Auf doppelter Spur - Agatha Christie - E-Book

Auf doppelter Spur E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Es gibt nur einen der diesen Fall lösen kann: Hercule Poirot. Für Sheila Webb ist es reine Routine, als sie zu der blinden Miss Pebmarsh gerufen wird. Eigentlich wollte die junge Frau nur ihre Schreibdienste anbieten. Doch im Haus der Blinden findet sie dieses merkwürdige Zimmer mit lauter Uhren – und mittendrin einen Toten. Schreiend läuft sie auf die Straße und dem Agenten Colin Lamb in die Arme. Nur gut, dass Colin bei seinem alten Bekannten Hercule Poirot Rat suchen kann. Während Scotland Yard im Dunkeln tappt, ist Poirot dem Mörder bereits dicht auf den Fersen.

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Seitenzahl: 382

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Agatha Christie

Auf doppelter Spur

Aus dem Englischen von Ditte und Giovanni Bandini.

Atlantik

Meinem alten Freund Mario

in glücklicher Erinnerung an köstliche Mahlzeiten

im Caprice

Prolog

Der Vormittag des 9. Septembers war exakt wie jeder andere Vormittag. Keiner, der von den Ereignissen jenes Tages betroffen sein sollte, konnte für sich in Anspruch nehmen, das Unheil geahnt zu haben. (Das heißt, mit Ausnahme von Mrs Packer, Wilbraham Crescent 47, die auf Vorahnungen spezialisiert war und die anschließend die eigentümlichen seelischen und körperlichen Warnzeichen, die sie heimgesucht hatten, immer mit großer Ausführlichkeit zu schildern wusste. Aber Mrs Packer war in Haus Nr. 47 so weit von der Nr. 19 entfernt und so wenig von den dortigen Ereignissen betroffen, dass eine Vorahnung ihrerseits völlig unnötig erschien.)

Im Cavendish Secretarial and Typewriting Bureau (Büroleitung: Miss K. Martindale) war der 9. September ein langweiliger Tag gewesen, die pure Routine. Das Telefon klingelte, die Schreibmaschinen klapperten, das Arbeitsaufkommen war durchschnittlich, weder höher noch niedriger als sonst. Und nichts davon war sonderlich interessant. Bis 14.35 Uhr hätte der 9. September ein Tag wie jeder andere sein können.

Um 14.35 Uhr ertönte Miss Martindales Summer, und im Vorzimmer meldete sich Edna Brent mit ihrer üblichen hauchigen und leicht näselnden Stimme, während sie ein Sahnebonbon in die Backe bugsierte.

»Ja, Miss Martindale?«

»Jetzt aber, Edna, so habe ich Ihnen nicht beigebracht, sich am Telefon zu melden! Sprechen Sie deutlich, und hauchen Sie dabei nicht so!«

»Tut mir leid, Miss Martindale.«

»Schon besser. Sie können es, wenn Sie sich Mühe geben. Schicken Sie bitte Sheila Webb zu mir.«

»Sie ist noch nicht aus der Mittagspause zurück, Miss Martindale.«

»Ah.« Miss Martindales Auge befragte die Schreibtischuhr. 14.36 Uhr. Exakt sechs Minuten über die Zeit. Sheila Webb ließ neuerdings einen Hang zum Schlendrian erkennen. »Schicken Sie sie herein, sobald sie da ist.«

»Ja, Miss Martindale.«

Edna beförderte das Bonbon wieder auf ihre Zunge und nahm, genüsslich lutschend, ihre Arbeit an der Abschrift von Armand Levines Nackte Liebe wieder auf. Die akribische Erotik des Textes ließ sie kalt – wie übrigens, Mr Levines Bemühungen zum Trotz, auch den größten Teil seiner Leser. Er war ein Paradebeispiel für die Tatsache, dass nichts so langweilig sein kann wie langweilige Pornographie. Trotz reißerischer Umschlaggestaltung und anzüglicher Titel gingen seine Absatzzahlen mit jedem Jahr weiter zurück, und die letzte Rechnung für durchgeführte Schreibarbeiten war ihm bereits dreimal zugeschickt worden.

Die Tür öffnete sich, und Sheila Webb kam, leicht außer Atem, herein.

»Sandy Cat hat nach dir gefragt«, sagte Edna.

Sheila Webb schnitt eine Grimasse.

»Pech muss man haben – ausgerechnet an dem einen Tag, wo ich zu spät zurück bin!«

Sie strich sich die Haare glatt, griff sich Block und Bleistift und klopfte an die Tür der Bürochefin.

Miss Martindale sah von ihrem Schreibtisch auf. Sie war eine Frau in den Vierzigern, die vor Tüchtigkeit nur so strotzte. Ihre rotblonde Pompadour-Tolle und ihr Vorname, Katherine, hatten ihr den Spitznamen Sandy Cat eingebracht – »Sandkatze«.

»Sie kommen spät, Miss Webb.«

»Tut mir leid, Miss Martindale. Die Busse haben sich nur so gestaut.«

»Zu dieser Tageszeit stauen sich die Busse immer nur so. Das sollten Sie einplanen.« Sie warf einen Blick auf ihren Notizblock. »Eine Miss Pebmarsh rief an. Sie braucht um 15 Uhr eine Stenographin. Sie verlangte ausdrücklich nach Ihnen. Haben Sie schon für sie gearbeitet?«

»Nicht, soweit ich mich erinnern kann, Miss Martindale. Jedenfalls nicht in letzter Zeit.«

»Wohnhaft Wilbraham Crescent 19.« Sie schwieg kurz fragend, aber Sheila Webb schüttelte den Kopf.

»Ich kann mich nicht erinnern, je dort gewesen zu sein.«

Miss Martindale warf einen Blick auf die Uhr.

»15 Uhr. Das können Sie leicht schaffen. Haben Sie heute Nachmittag noch weitere Termine? Ah, ja.« Sie überflog den Terminkalender, der schräg vor ihr lag. »Professor Purdy im Curlew Hotel. 17 Uhr. Bis dahin müssten Sie wieder hier sein. Wenn nicht, kann ich Janet schicken.«

Mit einem knappen Kopfnicken entlassen, kehrte Sheila ins Vorzimmer zurück.

»Was Interessantes, Sheila?«

»Wieder so ein langweiliger Tag. Irgendeine alte Schachtel am Wilbraham Crescent. Und um fünf Professor Purdy – lauter fürchterliche archäologische Namen! Ich wünschte wirklich, es könnte manchmal auch was Spannendes passieren!«

Miss Martindales Tür öffnete sich.

»Ich sehe, ich hatte mir hier noch etwas notiert, Sheila. Sollte Miss Pebmarsh noch nicht zurück sein, wenn Sie dort eintreffen, möchten Sie einfach ins Haus gehen, die Tür wird nicht abgeschlossen sein. Gehen Sie dann in das Zimmer rechts vom Flur und warten Sie dort. Können Sie sich das merken, oder soll ich es Ihnen aufschreiben?«

»Ich kann es mir merken, Miss Martindale.«

Miss Martindale verschwand wieder in ihrem Allerheiligsten.

Edna Brent griff unter ihren Stuhl und förderte diskret einen ziemlich schicken Schuh und den dazugehörigen abgebrochenen Pfennigabsatz zutage.

»Wie soll ich heute bloß nach Hause kommen?«, stöhnte sie.

»Ach, hör schon auf zu jammern – wir werden uns was überlegen«, sagte eines der anderen Mädchen und fing wieder an zu tippen.

Edna seufzte und spannte ein neues Blatt ein.

»Das Verlangen hatte ihn fest in seinen Klauen. Mit fahrigen Fingern zerrte er den zarten Chiffon von ihren Brüsten und drückte sie aufs Dofa …«

»Mist!«, sagte Edna und griff nach dem Radiergummi.

Sheila nahm ihre Handtasche und ging.

Der Wilbraham Crescent war wie einem Fiebertraum seines spätviktorianischen Architekten entsprungen. Er war eine doppelte Mondsichel von dos à dos stehenden Häusern mit Garten. Dieser schnurrige Einfall machte es Ortsunkundigen schwer, sich zurechtzufinden. Wer von der Außenseite kam, konnte die niedrigen Nummern nicht finden, und wer zuerst auf die Innenfront traf, konnte nur rätseln, wo die höheren Hausnummern abgeblieben sein mochten. Die Häuser waren proper, gediegen, mit kunstvollen Balkons ausgestattet und durch und durch wohlanständig. Die Modernisierung war bislang praktisch spurlos an ihnen vorbeigegangen – äußerlich, heißt das. Küchen und Badezimmer waren immer die Ersten, die den frischen Wind zu spüren bekamen.

Das Haus Nr. 19 hatte nichts Auffälliges an sich. Es besaß makellose Gardinen und einen auf Hochglanz polierten messingnen Türknauf. Die üblichen Rosensträucher säumten den Zugang zur Haustür.

Sheila Webb öffnete das Gartentörchen, begab sich an die Haustür und drückte auf die Klingel. Nichts passierte, und nachdem sie ein, zwei Minuten gewartet hatte, tat sie wie geheißen und drehte den Knauf. Die Tür öffnete sich, und sie trat ein. Die Tür an der rechten Seite des Flurs stand einen Spaltbreit offen. Sheila klopfte an, wartete und ging dann hinein. Es war ein gewöhnliches Wohnzimmer, etwas zu vollgestellt für den heutigen Geschmack, aber durchaus behaglich. Das einzig Bemerkenswerte an ihm war die Unzahl an Uhren – eine Standuhr in der Ecke, auf dem Kaminsims eine Stutzuhr aus Meißner Porzellan, eine silberne Kutschenuhr auf dem Schreibtisch, eine kleine verspielte vergoldete Uhr auf einer Etagere in der Nähe des Kamins und auf einem Tisch am Fenster ein Reisewecker, auf dessen abgenutztem Ledergehäuse der Name »Rosemary« in blassen Goldlettern prangte.

Sheila Webb sah auf die Uhr, die auf dem Schreibtisch stand, und wunderte sich. Sie zeigte nicht ganz Viertel nach vier. Ihr Blick glitt weiter zur Kaminuhr. Sie zeigte das Gleiche.

Sheila fuhr heftig zusammen, als über ihrem Kopf ein Surren und ein Klack ertönten und aus dem Türchen einer geschnitzten hölzernen Wanduhr ein Kuckuck hervorguckte und laut und bestimmt »Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck!« verkündete. Der schrille Ton klang fast bedrohlich. Dann schnappte das Türchen wieder zu. Sheila deutete ein Lächeln an und ging um das Sofa herum. Dann blieb sie mit einem Ruck stehen.

Ein Mann lag ausgestreckt auf dem Fußboden. Seine Augen waren halb offen und blicklos. Auf der Brust seines dunkelgrauen Anzugs prangte ein dunkler feuchter Fleck. Fast instinktiv beugte sich Sheila hinunter. Sie berührte seine Wange – kalt –, seine Hand, ebenfalls … berührte den nassen Fleck und riss die Hand jäh zurück, starrte sie entsetzt an.

Als sie das Klacken eines Gartentors hörte, fuhr ihr Kopf automatisch herum. Durch das Fenster sah sie eine weibliche Gestalt eilig den Weg entlangkommen. Sheila schluckte mechanisch – sie hatte eine trockene Kehle. Sie stand wie festgewurzelt da, unfähig, sich zu rühren, zu schreien … starrte nur vor sich hin.

Die Tür öffnete sich, und eine hochgewachsene ältere Frau mit einer Einkaufstasche in der Hand kam herein. Sie hatte aus der Stirn gekämmtes, welliges graues Haar und weit offene, wunderschön blaue Augen. Ihr Blick glitt über Sheila, ohne innezuhalten.

Sheila stieß einen leisen Laut aus, nicht mehr als ein Krächzen. Die aufgerissenen blauen Augen richteten sich auf sie, und die Frau fragte scharf:

»Ist da jemand?«

»Ich – es ist …« Das Mädchen brach ab, als die Frau rasch um das Sofa herum auf sie zukam.

Und dann schrie sie:

»Nicht – nicht … Sie treten gleich dra… – auf ihn drauf … Und er ist tot …«

Erstes KapitelColin Lamb erzählt

I

Im Polizeijargon formuliert: Am 9. September um 14.59 Uhr befand ich mich auf dem Wilbraham Crescent und bewegte mich in westlicher Richtung. Es war meine erste Begehung dieser Straße, und ich muss gestehen, es war eine verwirrende Erfahrung.

Ich war einer Ahnung mit einer Beharrlichkeit nachgegangen, die von Tag zu Tag desto verbissener wurde, je weniger die Ahnung sich zu bestätigen schien. So bin ich nun mal.

Ich war auf der Suche nach Hausnummer 61, und fand ich sie etwa? Nein, Fehlanzeige. Nachdem ich die Nummern 1 bis 35 gewissenhaft abgegangen war, schien der Wilbraham Crescent aufzuhören. Eine unmissverständlich als Albany Road ausgewiesene Hauptverkehrsstraße verhinderte meinen weiteren Fortgang. Auf der Nordseite gab es überhaupt keine Häuser, nur eine Mauer. Jenseits der Mauer ragten moderne Wohnblocks in die Höhe, die offensichtlich über eine andere Straße zu erreichen waren. Von der Seite also keine Hilfe zu erwarten.

Ich schlug den Rückweg ein und sah dabei zu den Hausnummern auf, an denen ich vorbeikam. 24, 23, 22, 21, Diana Lodge (vermutlich die 20, mit einer orangefarbenen Katze auf dem Torpfosten, die sich gerade das Gesicht putzte), 19 …

Die Tür von Hausnummer 19 flog auf, und ein Mädchen kam, so schnell wie eine Rakete, daraus hervorgeschossen. Verstärkt wurde die Ähnlichkeit mit einer Rakete noch durch den Schrei, der ihr Herannahen begleitete: Er war hoch und schrill und eigenartig nichtmenschlich. Das Mädchen raste ungebremst durch das Gartentor und kollidierte mit mir mit einer solchen Wucht, dass ich mich fast aufs Trottoir gelegt hätte. Und sie kollidierte nicht nur, sie klammerte – klammerte sich an mich, außer sich vor Angst.

»Ruhig«, sagte ich, sobald ich das Gleichgewicht wiedererlangt hatte. Ich schüttelte sie leicht. »Beruhigen Sie sich doch!«

Das Mädchen beruhigte sich. Sie klammerte sich zwar nach wie vor an mich, aber das Geschrei stellte sie ab. Dafür schnappte sie jetzt nach Luft – in tiefen, heftigen Schluchzern.

Ich kann nicht behaupten, der Situation mit nennenswerter Geistesgegenwart begegnet zu sein. Ich fragte, ob etwas passiert sei. Da ich selbst merkte, wie dümmlich meine Frage war, korrigierte ich sie sogleich.

»Was ist passiert?«

Das Mädchen holte tief Luft.

»Da drin!« Sie fuchtelte in Richtung Haus.

»Ja?«

»Da liegt ein Mann auf dem Fußboden … tot … Sie wär glatt auf ihn draufgetreten!«

»Wer? Warum?«

»Ich glaube – weil sie blind ist. Und er ist vorn ganz blutig.« Sie senkte den Blick und lockerte den Klammergriff einer Hand. »Und ich auch. Ich bin auch blutig!«

»Sind Sie«, sagte ich. Ich sah die Flecken am Ärmel meines Mantels. »Und jetzt bin ich’s ebenfalls«, ergänzte ich. Ich seufzte und überdachte die Lage. »Am besten, ich begleite Sie hinein, und Sie zeigen mir alles«, sagte ich.

Doch sie begann sofort, heftig zu zittern.

»Ich kann nicht – ich kann’s nicht … Da gehe ich nie wieder rein!«

»Vielleicht haben Sie recht.« Ich sah mich um. Sonderlich geeignete Stellen zur Ablage halb ohnmächtiger Mädchen schien es keine zu geben. Ich ließ die junge Frau sanft zu Boden gleiten und lehnte sie mit dem Rücken an den eisernen Gartenzaun.

»Sie bleiben hier«, sagte ich, »bis ich wieder zurückkomme. Es dauert nicht lange. Es wird schon wieder. Beugen Sie sich vor und nehmen Sie den Kopf zwischen die Knie, wenn Ihnen schwindlig werden sollte.«

»Ich – ich glaube, es geht schon wieder.«

Sie klang nicht ganz überzeugt, aber ich hatte keine Lust zu diskutieren. Ich klopfte ihr ermutigend auf die Schulter und marschierte dann entschlossenen Schrittes zur Haustür. Ich trat ein, zögerte einen Augenblick im Flur, blickte durch die linke Tür, sah ein menschenleeres Esszimmer, machte kehrt und betrat das gegenüberliegende Wohnzimmer.

Als Erstes sah ich eine ältere Frau mit grauen Haaren, die in einem Sessel saß. Bei meinem Eintreten drehte sie sich abrupt um und fragte:

»Wer ist da?«

Ich begriff sofort, dass die Frau blind war. Ihre Augen, die scheinbar auf mich gerichtet waren, fixierten tatsächlich einen Punkt hinter meinem linken Ohr.

Ich erklärte knapp und sachlich:

»Eine junge Frau kam auf die Straße gerannt und erklärte, hier sei ein Toter.«

Ich spürte die Absurdität meiner Worte, noch während ich sie aussprach. Es erschien völlig unmöglich, dass sich in diesem untadeligen Zimmer, mit dieser Frau, die seelenruhig, mit gefalteten Händen, in einem Sessel saß, ein Toter befand.

Doch ihre Antwort kam prompt.

»Hinter dem Sofa«, sagte sie.

Ich ging um die Ecke des Sofas. Und dann sah ich es – die ausgebreiteten Arme – die starren Augen – den Fleck von allmählich gerinnendem Blut.

»Wie ist das passiert?«, fragte ich schroff.

»Ich weiß es nicht.«

»Aber … natürlich. Wer ist der Mann?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Wir müssen die Polizei rufen.« Ich sah mich um. »Wo ist das Telefon?«

»Ich habe kein Telefon.«

Ich betrachtete sie aufmerksamer.

»Sie wohnen hier? Das ist Ihr Haus?«

»Ja.«

»Können Sie mir berichten, was geschehen ist?«

»Gewiss. Ich kam vom Einkaufen zurück …« Ich bemerkte die achtlos auf einem Stuhl neben der Tür abgelegte Einkaufstasche. »Ich kam hier herein. Ich wusste sofort, dass jemand im Zimmer war. Wenn man blind ist, bekommt man so ein Gespür. Ich fragte, wer da sei. Es kam keine Antwort – nur ziemlich schnelle Atemgeräusche. Ich näherte mich der Geräuschquelle, und dann hat irgendjemand losgeschrien – jemand sei tot, und ich würde gleich auf ihn treten. Und dann ist die Unbekannte, schreiend, an mir vorbei aus dem Zimmer gestürzt.«

Ich nickte. Die zwei Aussagen stimmten überein.

»Und was taten Sie?«

»Ich tastete mich sehr vorsichtig vorwärts, bis mein Fuß gegen ein Hindernis stieß.«

»Und dann?«

»Habe ich mich hingekniet. Ich spürte etwas – eine Männerhand. Sie war kalt – keinerlei Puls … Ich bin aufgestanden und habe mich hierhergesetzt – und gewartet. Früher oder später musste ja jemand kommen. Die junge Frau, wer immer sie sein mochte, würde schon Alarm schlagen. Ich dachte mir, dass ich besser das Haus nicht verlassen sollte.«

Die Gefasstheit dieser Frau war wirklich beeindruckend. Sie hatte nicht geschrien, war nicht in Panik durchs Haus gestolpert. Sie hatte sich ruhig hingesetzt und hatte gewartet. Es war das Vernünftigste, was sie tun konnte, aber es hatte bestimmt einiges dazugehört.

Sie fragte:

»Und wer bitte sind Sie?«

»Mein Name ist Colin Lamb. Ich kam gerade zufällig vorbei.«

»Wo ist die junge Frau?«

»Ich habe sie draußen an den Gartenzaun gelehnt. Sie steht unter Schock. Wo ist das nächste Telefon?«

»Es gibt eine Telefonzelle ungefähr fünfzig Yards die Straße entlang, gleich vor der Ecke.«

»Natürlich. Ich bin ja selbst daran vorbeigekommen. Ich gehe und benachrichtige die Polizei. Und Sie …« Ich stockte.

Ich wusste nicht, was die gescheitere Frage gewesen wäre: »Sie bleiben so lange hier?«, oder: »Sie kommen so lange allein zurecht?«

Sie erlöste mich aus meiner Zwangslage.

»Sie sollten das Mädchen besser hereinholen«, sagte sie bestimmt.

»Ich glaube kaum, dass sie mitspielt«, sagte ich zweifelnd.

»Nicht in dieses Zimmer natürlich. Führen Sie sie ins Esszimmer, auf der anderen Seite des Flurs. Sagen Sie ihr, ich setze Tee auf.«

Sie stand auf und kam auf mich zu.

»Aber – kommen Sie zurecht …?«

Die Andeutung eines grimmigen Lächelns strich über ihr Gesicht.

»Junger Mann, ich koche für mich, in meiner eigenen Küche, seit ich in dieses Haus eingezogen bin – vor vierzehn Jahren. Blind zu sein bedeutet nicht zwangsläufig, hilflos zu sein.«

»Tut mir leid. Es war dumm von mir. Vielleicht dürfte ich Ihren Namen wissen?«

»Millicent Pebmarsh – Miss.«

Ich verließ das Haus und ging zum Gartentor zurück. Das Mädchen schaute zu mir auf und versuchte sofort, wieder auf die Beine zu kommen.

»Ich – ich glaube, ich bin jetzt mehr oder weniger wieder fit.«

Ich half ihr aufzustehen und sagte munter:

»Gut.«

»Da – da liegt wirklich ein Toter, nicht?«

Ich bestätigte umgehend.

»Und ob da einer liegt. Ich gehe nur eben zur Telefonzelle und informiere die Polizei. An Ihrer Stelle würde ich so lang im Haus warten.« Ich erhob die Stimme, um ihren prompten Protest zu übertönen. »Setzen Sie sich ins Esszimmer – vom Flur gleich links. Miss Pebmarsh macht Ihnen gerade eine Tasse Tee.«

»Es war also wirklich Miss Pebmarsh? Und sie ist blind?«

»Ja. Natürlich ist es auch für sie ein Schock gewesen, aber sie hält sich wacker. Kommen Sie, ich bringe Sie ins Haus. Eine Tasse Tee wird Ihnen guttun, während Sie auf die Polizei warten.«

Ich legte ihr einen Arm um die Schultern und bugsierte sie sanft zur Haustür. Sobald sie bequem am Esstisch saß, hastete ich wieder hinaus und zur Telefonzelle.

II

Eine leidenschaftslose Stimme sagte: »Polizeidirektion Crowdean.«

»Könnte ich Detective Inspector Hardcastle sprechen?«

Die Stimme sagte vorsichtig:

»Ich weiß nicht, ob er da ist. Mit wem spreche ich?«

»Sagen Sie ihm, es ist Colin Lamb.«

»Einen Augenblick, bitte.«

Ich wartete. Dann meldete sich Dick Hardcastles Stimme.

»Colin? So früh hatte ich nicht wieder mit dir gerechnet. Wo steckst du?«

»In Crowdean. Wilbraham Crescent, um genau zu sein. In der Nr. 19 liegt ein Mann tot auf dem Fußboden, erstochen, würde ich tippen. Eintritt des Todes schätzungsweise vor einer knappen halben Stunde.«

»Wer hat ihn gefunden? Du?«

»Nein, ich war nur ein unbeteiligter Passant. Plötzlich kommt ein Mädchen herausgeschossen, als ob der Teufel hinter ihr her wäre. Rennt mich fast über den Haufen. Sie sagte, ein Toter würde auf dem Fußboden liegen, und eine blinde Frau würde gleich auf ihn drauftrampeln.«

»Du nimmst mich nicht zufällig auf den Arm?«, fragte Dicks Stimme argwöhnisch.

»Zugegeben, es klingt verrückt. Aber die Angaben scheinen sich mit den Fakten zu decken. Die blinde Frau ist eine Miss Millicent Pebmarsh, und ihr gehört das Haus.«

»Und sie ist auf den Toten getreten?«

»Nur um ein Haar. Da sie blind ist, wusste sie anscheinend gar nicht, dass er da lag.«

»Ich setze die Mühlen in Gang. Warte dort auf mich. Was hast du mit dem Mädchen gemacht?«

»Miss Pebmarsh brüht ihr gerade eine Tasse Tee auf.«

Worauf Dick meinte, das klinge ja nach einem richtig gemütlichen Fall.

Zweites Kapitel

Im Haus Wilbraham Crescent 19 waren die Mühlen der Exekutive in vollem Betrieb. Es gab einen Polizeiarzt, einen Polizeifotografen, Fachleute für die Spurensicherung. Routiniert ging jeder seiner jeweiligen Aufgabe nach.

Schließlich erschien auch Detective Inspector Hardcastle, ein hochgewachsener Mann mit unbewegter Miene und ausdrucksvollen Augenbrauen, um sich, gottgleich, zu vergewissern, dass alles, was er verfügt hatte, auch erledigt, und zwar ordnungsgemäß erledigt wurde. Er warf einen abschließenden Blick auf den Toten, wechselte ein paar knappe Worte mit dem Polizeiarzt und begab sich dann ins Esszimmer, wo drei Personen vor leeren Teetassen saßen: Miss Pebmarsh, Colin Lamb und ein hochgewachsenes Mädchen mit braunen Locken und großen verängstigten Augen. »Recht hübsch«, bemerkte der Inspector, gleichsam als mentale Randnotiz.

Er stellte sich Miss Pebmarsh vor.

»Detective Inspector Hardcastle.«

Miss Pebmarsh war ihm nicht völlig unbekannt, wenngleich sich ihre Wege bislang nie dienstlich gekreuzt hatten. Aber er hatte sie gelegentlich in der Stadt gesehen, und er wusste, dass sie früher an einer Schule gearbeitet hatte und nun am Aaronberg Institute sehbehinderte Kinder in Brailleschrift unterrichtete. Es erschien äußerst unwahrscheinlich, dass in ihrem penibel aufgeräumten, altjüngferlichen Zuhause ein (dazu männliches) Mordopfer aufgefunden worden sein sollte – aber das Unwahrscheinliche ereignet sich häufiger, als man es gemeinhin wahrhaben will.

»Eine scheußliche Sache, Miss Pebmarsh«, sagte er. »Das Ganze muss ein schwerer Schock für Sie gewesen sein. Ich werde von Ihnen allen eine exakte Schilderung der Ereignisse benötigen. Nach meinen Informationen war es Miss« – er warf einen kurzen Blick in das Notizbuch, das der Constable ihm ausgehändigt hatte – »Sheila Webb, die die Leiche entdeckt hat. Wenn Sie mir gestatten, Ihre Küche zu benutzen, Miss Pebmarsh, werde ich mich mit Miss Webb dort hinsetzen, damit wir uns ungestört unterhalten können.«

Er öffnete die Verbindungstür zwischen Esszimmer und Küche und wartete, bis das Mädchen an ihm vorbeigegangen war. Ein junger Zivilbeamter saß bereits in der Küche an einem kleinen Tisch mit Resopalplatte und schrieb unauffällig mit.

»Dieser Stuhl sieht bequem aus«, sagte Hardcastle und zog eine moderne Interpretation des Windsor-Stuhls heran.

Sheila Webb nahm nervös Platz und starrte ihn mit großen verängstigten Augen an.

Um ein Haar hätte Hardcastle gesagt: »Ich werde Sie schon nicht auffressen, meine Liebe«, verkniff es sich aber und sagte stattdessen:

»Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Wir möchten uns lediglich ein möglichst klares Bild machen. Schön, Ihr Name ist Sheila Webb – wohnhaft in?«

»Palmerston Road 14 – hinter dem Gaswerk.«

»Ja, natürlich. Und Sie sind berufstätig, wie ich vermute?«

»Ja. Ich bin Stenotypistin – ich arbeite in Miss Martindales Sekretariats- und Schreibbüro.«

»Dem Cavendish Secretarial and Typewriting Bureau – so lautet doch der vollständige Name, nicht wahr?«

»Das stimmt.«

»Und wie lange sind Sie dort schon beschäftigt?«

»Ein knappes Jahr. Na ja, genau genommen zehn Monate.«

»Ich verstehe. Jetzt erzählen Sie mir einfach mit Ihren eigenen Worten, wie es dazu kam, dass Sie sich heute Nachmittag im Haus Wilbraham Crescent 19 aufhielten.«

»Na ja, es war so.« Sheila Webb sprach jetzt schon mit etwas größerer Selbstsicherheit. »Diese Miss Pebmarsh hatte im Büro angerufen und eine Stenographin für heute Nachmittag um drei angefordert. Wie ich also von der Mittagspause zurückgekommen bin, hat Miss Martindale mich losgeschickt.«

»Und das war ein routinemäßiger Vorgang? Ich meine damit: Sie standen als Nächste auf der Liste – oder wie Sie so etwas normalerweise eben sonst organisieren?«

»Nicht direkt. Miss Pebmarsh hatte ausdrücklich nach mir verlangt.«

»Miss Pebmarsh hatte ausdrücklich nach Ihnen verlangt.« Hardcastles Brauen unterschlängelten diese Information. »Ich verstehe … Weil Sie bereits zu einer anderen Gelegenheit für sie gearbeitet hatten?«

»Hatte ich eben nicht!«, sagte Sheila schnell.

»Hatten Sie nicht? Da sind Sie sich ganz sicher?«

»Oh ja, hundertprozentig. Ich meine, sie ist nicht der Typ, den man leicht vergessen würde. Das ist ja das Merkwürdige.«

»In der Tat. Nun, darauf wollen wir jetzt nicht näher eingehen. Sie trafen wann hier ein?«

»Es muss ganz kurz vor drei gewesen sein, weil die Kuckucksuhr …« Sie verstummte abrupt. Ihre Augen weiteten sich. »Das ist komisch. Aber richtig komisch. Das ist mir in dem Moment gar nicht aufgefallen.«

»Was ist Ihnen nicht aufgefallen, Miss Webb?«

»Na – die Uhren!«

»Was war mit den Uhren?«

»Die Kuckucksuhr sagte ganz richtig drei an, aber alle übrigen Uhren gingen ungefähr eine Stunde vor. Wirklich seltsam!«

»Zweifellos äußerst seltsam«, pflichtete der Inspector ihr bei. »Und wann genau entdeckten Sie die Leiche?«

»Erst als ich um das Sofa herumgegangen bin. Und da lag sie – also, er. Es war entsetzlich, ja, entsetzlich …«

»Entsetzlich, ganz Ihrer Meinung. Und erkannten Sie den Mann wieder? Hatten Sie ihn schon früher einmal gesehen?«

»Oh, nein!«

»Sie sind sich da ganz sicher? Ein gewaltsamer Tod kann ein Gesicht erheblich verändern, wissen Sie. Denken Sie sorgfältig nach. Sie sind sich vollkommen sicher, dass Sie ihn noch nie zuvor gesehen hatten?«

»Vollkommen sicher.«

»Schön. Das wäre also geklärt. Und was taten Sie dann?«

»Was ich tat?«

»Ja.«

»Na – nichts … gar nichts. Ich war wie gelähmt.«

»Ich verstehe. Sie haben ihn nicht angefasst?«

»Doch – doch, hab ich. Um nachzusehen, ob – ich meine – nur um festzustellen – Aber er war – ganz kalt – und – und ich habe Blut an die Hand bekommen. Es war grauenvoll – zäh und klebrig.«

Sie begann zu zittern.

»Na, na«, sagte Hardcastle im Ton eines guten Onkels. »Jetzt ist doch alles vorbei. Vergessen Sie das Blut. Erzählen Sie einfach weiter. Was geschah dann?«

»Ich weiß nicht … Ach so, ja, dann kam sie zurück.«

»Miss Pebmarsh, meinen Sie?«

»Ja. Nur dass ich in dem Moment gar nicht auf die Idee kam, sie könnte Miss Pebmarsh sein. Sie kam einfach so mit einer Einkaufstasche herein.« Ihr Betonung hob die Einkaufstasche als fehl am Platze und nicht zur Sache gehörig hervor.

»Und was sagten Sie da?«

»Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas gesagt habe … Ich versuchte es, aber es ging nicht. Es fühlte sich hier wie zugeschnürt an.« Sie zeigte auf ihre Kehle.

Der Inspector nickte.

»Und dann – und dann – sagte sie: ›Wer ist da?‹ Und sie kam um das Sofa herum, und ich dachte – ich dachte, sie würde gleich – da drauftreten. Und da habe ich losgeschrien … Und als ich angefangen hatte zu schreien, konnte ich nicht wieder aufhören, und irgendwie bin ich aus dem Zimmer gekommen und durch die Haustür ins Freie …«

»Wie vom Teufel gejagt«, ergänzte der Inspector, als er sich an Colins Schilderung erinnerte.

Sheila sah ihn mit verängstigten Augen kläglich an und sagte, ziemlich unerwartet:

»Es tut mir leid.«

»Dazu besteht gar kein Grund. Sie haben Ihre Geschichte sehr gut erzählt. Jetzt brauchen Sie nicht mehr daran zu denken. Ach, nur noch eins: Warum waren Sie eigentlich in dem betreffenden Zimmer?«

»Warum?« Sie sah ihn ratlos an.

»Ja. Sie waren hier angekommen, möglicherweise ein paar Minuten zu früh, und Sie hatten vermutlich die Klingel betätigt. Aber warum traten Sie ein, als niemand kam?«

»Ach, das. Weil sie es mir so aufgetragen hatte.«

»Wer hatte es Ihnen aufgetragen?«

»Na, Miss Pebmarsh.«

»Aber ich dachte, Sie hätten überhaupt nicht mit ihr gesprochen?«

»Hatte ich auch nicht. Das hatte sie zu Miss Martindale gesagt – dass ich hineingehen und im Wohnzimmer rechts vom Flur warten sollte.«

»So, so«, sagte Hardcastle nachdenklich.

Sheila Webb fragte schüchtern:

»War – war das alles?«

»Ich glaube, schon. Ich würde Sie allerdings bitten, vielleicht noch zehn Minuten länger hierzubleiben, falls sich etwas anderes ergibt, wozu ich Sie befragen möchte. Anschließend lasse ich Sie von einem Polizeiwagen heimfahren. Was ist mit Ihrer Familie – haben Sie Familie?«

»Mein Vater und meine Mutter sind tot. Ich wohne bei einer Tante.«

»Und sie heißt?«

»Mrs Lawton.«

Der Inspector erhob sich und reichte ihr die Hand.

»Haben Sie vielen Dank, Miss Webb«, sagte er. »Versuchen Sie, sich heute Nacht richtig auszuschlafen. Sie werden es nötig haben, nach allem, was Sie durchgemacht haben.«

Sie lächelte ihn schüchtern an und kehrte ins Esszimmer zurück.

»Kümmer dich um Miss Webb, Colin«, sagte der Inspector. »So, Miss Pebmarsh, dürfte ich jetzt Sie hier hereinbitten?«

Hardcastle hatte die Hand halb ausgestreckt, um Miss Pebmarsh zu führen, aber sie marschierte entschlossen an ihm vorbei, fand mit den Fingerspitzen einen an die Wand gestellten Stuhl, zog ihn ein Stück vor und setzte sich.

Hardcastle schloss die Tür. Bevor er etwas sagen konnte, fragte Millicent Pebmarsh unvermittelt:

»Wer ist dieser junge Mann?«

»Sein Name ist Colin Lamb.«

»Das teilte er mir bereits mit. Aber wer ist er? Warum kam er hierher?«

Hardcastle sah sie leicht überrascht an.

»Er kam zufällig die Straße entlang, als Miss Webb, wie am Spieß schreiend, aus diesem Haus gestürzt kam. Nachdem er hineingegangen war und sich über das Vorgefallene Klarheit verschafft hatte, rief er uns an und wurde gebeten, zurückzugehen und hier zu warten.«

»Sie haben ihn mit ›Colin‹ angeredet.«

»Sie sind eine scharfe Beobachterin, Miss Pebmarsh.« Beobachterin? Wohl kaum das richtige Wort! Und doch passte kein anderes besser. »Colin Lamb ist ein Freund von mir, den ich allerdings längere Zeit nicht mehr gesehen hatte.« Er fügte hinzu: »Er ist Meeresbiologe.«

»Ah! Ich verstehe.«

»Und jetzt, Miss Pebmarsh, würde es mich freuen, wenn Sie mir etwas über diese ziemlich verwirrende Angelegenheit sagen könnten.«

»Gern. Aber viel ist es wirklich nicht.«

»Sie sind schon seit längerem hier wohnhaft, wenn ich Sie richtig verstanden habe?«

»Seit 1950. Ich bin – war – von Beruf Lehrerin. Als ich erfuhr, dass man gegen das Nachlassen meiner Sehkraft nichts unternehmen konnte und ich schon bald vollkommen erblinden würde, habe ich alles darangesetzt, eine Expertin für Brailleschrift und verschiedene andere Blindenhilfstechniken zu werden. Jetzt habe ich eine Stelle am hiesigen Aaronberg-Institut für blinde und behinderte Kinder.«

»Danke. Und jetzt zu den Ereignissen dieses Nachmittags. Erwarteten Sie Besuch?«

»Nein.«

»Ich werde Ihnen eine Beschreibung des Toten vorlesen, und Sie sagen mir bitte, ob sie Sie an jemand Bestimmtes erinnert. Größe fünf Fuß neun bis zehn Zoll, Alter um die sechzig, Haar dunkel, angegraut, braune Augen, glattrasiertes, schmales Gesicht, scharfgeschnittene Kinnpartie. Gut genährt, aber nicht fettleibig. Dunkelgrauer Anzug, gepflegte Hände. Könnte Bankangestellter gewesen sein, Buchhalter, Rechtsanwalt oder irgendetwas in der Art. Erinnert Sie das an jemanden, den Sie kennen?«

Millicent Pebmarsh dachte gründlich nach, bevor sie antwortete.

»Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen. Natürlich ist es eine sehr allgemeine Beschreibung. Sie würde auf sehr viele Menschen zutreffen. Es könnte sich um jemanden handeln, den ich bei irgendeinem Anlass gesehen oder gesprochen habe, aber mit Sicherheit um niemanden, den ich gut kennen würde.«

»Sie haben in letzter Zeit keinen Brief erhalten, in dem jemand seinen Besuch ankündigte?«

»Definitiv nicht.«

»Schön. Also, Sie haben das Cavendish Sekretariatsbüro angerufen und eine Stenographin zu sich bestellt und …«

Sie unterbrach ihn.

»Entschuldigen Sie. Ich habe nichts dergleichen getan.«

»Sie haben nicht das Cavendish Secretarial Bureau angerufen und …« Hardcastle riss die Augen auf.

»Ich habe überhaupt kein Telefon im Haus.«

»Es gibt aber eine Telefonzelle am Ende der Straße«, gab Inspector Hardcastle zu bedenken.

»Ja, natürlich. Aber ich kann Ihnen versichern, Inspector Hardcastle, dass ich keine Stenographin benötige und dieses Cavendish-Büro weder in dieser noch irgendeiner anderen Angelegenheit angerufen habe.«

»Sie haben nicht ausdrücklich nach Miss Sheila Webb verlangt?«

»Ich hatte diesen Namen nie zuvor gehört.«

Hardcastle starrte sie verblüfft an.

»Sie hatten die Haustür unverschlossen gelassen«, wandte er ein.

»Das mache ich tagsüber häufig.«

»Da könnte doch jeder hereinspazieren.«

»Das scheint in diesem Fall auch tatsächlich jemand getan zu haben«, entgegnete Miss Pebmarsh trocken.

»Miss Pebmarsh, nach vorläufigem ärztlichem Befund starb dieser Mann ungefähr zwischen 13.30 und 14.45 Uhr. Wo waren Sie während dieser Zeit?«

Miss Pebmarsh dachte nach.

»Um 13.30 Uhr war ich entweder gerade aus dem Haus gegangen oder war im Aufbruch. Ich musste ein paar Einkäufe erledigen.«

»Können Sie mir sagen, wohin Sie im Einzelnen gingen?«

»Lassen Sie mich überlegen. Ich ging zum Postamt, dem auf der Albany Road, gab ein Päckchen auf, kaufte Briefmarken, dann besorgte ich noch ein paar Dinge für den Haushalt, ja und dann war ich im Textilgeschäft, Field and Wren, weil ich Druckknöpfe und Sicherheitsnadeln brauchte. Dann bin ich heimgekehrt. Ich kann Ihnen genau sagen, wie spät es da war. Als ich das Tor erreichte, rief meine Kuckucksuhr gerade dreimal. Ich kann sie von der Straße aus hören.«

»Und was ist mit Ihren anderen Uhren?«

»Wie bitte?«

»Ihre anderen Uhren scheinen alle eine knappe Stunde vorzugehen.«

»Vorzugehen? Sie meinen die Standuhr in der Ecke?«

»Nein, die gerade nicht – aber alle übrigen Uhren im Wohnzimmer.«

»Ich verstehe nicht, was Sie mit ›übrigen Uhren‹ meinen. Im Wohnzimmer gibt es keine weiteren Uhren.«

Drittes Kapitel

Hardcastle riss die Augen auf.

»Jetzt kommen Sie, Miss Pebmarsh! Was ist mit dieser schönen Meißner Porzellanuhr auf dem Kaminsims? Und dann gibt’s so eine kleine französische Uhr – feuervergoldet. Und eine silberne Kutschenuhr und – ach ja, den Reisewecker mit dem Namen ›Rosemary‹ auf dem Gehäuse.«

Jetzt war es Miss Pebmarsh, die große Augen machte.

»Einer von uns beiden muss verrückt sein, Inspector. Ich versichere Ihnen, dass ich keine Uhr aus Meißner Porzellan besitze, keine – was sagten Sie doch gleich? – keinen Reisewecker mit der Aufschrift ›Rosemary‹, keine feuervergoldete französische Uhr und auch keine – was war das noch mal?«

»Silberne Kutschenuhr«, sagte Hardcastle mechanisch.

»Auch die nicht. Und wenn Sie mir nicht glauben, können Sie die Frau fragen, die zum Reinemachen kommt. Ihr Name ist Mrs Curtin.«

Detective Inspector Hardcastle war baff. Miss Pebmarsh hatte mit einer Entschiedenheit und Selbstsicherheit gesprochen, die absolut überzeugend wirkten. Er ließ sich die Sachlage ein paar Augenblicke lang durch den Kopf gehen. Dann stand er auf.

»Wären Sie vielleicht so freundlich, Miss Pebmarsh, mich in das fragliche Zimmer zu begleiten?«

»Gewiss. Offen gestanden würde ich mir diese Uhren gern selbst einmal ansehen.«

»Ansehen?« Hardcastle stieß sich prompt an dem Wort.

»›Untersuchen‹ wäre ein passenderes Wort«, sagte Miss Pebmarsh, »aber auch Blinde, Inspector, verwenden konventionelle Ausdrucksweisen, selbst wenn sie nicht ganz auf ihre speziellen Fähigkeiten zutreffen. Wenn ich sage, ich möchte mir eine dieser Uhren ansehen, meine ich damit, dass ich sie gern betasten und mit meinen eigenen Fingern fühlen möchte.«

Von Miss Pebmarsh gefolgt, verließ Hardcastle die Küche, durchquerte den Flur und betrat das Wohnzimmer. Der Mann von der Spurensicherung sah zu ihm auf.

»Hier drin wäre ich so weit fertig, Sir«, sagte er. »Sie können jetzt anfassen, was Sie möchten.«

Hardcastle nickte und hob den kleinen Reisewecker mit dem Namenszug »Rosemary« auf. Er legte ihn in Miss Pebmarshs Hände. Sie betastete ihn sorgfältig.

»Das scheint ein gewöhnlicher Reisewecker zu sein«, sagte sie, »von der Sorte mit zusammenklappbarem Lederetui. Er gehört mir nicht, Inspector Hardcastle, und ich kann mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass er sich, als ich um halb zwei das Haus verließ, noch nicht in diesem Zimmer befand.«

»Danke.«

Der Inspector nahm ihr den Wecker wieder ab. Dann hob er die kleine Meißner Porzellanuhr behutsam vom Kaminsims.

»Jetzt vorsichtig«, sagte er, als er sie ihr reichte, »diese hier ist zerbrechlich.«

Millicent Pebmarsh betastete die Porzellanuhr mit feinfühligen Fingerspitzen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Das muss ein bezauberndes Stück sein«, sagte sie, »aber es gehört mir nicht. Wo war es, sagten Sie, noch mal?«

»Auf der rechten Seite des Kaminsimses.«

»Da sollte einer von zwei zusammengehörigen Porzellan-Kerzenleuchtern stehen«, sagte Miss Pebmarsh.

»Ja«, sagte Hardcastle, »da ist ein Kerzenleuchter, aber er steht jetzt ganz in der äußersten Ecke.«

»Sie sagten, da wäre noch eine weitere Uhr?«

»Zwei weitere.«

Hardcastle stellte die Porzellanuhr wieder zurück und reichte Miss Pebmarsh die kleine französische feuervergoldete. Sie betastete sie rasch und gab sie ihm dann wieder zurück.

»Nein. Die gehört mir ebenso wenig.«

Er gab ihr die silberne Uhr in die Hand, und auch diese erkannte sie nicht wieder.

»Die einzigen Uhren, die sich normalerweise in diesem Zimmer befinden, sind eine Standuhr dort drüben in der Ecke neben dem Fenster …«

»Korrekt.«

»… und eine Kuckucksuhr an der Wand neben der Tür.«

Hardcastle wusste nicht recht, was er als Nächstes sagen sollte. Forschend betrachtete er die Frau, die vor ihm stand, und dies mit umso größerer Unbefangenheit, als er wusste, dass sie die Musterung nicht erwidern konnte. Ihre leicht gerunzelte Stirn schien Ratlosigkeit zu verraten. Sie sagte emphatisch:

»Es ist mir unbegreiflich. Es ist mir schlicht unbegreiflich.«

Sie streckte eine Hand aus – es war offensichtlich, dass sie genau wusste, wo im Zimmer sie sich gerade befand – und setzte sich. Hardcastle wandte den Blick zum Spurensicherer, der jetzt vor der Tür stand.

»Sie haben diese Uhren eingepinselt?«, fragte er.

»Ich habe alles eingepinselt, Sir. Keine Abdrücke auf der vergoldeten Uhr, aber das war auch nicht zu erwarten. Auf der polierten Oberfläche bleibt nichts haften. Das Gleiche gilt für die aus Porzellan. Aber auf dem Ledergehäuse des Reiseweckers und auf der silbernen Uhr gibt es ebenfalls keine Abdrücke, und das ist unter normalen Umständen recht ungewöhnlich – da müssten welche drauf sein. Übrigens war keine von ihnen aufgezogen, und sie sind alle auf dieselbe Uhrzeit gestellt – dreizehn Minuten nach vier.«

»Wie steht es mit dem Rest des Zimmers?«

»Es gibt drei oder vier verschiedene Sätze von Fingerabdrücken im Zimmer, alle von Frauen, würde ich sagen. Der Inhalt der Taschen des Opfers liegt da.«

Mit einer Kopfbewegung deutete er auf einen Tisch, auf dem einige Dinge lagen. Hardcastle ging hin und sah sie sich an. Da war eine Brieftasche, die sieben Pfund zehn enthielt, etwas Kleingeld, ein seidenes Taschentuch ohne irgendwelche Initialen, ein Döschen Verdauungsdragees und eine Visitenkarte. Hardcastle beugte sich vor, um sie sich genauer anzusehen.

Mr R.H. Curry,

Metropolis and Provincial Insurance Co. Ltd

Denvers Street 7,

London, W2

Hardcastle kehrte zum Sofa zurück, auf dem Miss Pebmarsh saß.

»Erwarteten Sie zufällig den Besuch eines Versicherungsagenten?«

»Eines Versicherungsagenten? Nein, mit Sicherheit nicht.«

»Von der Metropolis and Provincial Insurance Company«, sagte Hardcastle.

Miss Pebmarsh schüttelte den Kopf. »Der Name sagt mir nichts.«

»Sie trugen sich nicht mit dem Gedanken, irgendeine Versicherung abzuschließen?«

»Nein. Gegen Brand und Einbruch bin ich bei der Jove Insurance Company versichert, die hier eine Zweigstelle hat. Eine Lebensversicherung habe ich nicht. Ich habe keine Angehörigen oder näheren Verwandten, also sehe ich keinen Sinn darin, mein Leben zu versichern.«

»Ich verstehe«, sagte Hardcastle. »Sagt Ihnen der Name Curry etwas? Mr R.H. Curry?« Er beobachtete sie aufmerksam. Ihr Gesicht ließ keinerlei Reaktion erkennen.

»Curry.« Sie wiederholte den Namen und schüttelte dann den Kopf. »Das ist kein besonders häufiger Name, nicht wahr? Nein, ich glaube nicht, dass ich den Namen je gehört habe oder gar jemandem dieses Namens begegnet bin. Ist das der Name des Toten?«

»Die Vermutung läge nahe«, sagte Hardcastle.

Miss Pebmarsh zögerte kurz. Dann sagte sie:

»Möchten Sie – soll ich – ihn berühren?«

Er verstand sofort, was sie meinte.

»Wären Sie so freundlich, Miss Pebmarsh? Wenn es nicht zu viel verlangt ist, heißt das. Ich kenne mich in solchen Dingen nicht besonders gut aus, aber Ihre Finger würden Ihnen wahrscheinlich eine genauere Vorstellung vom Aussehen eines Menschen vermitteln als eine bloße Beschreibung.«

»So ist es«, sagte Miss Pebmarsh. »Ich gebe zu, dass es keine besonders angenehme Aufgabe ist, aber wenn Sie glauben, dass es Ihnen weiterhelfen könnte, bin ich durchaus dazu bereit.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Hardcastle. »Wenn ich Sie führen dürfte …«

Er dirigierte sie zur Rückseite des Sofas, bedeutete ihr, sich hinzuknien, und führte dann ihre Hände sanft an das Gesicht des Toten. Sie war vollkommen ruhig, verriet keinerlei Emotion. Ihre Finger streiften über das Haar, die Ohren, wobei sie kurz hinter dem linken Ohr verweilten, zogen die Linien von Nase, Mund und Kinn nach. Dann schüttelte sie den Kopf und richtete sich wieder auf.

»Ich habe eine klare Vorstellung von seinem Aussehen«, sagte sie, »aber ich bin mir absolut sicher, dass es niemand ist, den ich kenne oder je bewusst gesehen habe.«

Der Spurensicherer hatte seine Ausrüstung zusammengepackt und das Zimmer verlassen. Er steckte noch einmal den Kopf herein.

»Sie würden ihn jetzt mitnehmen«, sagte er und deutete auf den Leichnam. »Kann er jetzt weg?«

»Kann er«, sagte Inspector Hardcastle. »Wenn Sie sich bitte hier herübersetzen könnten, Miss Pebmarsh …?«

Er platzierte sie in einen Ecksessel. Zwei Männer kamen herein. Der Abtransport des verblichenen Mr Curry ging rasch und professionell über die Bühne. Hardcastle begleitete ihn bis zum Gartentor und kehrte dann ins Wohnzimmer zurück. Er setzte sich zu Miss Pebmarsh.

»Das ist eine höchst ungewöhnliche Geschichte, Miss Pebmarsh«, sagte er. »Ich würde gern noch einmal die wichtigsten Punkte mit Ihnen durchgehen und mich vergewissern, dass ich auch alles richtig verstanden habe. Bitte korrigieren Sie mich, wenn irgendetwas nicht stimmt. Sie erwarteten heute keine Besucher, Sie haben kein Interesse an einer Versicherung gleich welcher Art bekundet, und Sie haben keinerlei briefliche Mitteilung erhalten, dass ein Versicherungsvertreter Sie heute aufsuchen würde. Ist das korrekt?«

»Völlig korrekt.«

»Sie benötigten nicht die Dienste einer Stenographin, und Sie haben nicht das Cavendish-Büro angerufen und verlangt, dass eine solche um drei Uhr zu Ihnen kommen sollte.«

»Auch das ist korrekt.«

»Als Sie gegen 13.30 Uhr das Haus verließen, befanden sich in diesem Zimmer lediglich zwei Uhren: die Kuckucksuhr und die Standuhr.«

Miss Pebmarsh setzte zu einer Antwort an, hielt aber inne.

»Streng genommen«, sagte sie dann, »könnte ich diese Aussage nicht beschwören. Da mir der Gesichtssinn fehlt, kann ich weder die Abwesenheit noch das Vorhandensein von etwas feststellen, das sich normalerweise nicht in diesem Zimmer befindet. Das bedeutet: Die letzte Gelegenheit, wo ich mir über den Inhalt dieses Zimmer sicher sein konnte, war heute Morgen, als ich hier Staub gewischt habe. Da war noch alles an seinem Platz. In diesem Zimmer mache ich gewöhnlich selbst sauber, weil Reinmachefrauen häufig achtlos mit Ziergegenständen umgehen.«

»Haben Sie heute Vormittag das Haus verlassen?«

»Ja. Um zehn ging ich wie gewohnt zum Aaronberg Institute. Ich unterrichte dort immer bis Viertel nach zwölf. Gegen Viertel vor eins war ich wieder hier, machte mir in der Küche Rührei und eine Tasse Tee zurecht und bin dann, wie ich schon sagte, um halb zwei wieder aus dem Haus gegangen. Meine Mahlzeit nahm ich übrigens in der Küche ein, und das Wohnzimmer betrat ich überhaupt nicht.«

»Ich verstehe«, sagte Hardcastle. »Sie können also zwar mit Bestimmtheit sagen, dass sich heute Morgen um zehn keine überzähligen Uhren in diesem Raum befanden, aber sie könnten irgendwann im Laufe des Vormittags hierhergebracht worden sein.«

»Danach müssten Sie meine Reinmachefrau fragen, Mrs Curtin. Sie kommt immer gegen zehn und geht gewöhnlich gegen zwölf wieder. Sie wohnt in der Dipper Street 17.«

»Danke, Miss Pebmarsh. Damit bleiben uns also die folgenden Fakten – und hier möchte ich Sie bitten, mir alles zu sagen, was Ihnen dazu einfällt: Ideen, Vorschläge, was auch immer. Irgendwann im Laufe des heutigen Tages wurden vier Uhren in dieses Haus gebracht. Die Zeiger dieser vier Uhren waren auf dreizehn Minuten nach vier gestellt. Sagt Ihnen diese Uhrzeit irgendetwas?«

»Dreizehn Minuten nach vier.« Miss Pebmarsh schüttelte den Kopf. »Nicht das Geringste.«

»Lassen wir die Uhren und wenden wir uns nun dem Toten zu. Es ist nicht wahrscheinlich, dass Ihre Reinmachefrau ihn ins Haus gelassen und auch noch im Haus allein gelassen hätte, außer Sie hätten ihr zuvor gesagt, dass Sie ihn erwarteten, aber das können wir ja mit ihr abklären. Er kam vermutlich hierher, um Sie in irgendeiner Angelegenheit zu sprechen, sei es beruflicher oder privater Natur. Zwischen halb zwei und Viertel vor drei wurde ihm eine tödliche Stichverletzung beigebracht. Von einem Termin, den er mit Ihnen gehabt haben könnte, wissen Sie nichts. Möglicherweise hatte er etwas mit einer Versicherungsgesellschaft zu tun – aber auch diesbezüglich können Sie uns nicht weiterhelfen. Die Tür war nicht abgeschlossen, also könnte er einfach hereingekommen sein und sich hier hingesetzt haben, um auf Sie zu warten – aber warum?«

»Die ganze Sache ist doch blödsinnig«, sagte Miss Pebmarsh ungeduldig. »Sie glauben also, dass dieser – Soundso Curry diese Uhren mitgebracht hat?«

»Es war weit und breit kein geeigneter Transportbehälter zu finden«, sagte Hardcastle. »Er kann kaum vier Uhren dieser Größe in den Jacketttaschen gehabt haben. Jetzt, Miss Pebmarsh, denken Sie bitte sorgfältig nach. Fällt Ihnen irgendetwas, wie abseitig oder entlegen auch immer, zum Thema Uhren ein – oder wenn nicht Uhren, dann sagen wir: Zeit? 4.13 Uhr. Dreizehn Minuten nach vier?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich versuche mir die ganze Zeit einzureden, dass es die Tat eines Wahnsinnigen war oder dass jemand sich in der Hausnummer geirrt hat. Aber auch das würde letztlich nichts erklären. Nein, Inspector. Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«

Ein junger Constable steckte den Kopf herein. Hardcastle ging zu ihm hinaus auf den Flur, dann weiter zum Gartentor. Dort sprach er ein paar Minuten lang mit den Männern.

»Sie können die junge Dame jetzt nach Hause fahren«, sagte er dann. »Palmerston Road 14.«

Er kehrte ins Haus zurück und begab sich ins Esszimmer. Durch die offene Verbindungstür konnte er Miss Pebmarsh an der Spüle hantieren hören. Er blieb in der Tür stehen.

»Diese Uhren werde ich mitnehmen müssen, Miss Pebmarsh. Sie bekommen dafür eine Quittung.«

»Ganz, wie Sie meinen, Inspector – sie gehören mir ja ohnehin nicht …«

Hardcastle wandte sich zu Sheila Webb.

»Sie dürfen jetzt nach Hause gehen, Miss Webb. Der Polizeiwagen wird Sie fahren.«

Sheila und Colin standen auf.

»Begleite sie zum Wagen, Colin, sei doch so nett«, sagte Hardcastle, während er sich einen Stuhl an den Tisch zog und begann, eine Quittung zu schreiben.

Colin und Sheila traten ins Freie und gingen den Gartenweg entlang. Plötzlich blieb Sheila stehen.

»Meine Handschuhe – ich habe sie drinnen liegen lassen …«

»Ich hole sie.«

»Nicht nötig, ich weiß genau, wo ich sie abgelegt haben muss. Jetzt macht es mir nichts mehr aus – jetzt, wo es weg ist.«

Sie lief zurück und war ein, zwei Augenblicke später wieder bei ihm.

»Tut mir leid, dass ich mich so albern aufgeführt habe – vorhin.«

»Das hätte jeder getan«, sagte Colin.

Gerade als Sheila einstieg, kam Hardcastle hinzu. Als der Wagen anfuhr, wandte er sich zum jungen Constable.

»Ich möchte, dass die Uhren im Wohnzimmer sorgfältig eingepackt und mitgenommen werden – alle mit Ausnahme der Kuckucksuhr an der Wand und der großen Standuhr.«

Er erteilte ein paar weitere Anweisungen und wandte sich dann zu seinem Freund.

»Ich muss noch woandershin. Kommst du mit?«

»Keine Einwände«, sagte Colin.

Viertes KapitelColin Lamb erzählt

»Wo soll’s denn hingehen?«, fragte ich Dick Hardcastle.

Er sagte zum Fahrer:

»Cavendish Secretarial Bureau. Ist in der Palace Street, in Richtung Promenade, auf der rechten Seite.«

»Ja, Sir.«

Der Wagen setzte sich in Bewegung. Mittlerweile hatte sich eine kleine Menschenmenge angesammelt, die mit gebanntem Interesse Maulaffen feilhielt. Die orangefarbene Katze saß nach wie vor auf dem Torpfosten der Diana Lodge, gleich nebenan. Sie putzte sich jetzt nicht mehr das Gesicht, sondern saß nur aufrecht da, wedelte leicht mit dem Schwanz und blickte über die Köpfe der Gaffer mit der vollkommenen Verachtung für das Menschengeschlecht hinweg, die das Geburtsrecht von Katzen und Kamelen ist.

»Erst das Sekretariatsbüro und dann die Putzfrau, in dieser Reihenfolge«, sagte Hardcastle, »denn langsam geht es auf den Feierabend zu.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Schon vier durch.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Nicht unattraktiv, das Mädchen?«

»Aber gar nicht«, sagte ich.

Er warf einen amüsierten Blick in meine Richtung.

»Aber sie hat mir eine sehr bemerkenswerte Geschichte erzählt. Je eher ich sie überprüft habe, desto besser.«

»Du glaubst doch wohl nicht etwa …«

Er fiel mir ins Wort.