe Ruhe bedeutete – auf mein Bett neben mich warf, sich dort ein Plätzchen bereitete, von dem sie sich nicht mehr wegrührte, und zwar ohne zu stören, wie es bei einer Person der Fall gewesen wäre. Trotzdem stellte sie sich schließlich auf meine Schlafenszeiten ein, indem sie nicht nur nicht mehr versuchte, in mein Zimmer zu kommen, sondern auch keinen Lärm mehr machte, bevor ich geklingelt hatte. Françoise hatte sie diesen Regeln unterworfen. Sie war einer dieser Dienstboten aus Combray, die den Rang ihres Herrn kennen und wissen, dass das Mindeste, was sie tun können, darin besteht, ihm in vollem Umfang zukommen zu lassen, was ihm nach ihrer Ansicht gebührt. Wenn ein fremder Besucher Françoise ein Trinkgeld gab, das sie mit dem Küchenmädchen teilen sollte, so hatte der Spender noch kaum sein Geldstück überreichen können, als Françoise auch schon ebenso geschwind wie diskret und energisch das Küchenmädchen beiseitenahm, das sich dann nicht halblaut murmelnd bedankte, sondern so offen und klar, wie es sich schickte und wie Françoise es ihm beigebracht hatte. Der Pfarrer von Combray war kein großer Geist, aber auch er wusste, was sich gehört. Unter seiner Anleitung war die Tochter protestantischer Cousins der Madame Sazerat zum Katholizismus übergetreten, und ihre Familie hatte sich mustergültig ihr gegenüber verhalten. Dann stellte sich die Frage einer Heirat mit einem Adligen aus Méséglise. Die Eltern des jungen Mannes schrieben, um Erkundigungen einzuziehen, einen ziemlich hochmütigen Brief, in dem vor allem die protestantische [16] Herkunft herabgesetzt wurde. Der Pfarrer von Combray antwortete in einem solchen Ton, dass der Adlige aus Méséglise einen weiteren, ganz anderen Brief schrieb, in dem er tief betrübt und kniefällig als allerköstlichste Gunst erflehte, sich mit dem jungen Mädchen verbinden zu dürfen.

Es lag kein besonderes Verdienst Françoises darin, dass sie Albertine lehrte, meinen Schlaf zu respektieren. Sie war von dieser Tradition durchtränkt. An ihrem beharrlichen Schweigen oder der kurzangebundenen Antwort auf den Vorschlag, mein Zimmer zu betreten oder mich etwas fragen zu lassen, den Albertine ganz unschuldig vorgebracht hatte, merkte diese verblüfft, dass sie sich in einer fremden Welt mit unbekannten Bräuchen befand, deren Lebensweise Gesetzen unterlag, an deren Übertretung gar nicht zu denken war. Sie hatte davon schon einen ersten Vorgeschmack in Balbec bekommen, doch in Paris versuchte sie nicht einmal, sich zu widersetzen, und wartete jeden Morgen geduldig mein Läuten ab, bevor sie es wagte, Geräusche zu machen.

Die Erziehung, die Françoise ihr angedeihen ließ, war übrigens auch für unsere alte Dienerin selbst sehr heilsam, weil sie nach und nach die Seufzer zum Verstummen brachte, die sie seit der Rückkehr aus Balbec pausenlos ausstieß. Denn in dem Augenblick, in dem wir die Tram bestiegen, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, sich von der »Gouvernante« des Hotels zu verabschieden, einer schnurrbärtigen Person, die den Etagendienst überwachte und Françoise kaum kannte, jedoch immer verhältnismäßig höflich zu ihr gewesen war. Françoise wollte partout umkehren, sie wollte aus der Tram aussteigen, ins Hotel zurückeilen, sich von der Gouvernante verabschieden und erst am nächsten Tag reisen. Weisheit und vor allem mein Grauen vor Balbec hielten mich davon zurück, ihr diese Gunst zu gewähren, aber sie hatte sich dadurch eine krankhafte, fiebrig schlechte Laune zugezogen, die auch die [17] Luftveränderung nicht zum Verschwinden zu bringen vermocht hatte und die auch in Paris noch anhielt. Denn nach dem Kodex von Françoise, den die Flachreliefs von Saint-André-des-Champs anschaulich darstellen, ist es nicht verboten, den Tod eines Feindes herbeizusehnen oder gar herbeizuführen, jedoch ein Greuel, nicht zu tun, was sich gehört, eine Höflichkeit nicht zu erwidern, sich wie ein echter Rüpel nicht vor der Abreise von einer Etagen-Gouvernante zu verabschieden. Während der ganzen Fahrt ließ die unablässig wiederkehrende Erinnerung daran, dass sie dieser Frau nicht Lebewohl gesagt hatte, eine Röte in Françoises Wangen aufsteigen, die einen beängstigen konnte. Und wenn sie sich den ganzen Weg bis Paris weigerte, etwas zu essen oder zu trinken, dann womöglich mehr noch, weil sich ihr diese Erinnerung »wie ein Stein auf den Magen legte« (jede soziale Schicht hat ihre eigene Pathologie), denn um uns zu bestrafen.

Zu den Gründen, weshalb Maman mir jeden Tag einen Brief schrieb, und zwar einen Brief, in dem niemals irgendein Zitat von Madame de Sévigné fehlte, gehörte die Erinnerung an meine Großmutter. Maman schrieb mir: »Madame Sazerat hat für uns eines dieser kleinen Essen gegeben, deren Geheimnis nur sie kennt und die, wie Deine arme Großmutter mit einem Zitat von Madame de Sévigné gesagt haben würde, uns der Einsamkeit entreißen, ohne uns in Gesellschaft zu bringen.« In meinen ersten Antworten besaß ich die Einfalt, Maman zu schreiben: »An diesen Zitaten würde Deine Mutter Dich sofort erkennen.« Was mir drei Tage später diesen Rüffel eintrug: »Mein lieber Sohn, solltest Du die Absicht gehabt haben, mir gegenüber von meiner Mutter zu sprechen, so berufst Du Dich sehr zu Unrecht auf Madame de Sévigné. Sie hätte Dir geantwortet, wie sie es auch gegenüber Madame de Grignan getan hat: ›Hat sie Ihnen denn nichts bedeutet? Ich dachte, Sie seien verwandt.‹«*

[18]Indessen hörte ich die Schritte meiner Freundin, die aus ihrem Zimmer kam oder dorthin zurückkehrte. Ich klingelte, denn es war die Uhrzeit, zu der Andrée mit dem von Madame Verdurin zur Verfügung gestellten und mit Morel befreundeten Chauffeur kommen sollte, um Albertine abzuholen. Ich hatte mit dieser über die entfernte Möglichkeit einer Ehe mit ihr gesprochen; aber niemals in aller Form; sie selbst hatte, als ich sagte: »Ich weiß nicht, aber es wäre vielleicht möglich«, zurückhaltend mit einem melancholischen Lächeln den Kopf geschüttelt und geantwortet: »Aber nein, das wäre es nicht«, was bedeutete: »Ich bin zu arm.« Und obwohl ich weiterhin sagte: »Nichts ist weniger gewiss«, wenn es sich um Zukunftspläne handelte, tat ich momentan alles, um sie zu zerstreuen, ihr das Leben angenehm zu machen, und versuchte vielleicht auch unbewusst, damit in ihr den Wunsch nach einer Heirat mit mir wachzurufen. Sie lachte selbst über all diesen Luxus: »Andrées Mutter würde Augen machen, wenn sie sehen könnte, dass ich eine reiche Dame geworden bin wie sie selbst, das, was sie eine Dame ›mit Pferden, Wagen und Gemälden‹ nennt. Wie, habe ich Ihnen nie erzählt, dass sie das gesagt hat? Oh, die ist eine Marke! Was mich wundert, ist, dass sie Gemälden denselben Rang wie Pferden und Wagen zugesteht.«

Denn man wird später sehen, dass sich Albertine trotz einfältiger Sprachgewohnheiten, die ihr geblieben waren, erstaunlich entwickelt hatte, was mir aber völlig gleichgültig war, denn geistige Überlegenheit von Frauen hat mich immer so wenig interessiert, dass es aus reiner Höflichkeit geschah, wenn ich einmal die eine oder andere darauf hinwies. Einzig das sonderbare Genie von Céleste* hätte mir vielleicht gefallen können. Ich musste unwillkürlich einen Augenblick darüber lächeln, wie sie zum Beispiel die Gelegenheit wahrnahm, dass Albertine nicht da war, um mich mit diesen Worten anzusprechen: »Gottheit vom Himmel, abgelagert auf [19] einem Bett!« Ich erwiderte darauf: »Aber hören Sie, Céleste, wieso denn ›Gottheit vom Himmel‹?« – »Oh, wenn Sie meinen, Sie hätten etwas mit denen gemein, die auf unserer elenden Erde wandeln, dann täuschen Sie sich aber gewaltig!« – »Und wieso ›abgelagert‹ auf einem Bett? Sie sehen doch, dass ich mich nur hingelegt habe.« – »Sie legen sich niemals nur hin. Hat man schon jemals jemanden so liegen sehen? Sie haben sich dort abgelagert. Mit Ihrem weißen Pyjama und Ihren Halsbewegungen sehen Sie in diesem Augenblick aus wie eine Taube.«

Albertine drückte sich jetzt, selbst bei ganz läppischen Angelegenheiten, völlig anders aus als das kleine Mädchen, das sie noch vor nur wenigen Jahren, damals in Balbec, gewesen war. Das ging so weit, dass sie von einem politischen Ereignis, das sie kritisierte, sagte: »Ich finde das formidabel«, und ich weiß nicht, ob es auch in jener Zeit war, dass sie anfing, von einem Buch, das sie schlecht geschrieben fand, zu sagen: »Es ist interessant, aber geschrieben ist es, beispielsweise, wie von einem Schwein.«

Das Verbot, mein Zimmer zu betreten, bevor ich geläutet hatte, amüsierte sie sehr. Da sie unsere Familiengewohnheit des Anführens von Zitaten übernommen hatte und dafür die Stücke benutzte, an deren Aufführung sie im Kloster beteiligt gewesen war und von denen ich ihr gesagt hatte, dass sie mir gefielen, verglich sie mich immer mit Ahasverus:

… Tod ist jedes Kühnen Los

Der ungerufen tritt vor seine Augen.

Nichts schützt vor diesem schrecklichen Befehl:

Nicht Stellung, noch Geschlecht; gleich ist die Schuld.

Ich selber bin …

Diesem Gesetz wie jeder andre unterworfen,

Auch ich darf nicht zuvor ihm kommen. Nein!

[20] Will ich ihn sprechen, sucht er selbst mich auf,

Sonst wenigstens lässt er mich vor sich rufen.*

Auch in körperlicher Hinsicht hatte sie sich verändert. Ihre länglichen – und jetzt noch länger gestreckten – blauen Augen hatten nicht die gleiche Form behalten; sie hatten zwar noch die gleiche Farbe, schienen jetzt aber in einen flüssigen Zustand übergegangen zu sein. Wodurch es, wenn sie sie schloss, so wirkte, als habe man mit Vorhängen den Blick aufs Meer versperrt. Dies war zweifellos das an ihr, woran ich mich vor allem anderen jede Nacht erinnerte, wenn ich sie verließ. Denn im Gegensatz dazu überraschte mich zum Beispiel lange Zeit morgens die Kräuselung ihrer Haare wie etwas ganz und gar Neues, das ich noch nie gesehen hatte. Und doch – was gibt es Schöneres über dem lächelnden Blick eines jungen Mädchens als diese gelockte Krone dunkler Veilchen? Das Lächeln verheißt größere Zuneigung; aber die kleinen glänzenden Kringel blühender Haare, die dem Fleisch näher verwandt sind und dessen Umsetzung in kleine Wellen sie zu sein scheinen, ziehen eher das Verlangen auf sich.*

Kaum war sie in mein Zimmer eingetreten, sprang sie auf das Bett und bestimmte dann zuweilen meine geistige Verfassung, sie schwor mir in aufrichtigem Überschwang, dass sie lieber sterben würde, als mich zu verlassen: Das waren die Tage, an denen ich mich rasiert hatte, bevor ich sie kommen ließ. Sie gehörte zu den Frauen, die die Ursachen ihrer Empfindungen nicht auseinanderzuhalten vermögen. Das Vergnügen, das ihnen eine frische Gesichtsfarbe bereitet, erklären sie mit moralischen Vorzügen desjenigen, der ihnen für ihre Zukunft die Möglichkeit eines Glücks anzubieten scheint, das zudem in der Lage ist, in dem Maße zu schwinden und weniger gewiss zu werden, in dem er seinen Bart sprießen lässt.

[21]Ich fragte sie, wohin sie fahren wolle. »Ich glaube, Andrée will mich zu den Buttes-Chaumont* mitnehmen, die kenne ich noch nicht.« Natürlich war es mir unmöglich, bei so vielen anderen Äußerungen zu erahnen, ob sich gerade unter dieser eine Lüge versteckte. Im übrigen vertraute ich darauf, dass Andrée mir genau berichten würde, wo sie mit Albertine gewesen war. Als ich in Balbec Albertines allzu überdrüssig geworden war, hatte ich mir vorgenommen, Andrée vorzulügen: »Meine liebe Andrée, wenn ich Sie doch nur etwas früher wiedergesehen hätte! Dann hätte ich mich in Sie verliebt. Doch nun ist mein Herz schon anderweitig gebunden. Trotzdem sollten wir einander häufig treffen, denn meine Liebe zu einer anderen bereitet mir großen Kummer, und Sie würden mir helfen, Trost zu finden.« Nun, eben diese lügnerischen Worte waren binnen drei Wochen Wahrheit geworden. Vielleicht hatte Andrée in Paris geglaubt, dass es tatsächlich eine Lüge war und dass ich sie liebte, wie sie es zweifellos in Balbec geglaubt hätte. Denn die Wahrheit ändert sich derart für uns, dass es anderen schwerfällt, sich damit zurechtzufinden. Und da ich wusste, dass sie mir alles erzählen würde, was Albertine und sie unternehmen könnten, hatte ich sie gebeten, sie fast jeden Tag abzuholen, womit sie auch einverstanden war. So würde ich unbesorgt zu Hause bleiben können. Und das Ansehen, das Andrée als eines der Mädchen aus der kleinen Bande genoss, ließ mich darauf vertrauen, dass sie alles, was ich wollte, bei Albertine durchsetzen würde. Wirklich, ich hätte ihr jetzt vollkommen wahrheitsgemäß sagen können, dass sie imstande sei, mich zu beruhigen.

Andererseits rührte meine Wahl Andrées (die sich gerade in Paris aufhielt, da sie ihren Plan, nach Balbec zurückzukehren, aufgegeben hatte) als Begleiterin meiner Freundin daher, dass Albertine mir von der Zuneigung ihrer Freundin erzählt hatte, die diese in Balbec in einem Augenblick mir gegenüber empfand, in dem ich [22] ganz im Gegenteil befürchtete, sie zu langweilen, und hätte ich das damals gewusst, dann wäre es vielleicht Andrée gewesen, in die ich mich verliebt hätte. »Wie, das wussten Sie nicht?« sagte Albertine zu mir, »wir haben uns untereinander oft darüber lustig gemacht. Außerdem, haben Sie denn nicht bemerkt, dass sie angefangen hatte, Ihre Sprech- und Denkweise zu übernehmen? Vor allem, wenn sie gerade von Ihnen kam, war es geradezu verblüffend. Sie brauchte uns nicht zu sagen, ob sie Sie getroffen hatte. Wenn sie zu uns kam und mit Ihnen zusammen gewesen war, sah man es auf den ersten Blick. Wir schauten einander an und platzten los. Sie wirkte wie ein Schornsteinfeger, der einem weismachen will, er sei kein Schornsteinfeger, obwohl er ganz schwarz ist. Ein Müller braucht einem auch nicht zu sagen, dass er ein Müller ist, man sieht all das Mehl an ihm und auch die Stelle, wo er sich die Säcke aufgeladen hat. Genauso war es bei Andrée, sie zog die Brauen hoch wie Sie, und dann mit ihrem langen Hals, ich kann’s Ihnen gar nicht sagen. Wenn ich mir ein Buch nehme, das sich in Ihrem Zimmer befunden hat, kann ich es ruhig draußen lesen, man wird doch sofort merken, dass es von Ihnen stammt, weil es noch etwas von Ihren widerlichen Räuchermitteln* an sich hat. Es ist nur ein Nichts, ich kann es kaum beschreiben, aber eigentlich ein recht nettes Nichts. Jedesmal, wenn jemand freundlich über Sie gesprochen oder so gewirkt hatte, als hielte er viel von Ihnen, war Andrée völlig weg.«

Trotz alledem, um zu vereiteln, dass irgendetwas ohne mein Wissen vorbereitet würde, empfahl ich, für heute die Buttes-Chaumont* sein zu lassen und lieber nach Saint-Cloud zu fahren oder sonstwohin.

Es war gewiss nicht so, und das wusste ich, dass ich Albertine auch nur im geringsten geliebt hätte. Die Liebe ist womöglich nichts weiter als das Umsichgreifen jener Strudel, die nach einer Gefühlsaufwallung die Seele bewegen. Einige hatten meine Seele [23] gründlich aufgewühlt, als Albertine mir in Balbec von Mademoiselle Vinteuil erzählt hatte, aber die waren jetzt zur Ruhe gekommen. Ich liebte Albertine nicht mehr, denn in mir war nichts mehr von dem inzwischen geheilten Leiden vorhanden, das ich in der Tram in Balbec empfunden hatte, als ich erfuhr, was für eine Jugend Albertine gehabt hatte, womöglich gar mit Besuchen in Montjouvain. Über all das hatte ich zu lange Zeit nachgedacht, das war ausgeheilt. Doch gelegentlich ließ mich eine bestimmte Art, sich auszudrücken, bei Albertine vermuten – ich weiß nicht, warum –, dass sie im Laufe ihres noch so kurzen Lebens schon viele Komplimente und Anträge erhalten und mit Vergnügen, oder anders gesagt, lustvoll, entgegengenommen haben musste. So sagte sie zu allem und jedem: »Wirklich?, ist das wirklich wahr?« Wenn sie wie Odette gesagt hätte: »Ist diese fette Lüge wirklich wahr?«, so hätte mich das nicht beunruhigt, denn gerade die Albernheit dieser Wendung hätte sich als eine dümmliche Banalität weiblichen Esprits erklären lassen. Doch ihre fragende Miene: »Wirklich?«, vermittelte zum einen den befremdlichen Eindruck eines Wesens, das sich über die Dinge nicht selbst klar zu werden vermag, das einen zum Zeugen aufruft, als ob es nicht über die gleichen Fähigkeiten wie man selbst verfügte (wenn man zu ihr sagte: »Jetzt sind wir schon eine Stunde unterwegs« oder: »Es regnet«, so fragte sie: »Wirklich?«). Leider dürfte, auf der anderen Seite, diese Unfähigkeit, sich selbst über äußere Erscheinungen klar zu werden, nicht der eigentliche Ursprung dieses »wirklich?, ist das wirklich wahr?« gewesen sein. Es schien vielmehr, als seien diese Worte seit ihrer verfrühten Frauwerdung Antworten auf ein: »Ich muss sagen, ich habe noch niemals eine so hübsche Person getroffen wie Sie«, oder: »Sie müssen wissen, dass ich Sie liebe, dass ich ganz außer mir bin« gewesen, Behauptungen, denen diese Fragen »ist das wahr?, ist das wirklich wahr?« mit kokett zustimmender [24] Bescheidenheit entsprachen und die Albertine mir gegenüber nur noch dazu benutzte, eine Behauptung mit einer Frage zu erwidern: »Sie haben länger als eine Stunde geschlafen.« – »Ist das wahr?«

Ohne mich auch nur im geringsten in Albertine verliebt zu fühlen und ohne die Augenblicke, die wir zusammen verbrachten, meinen Vergnügungen zuzurechnen, beschäftigte mich doch ständig, wie sie ihre Zeit zubrachte; gewiss, ich war aus Balbec geflohen, um sicher zu sein, dass sie nicht die eine oder andere Person treffen konnte, von der ich so sehr befürchtete, dass sie lachend, über mich lachend womöglich, Schlimmes tun würde, dass ich mit meiner Abreise versucht hatte, alle ihre üblen Verbindungen geschickt auf einen Schlag zu durchtrennen. Und Albertine verfügte über eine solche Kraft zur Passivität, über eine so außerordentliche Fähigkeit zu vergessen und sich zu fügen, dass diese Verbindungen tatsächlich zerstört worden waren und die krankhafte Angst geheilt, die mich verfolgt hatte. Doch diese kann ebenso viele Formen annehmen wie das unbestimmte Übel, auf das sie sich bezieht. Solange meine Eifersucht nicht in anderen Wesen wieder Fleisch geworden war, hatte ich nach meinen vergangenen Leiden eine Phase der Ruhe genossen. Doch einer chronischen Krankheit genügt der geringste Vorwand, um wieder aufzuleben, wie übrigens auch dem Laster des Wesens, das Ursache dieser Eifersucht ist, die kleinste Gelegenheit dazu dient, sich (nach einem Ruhepäuschen in Keuschheit) erneut, nur mit anderen Wesen, zu betätigen. Ich hatte Albertine von ihren Komplizinnen trennen und damit meine Wahnvorstellungen bannen können; doch wenn man sie auch diese Personen vergessen lassen und ihre Beziehungen kurzhalten konnte, so war ihr Drang zur Wollust ebenfalls chronisch und wartete womöglich nur auf eine Gelegenheit, sich auszuleben. Nun, davon bot Paris ebenso viele wie Balbec.

In welcher Stadt auch immer, sie brauchte nicht erst zu suchen, [25] denn das Übel lebte nicht in Albertine allein, sondern auch in anderen, denen jede Gelegenheit zum Vergnügen willkommen war. Ein Blick von der einen, den die andere sogleich versteht, bringt die beiden Liebeshungrigen zusammen. Und es fällt einer geschickten Frau leicht, so zu tun, als sähe sie nichts, dann aber fünf Minuten später auf die Person zuzugehen, die verstanden und sie in einer Nebenstraße erwartet hat, und mit zwei Worten ein Rendezvous zu vereinbaren. Wer kann das jemals wissen? Und für Albertine war es doch so einfach, mir, damit das weiterging, zu sagen, dass sie diese oder jene Gegend von Paris, die ihr gefallen habe, wiedersehen wolle. Daher genügte es, dass sie zu spät nach Hause kam, dass ihre Spazierfahrt unerklärlich lange dauerte, obwohl das womöglich leicht, auch ohne irgendwelche sinnlichen Beweggründe heranzuziehen, zu erklären gewesen wäre, damit mein Leiden wieder auflebte, dieses Mal mit Vorstellungen verbunden, die nicht aus Balbec stammten und die ich, wie auch die früheren, auszulöschen bemüht war, als ob das Vernichten einer vorübergehenden Ursache die Beseitigung eines angeborenen Übels nach sich ziehen könnte. Ich machte mir nicht klar, dass ich mit diesem Vernichtungswerk, bei dem ich Albertines Wandlungsvermögen und ihre Fähigkeit, den Gegenstand ihrer letzten Liebe zu vergessen, ja fast zu hassen, als Verbündete hatte, zuweilen dem einen oder anderen dieser unbekannten Wesen, mit denen sie sich nacheinander vergnügt hatte, tiefen Schmerz zufügte und dass ich diesen Schmerz umsonst verursachte, denn sie würden zwar verlassen, aber ersetzt werden, und parallel zu dem Weg, der von so vielen, leichten Herzens von ihr begangenen Treulosigkeiten gesäumt war, würde sich für mich ein anderer, unbarmherziger, kaum von kurzen Atempausen unterbrochener erstrecken; so dass, wie mir hätte klar werden sollen, mein Leiden nur mit Albertine oder mit mir ein Ende nehmen konnte. In der ersten Zeit nach unserer Ankunft in Paris hatte ich [26] sogar, unbefriedigt über die Auskünfte, die Andrée und der Chauffeur mir über ihre Ausflüge mit meiner Freundin gegeben hatten, die Umgebung von Paris als ebenso grauenvoll wie die von Balbec empfunden und war für einige Tage mit Albertine auf Reisen gegangen. Doch überall war die Ungewissheit darüber, was sie trieb, dieselbe, die Möglichkeiten, etwas Schlimmes zu tun, ebenso zahlreich, die Überwachung jedoch nur noch schwieriger, so dass ich bald mit ihr nach Paris zurückgefahren war. In Wirklichkeit hatte ich geglaubt, mit Balbec auch Gomorrha zu verlassen, Albertine dem zu entreißen; ach!, Gomorrha war in alle vier Winde verstreut.* Und halb aus Eifersucht, halb aus Unkenntnis dieser Freuden (ein sehr seltener Fall) hatte ich unwissentlich dieses Versteckspiel organisiert, bei dem Albertine mir immerfort entschlüpfen würde.

Ich fragte sie auf den Kopf zu: »Ach, übrigens, Albertine, habe ich das geträumt, oder haben Sie mir gesagt, dass Sie Gilberte Swann kennen?« – »Ja; das heißt, sie hat im Unterricht mit mir gesprochen, weil sie die Hefte zur Französischen Geschichte hatte, sie war sogar sehr nett, sie hat sie mir geliehen, und ich habe sie ihr wiedergegeben, als ich sie das nächste Mal gesehen habe.« – »Gehört sie zu der Sorte Frauen, die ich nicht leiden kann?« – »Oh!, ganz und gar nicht, ganz im Gegenteil.«

Aber mehr noch, als mich dieser Art ausforschender Unterhaltungen hinzugeben, widmete ich der bloßen Vorstellung der Spazierfahrt Albertines jene Kräfte, die ich nicht darauf verwendete, sie zu unternehmen, und redete auf meine Freundin ein mit jenem Eifer, wie er bei nicht ausgeführten Vorhaben ungeschmälert erhalten bleibt. Ich drückte ein solches Verlangen aus, ein bestimmtes Glasfenster in der Sainte-Chapelle noch einmal anzuschauen, und ein solches Bedauern darüber, das nicht mit ihr allein tun zu können, dass sie zärtlich zu mir sagte: »Aber, mein Süßer, wo Ihnen [27] das offenbar so viel Spaß machen würde, geben Sie sich doch einen kleinen Ruck, kommen Sie mit uns mit. Wir werden so lange auf Sie warten, wie Sie wollen, bis Sie eben so weit sind. Und außerdem, wenn Sie lieber mit mir allein sein wollen, brauche ich Andrée nur nach Hause zu schicken, sie kommt dann eben ein andermal.« Doch gerade diese Bitten, auszufahren, trugen zu der Ruhe bei, die es mir ermöglichte, zu Hause zu bleiben.

Ich bedachte nicht, dass die Trägheit, die darin lag, in dieser Weise auf Andrée und den Chauffeur die Aufgabe abzuwälzen, meine Unruhe zu beschwichtigen, indem ich ihnen die Überwachung Albertines überließ, in mir jegliche Vorstellungskraft des Verstandes, alle die Eingebungen des Willens lähmen und zum Erstarren bringen würde, die dabei helfen, das, was eine Person tun will, zu erraten und zu verhindern. Dies war umso gefährlicher, als meinem Naturell die Welt der Möglichkeiten stets offener gestanden hat als die der Banalitäten des Alltags. Das ist nützlich, um die Seele kennenzulernen, doch von den Individuen lässt man sich täuschen. Meine Eifersucht entsprang Bildern, sie diente dem Leiden und ergab sich nicht aus irgendeiner Wahrscheinlichkeit. Nun kann es aber im Leben der Menschen wie auch der Völker einen Moment geben (und auch in meinem sollte er eines Tages kommen), in dem man einen Polizeipräfekten, einen weitsichtigen Diplomaten, einen Sicherheitschef in sich braucht, der, statt über Möglichkeiten zu sinnieren, die von hier bis in die vier Ecken des Erdenrundes reichen, vernünftig urteilt und sich sagt: »Wenn Deutschland dies erklärt, dann will es etwas anderes machen, und zwar nicht irgendetwas x-beliebiges, sondern eben dieses oder jenes, und das ist womöglich schon in die Wege geleitet. – Wenn die und die Person geflohen ist, dann nicht nach A oder B oder D, sondern nach C, und der Ort, an dem wir unsere Suche vornehmen sollten, ist …« usw. Ach!, diese Fähigkeit, die bei mir nicht [28] besonders ausgeprägt war, ließ ich absterben, kraftlos werden, sich verflüchtigen, indem ich mich daran gewöhnte, beruhigt zu sein, sobald andere für mich die Überwachung übernahmen. Was nun den Grund für diesen Wunsch betraf, so hätte ich ihn Albertine nur ungern genannt. Ich sagte ihr, der Arzt habe mir verordnet, im Bett zu bleiben. Das war aber nicht wahr. Und selbst wenn es das gewesen wäre, hätten mich seine Anweisungen nicht daran hindern können, meine Freundin zu begleiten. Ich bat sie um die Erlaubnis, nicht mit ihr und Andrée mitkommen zu müssen. Ich werde nur einen der Gründe nennen, einen sehr vernünftigen Grund. Wenn ich mit Albertine ausging und sie auch nur für einen Augenblick allein gelassen hatte, verspürte ich größte Unruhe, ich stellte mir vor, dass sie vielleicht mit jemandem gesprochen oder auch nur jemanden angesehen hatte. Wenn sie nicht gerade bester Laune war, dachte ich, sie versäume oder verschiebe meinetwegen ein Vorhaben. Die Wirklichkeit ist immer nur der Auftakt zu etwas Unbekanntem, und auf dem Weg dahin kommen wir nicht weit. Es ist besser, nicht zu wissen, so wenig wie möglich zu denken, der Eifersucht auch nicht das kleinste konkrete Detail zur Verfügung zu stellen. Nur werden leider, wenn es an einem äußeren Leben mangelt, auch vom inneren Leben Zwischenfälle herbeigeführt; in Ermangelung von Spazierfahrten mit Albertine lieferten mir die Zufälle, denen ich bei meinem einsamen Nachdenken begegnete, gelegentlich kleine Splitter der Wirklichkeit, die ihrerseits wie Magnete ein wenig von dem Unbekannten anziehen, das von da an schmerzhaft wird. Auch wenn man gewissermaßen unter einer Taucherglocke lebt, treiben die Gedankenverbindungen und die Erinnerungen doch weiter ihr Spiel.

Aber diese inneren Verletzungen traten nicht sofort auf; kaum war Albertine zu ihrer Spazierfahrt aufgebrochen, da war ich, sei es auch nur für wenige Augenblicke, durch die erhebenden Kräfte der [29] Einsamkeit wie neu belebt. Ich nahm meinerseits teil an den Freuden des beginnenden Tages; das willkürliche Verlangen, der launische und einzig von mir ausgehende Vorsatz, sie auszukosten, hätte nicht genügt, sie in meine Reichweite zu bringen, wenn nicht das besondere Wetter, das herrschte, mir nicht nur bestimmte vergangene Bilder wieder ins Gedächtnis gerufen, sondern auch die bestehende Wirklichkeit bestätigt hätte, wie sie allen Menschen unmittelbar zugänglich war, die nicht ein zufälliger und folglich zu vernachlässigender Umstand zwang, zu Hause zu bleiben. An bestimmten schönen Tagen war es so kalt, man befand sich in einem so weiträumigen Austausch mit der Straße, dass es schien, als seien die Hauswände aus den Fugen gegangen, und jedesmal, wenn die Trambahn vorbeifuhr, hallte ihre Glocke wie ein silbernes Messer, das gegen ein Haus von Glas schlägt. Doch vor allem in mir selbst hörte ich berauscht einen neuen Klang, den die Violine in meinem Inneren hervorbrachte. Ihre Saiten werden durch schlichte Temperatur- und Lichtunterschiede draußen ge- und entspannt. In unserem Wesen, einem Instrument, das die Gleichförmigkeit der Gewohnheit zum Schweigen gebracht hat, entsteht der Gesang aus diesen Abweichungen und Variationen, der Quelle aller Musik: Das Wetter, das an bestimmten Tagen herrscht, lässt uns sogleich von einer Note zu einer anderen übergehen. Wir finden die vergessene Melodie wieder, deren mathematische Zwangsläufigkeit wir uns schon hätten denken können und die wir in den ersten Augenblicken schon singen, ohne sie zu kennen. Allein diese inneren, wenn auch von außen kommenden Modifikationen ließen für mich die Welt draußen von neuem erstehen. Seit langer Zeit vermauerte Verbindungstüren öffneten sich wieder in meinem Kopf. Das Leben bestimmter Städte, die frohe Stimmung bestimmter Spaziergänge nahmen in mir wieder ihren Platz ein. An Leib und Seele unter der schwingenden Saite erbebend, hätte ich mein [30] glanzloses früheres und mein zukünftiges Leben, über die der Radiergummi der Gewohnheit hingegangen war, für diesen so ganz besonderen Zustand geopfert.

Auch wenn ich mich nicht aufgemacht hatte, um Albertine auf ihrer langen Ausfahrt zu begleiten, schweifte mein Geist doch umso mehr umher, und dafür, dass ich mich geweigert hatte, diesen Vormittag mit meinen eigenen Sinnen zu genießen, erfreute ich mich in meiner Vorstellung an allen ähnlichen Vormittagen, vergangenen oder nur möglichen, genauer gesagt an einem bestimmten Typus von Vormittag, dessen flüchtige Erscheinung alle ähnlich gearteten lediglich waren und den ich schnell wiedererkannt hatte; denn die frische Luft blätterte ganz von allein die richtige Seite auf, und ich sah, auf dass ich ihm vom Bett aus folgen konnte, das Evangelium des Tages in aller Klarheit vor mir. Dieser idealisierte Vormittag füllte meinen Geist mit bleibender Wirklichkeit, die identisch mit allen ähnlichen Vormittagen war und mir eine Beschwingtheit verlieh, die von meinem schwächlichen Zustand nicht vermindert wurde: Da unser Wohlbefinden weit weniger aus unserer guten Gesundheit als aus unserem Überschuss an unverbrauchten Kräften resultiert, können wir es ebenso gut erlangen, indem wir diese vermehren, wie dadurch, dass wir unsere Aktivität beschränken. Diejenige, von der ich überschäumte und die ich in meinem Bett aufrechterhielt, ließ mich erbeben, innerlich rasen wie eine Maschine, die nicht von der Stelle kommen kann und sich deshalb um sich selber dreht.

Françoise kam das Feuer anzünden und warf, damit es mehr Fülle gewann, ein paar Reiser darauf, deren Geruch, den ich den ganzen Sommer über vergessen hatte, um den Kamin einen magischen Zirkel beschrieb, in dem ich mich selbst gewahrte, wie ich bald in Combray, bald in Doncières gerade las, und ich war, wie ich so in meinem Zimmer in Paris blieb, ebenso vergnügt, als sei ich [31] dabei, zu einem Spaziergang auf der Seite von Méséglise aufzubrechen oder Saint-Loup und seine Freunde zu besuchen, wenn sie eine Feldübung machten. Es kommt oft vor, dass das Vergnügen, das alle Menschen daran haben, Erinnerungen wiederzubegegnen, die ihr Gedächtnis angesammelt hat, beispielsweise bei denen viel lebhafter ist, denen die Tyrannei körperlichen Leidens und der täglichen Hoffnung auf Heilung einerseits die Möglichkeit nimmt, in der Natur nach Bildern zu suchen, die diesen Erinnerungen gleichen, und andererseits das Vertrauen belässt, dass sie es bald werden tun können, so dass sie ihnen gegenüber in einem Zustand des Verlangens, der Begehrlichkeit verharren und sie nicht einfach nur für Erinnerungen, für Bilder halten. Aber selbst wenn sie für mich immer nur das hätten sein können und ich ihnen nur hätte von neuem begegnen können, indem ich sie mir in Erinnerung rief, so erschufen sie doch plötzlich in mir, aus meinem gesamten Ich, dank einer identischen Empfindung, den Knaben, den Jüngling wieder, der sie vor Augen gehabt hatte. Es hatte nicht nur draußen ein Wetterwechsel oder im Geruch meines Zimmers eine Veränderung stattgefunden, sondern in mir eine Verschiebung des Alters, ein Austausch der Person. Der Geruch der Reiser in der eisigen Luft war wie ein Stück Vergangenheit, ein unsichtbares Stück Packeis, das sich von einem vergangenen Winter losgelöst hatte und bis in mein Zimmer vordrang, oft noch zusätzlich von einem bestimmten Duft oder Licht durchzogen wie von den verschiedenen Jahren, in die ich zurücksank, von denen ich überwältigt wurde, noch bevor ich sie am Höhenflug der seit langer Zeit aufgegebenen Hoffnungen identifiziert hatte. Die Sonne kam bis an mein Bett und durchdrang die durchscheinende Trennwand meines abgemagerten Körpers, wärmte mich, heizte mich auf wie einen Kristall. Dann fragte ich mich wie ein ausgehungerter Rekonvaleszent, der sich schon an den Gerichten weidet, die man ihm noch [32] vorenthält, ob Albertine zu heiraten nicht mein Leben vergällen würde, indem mir damit die für mich viel zu schwere Aufgabe zufiele, mich um ein anderes Wesen zu kümmern, wie auch dadurch, dass ich dann gezwungen wäre, fern von mir selbst zu leben, weil sie ständig anwesend sein würde, und damit für immer der Freuden der Einsamkeit zu entsagen. Und nicht allein dieser. Selbst wenn man vom Tag nicht mehr als Wünsche verlangt, gibt es doch bestimmte – solche, die nicht so sehr von Dingen, sondern von Menschen hervorgerufen werden –, für die es charakteristisch ist, dass sie individuell sind. Und so war es, wenn ich mein Bett verließ, zum Fenster ging und für einen Augenblick den Laden aufstieß, nicht nur wie bei einem Musiker, der kurz den Klavierdeckel hebt, und um zu überprüfen, ob auf dem Balkon und auf der Straße das Sonnenlicht genau den gleichen Grundton hatte wie in meiner Erinnerung, sondern auch, um die eine oder andere Wäscherin zu sehen, die ihren Wäschekorb trug, eine Bäckerin in ihrer blauen Schürze, ein Milchmädchen mit Latz, weißen Ärmeln und einem Tragreff, von dem die Milchkannen herabhingen, irgendein stolzes blondes junges Mädchen in Begleitung seiner Erzieherin, ein Bild also, bei dem quantitativ unbedeutende Unterschiede in der Linienführung vielleicht schon genügt hätten, es so verschieden von jedem anderen zu machen wie bei einer musikalischen Phrase der Unterschied zwischen zwei Noten, und ohne dessen Anblick der Tag um die Ziele ärmer gewesen wäre, die er meinem Glücksverlangen anbieten konnte. Aber wenn der Überschuss an Freude, die der Anblick von Frauen hervorrief, die man sich unmöglich a priori vorstellen konnte, die Straße, die Stadt, die Welt für mich begehrenswerter, der Erkundung würdiger machte, ließ er mich damit zugleich danach dürsten, zu gesunden, auszugehen und, ohne Albertine, frei zu sein. Wie oft litt ich darunter, wenn eine unbekannte Frau, von der ich dann träumen würde, unter meinem [33] Fenster vorbeikam, bald zu Fuß, bald mit höchster Geschwindigkeit in ihrem Automobil, dass mein Körper meinem Blick, der sie einholte, nicht folgen und wie von einer Armbrust aus meiner Fensteröffnung geschleudert auf sie niederstürzen und die Flucht des Gesichts aufhalten konnte, in dem mich das Angebot eines Glücks erwartete, das ich in meiner Weltabgeschiedenheit niemals genießen würde!

Von Albertine hingegen hatte ich nichts mehr zu erwarten. Jeden Tag kam sie mir weniger hübsch vor. Allein das Begehren, das sie in anderen erregte, brachte sie, wenn ich es bemerkte, zu leiden begann und sie ihnen streitig machen wollte, in meinen Augen wieder zu hohem Ansehen. Sie war imstande, mir Schmerz zu bereiten, doch keine Freude. Meine qualvolle Anhänglichkeit überlebte allein durch den Schmerz. Sobald er verschwand, und mit ihm das Bedürfnis, ihn zu lindern, das meine Aufmerksamkeit forderte wie eine grässliche Ablenkung, spürte ich, welch ein Nichts sie für mich war und ich für sie sein musste. Ich war unglücklich, dass dieser Zustand anhielt, und gelegentlich wünschte ich, irgendetwas Abscheuliches zu erfahren, das sie getan hatte und das geeignet gewesen wäre, uns, bis ich genesen wäre, zu entzweien, was uns dann erlaubt hätte, uns zu versöhnen und das Band, das uns zusammenhielt, auf andere Weise und flexibler neu zu knüpfen. Derweilen betraute ich tausend Umstände, tausend Vergnügungen damit, ihr in meiner Nähe die Illusion jenes Glücks zu verschaffen, das ihr zu schenken ich mich nicht mehr in der Lage fühlte. Ich wäre, gleich nach meiner Genesung, gern nach Venedig* gereist; aber wie sollte ich das anstellen, wenn ich Albertine heiratete, war ich doch selbst in Paris schon so eifersüchtig, dass ich mich höchstens einmal dazu durchrang, mich aus dem Haus rühren, um mit ihr zusammen auszugehen? Selbst wenn ich den ganzen Nachmittag zu Hause blieb, folgte ihr mein Denken bei ihrer Spazierfahrt, [34] beschrieb einen weiten, lichtblauen Horizont und schuf um das Zentrum, das ich bildete, einen veränderlichen Bereich von Unsicherheit und Unklarheit. »Welche Trennungsängste Albertine mir doch ersparen könnte«, sagte ich mir, »würde sie im Laufe einer dieser Spazierfahrten gewahr werden, dass ich mit ihr nicht mehr von Heirat sprach, sich entschlösse, nicht heimzukehren, und zu ihrer Tante führe, ohne dass ich ihr Adieu sagen müsste!« Seit die Wunde meines Herzens vernarbt war, begann es, nicht mehr an dem meiner Freundin zu hängen; ich konnte sie in der Vorstellung ersetzen oder von mir entfernen, ohne darunter zu leiden. Statt meiner würde zweifellos irgendein anderer ihr Gatte werden, oder sie würde, wenn sie allein bliebe, vielleicht diese Abenteuer haben, vor denen mir grauste. Aber es war so schönes Wetter, ich war so sicher, sie würde am Abend heimkehren, dass ich sogar diese Vorstellung von möglichen Fehltritten, wenn sie mir in den Sinn kam, durch eine freie Entscheidung in einem Teil meines Gehirns gefangen setzen konnte, in dem ihr keine größere Wichtigkeit zukam, als sie für mein wirkliches Leben die Laster einer nur vorgestellten Person gehabt hätten; indem ich die geschmeidigen Angeln meines Denkens spielen ließ, hatte ich mit einer Energie, die ich zugleich physisch und mental wie eine Muskelbewegung und eine geistige Anstrengung in meinem Kopf spürte, den Zustand gewohnheitsmäßiger Besorgnis überwunden, in dem ich bislang abgekapselt gewesen war, und begann, mich an der frischen Luft zu bewegen, von wo aus es in meinen eigenen Augen ebenso unvernünftig erschien, alles aufzugeben, um die Heirat Albertines mit einem anderen zu verhindern und ihrer Neigung zu Frauen Hindernisse in den Weg zu legen, wie es in denen von jemandem erschienen wäre, der sie gar nicht kannte. Im übrigen ist die Eifersucht eine dieser immer wieder aufbrechenden Krankheiten, deren Ursache launisch, zwingend und bei ein und demselben Kranken [35] immer die gleiche ist, bei einem anderen jedoch manchmal völlig unterschiedlich. Es gibt Asthmatiker, die eine Krise allein dadurch beruhigen, dass sie das Fenster öffnen und frischen Wind, reine Höhenluft atmen, während andere sich in die Stadt und ein eingeräuchertes Zimmer flüchten. Es gibt kaum Eifersüchtige, deren Eifersucht nicht bestimmte Ausnahmen zuließe. Der eine lässt zu, dass man ihn betrügt, vorausgesetzt, man sagt es ihm, der andere unter der Voraussetzung, dass man es ihm verheimlicht, wobei sich der eine kaum weniger absurd verhält als der andere, denn wenn der zweite viel wahrhafter betrogen wird, da man ihm die Wahrheit verbirgt, verlangt der erste von dieser Wahrheit die Nahrung, Vergrößerung und Erneuerung seiner Leiden.

Obendrein gehen diese beiden entgegengesetzten Manien der Eifersucht oft über alle Worte hinaus, ob sie nun Geständnisse fordern oder ablehnen. Man kennt Eifersüchtige, die es nur auf Männer sind, mit denen ihre Geliebte Beziehungen fern von ihnen unterhält, jedoch zulassen, dass sie sich in ihrer Nähe, wenn nicht unter ihren Augen, so doch unter ihrem Dach, einem anderen Mann als ihnen hingibt, sofern es mit ihrem Einverständnis geschieht. Dieser Fall kommt ziemlich oft bei älteren Männern vor, die in eine junge Frau verliebt sind. Sie spüren die Schwierigkeit, ihr zu gefallen, gelegentlich die Unfähigkeit, sie zu befriedigen, und ziehen es vor, statt betrogen zu werden, jemanden zu sich, in ein benachbartes Zimmer kommen zu lassen, den sie für außerstande halten, ihr schlechten Rat zu geben, nicht aber, ihr Lust zu schenken. Bei anderen ist es gerade umgekehrt: In einer Stadt, die sie kennen, lassen sie ihre Geliebte nicht eine Minute allein ausgehen und halten sie in regelrechter Sklaverei, erlauben ihr aber, einen Monat lang in ein Land zu reisen, das sie nicht kennen und bei dem sie sich nicht vorstellen können, was sie dort machen wird. In Bezug auf Albertine unterlag ich beiden Sorten beruhigender [36] Manie. Ich wäre nicht eifersüchtig gewesen, wenn sie in meiner Nähe und mit meiner Ermutigung ihr Vergnügen gehabt hätte, das ich so ganz unter meiner Kontrolle gehabt hätte, womit mir die Furcht vor Lügen erspart geblieben wäre; ich wäre es womöglich ebenso wenig gewesen, wenn sie in ein Land gereist wäre, das weit entfernt und mir hinreichend unbekannt war, dass ich mir weder ihre Lebensweise dort hätte vorstellen können noch auch nur die Möglichkeit gehabt hätte und der Versuchung ausgesetzt wäre, sie kennenzulernen. In beiden Fällen wäre der Zweifel durch gleichermaßen vollständiges Wissen beziehungsweise Unwissen unterdrückt worden.

Da mich der sinkende Tag durch die Erinnerung in eine frische Atmosphäre von früher tauchte, atmete ich mit dem gleichen Wohlgefallen wie Orpheus die subtile, auf dieser Welt unbekannte Luft der Elysischen Gefilde.*Aber schon ging der Tag zu Ende, und ich wurde von der Trostlosigkeit des Abends überfallen. Mit einem mechanischen Blick auf die Pendeluhr, um festzustellen, wie viele Stunden noch blieben bis zu Albertines Heimkehr, sah ich, dass ich noch Zeit hatte, mich anzuziehen und hinunterzugehen, um die Eigentümerin, Madame de Guermantes, um Hinweise hinsichtlich einiger hübscher Toilettenartikel zu bitten, die ich meiner Freundin schenken wollte. Manchmal traf ich die Herzogin, wenn sie zu einem ihrer kleinen Einkaufsbummel aufbrach, im Hof selbst bei schlechtem Wetter mit einem flachen Hut und im Pelz an. Ich wusste recht gut, dass sie für eine Reihe intelligenter Leute nichts weiter als eine x-beliebige Dame war und dass der Name einer Herzogin von Guermantes jetzt, wo es keine Herzog- und Fürstentümer mehr gab, nichts für sie bedeutete, doch ich hatte für meine Art und Weise, an Leuten und Ländern Freude zu haben, einen anderen Blickwinkel eingenommen. Alle Schlösser der Besitztümer, deren Herzogin, Prinzessin oder Vizegräfin sie [37] war, schien diese Dame, die in ihrem Pelz dem schlechten Wetter trotzte, mit sich zu tragen, gerade so wie die im Gewände eines Portals in Stein gehauenen Personen die Kathedrale, die sie gebaut, oder die Stadt, die sie verteidigt haben, in der Hand halten. Doch diese Schlösser und Wälder konnten allein die Augen meines Geistes in der behandschuhten Hand der Dame im Pelz sehen, der Cousine des Königs. Die meines Leibes erkannten darin an Tagen, an denen es zu regnen drohte, nur einen Schirm*, mit dem sich zu bewaffnen die Herzogin sich nicht scheute. »Man kann nie wissen, es ist schon besser, falls ich zu weit entfernt bin und nur einen Wagen finde, der einen für mich zu teuren Preis fordert.« Die Worte »zu teuer«, »übersteigt meine Mittel« tauchten allezeit im Gespräch der Herzogin auf, wie auch »dafür bin ich zu arm«, ohne dass man so recht hätte herausfinden können, ob sie so redete, weil sie es amüsant fand, zu behaupten, sie sei arm, da sie so reich war, oder weil sie es elegant fand, da sie so aristokratisch war, mit anderen Worten, weil sie gern vorgab, eine Bauersfrau zu sein und dem Reichtum nicht die Bedeutung zuzumessen wie Leute, die einfach nur reich sind und die Armen verachten. Vielleicht war es eher eine Gewohnheit, die sie zu einer Zeit ihres Lebens angenommen hatte, als sie zwar schon reich war, aber nicht reich genug in Anbetracht der Kosten für den Unterhalt aller dieser Besitztümer, und eine gewisse Knappheit an finanziellen Mitteln kennenlernte, von der sie nicht den Eindruck erwecken mochte, sie vertuschen zu wollen. Die Dinge, von denen man meistens scherzhaft spricht, sind im allgemeinen ganz im Gegenteil jene, die bedrücken, von denen man aber nicht bedrückt wirken möchte, vielleicht in der uneingestandenen Hoffnung auf den zusätzlichen Vorteil, dass gerade die Person, mit der man spricht, dann, wenn sie einen darüber scherzen hört, glauben wird, dass es nicht der Fall sei.

[38]Aber ich wusste, dass ich zu dieser Zeit die Herzogin meistens bei sich zu Hause antreffen würde, und darüber war ich froh, denn das war bequemer, um sie ausführlich um die Auskünfte zu bitten, die Albertine wünschte. Und ich ging zu ihr hinunter beinahe ohne überhaupt daran zu denken, wie außerordentlich es war, dass ich zu dieser geheimnisumwitterten Madame de Guermantes meiner Kindheit allein deshalb gehen sollte, um sie für einen einfachen praktischen Zweck zu benutzen, etwa wie das Telefon, dieses übernatürliche Instrument, dessen Wunder man einst bestaunte und dessen man sich heute völlig gedankenlos bedient, um seinen Schneider kommen zu lassen oder ein Eis zu bestellen.

Das ganze Drum und Dran der Toilette machte Albertine großes Vergnügen. Ich konnte es mir nicht verkneifen, ihr jeden Tag ein neues zu bereiten. Und da ich wusste, dass sich der von Haus aus schwierige Geschmack des jungen Mädchens (der von den Lektionen in Eleganz, die die Unterhaltungen mit Elstir für sie bedeutet hatten, noch verfeinert worden war) keinesfalls mit irgendetwas halbwegs Ähnlichem, nicht einmal einer hübschen Sache, die in den Augen der Masse genauso aussieht, sich aber doch völlig davon unterscheidet, zufriedengeben würde, ging ich jedesmal, wenn sie mir hingerissen von einem Schal, einer Stola, einem Sonnenschirm erzählt hatte, den sie vom Fenster aus oder beim Überqueren des Hofes mit ihren Augen, die so schnell alles erkannten, was mit Eleganz zu tun hatte, um den Hals, auf den Schultern, in der Hand von Madame de Guermantes gesehen hatte, heimlich zur Herzogin, um mir erklären zu lassen, wo, wie, nach welchem Modell das, was Albertine so sehr gefallen hatte, angefertigt worden war, wie ich vorgehen müsse, um genau das zu erhalten, worin das Geheimnis des Herstellers, der Reiz (das, was Albertine »den Schick«, »den Stil« nannte) seiner Machart liege, welches die genaue Bezeichnung – da die Schönheit des Materials eine große [39] Rolle spielt – und die Qualität der Stoffe sei, auf deren Verwendung ich bestehen sollte.

Als ich Albertine bei unserer Ankunft aus Balbec erzählt hatte, dass die Herzogin von Guermantes uns gegenüber wohne, im selben Gebäude, hatte sie, als sie den großartigen Titel und großen Namen hörte, jene mehr als gleichgültige, abweisende und herablassende Miene aufgesetzt, die das Anzeichen eines ohnmächtigen Begehrens bei stolzen, leidenschaftlichen Naturen ist. Die von Albertine mochte noch so hervorragend sein, doch die Qualitäten, die sie in sich barg, konnten sich nur im Rahmen jener Beschränkungen entwickeln, die von unseren Neigungen gebildet werden, oder der Trauer um jene unserer Neigungen, auf die wir haben verzichten müssen – wie Albertine auf den Snobismus: Dies ist es, was man Hass nennt. Der von Albertine auf die Angehörigen der höheren Gesellschaft nahm übrigens nur sehr wenig Raum in ihr ein und gefiel mir durch seinen Anflug von revolutionärem Geist – das heißt, von unglücklicher Liebe zur Aristokratie –, der auf der anderen Seite des französischen Charakters, gegenüber jener mit dem aristokratischen Stil der Madame de Guermantes, geschrieben steht. Um diesen aristokratischen Stil hätte sich Albertine, wegen der Unmöglichkeit, ihn zu erreichen, womöglich nicht weiter gekümmert, doch da sie sich erinnerte, dass Elstir zu ihr von der Herzogin als einer der bestgekleideten Frauen in ganz Paris gesprochen hatte, machte bei meiner Freundin die republikanische Verachtung für eine Herzogin dem regen Interesse an einer eleganten Dame Platz. Sie bat mich oft um Auskünfte über Madame de Guermantes und liebte es, dass ich bei der Herzogin Rat für ihre eigene Toilette einholen ging. Zweifellos hätte ich auch Madame Swann fragen können, und einmal habe ich ihr sogar deshalb geschrieben. Doch Madame de Guermantes schien mir die Kunst, sich zu kleiden, noch weiter zu treiben. Wenn ich einen Moment zu ihr [40]