Auf ein Ewiges - Marta Monti - E-Book

Auf ein Ewiges E-Book

Marta Monti

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Beschreibung

Eine Frau verschwindet und der Fall landet bei der Berner Kripo. Das B&B-Team Beta Bianca und Benno Bertschi hört sich in der Bar um, in der die Gesuchte zuletzt gesehen wurde. Der aalglatte Barkeeper, seit längerem im Blickfeld des Drogendezernats, scheint die Frau nur als trinkfeste Kundin gekannt zu haben. Er ist befreundet mit dem Werkstattleiter, der mit der Vermissten in der gleichen Firma arbeitet. Die beiden Männer verbindet ein Geheimnis, das mit der gesuchten Frau zu tun hat. Und welche Rolle spielt der Vater? Warum hat seine Tochter ab der vierten Klasse nicht mehr in der Familie gelebt? Im Elternhaus der Vermissten herrscht jedenfalls dicke Luft, und nach dem Besuch des Barkeepers beim Vater der Frau erst recht. Wen immer das B&B-Team befragt, es trifft auf eine Mauer des Schweigens. Jeder hat etwas zu verbergen.

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Seitenzahl: 440

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Marta Monti

Auf ein Ewiges

Marta Monti ist eine Bergfrau. Im Inntal aufgewachsen, zog es sie mit Zwanzig nach Brig im Rhonetal, wo man, um den Himmel zu sehen, den Kopf in den Nacken legen muss. Später sehnte sie sich nach gipfelloser Landschaft, und machte sich auf nach Berlin. In den Sommermonaten weilt sie in Katalonien, und tummelt sich dort zwischen Granat- und Liebesäpfeln.Auch beruflich lotete sie verschiedene Bereiche aus. Ob als Journalistin oder Kneipenwirtin, ob als Mitarbeiterin beim WWF Zürich oder im Haus der Kulturen der Welt in Berlin – sie liest Leben auf. Beim Sammeln von dem, was ist, helfen ihr drei erwachsene Kinder und fünf Enkelkinder.

Der vorliegende Band ‚Auf ein Ewiges‘ ist der erste einer Trilogie mit dem Berner Kripoteam B&B. Band zwei und drei erscheinen demnächst.

Marta Monti

Auf

ein

Ewiges

Kriminalroman

www.tredition.de

© 2016 Marta Monti

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7345-1072-4

Hardcover:

978-3-7345-1073-1

e-Book:

978-3-7345-1074-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

Für

Romed

Nadia

Lukas

und

Lars

Noah

Ayla

Milena

Elin

Der Roman ‚Auf ein Ewiges‘ ist als Fiktion angelegt.

Aus erzählerischen Gründen wurde ein Fluß umgeleitet. Dörfer wurden versetzt, und Städte erhielten eine andere Note.

Der Krimi erhebt keinen Anspruch auf Realität.

Montagmorgen

Die Maschinen schweigen morgenmuffelig. Da und dort ist das Klirren von Schrauben zu hören. In einer Schublade wird nach Werkzeug gewühlt. Manchmal raschelt eine Zeitung. Der Kaffeeautomat röchelt.

„Bring mir auch einen, mit zwei Würfeln Zucker“, ruft Sven dem Kumpel zu, während er die Lederjacke in den Spind hängt. Alex fischt den Flachmann aus der Jacke. „Mit Pfiff?“, fragt er, und öffnet den Schraubdeckel.

Sven dreht sich um. „Aprikose“, bemerkt er zufrieden, stolz auf seine unbestechliche Nase. Er lässt den Schnapskaffee im Mund kreisen, bevor er ihn schluckt.

Dann gesellt er sich zu Hans, der in die Zeitung vertieft ist. Während Sven mitliest, schnippt er mit der Schere in der Luft.

„Ja“, knurrt Hans gereizt, „du kannst sie schon haben.“ Er blättert zurück und händigt Sven die Seite mit der Frau des Tages aus. Sorgfältig schneidet Sven das Bild aus, und klebt es auf die Innenseite seiner Schranktür. Es ist das dritte in der Reihe. Alex betrachtet die Fotos mit Kennerblick. Die vom Donnerstag findet er die Schönste.

„Immer mit der Ruhe“, bremst Sven den Eifer des Kollegen. „Den Star der Woche wählen wir übermorgen.“

Er kippt den Rest des Kaffees hinunter, bevor er die Auftragszettel durchgeht. Dazwischen macht er sich Notizen über das Material, das er aus dem Lager benötigt. Dann nimmt er den Hörer ab, wählt und wartet.

Verdammt“, bellt er, „warum geht die Zicke nicht ans Telefon.“ Daraufhin meckert Alex so ziegengerecht, dass Sven in seinem Ärger innehält.

„Die macht doch heute auf krank“, mischt sich Hans ein, „so wie du die am Freitag zusammengestaucht hast. Da kannst du Gift drauf nehmen.“

Sven knurrt. „Höchste Zeit, dass ich ihr die Meinung gesagt hab, der verdammten Besserwisserin. Die ist doch zu nichts zu gebrauchen. Wenn sie was leisten soll, dann kommt nichts. Oder armseliger Schund. Sie kann das Blech nicht richtig biegen, sie schleift die Kanten nicht glatt, und wenn sie ausnahmsweise gute Arbeit liefert, braucht sie dreimal länger als jeder andere. Und was die Zahlen auf dem Zollstock bedeuten, hat sie bis heute nicht kapiert. Was die sich eins vermisst! Und wir stecken dann wieder wegen ihr im Schlamassel. Sie glaubt, sie sei weiß Gott wie schlau, dabei hat sie bloß eine Riesenklappe, die verdammte Kröte, die…“

Alex imitiert einen Kröterich, um den Lacherfolg von vorhin zu wiederholen, doch Sven beachtet die krächzenden Laute nicht. Er versetzt dem Papierkorb einen Fußtritt. Der schwankt, kriegt einen weiteren Stoß verpasst, und fällt um.

„Verfluchter Mist“, kommentiert Hans mit einem Blick aufs Chaos am Boden.

„Ich hab die Schnauze voll von dieser Frau. Ich will, dass sie rausfliegt“, bellt Sven. Er setzt einen linken Lufthaken. Dann wird er ruhiger.

„Trotzdem. Jetzt brauche ich sie dringend.“

Er wählt eine andere Nummer im Lager, und fragt nach Tanja. „Das darf nicht wahr sein. Was seid ihr für ein Sauhaufen“, brüllt er in den Apparat. Weiter kommt er nicht. Da scheint ihn jemand nieder zu reden. Ab und zu öffnet er den Mund wie ein Fisch im Trockenen, doch das gedachte Wort bleibt tonlos an seinen Lippen haften. Schließlich sagt er: „Ist ja gut. Dann klären wir das jetzt.“ Er schmeißt den Hörer auf die Gabel.

„Das war Maria vom Stamm der Quasseltanten“, mutmaßt Alex, während er ein Messer wetzt. „Hat sie dich zugemüllt?“

Sven verzieht den Mund, und stellt die Tonne wieder auf. „Da kommt gleich noch mehr Schrott“, meint er.

Alex stülpt sich den Lärmschutz über die Ohren. „Diese Dezibelfrau. Die verkrafte ich nicht auf nüchternen Magen“, brummt er, und fügt hinzu: „Sie hat halt einen soliden Verstärker.“ Alles weitere verkneift er sich, weil in diesem Moment die Tür aufgeht. Maria blickt in die Runde, hievt mit den Handgelenken ihren Busen hoch, der auf dieser Höhe jedoch nicht bleiben will, steuert auf Sven zu und keift:

„Ich muss jetzt einfach meinen Frust loswerden. So geht das nicht, Werkstattleiter hin oder her.“ Ihre Stimme bebt vor Empörung. „Den Auftrag mit den Eisenkisten hast du verbockt, und niemand sonst. Es stimmt nicht, dass Tanja die Bleche falsch zugeschnitten hat. Die Maße waren richtig. Du weißt doch, dass sie alles kontrolliert, bevor sie auch nur ein Werkzeug in die Hand nimmt. Die Kisten waren nur deshalb nicht rechtwinklig, weil du sie schlampig verschweißt hast. Tanja war dann so nett und hat deinen Pfusch korrigiert. Das hat natürlich seine Zeit gebraucht. Und du, du regst dich darüber auf, wie lang sie wegen deinen Fehlern zugange ist, und machst sie obendrein zur Schnecke. Ein normaler Mensch wäre dankbar, wenn man ihm aus der Patsche hilft. Du nicht. Du verdrehst die Tatsachen so lang, bis du als Unschuldiger dastehst, und die andern die Blöden sind. Dieses Puff am Freitag geht einzig und allein auf dein Konto.“

Maria holt tief Luft. „Wenn man Mist baut, steht man dafür gerade. Aber dafür bist du zu feig. Du schiebst deine Fehler lieber andern in die Schuhe. Das ist echt gemein. Wir Frauen lassen uns das nicht länger gefallen. Tanja, Sol und ich werden ein Gespräch beim Chef verlangen, und dann wird endlich einmal Klartext geredet. Wir wollen doch sehen, wer hier wie gut ist. Und…“

„Hör auf“, herrscht Sven sie an, „und misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen. Das ist ein Problem zwischen Tanja und mir, und das werden auch sie und ich lösen. Ohne dich. Und jetzt will ich wissen, wo Tanja steckt.“

Maria zieht die Stirn kraus. „Keine Ahnung. Ich hab bei ihr zuhause angerufen, aber es meldet sich niemand. Und ihr Handy ist ausgeschaltet.“ Maria zögert, bevor sie sagt: „Das finde ich seltsam. Sie bleibt nicht weg, ohne sich abzumelden. Das ist nicht ihre Art.“

„Weißt Du, was sie am Wochenende gemacht hat?“

„Was schon, geärgert hat sie sich über dich“, giftet Maria. Sven richtet sich auf, als wolle er über sie herfallen.

Alex gesellt sich zu den beiden und versucht, die Situation zu entspannen. „Wo könnte Tanja denn sein?“

Maria, sonst so wortgewandt, verschränkt die Arme unter der Brust und schweigt. Alex wartet einen Augenblick, bevor er weiter bohrt: „Gibt es Freunde, an die man sich wenden kann? Eltern? Hausbewohner?“

„Die Frau im Erdgeschoss. Die kriegt alles mit.“

„Es wäre sicher nicht schlecht, die Frau zu kontaktieren“, schlägt Hans vor.

Einen Augenblick lang zögert Sven. Soll er aktiv werden? Vielleicht ist das im Moment angesagt, nachdem ihm Maria dermaßen den Kopf gewaschen hat. „Gut. Maria, schau mal dort vorbei. Vielleicht sind wir nachher schlauer.“

„Jetzt sofort? Kann Sol mitkommen?“

Sven blickt zu Boden, scharrt mit dem rechten Fuß, und trifft eine weitere Entscheidung. „In Ordnung. Geht sie suchen. So oder so seid ihr aber bis spätestens um vier zurück.“

Montagnachmittag

Am Nachmittag tauchen die zwei Frauen in der Werkstatt auf. Mit einem Schlag ist es still. Ihre Mienen verheißen nichts Gutes.

„Kein Erfolg“, murmelt Alex.

„Ihr habt sie nicht gefunden, stimmt’s“, stellt Sven fest. „Nun redet doch endlich“, sagt er unwirsch. „Los, Maria, mach den Mund auf.“

Maria dreht sich verächtlich weg, und Sol ergreift das Wort, wendet sich aber an Alex.

„Wir haben diese Frau Wertheim im Parterre angetroffen. Sie hat uns sofort in ihre Wohnung geschleust. Mir ist vom Mief in der Bude fast schlecht geworden. Etwas zwischen Schweiß und abgestandenem Bratöl. Wir mussten uns in die Stube setzen, weil sie uns unbedingt Kaffee servieren wollte. Es dauerte ganz schön lang, bis wir unsere Fragen loswurden. Viel hat uns Frau Wertheim nicht erzählen können, nur, dass Tanja gestern Abend gegen elf das Haus verließ, und in Richtung Zentrum ging. Sie war allein unterwegs, und kehrte nicht zurück. Das ist alles.“

„Das ist alles, was die letzte Nacht betrifft“, wirft Maria ein. „Aber wir haben auch erfahren, was Tanja sonst so treibt.“ Sie kichert. „Immer zwischen zwei und vier Uhr früh zieht sie die Klospülung, und dann rauscht es einen Stock tiefer bei Frau Wertheim. Rücksichtslos sei das, hat sie uns erklärt.“

„Mehr habt ihr nicht herausgefunden?“, unterbricht Sven gereizt die Ausführungen. Er greift zum Handy, sucht Tanjas Nummer im Speicher, und drückt die Wahltaste. Alle warten auf das Klingelzeichen. Nichts.

Maria wendet sich Sven zu: „Wir schauten noch bei Tanjas Eltern vorbei. Die wohnen in Hüniswil. Das Haus der Zumsteins liegt ein Stück hinterm Dorf, am Waldrand. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie einsam es da draußen ist. Trostlos.“

„Mensch, bring’s auf den Punkt, wir haben nicht Märchenstunde“, fährt Sven dazwischen.

Maria blickt ihn genervt an. „Tanja ist nicht dort. Wir haben so getan, als wären wir zufällig in der Gegend. Dass wir Tanja suchen, haben wir nicht verraten, schließlich wollten wir die alten Leute nicht beunruhigen. Die haben ohnehin nichts mehr zu lachen. Die Mutter sitzt im Rollstuhl, und ist auf die Hilfe ihres Mannes angewiesen, und Vater Zumstein ist selbst schwer krank.“

„Hm.“ Sven schiebt missmutig den Engländer auf der Werkbank hin und her. „Soll man sich jetzt Sorgen machen oder nicht? Ist Tanja hier, hat man bloß Scherereien mit ihr. Ist sie nicht hier, dann hat man noch mehr.“ Sven klatscht sich entschlossen auf den Schenkel. „Ich denke, wir müssen nicht gleich panisch werden. Am besten schlafen wir erst mal darüber.“

Maria fährt hoch. „Also wirklich, was bist du für ein Kollege. Na ja, von dir ist auch nichts anderes zu erwarten. Es würde mich nicht wundern, wenn du… “ Erschrocken hält sie inne. Ein unangenehmes Schweigen entsteht. Hastig redet es Maria nieder. „Vielleicht ist Tanja was passiert. Mir wird ganz mulmig, wenn ich mir vorstelle, dass sie vielleicht in ihrer Wohnung liegt, und Hilfe braucht. Wir müssen die Tür öffnen.“

„Und wie? Hast du einen Schlüssel?“

„Nein. Aber Frau Wertheim.“

„Wir unternehmen nichts, rein gar nichts auf eigene Faust. Verstanden! Maria und Sol, ihr schneidet noch vier Bleche, mit den gleichen Massen wie am Freitag. Ich geh zum Chef, und sag ihm Bescheid.“

Als Sven zurückkommt, haben die Kumpel bereits Feierabend. Maria und Sol sitzen mit ihnen zusammen. Ein seltenes Bild der Eintracht, denkt Sven. Sie haben ausgeharrt, bis er zurückkommt. Sonst geht nach Arbeitsschluss jeder gleich seiner Wege.

„Eine Runde Bier?“ Sven wendet sich an Sol. „Die Flaschen stehen im Kühlschrank.“ Sol zieht gereizt die Augenbrauen hoch. Betont langsam erhebt sie sich. „Das Rauchverbot ist für zehn Minuten aufgehoben“, verkündet Sven, und steckt sich eine Zigarette an.

„Das würde Tanja gefallen“, murmelt Maria.

Sven lässt das Bier die Kehle hinunter rinnen. Schließlich setzt er die Flasche ab und sagt: „Der Chef hat die Polizei angerufen. Sie schicken jemanden her, um uns zu befragen. Sauft also bloß nicht bis zum Anschlag.“ Dann verstummt er. Niemandem fällt ein passendes Thema ein, bis Hans die Stille zerredet. „Dieses Hüniswil ist ein eigenartiges Dorf. Es gibt zwar einen ansehnlichen Bauernhof, aber nur einen, und der wird von hässlichen Einfamilienhäusern umzingelt. So was wie ein Ortskern existiert nicht. Selbst die Kirche, die aussieht wie eine Seilbahnstation, ist planlos in die Landschaft gestellt. Es fehlt ein Dorfplatz, und vor allem ein Wirtshaus.“ Hans legt eine Kunstpause ein, bevor er weiterspricht: „Kein Wunder, dass der Pfarrer die Kundschaft verliert.“

Alex stimmt seinem Kumpel zu. „Wo kein Wirt, da keine Gläubigen.“

Hans quittiert den Einwurf mit einem Grinsen und erzählt weiter: „Hüniswil ist ein typisches Schattendorf, es liegt an der Nordseite des Tals. Im Winter verirrt sich kein Sonnenstrahl in dieses Nest. An schönen Tagen stieren dann die schattengeplagten Hüniswiler neidisch auf die andere Talseite hinüber, nach Brunnegg, wo sich die Häuser in der Sonne räkeln. Wisst ihr, dass man den Hüniswilern ihre Sonnenarmut anmerkt? Schattenmenschen haben einen besonderen Charakter. Sie sind verschlossen, misstrauisch, kleinlich und humorlos. Sie fühlen sich stets benachteiligt, und sind auffallend aggressiv.“

„Woher willst denn du das wissen“, erkundigt sich Sol argwöhnisch.

Hans antwortet trocken: „Ich zitiere nur unsern Heinz Blatter mit seinem Standartwerk übers Berner Oberland. Aber ich weiß es auch aus persönlicher Erfahrung.“ Hans reibt sich den linken Nasenflügel und fährt fort: „Meine Frau stammt aus Hüniswil.“

Alle lachen, nur Sol schüttelt den Kopf. „Du verscheißerst mich. Du hast doch gar keine Frau.“

Noch mehr Gelächter. Sol schaut verständnislos in die Runde.

Es ist Alex, der Sol nicht länger hängen lässt. „Mensch, Mädel, Hans ist Hüniswiler bis in die 35. Generation zurück. Und er ist nicht nur aus dem Schattendorf, er ist auch noch vom andern Ufer.“ Er hebt die Flasche und prostet Hans zu. „Zwei aus dem gleichen Dorf! Die Firma hat was übrig für Schattendörfler.“

„Hast Du Tanja schon gekannt, bevor sie hier angefangen hat“, erkundigt sich Maria.

„Nur vom Sehen. Ich bin 16 Jahre älter als sie. Da verlieren sich die Berührungspunkte. Außerdem hat Tanja das Dorf verlassen, als sie zehn war, und es sieht so aus, als wolle sie mit Hüniswil nichts zu tun haben. Seit sie hier arbeitet, hat sie bloß einmal von ihrem Heimatort gesprochen. Da ging es um die düsteren Wintermonate. Tanja giert ja bis heute nach Sonne.“

Marias Augen lächeln. „Ja, das stimmt. Aber ich glaube nicht, dass sie was gegen Hüniswil hat. Sie hat was gegen das Haus, in dem sie aufgewachsen ist. Das mag sie nicht, und das kann ich verstehen.“ Sie wirft Sol einen Blick zu. „Wir waren ja vorher bei Tanjas Eltern. Dieses Haus in der Pampa ist der pure Schock. So was von öde und langweilig! Weit und breit keine anderen Kinder zum Spielen. Noch dazu war Tanja ein Einzelkind. Kein Wunder, dass sich Tanja nicht gern an ihre Kindheit erinnert.“

Sol nimmt den Faden auf und sagt: „Es ist wirklich sonderbar da draußen. Irgendwie war mir unheimlich. Als wir aus dem Auto stiegen, hatte ich das Gefühl, dass uns Herr Zumstein hinterm Fenster beobachtet. Und doch dauerte es dann eine ganze Weile, bis er die Tür öffnete. Er führte uns zu seiner Frau in die Stube, und ging in die Küche, um Kaffee aufzubrühen. Wir plauderten inzwischen mit Frau Zumstein und erfuhren, dass sich Tanja selten bei ihnen blicken lässt. Dabei strich die Frau ununterbrochen mit der Hand über die Decke auf ihrem Schoss. Das alles war so bedrückend, dass ich nah dran war zu heulen. Es ist voll die Härte! Da sitzt die Mutter im Rollstuhl, und Tanja kümmert sich nicht um sie.“

„Wir wissen nicht, warum das so ist“, wendet Hans ein. „Die meisten Probleme haben eine Vorgeschichte. Vielleicht ist die Situation bloß momentan verzwickt, und es renkt sich alles wieder ein. Unsere Tanja hat doch ein großes Herz. Übrigens, was fehlt denn Vater Zumstein?“

Sol antwortet: „Der hat Knochenkrebs. Aber im Moment scheint es ihm gut zu gehen. Heute Nachmittag jedenfalls steckte er voller Energie, und strahlte etwas Jugendliches aus. Dabei ist er sicher schon sechzig. Es hat mir auch gefallen, wie er uns den Kaffee einschenkte. Er war so aufmerksam.“

„Ich habe ihn schmierig gefunden“, unterbricht Maria sie. „Der wollte sich bei uns einschleimen. Hast du bemerkt, wie er mit seiner Frau umging? Gar nicht ging er mit ihr um. Zwar reichte er ihr die Tasse, und stellte ihr Kekse hin, aber sonst behandelte er sie wie Luft. Der Mann hat kein Mitgefühl, und Frau Zumstein ist ihm total ausgeliefert.“

„Lass gut sein, Maria. Du hast schon einen krassen Hang zum Dramatisieren“, sagt Sol. „Wir reden von Tanjas Eltern und nicht von einer Soap im Fernsehen.“

„Ich weiß nicht, wo du die Augen hast“, verteidigt sich Maria. „Herr Zumstein ist ein Zombie.“

„Du hörst die Mäuse husten. Herr Zumstein ist in Ordnung. Tanja redet jedenfalls nie schlecht von ihm.“

Das Telefon läutet. Sven greift zu Hörer. Das Gespräch dauert nicht zehn Sekunden. „Der Chef kommt, und ein Bulle. Flaschen weg, Fenster auf“, befiehlt er, bevor er die Frauen fixiert. „Ihr zwei Mädel fasst euch bei der Befragung kurz. Alles klar?“

Unbeweglich sitzt die Frau am Fenster, das Gesicht dem nahen Wald zugewandt, als würde sie dort draußen nach dem Leben suchen. Doch der Schein trügt, sie hält die Augen geschlossen. Es macht keinen Sinn, sie zu öffnen. Hier gibt es nur Trostlosigkeit. Eine Straße, viele Bäume, das ist alles. Keine Blumenwiese, kein Haus, aus dem ein Mensch tritt, selten ein Auto. Nicht einmal Rehe verirren sich in die Einöde. Die Natur in ihrer Vielfalt hat sich anderswo ausgebreitet. Katrin verspürt kein Bedürfnis, ins Nichts zu blicken.

Er blättert in der Zeitung, überfliegt die fettgedruckten Titel, verweilt bei einem Bild, und liest die Legende. Katrin kennt ihren Mann. Wenn er rastlos die Seiten wendet, beschäftigt ihn etwas. Es ist ihr einerlei, was er denkt und fühlt. Hauptsache, er lässt sie in Ruhe, damit sie ungestört ihren Gedanken nachhängen kann. Die kreisen seit zwei Tagen um ihre Tochter. Als Tanja vorgestern zu Besuch kam, war nämlich alles anders als sonst. Nicht, dass Tanja ihr liebevoll begegnet wäre, aber sie warf ihr keine scheelen Blicke zu. Sie verzog nicht abschätzig die Lippen, und sie verzichtete auf Vorwürfe. Als der Vater im Keller verschwand, pflanzte sich Tanja vor ihr auf, und sah sie durchdringend an, als würde sie ihre Mutter zum ersten Mal wahrnehmen. Schließlich stellte sie die von ihr so gefürchtete Frage: „Wie kannst du so leben“, drehte sich um, weil sie ohnedies keine Antwort erwartete, und verließ das Zimmer. Deshalb bemerkte sie nicht, wie Katrin zustimmend nickte. Ihre Tochter hatte sie mit genau der Frage konfrontiert, die sie seit jeher beschäftigt.

Nervös raschelt Zumstein mit der Zeitung. Gleich wird er den Mund aufmachen. Katrin ist froh um jede Minute, in der er sie nicht belästigt.

„Die sind nicht zufällig vorbeigekommen“, redet Zumstein vor sich hin. „Die wollten was ausspionieren. Vielleicht wollten sie wissen, ob ich dich gut versorge. Du bist doch zufrieden mit mir, oder etwa nicht?“

Zumstein lässt sein hämisches Lachen los. „Du weißt doch, für dich tu ich alles.“

Da Katrin nicht reagiert, wird sein Ton scharf. „Es nützt dir nichts, wenn du dich schlafend stellst. Du hörst ja doch, was ich sage. Also mach die Augen auf, damit du kapierst, was um dich herum abläuft. Nur wer hinschaut, kennt sich aus.“

Leise, aber deutlich, schwirren Katrins Worte durch den Raum: „Ich hätte dich umbringen sollen.“

„Die Gelegenheit hast du verpasst. Jetzt schaffst du das nicht mehr“, höhnt Zumstein. „Abgesehen davon, wie kämst du ohne mich im Rollstuhl zurecht. Du glaubst doch nicht, dass Tanja dich pflegen würde.“

Zumstein lehnt sich im Sessel zurück, streckt die Beine aus, und verschränkt die Arme. Mit dem Instinkt einer Ratte hat er Katrins wunden Punkt berührt. Sie hält die Luft an, um die Pein besser auszuhalten. Natürlich kann sie nicht mit ihrer Tochter rechnen. Tanja würde sich nicht um sie kümmern. Einmal mehr überfällt Katrin dieses heftige Gefühl von Reue. Warum nur hat sie diesen Mann gewähren lassen? Wenn sie sich damals nicht geduckt hätte, wäre Tanja heute vielleicht auf ihrer Seite. Vielleicht. Aber das sind müßige Gedanken. Tanja hat sich von ihr abgekehrt. Da ist nichts mehr zu retten. Mit einem Anflug von Trotz tröstet sich Katrin. Sie ist auf niemanden angewiesen. Nicht auf ihn. Nicht auf sie. Die Jahre bis zum Tod kann sie sich notfalls im Pflegeheim Spiez versorgen lassen.

Ihr Mann hängt anderen Gedanken nach, ihn beschäftigen Tanjas Kolleginnen. „Diese Maria passt mir gar nicht. Die hat sich vor Freundlichkeit fast überschlagen, das falsche Weib. Hast du gemerkt, wie misstrauisch sie mich taxiert hat? Ach was, warum rede ich überhaupt mit dir. Du hast sowieso nichts mitgekriegt.“

Zumstein kehrt zu seinem Thema zurück. „Ich frage mich, was Maria über uns weiß. So, wie ich unsere Tochter kenne, wird sie ein wenig geplaudert haben. Obwohl ich ihr stets eingebläut habe, dass das, was bei uns zuhause läuft, niemanden etwas angeht. Aber wenn man säuft und kifft und das Maul so weit aufreißt wie Tanja, nützen Ermahnungen nichts. Es ist ein Kreuz mit ihr.“

Die Finger seiner rechten Hand klimpern nervös auf der Sessellehne. „Was wollten die zwei Frauen bei uns? Da steckt doch was dahinter, wenn sie an einem Werktag herumstrolchen, anstatt zu arbeiten. Und warum war Tanja nicht dabei?“

Katrin antwortet nicht.

Schließlich beugt sich Zumstein über den Tisch und fuchtelt mit dem Zeigefinger in Richtung Rollstuhl. „Was hast du mit Tanja gemacht? Hast du sie gegen mich aufgehetzt? Denkst du, wenn sie dich nicht mag, soll sie auch mich nicht mögen? Ich habe längst kapiert, wie du tickst. Du gönnst Tanja nicht einmal ihre Liebe zu mir, du nutzloses Stück, du.“

Nach einer Weile erkaltet Zumsteins Zorn. „Du hast sie vergrault“, wirft er seiner Frau vor. „Die sehen wir so schnell nicht wieder.“

Eine Weile ist es still, aber in Zumstein gärt es. Hinter den halb geschlossenen Lidern sieht Katrin ihn den Kopf schütteln. Er hebt den Arm, nur um ihn wieder sinken zu lassen. Dann bricht es aus ihm heraus. „Das Mädel hat sich schlecht entwickelt. Sie hat keine Ausbildung, hängt in den Bars rum und nimmt Drogen. Und an uns erinnert sie sich nur, wenn sie Geld braucht. So weit ist es mit ihr gekommen.“

Verbittert fügt Zumstein hinzu: „Und wer trägt die Schuld daran? Wer wohl? Deine feine Schwester. Jetzt siehst du, wohin es führt, wenn man sein Kind nicht selbst aufziehen will.“

Katrin reagiert nicht. Soll er doch seinen Hass versprühen. Ihre Gedanken weilen bei der Tochter. Vorgestern ist Tanja anders gewesen als sonst. Nicht so verschlossen. Eine Spur weicher. Katrins Herz flattert. Sie stellt sich vor, wie Tanja auf sie zugeht, wie sie sich neben sie setzt und zu reden beginnt. Die Worte sprudeln nur so aus ihrem Mund. Sie erzählt von ihrem Freund, und wie sie sich das Leben mit ihm vorstellt. Und Katrin erklärt ihr, wie man Hüniswiler Fondue zubereitet, das Tanja so gern isst. Manchmal streicht Tanja ihr die Haare aus der Stirn, und Katrin schildert ihr, wie sie als Kind verzweifelt angelaufen kam, weil der Willi keine Beine mehr hatte, und wie sie, nach einem Blick aus dem Fenster, gelacht hatte, weil man von der Katze im Schnee nur noch den Kopf und den pechschwarzen Körper sah.

Im Innern lächelt Katrin. Ja, so hätte es vorgestern sein können. Mit ihren Träumereien macht sich Katrin ein wenig Freude. In Wirklichkeit gibt es keinen Austausch zwischen ihr und ihrer Tochter. Sie sind beide gefangen. Tanja in der Rolle der Richterin, und sie in der einer Schuldigen.

Jetzt erst realisiert Katrin, dass der Mann gar nicht mehr redet. Aus den Augenwinkeln wirft sie ihm einen Blick zu. Zumsteins Hände ahmen den Waschritus nach. Er kann nicht verwinden, dass Tanja ihn am Samstag wie Luft behandelt hat. Sie hat ihn zum ersten Mal in ihrem Leben nicht beachtet.

Ein unangenehmes Ziehen in der Leistengegend lässt Zumstein aufstöhnen. „Verdammter Hurenkrebs“, zischt er, und greift sich an die Hüfte, als wolle er den Schmerz abfangen. Und wirklich, der Schmerz hält inne, bloß um gleich darauf im Knie aufzuzucken. Er rast zurück zur Hüfte und nistet sich im Oberschenkel ein, ehe Zumstein auch nur einmal durchgeatmet hat. Entgeistert betrachtet Zumstein das Bein, als gehöre es nicht zu ihm. Er schnauft schwer, und streicht sich beruhigend über die Hüfte. Schließlich beißt er die Zähne zusammen, und erhebt sich. Vornüber gebeugt hält er sich am Tisch fest.

Zwischen den Eheleuten fällt kein Wort.

Nach einer Weile richtet er sich auf. In vorsichtigen Schritten nähert er sich dem Buffet. Dort legt er, sich anlehnend, eine Pause ein. Er flucht sich die Pein von der Seele, erreicht die Wohnzimmertür, und verschwindet.

Katrin hört, wie er die Kellertreppe hinuntersteigt. Er verwünscht seinen Körper, er wütet gegen die Welt. Der große Zampano hat die Kontrolle über sich verloren, denkt Katrin. Jetzt ist er ein Wrack. Irgendwann schlägt jedem die Stunde der Ehrlichkeit.

Später kommt Zumstein leichtfüßig die Treppe hoch. Seine Gesichtszüge wirken entspannt. Katrin braucht ihm nicht in die Augen zu schauen. Sie weiß auch so, dass seine Pupillen im Keller gewachsen sind. Knopfgroß sind sie jetzt.

Kommentarlos setzt sich Zumstein in den Sessel und vertieft sich in den Artikel über ein Beinhaus im Oberwallis, dessen rückwärtige Wand aus übereinander gestapelten Totenschädeln besteht.

Mittwochabend

Das Fußballspiel ist aus. Gut haben sie gespielt, die Franzosen. Dieser Mittelstürmer Henri, einsame Spitze! Der hat ein Tempo vorgelegt, das die Italiener nur mit Mühe halten konnten. Vier zu zwei. Sven ist mit dem Ergebnis zufrieden. Er hält es ohnedies mehr mit den Franzosen. Die Makaronifresser sind ihm zu theatralisch. Ständig liegt einer am Boden, und versucht mediengerecht zu sterben, nur weil ihn ein Gegenspieler angepustet hat.

Sven guckt auf die Uhr. Noch nicht zehn. Er zieht sich den Rest Bier rein, greift zu Lederjacke und Schlüssel, und verlässt die Wohnung. Unten auf der Straße atmet er die Seeluft durch die Nase ein. Er blickt nach beiden Seiten. Kein Auto, kein Fußgänger. Sven fühlt sich leicht. Das hat er sich immer gewünscht, kommen und gehen zu können, ohne beobachtet zu werden. Ohne neugierige Fragen beantworten zu müssen. Der Kontrollblick der Kientaler löst in ihm bis heute ein Gefühl der Lähmung aus. Wenn er damals mit Sechzehn nicht die Stelle in Spiez gefunden hätte, wäre er auf dem Hof verkommen. Das Sturmgewehr hätte er eines Tages ergriffen, und die mit dem Kontrollblick hätte er alle niedergemäht.

Der fahle Schein der Straßenlampen begleitet Sven auf dem Weg in die Innenstadt. Lückenlos dösen die Autos in blau umrandeten Rechtecken. Wer abends zu spät heimfindet, kurvt vergebens durchs Quartier. Alles zugeparkt. Erst hinten beim Friedhof kriegt man das Auto los, denn die, die dort wohnen, brauchen keinen Parkplatz mehr.

Svens Gedanken schweifen ab. Er grinst vor sich hin. Eine Frau. Wieder einmal eine Frau abschleppen. Vögeln ist gesund. Das jedenfalls hat sein Onkel in Kiental verkündet, und zwar in Gegenwart der Schwägerin, einer Braut Christi. Die ließ sich prompt provozieren. Sie erfreue sich bester Gesundheit, auch ohne das Zeug, meinte sie spitz. Da erwiderte der Onkel bloß: „Wer weiß, was ihr im Kloster so treibt.“ Svens Mutter war entsetzt über ihren Bruder, und jagte ihn aus der Küche. Ein gottverdammtes Lästermaul sei er, rief ihm die Nonne hinterher. Erst als ihr ein unbändiges Lachen vom Gang entgegenschallte, merkte sie, dass sie mit ihrem Fluch dem Kerl in die Hand gespielt hatte. An jenem Abend folgte Sven dem Onkel auf den Dreschplatz, und setzte sich neben ihn auf die Mauer. „Was für eine bigotte Brut“, schimpfte der Onkel. „Schlagen die Augen nieder, sobald von Sex die Rede ist. Dabei lauschen sie nie andächtiger als gerade dann. Hast du gesehen, wie ihre roten Ohren wackeln vor Gier nach schlüpfrigen Geschichten?“ Er klopfte Sven auf die Schulter. „Die Weiber sind blöd. Machen die Schoten dicht, anstatt sich ihren Spaß zu holen.“

Seltsam, denkt Sven, dass er sich an den Spruch erinnert, obwohl er ihn damals nicht so richtig verstanden hat. Er kickt einen Stein vor sich her. Ohne den Onkel hätte er seine Familie nicht ertragen. Nicht den nörgelnden Vater. Nicht die scheinheilige Mutter. Vor allem aber hätte er ohne den Onkel den Absprung von zuhause nicht geschafft. Dank dessen Vermittlung fand Sven eine Stelle in Spiez.

Im Stadtzentrum vereinigt sich das Licht der Straßenlampen mit dem der Schaufenster. An den dunklen Häuserfassaden kleben gelbe Rechtecke. Noch. In einer halben Stunde werden sie schwarz sein. Dann gehen die Spiezer zu Bett. Jedenfalls an einem Mittwoch. Ruhig ist es ohnedies schon eine ganze Weile. Durch die schalldichten Fenster dringt kein Lachen, kein Fernsehton. Stumme Stadt.

Sven biegt in die Kirchgasse ein. Über der Tür zum ‚Stollen‘ schaukelt die Bierreklame fürs Egger. Ein schmaler Flur führt durch das Haus bis zu einer Stiege. Sven steigt die Treppen hinunter. In der Bar hängt dichter Tabaknebel. Stimmen betten sich in die Rauchschwaden ein, und Musik streift sein Ohr. Auf dem Weg zur Theke grüßt Sven ein paar Bekannte. Er nickt dem Barkeeper Tim zu und wartet, bis sein Bier gezapft ist. Weder er noch Tim erwähnen, dass sie zu einem Gespräch verabredet sind.

Während sich Sven an den Kommentaren übers Fußballspiel beteiligt, lauscht er mit einem Ohr der Band „Element of Crime“. Er schaut zu Tim hinüber. Ihre Blicke kreuzen sich. Kein Grinsen, kein Zeichen. Eine Weile beobachtet Sven zwei Frauen. Sie erinnern ihn an seine Lust auf Sex. Die mit der blonden Mähne, die würde er sofort flachlegen. Zuerst einen guten Joint. Und dann. Er hat sie hier im ‚Stollen‘ schon einmal gesehen. Die andere kennt er nicht. Er holt sich ein zweites Bier und stellt sich zu den beiden. Bevor Sven sich jedoch in die Diskussion einklinken kann, löchert ihn die Blonde bereits mit Fragen nach Tanja. Er merkt auf Anhieb, dass er bei ihr nicht landen wird. Und über Tanja reden, darauf hat er null Bock. Wut kocht in ihm hoch, besetzt den Magen, nistet sich ein im Herz, und hinterlässt eine Aggression, die sich in den Händen sammelt. Der Blonden den Hals umdrehen. Sie abmurksen. Vermiest ihm die Gier auf den Fick, die verdammte Schlampe.

Nach außen ist Sven kalt beherrscht. Er erklärt, dass man bis jetzt nicht wisse, wo Tanja sei. Mehr könne er dazu nicht sagen. Über Köpfe hinweg grüßt er mit der Hand einen Kollegen, entschuldigt sich bei den Frauen, und geht. An seinem Rücken zerschellt lautes Weiberlachen.

Mit dem Bierglas in der Hand schlängelt sich Sven durch die voll besetzte Bar. Der Kumpel, dem er gewinkt hat, lässt sich von Sven übers Fußballspiel informieren. Dann gibt er ihm ein Zeichen mit dem Kopf.

Ein kleines Geschäft, warum nicht. Sven trägt immer eine Portion Gras auf sich, das heißt, eigentlich zwei. Eine für sich, und eine zum Verkaufen. Er fährt nicht schlecht damit. Der Gewinn finanziert ihm den Feierabend, was will man mehr. Große Deals interessieren ihn nicht, die sind ihm zu riskant. Er will nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen.

Sven wirft dem Barkeeper einen Blick zu und nickt. Tim lässt die beiden durch die halboffene Tür hinter der Theke passieren. Der düstere Gang, beleuchtet von einer 15Watt-Birne, führt zu einer Eisentür. Sven öffnet sie. Lautes Tosen schlägt ihm entgegen. Der ungestüme Bach, auf seinem Weg zum Thunersee, verschluckt jeden Lärm. Vom kleinen Vorplatz zweigt ein schmaler Pfad ab, der zur 300 Meter entfernten Straße führt. Bis auf die Notleuchte über der Tür ist es stockdunkel.

Sven wickelt das Geschäft mit seinem Kunden ab. Der ist nun aufgekratzt und baut sich eine Tüte. Sven zieht zweimal daran, bevor er in die Bar zurückkehrt, und bei Tim ein nächstes Bier tankt. Die beiden Zicken sind verschwunden. Über die Wurlitzer beugt sich eine Frau und studiert die Songtitel. Sie scheint allein zu sein. Sven kennt sie vom Sehen. Sie taucht manchmal im ‚Stollen‘ auf, und jedes Mal weckt sie in ihm zwiespältige Gefühle. Ihr sicheres Auftreten zieht ihn irgendwie an. Sie strahlt genau das Selbstbewusstsein aus, das ihm fehlt. Aber ihre Souveränität frustriert ihn auch. Instinktiv weiß er, dass er ihr nicht genügen kann. Auch jetzt kommt er sich klein vor, und sofort flammt heiße Wut in ihm auf. In Gedanken beschimpft er sie als lahme Braut, sauertöpfisch und langweilig, und entsetzlich kompliziert. Doch je länger er sie beobachtet, umso mehr wächst seine Lust, sie anzusprechen.

Sven sieht, welche Taste sie drückt. E5. Bevor sich die Scheibe dreht, errät er, was sie gewählt hat. Ist doch klar, den Emanzensong hat sie gedrückt. Zusammen mit Joan Armatrading singt sie ‚I may look over my shoulder, but I‘ll never leave your side‘. Eine Frau an der Bar pfeift dazu. Sven wippt mit dem rechten Fuß, und summt mit. Von Zeit zu Zeit kreuzen seine Blicke die der Frau an der Wurlitzer. Er wird sie anbaggern. Die Gewinnchancen stehen gut. Nur noch auf den richtigen Moment warten.

Die Frau beginnt zu tanzen. Sie lächelt leise, sie genießt die Aufmerksamkeit, die man ihr entgegen bringt. Beim letzten Gitarrenakkord geht sie auf einen Mann zu. Sie umarmt ihn. Umschlungen bleiben die beiden stehen. Die Außenwelt existiert nicht mehr für sie. Sven nickt vor sich hin. Arschgeige. Wieder so eine, die Männer antörnt, sie dann stehenlässt.

Sven stellt das leere Glas auf die Theke. Nach dem üblichen Blickkontakt mit Tim verschwindet er durch den Keller nach draußen. Auf dem halbrunden Platz vor der Hintertür blödelt eine Gruppe, während ein Joint die Runde macht. Sven stellt sich dazu und raucht mit. Man kennt sich. Niemand fragt ihn nach Tanja, was ihn erleichtert. Ein Pärchen stößt dazu. Man redet unbeschwert miteinander, dem lauten Bach ist es egal, was sich an seinem Ufer tut.

Ein neuer Joint wird herumgereicht. Sven nimmt einen tiefen Zug und gibt den Kiff weiter. Im ‚Stollen‘ ist Kiffen verboten. Wer von Tim erwischt wird, kriegt Hausverbot, und das mag sich niemand einhandeln. Es wäre der Anfang einer absoluten Vereinsamung. Denn für die Jungen gibt es nur einen Treffpunkt in Spiez, den ‚Stollen‘, auch wenn die Musik aus dem vorigen Jahrtausend stammt. Oder vielleicht gerade deshalb. Jeder hält sich an Tims Hausordnung, und die lautet, drinnen nie, auch kein Gespräch darüber. Den Eingeweihten genügt ein kaum wahrnehmbares Zeichen mit dem Kopf. Wer eine Gefüllte will, muss an Tim vorbei. Und der lässt nur diejenigen durch, die er kennt. In seiner Bar werde nicht gekifft, behauptet Tim gegenüber jedem, der es hören will, und das ist nicht einmal gelogen. Tim wirkt so überzeugend, dass ihn sogar die Polizei in Ruhe lässt, was Sven immer wieder zur Frage verleitet, ob Tim den Quartierbullen schmiert.

Von drinnen hört Sven ‚depuis toujours‘. Jeden Abend um halb Zwölf lässt Tim den Franzosensong laufen. Damit signalisiert er seinen Gästen, dass sie ein letztes Bier bestellen können. Sven atmet tief durch. Er fühlt sich federleicht. Das Blut in seinen Adern rauscht, es rauscht wie das Wasser des Bachs.

Die Outdoor-Kiffer beeilen sich, in die Bar zurückzukehren. An der Theke staut sich die Menge der Bierseligen, und Sven wird gestoßen und geschoben, während er dem Text hinterher sinnt. Francis Cabrel, der in seinem Lied gesteht, seit immer zu lieben. Heilloser Romantiker, urteilt Sven. Ihm selbst würde eine Stunde reichen. Abgesehen davon bedeutet der Song für ihn ohnedies Bier, und nicht hehres Gefühl. Als er das Lied einmal im Kaufhaus hörte, bekam er Durst.

Tim, der auf Vorrat gezapft hat, verteilt volle Gläser, schenkt hier nach und dort. Schließlich ist es genug. Der Zapfhahn hat Feierabend. Tim geht von Tisch zu Tisch, und kassiert bei den Gästen ein. In die lauten Gespräche drängt sich die raue Stimme von Tom Waits. Einer an der Bar krächzt mit. Die Darbietung wird mit beifälligem Gejohle quittiert. Jeder versucht noch einmal, originell zu sein, bevor die Stimmung kippt. Denn mit Tom Waits geht der Abend zu Ende. Der Song „drunk on the moon“ beginnt auf die Sekunde genau um Mitternacht. Er ist mit der Zeituhr gekoppelt, und auf unendliche Wiederholung programmiert. Das treibt selbst Schwerhörige irgendwann aus dem Lokal. Manchmal bleiben ein paar Gäste zurück. Das sind die, die Tim ausdrücklich eingeladen hat.

An diesem Abend lehnt nur Sven an der Theke. Tim löscht das Reklamelicht am Eingang und schließt die Tür. Eiswürfel klirren leise gegen Glas, als jeder mit seinem Whisky Platz nimmt. Noch fällt kein Wort zwischen ihnen.

Plötzlich schlägt Tim mit der flachen Hand auf den Tisch. „Schieße ist das. Absolute Schieße. Du wirst sehen. Jetzt fangen die Scherereien an. Ich hab es geahnt. Mit den Frauen hat man nur Ärger.“

Sven zuckt vielsagend die Achseln.

„Mensch, Sven, wenn die Sache mit Tanja und dem Dope auffliegt, bin ich geliefert. Dann schließen sie mir die Bar. Gestern quetschte mich ein Bulle aus. Er fragte mich rauf und runter wegen Tanja. Aber ich weiß auch nichts. Nur dass sie am Sonntag um halb zwölf nach hinten abgehauen ist. Sie wollte unbedingt, dass ich nach ihr abschließe. Also hat sie drüben bei der Brücke noch jemanden getroffen. Ihren Lieferant, nehme ich an.“

Tim gönnt sich einen Schluck, bevor er sich eine Zigarette anzündet. „Natürlich hat der Bulle gefragt, ob Tanja kifft, und ob sie handelt. Keine Ahnung, hab ich gesagt. Bei mir in der Bar gibt es so was nicht. Und was die Leute sonst treiben, da hab ich keinen Überblick.“

Sven grinst: „Hat er dir das abgenommen?“

„Weiß ich doch nicht“, brummt Tim. „Er hat nur jedes Wort in sein Notizbuch geschrieben. Doof sind die bei der Polizei auch nicht. Die haben doch längst mitgekriegt, dass hier manchmal gepafft wird. Man hat mir bis jetzt bloß nie etwas nachweisen können.“

Sven zieht die Stirn in Falten: „Meinst du, jetzt kommt ein Stein ins Rollen?“

„Das ist so sicher wie das Amen im Gebet.“

Die beiden füllen den Raum mit Schweigen. Schließlich bemerkt Sven mitleidlos: „Schaut schlecht für sie aus.“

Tim nickt. „Echte Hühnerkacke. Da stecken garantiert die Albaner dahinter, und die lassen nicht mit sich spaßen. Wenn Tanja ein krummes Ding gedreht hat, dann ist sie dran. Wäre schade um sie. Ist eine patente Frau.“ Tim beginnt zu feixen. „Bloß viel zu emotional“, sagt er und rempelt Sven in die Seite. „Das weißt du besser als ich.“

Sven hat gerade keinen Nerv für anzügliche Sprüche. Ihm steht der Schweiß auf der Stirn. „Hast du dem Bullen etwas von mir verraten“, fragt er.

Tim schaut ihn entgeistert an. „Bist du blöd? Ich bin ein Kumpel von dir, ist das klar? Und ich erwarte, dass auch du nichts von mir erzählst. Du weißt nichts. Kapiert?“

„In Ordnung.“ Sven seufzt erleichtert. „Wenn es für mich eng wird, muss ich Tanja in die Pfanne hauen. Und dann? Dann wird man mich fragen, woher Tanja den Stoff hat.“ Sven wirft Tim einen lauernden Blick zu.

Tim zuckt mit den Schultern. „Na und? Das weißt du sowieso nicht. Wir können nur vermuten, dass das Zeug von denen kommt, die hier das Sagen haben. Und das sind die Albaner. Aber mach dir keine unnötigen Sorgen. Das ist Tanjas Problem.“

Die Gläser sind leer. Tim lässt sich nicht lumpen, er spendiert einen zweiten Whisky mit Eis. Er prostet Sven zu, während seine linke Hand in den braunen Locken wühlt. Schließlich sagt er in bestimmtem Ton: „Ich habe nichts, aber auch gar nichts mit Drogen zu tun. Hast du das gespeichert? Umgekehrt weiß ich nicht, was du privat treibst.“

Tim prostet Sven zu. Der entspannt sich. Wenigstens von Tim geht keine Gefahr aus. Wenn bloß Maria mit ihrem Flatrate-Gefasel nicht wäre.

„Du kennst doch Tanjas Freundin“, erkundigt er sich. Tim verdreht die Augen. „Klar. Die taucht manchmal mit Tanja auf. Eine von denen, die ohne Punkt und Komma quatscht. Gestern war sie da, und wollte mir wegen Tanja die Würmer aus der Nase ziehen. Aber ich hab sie auflaufen lassen. Was ist mit ihr?“

„Sie mag mich nicht, und sie wird mir die Hölle heiß machen.“

Freitagnachmittag

Beta Bianca lässt ihren Blick übers Wasser schweifen. Das leise Plätschern am Ufer klingt in ihren Ohren wie Musik. Sie läuft den Steg entlang, der in den See hinausführt, und zeigt den Fischen und Vögeln ihr neues Kleid. Dazu dreht sie sich hin und her, wiegt sich in den Hüften, und ixt ein Bein vors andere wie ein Mannequin. Als sie über eines der Bretter stolpert, beendet sie die Show, und kehrt zum Haus zurück. An der Südwand blühen noch ein paar rote Rosen, die letzten vorm Winter. Die Kletterpflanze ist mehr als vierzig Jahre alt, doch im Monat Mai vergisst sie ihr Alter. Dann sprießen die Rosen um die Wette, und dieses Sonderangebot lässt die Bienen ganz rappelköpfig werden. Selbst die stolzen Schwäne bleiben stehen, und zollen der duftenden Pracht Bewunderung.

Beta streicht mit der Hand über den Rosmarin und schnuppert daran. Die verdorrten Zweige des Thymian machen sich nicht gut, und eigentlich sollte sie die von den Bäumen fallenden Herbstblätter zusammenrechen. Wie gut, dass sich niemand daran stört. Wie lebt allein in diesem Haus am Thunersee, und direkte Nachbarn gibt es nicht.

Im Flur streift ihr Blick das Foto von Fabrizio. Wenn sie nur endlich ein paar Tage mit ihm verbringen könnte, ohne dass einer von ihnen arbeitet. Aber da wird sich in absehbarer Zeit nichts ändern. Seine Reben und ihre Leichen stehen sich im Weg.

Sie setzt sich an den Schreibtisch. Vor ihr liegt die Akte mit dem Raubüberfall. Lustlos kritzelt sie Notizen auf ein Blatt, bis sie den Ordner resolut zur Seite schiebt, und sich ins Netz einklinkt. Sie macht ein paar Fingerübungen bei Google, entdeckt ein Fortbildungsangebot zum Thema Gesprächstraining, und öffnet die Seite. Die Kunst zu fragen. Aha. Als Kriminalbeamtin befindet sie sich in der Zielgruppe, so wie Lehrer, Soziologen und Journalisten. Soll sie diesen Kurs belegen? Ein Hauch Weiterbildung würde ihr nicht schaden. Was aber, wenn der Psychologe, der das Seminar leitet, einer von diesen öden Schwaflern ist, ohne Biss und ohne Witz? Sie würde dem Kerl nach der ersten Stunde eine Kiefersperre wünschen, und wäre zwei Tage lang stinksauer. Sie kennt sich und ihre Ungeduld. Mit Nieten kommt sie nicht zurecht. Ob sie das Wochenende nicht besser in Alba verbringt, auch wenn sich Fabrizio mehr im Keller tummelt als im Wohnzimmer?

Beta greift zur Parisienne, und lehnt sich zurück. Als das Telefon läutet, zuckt sie zusammen.

„Mir liegt eine eigenartige Meldung vor“, erklärt Kripochef Kost. „Ich denke, das ist was für Sie.“

Eine gute halbe Stunde später sitzt Beta Bianca im Büro ihres Chefs. Er hat schlechte Laune, und flucht über die Spiezer Kollegen.

„Höchst professionell, so lang zu warten, nur um den Fall dann endlich abzugeben. Seit Montag pfuschen sie an der Geschichte herum, und legen mir nach vier Tagen einen Ordner voller Nichtigkeiten auf den Tisch“, schimpft er. Nicht den Ansatz einer Spur hat die Polizei gefunden. Es kann doch nicht sein, dass niemand im Ort etwas über die Frau weiß.“

„Worum genau handelt es sich“, unterbricht Beta Bianca den Chef knapp. Der hält inne und funkelt sie an. Beta beißt sich auf die Zunge. Die Bemerkung hätte sie sich sparen sollen. Sie weiß doch, dass Kost ihr loses Mundwerk fürchtet. Jetzt bloß still sein, und die Situation nicht durch Wiedergutmachungsversuche verschlimmern.

Bevor das Schweigen frostig wird, schiebt Kost ihr die Akte über den Tisch und sagt: „Eine junge Frau aus Spiez wird seit Sonntagnacht vermisst. Ich erwarte von Ihnen“ … „dass sich die junge Frau bis morgen in alter Frische bei Ihnen meldet“, beendet Beta lächelnd den Satz.

Kosts Sinn für Humor erwacht. Er nickt und feixt. „Gemeinsam mit Bertschi werden Sie das doch schaffen“, sagt er. Ohne mit einer Antwort zu rechnen, wendet er sich seinem widerspruchslosen Gesprächspartner zu, dem Computer. Beta ist entlassen.

Ein schwieriger Mensch, dieser Kost. Manchmal kann Beta ihn nicht ausstehen. Ab und zu mag sie ihn. Es gibt auch Momente, in denen sie ihn bewundert. Er besitzt nämlich ein Gedächtnis, das Bilder, Worte und Gerüche speichert, und sie jederzeit abrufen kann. Wegen dieser herausragenden Fähigkeit wird er bei der Kripo ehrfürchtig Meister K. genannt.

In der Hoffnung, Bertschi zu treffen, schaut Beta im Büro vorbei. Doch ihr Kollege ist schon weg, ab ins Wochenende. Auf den Schreibtischen liegt feiner Staub, er stammt von den Arbeiten an der Fassade des Kommissariats.

Der Lärm der Sandstrahlgeräte macht Beta fertig, vor allem der fiepende Ton, der sie an den Zahnarzt erinnert. Was für ein Glück, dass die Maschinen am Freitagnachmittag ruhen. Keine Trommelfellfolter mehr. Keine Arbeiter, die mit laut brüllenden Kommentaren die Sprache beleidigen. Auf den Gerüsten kein Verkehr, und kein Voyeur.

Mit einem Papiertaschentuch wischt Beta über den Tisch. Entgeistert starrt sie auf die entstandenen Schlieren. In einem solchen Dreck kann man doch nicht arbeiten, empört sie sich. Sie lässt sich in der Sitzecke nieder, und schlägt den Ordner auf. Gesucht wird Tanja Zumstein aus Spiez. Beta betrachtet das Foto. Die Frau kennt sie doch von früher, vom ‚Stollen‘, aus der Zeit, als sie selbst in der Bar verkehrte.

Was für eine schwierige Zeit, damals. Sie stand kurz vor Abschluss des Studiums, aber es wollte ihr kein Beruf einfallen, der sie gereizt hätte. Sie hatte aus purer Neugier Psychologie studiert, ohne daran zu denken, was sie später damit anfangen würde. Und nun, plötzlich, sollte sie ihre Kenntnisse in Geld ummünzen? Wusste sie nicht viel zu wenig, um einen Beruf auszuüben? Eine Welle der Angst brach über sie herein, und lähmte sie. Obendrein schürte die Mutter dieses Gefühl von Unsicherheit. Sie solle jetzt endlich die Ärmel aufkrempeln und eine Stelle zu suchen. Die gemütlichen Jahre auf der Universität seien zu Ende.

Betas Herz beginnt zu hämmern, genauso wie damals. Hitze wallt in ihr auf, und treibt ihr den Schweiß auf die Stirn. Sie erhebt sich, und geht im Büro auf und ab, um sich zu beruhigen. Doch der Erinnerungsspeicher will sich nicht schließen. Im Gegenteil, er öffnet einen weiteren Ordner.

Sie hatte zu jener Zeit Probleme mit ihrem Freund. Es fehlte ihr an Aufmerksamkeit, an einem netten Wort, an Zärtlichkeit, an Leidenschaft. Also wollte sie sich mit ihm aussprechen. Mit ihm über alles reden, so wie sie es auf der Uni gelernt hatte. Aber der Freund erklärte, er liebe sie, sie bräuchten weder eine Aussprache, noch eine Paartherapie. Beta hatte das Gefühl, gegen eine Mauer anzukämpfen. Was er von einer gemeinsamen Reise halte, zum Beispiel auf die Malediven. Er lehnte ab. Zu teuer, meinte er. Und die Masuren? Die entlockten ihm ein müdes Lächeln. Die Beziehung zwischen ihnen schleppte sich hin, bis er sie verließ. Er hatte mit einer glutäugigen Spanierin angebandelt, und träumte von einer Reise nach Sevilla. Ohne sie.

Daraufhin hatte sie den Boden unter den Füssen verloren. Da hatte sie sich jahrelang ins Wissen um die Seele vertieft, nur um am Ende festzustellen, dass kein Lehrsatz den Liebesschmerz lindert. Offensichtlich hatte sie angenommen, man könne die Psychologie verwenden wie die Packungsbeilage eines Medikaments. Man trinke ein Glas Wein. Man kaufe sich ein neues Kleid. Aber dem war nicht so. Verbittert stellte sie fest, dass sie Worte, nichts als Worte studiert hatte. Buchstabenreihen ohne Sinn. Zu einem Wortmonster hatte sie sich entwickelt. Sie konnte über alles reden, über Liebe, Hoffnungslosigkeit und Trauer. Über die Gefühle anderer. Sie hatte gelernt, Thesen und Antithesen aufzustellen. Aber es hatte ihr an dem gefehlt, was jenseits der Worte steht.

Sie gab sich auf, und verbarrikadierte sich in der Wohnung, bis sie sich eines Tages erhob, und einen Kurs in Bauchtanz belegte. Freund hin, Mutter her.

Das war vor zwölf Jahren. Beta hält inne. Sie sieht an sich herunter. Das enge T-Shirt betont ihre Brust, ihre Hüften, und die Wellen dazwischen. Sie streicht über den Po, und befühlt die überflüssigen Kilo. Fett, Zuviel Fett. Sie sollte mehr Sport treiben, und die Essensmenge reduzieren. Gut, dass der Fettspeicher ihren Liebsten nicht stört. Im Gegenteil. Ihre Knochen seien aufs Gefälligste verpackt, sagte Fabrizio kürzlich in seinem wienerisch gefärbten Deutsch. Bei ihr würde man sich keine blauen Flecken holen. Im Sommer beschwor er sie sogar, ein nabelfreies Top zu tragen. Als sie das ablehnte, warf Fabrizio ihr vor, sie sei prüde.

Nachdenklich betrachtet Beta, wie sich die Rauchringe auflösen. Der Bauchtanz hat ihr gut getan. Instinktiv hatte sie die richtige Therapie gewählt.

Erneut betrachtet Beta das vor ihr liegende Foto. Eine attraktive Frau! Ach ja, der ‚Stollen‘. Beta erinnert sich an eine Szene vor über zehn Jahren. Es herrschte übermütige Stimmung, die Musikbox lief, und plötzlich stand Tanja auf einem Barhocker, und tanzte. Die Gäste feuerten sie an. Sie klatschten, und stampften im Rhythmus zur Musik. Natürlich hatte Tanja bereits ein paar Bier in der Krone, was den Barkeeper beunruhigte, weil er befürchtete, Tanja könne abstürzen, und sich verletzen. Deshalb befahl er ihr, die Show zu beenden. Tanja lachte bloß, und twistete weiter. Um seinem Befehl Nachdruck zu verleihen, griff der Barkeeper zur Siphonflasche und spritzte Tanja an, bis sie zu Boden sprang. Sie riss die Hände hoch wie ein Sieger auf dem Podest, und trocknete ihr Gesicht am Hemd des Stollenwirts ab. Die Leute johlten.

Beta senkt den Kopf. Nach einer Weile gibt sie sich einen Ruck, und kehrt zur Akte zurück. Sie blättert die mageren Unterlagen durch. Das riecht nach Arbeit, murmelt sie, und denkt ans Jazzkonzert, das sie sich abschminken kann. Ihre Freundin wird ein langes Gesicht ziehen.

Freitagabend

Bertschi befindet sich auf der Autobahn Richtung Zürich, als ihn Betas Anruf erreicht.

„Ich soll umkehren, nicht wahr“, nimmt er ihr das Wort aus dem Mund, und stellt sich vor, wie Beta nickt. Also nickt auch er schweigend. Sie informiert ihn kurz, und schlägt vor, zu ihr nach Thun zu kommen. Das sei zwar ein bisschen weiter für ihn, aber ihr Büro sei grausam verstaubt.

Kein Feierabend, denkt Bertschi lakonisch. Um sich mit den veränderten Umständen auszusöhnen, braucht er Töne, die ihn streicheln. Die sakrale Musik von ‚Accentus‘. Der göttliche Gesang entführt ihn in eine Oase des Glücks.

Das blaugelbe Möbelhaus als Teil der Industrielandschaft fliegt an ihm vorbei. Diesmal links. Der Magen knurrt ihn an. Bertschi läuft das Wasser im Mund zusammen. Beta wird ihn mit einem italienischen Menü verwöhnen, sozusagen zum Trost. Ob sie bei Fabrizio in den Kochtopf geguckt hat?

In Thun hält er trotz des Halteverbots vor dem Weinladen an. Er schaltet die Warnblinkanlage ein und hechtet ins Geschäft. Der Angestellte reicht ihm, ohne zu fragen, einen Gewürztraminer. Bertschi dankt, zahlt, winkt, und steigt ins Auto.

Der Zaun müsste ausgebessert werden, nimmt Bertschi mit einem Seitenblick wahr, als er die Gartentür öffnet. Die morschen Holzlatten halten keinen Fuchs ab, und schon gar keinen Stier. Immerhin liefern sie ein klares Bild der Besitzverhältnisse. Das Grundstück ist quadratisch wie die Schweizer Fahne, und in seiner Mitte steht das verträumte Haus, eine Mischung zwischen Bauernhaus und Chalet. Bertschi staunt wieder einmal über die ländliche Idylle. Er selbst würde hier nicht wohnen wollen. Es wäre ihm zu ruhig und zu überschaubar. Er braucht die Zürcher Hektik, die Anonymität, die Partys, und den a-capella-Chor, in dem er singt. Er ist ein Stadtmensch.

Bertschis Augen schweifen übers spiegelnde Wasser. Das einzige, was er seiner Kollegin neidet, ist ihr privates Seeufer. Den See rauf und runter surfen würde er, mit und ohne Begleitung.

In der offenen Tür steht Beta und streckt die Hand nach der Flasche aus. „Der kriegt Sonderurlaub im Tiefkühler“, meint sie und verschwindet mit dem Wein in der Küche.

Bertschi folgt ihr. „Du hast noch nichts auf dem Herd?“

Beta foppt ihn: „Heute gibt’s Fastfood.“ Worauf er in strengem Ton den Gewürztraminer zurück verlangt.

Beta dreht ihm den rechten Arm auf den Rücken. „Erstens hasse ich es, wenn du den Tonfall meiner Mutter nachahmst. Also lass das. Zweitens hast du mir den Wein geschenkt. Also behalte ich ihn. Drittens gibt es zum Abendessen Lammfilet. Viertens arbeiten wir zuerst.“

Bertschi schlägt die schlanke Akte auf, während Beta Grüntee für ihren Kollegen überbrüht. Er seufzt ein ums andre Mal und sagt schließlich: „Mit Dörflern werden wir es zu tun haben, und die sind extrem verschlossen.“

„Ja“, meint Beta trocken, „mit solchen wie mir“, und rückt mit den moralischen Aufhellern an. Sie stellt das Tablett ab, lässt sich auf ihrem roten Sofa nieder und lächelt einer halbvollen Flasche Barolo zu.

„Bertschi, das Leben ist beschissen. Aber jetzt und hier ist’s grandios.“ Sie tätschelt die Flasche und ist heilfroh, bei sich zu Hause zu sein. Kein Heimweg nach der Arbeit. Sie wird einfach alkoholschwer ins Bett sinken. Bertschi dagegen muss sich noch hinters Steuer klemmen, weil er nicht bei ihr übernachten will. Gut, dass er ein leidenschaftlicher Grünteetrinker ist.

Bertschi, der um seinen Lehnsessel Akte, Laptop und Teetasse geschart hat, blickt auf. „Du bist hoffnungslos optimistisch.“ Er klopft auf die Akte und fährt fort: „Eine Schande ist das, die kärgliche Notiz. Der dämliche Polizist hat bloß festgehalten, dass niemand in der Firma weiß, wo die Zumstein steckt, und dass auch die Eltern nichts von ihrer Tochter gehört haben. Ende. Und dann unternimmt er vier Tage nichts, bevor er den Fall an uns abtritt. Ein Verfahren sollte man ihm anhängen.“

„Nur damit sich die Zusammenarbeit mit der Spiezer Polizei verschlechtert?“ Beta schüttelt den Kopf. „Mich beschäftigt etwas anderes. Da verschwindet eine Frau, und niemand macht sich Sorgen.“

„Außer die von der Firma.“