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Das B&B-Team der Berner Kripo, Beta Bianca und Benno Bertschi, verbindet nicht nur der Beruf, sondern auch die Freude an Musik, die Lust an gutem Essen, und das Talent, dem Leben Komik abzutrotzen. Nach einem Barbesuch mit ihrem Freund meldet eine Frau der Polizei, dass ihr fünfjähriger Sohn verschwunden ist. Sie verdächtigt den Exmann, Jan entführt zu haben, weil er nicht akzeptiert, dass sie mit Freund und Kind nach Sardinien auswandern will. Trotz intensiver Suche wird der Junge nicht gefunden. Für das B&B-Team stellen sich Fragen: Ist Jan ausgerissen? Ist er verunglückt? Einem Kinderschänder in die Hände gefallen? Oder wurde er ermordet? Der Freund der Frau hat jedenfalls ein Motiv. Der Exmann auch, und erst recht der pädophile Nachbar. Und welche Rolle spielt die psychisch kranke Frau? Jeder von ihnen könnte Jan etwas angetan haben. Aber es fehlt der stichhaltige Beweis. Erst anderthalb Jahre später wird die Leiche des Jungen entdeckt. Anhand von Spuren stellt der Pathologe fest, dass Jan einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Nun kann das B&B-Team den Fall lösen und den Täter fassen.
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Seitenzahl: 534
Veröffentlichungsjahr: 2017
Marta Monti
Der mit den Glasaugen
Marta Monti ist eine Bergfrau. Im Inntal aufgewachsen, zog es sie mit Zwanzig nach Brig im Rhonetal, wo man, um den Himmel zu sehen, den Kopf in den Nacken legen muss. Später sehnte sie sich nach gipfelloser Landschaft, und machte sich auf nach Berlin. Inzwischen weilt sie in den Sommermonaten in Katalonien, und tummelt sich dort zwischen Granat- und Liebesäpfeln. Auch beruflich lotete sie verschiedene Bereiche aus. Ob als Journalistin oder Kneipenwirtin, ob als Mitarbeiterin beim WWF Zürich oder im Haus der Kulturen der Welt in Berlin – sie liest Leben auf. Beim Sammeln von dem, was ist, helfen ihr drei erwachsene Kinder und fünf Enkelkinder.
Der vorliegende Band ‚Der mit den Glasaugen‘ ist nach dem Band ‚Auf ein Ewiges‘ der zweite einer Trilogie mit dem Kripoteam B&B. Band drei erscheint demnächst.
Marta Monti
Kriminalroman
© 2017 Marta Monti
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7439-1028-7
Hardcover:
978-3-7439-1029-4
e-Book:
978-3-7439-1030-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung
Für
Romed
Nadia
Lukas
und
Lars
Noah
Ayla
Milena
Elin
Der Roman 'Der mit den Glasaugen' ist als Fiktion angelegt.
Aus erzählerischen Gründen wurde ein Fluss umgeleitet. Dörfer wurden versetzt, und Städte erhielten eine andere Note.
Der Krimi erhebt keinen Anspruch auf Realität.
Sie stellt den Topf mit der Milch auf den Herd. Während sie Brot schneidet, streift ihr Blick das Nachbarhaus. Erbost legt Alice das Messer zur Seite, und zieht den Vorhang mit einer heftigen Bewegung zu. Hat die Frau dort drüben nichts anderes zu tun, als ihr hinterher zu spionieren? Sie kann die biedere Person nicht ausstehen, und ihren schmierigen Mann noch viel weniger.
Und doch ist sie manchmal froh, dass dort drüben Licht brennt, weil sie sich dann nicht so allein fühlt. Alice seufzt. Bald wird sie das stumpfsinnige Leben hinter sich lassen. Sie wird neu anfangen, und dann wird sie endlich diese Nachbarn los sein.
Ein Geräusch lässt sie hochfahren. Die Milch. Mit einem Satz ist sie am Herd, und dreht das Gas ab. Sie giesst die kochend heisse Milch in die Winnie-Puuh-Tasse und gibt einen Löffel Honig dazu.
„Essen“, befiehlt sie laut und setzt sich an die schmale Seite des Tisches.
Der Junge gehorcht sofort. Er setzt seinen Teddybär so auf das Sofa, dass er ihn während des Essens sehen kann. Sein Stuhl steht an der Längsseite des Tisches, im rechten Winkel zu dem der Mutter. Er rückt seinen Stuhl weg von ihr, und beisst vom Brot ab. Während die Mutter auf den Teller starrt, zwinkert er rasch dem Teddy zu. Schade, dass der nicht am Tisch sitzen darf. Jan lächelt der Winnie-Puuh-Figur auf der Tasse zu. „Du bist Teddys Bruder“, flüstert er. „Wenn du weich wärst, könnte ich auch mit dir kuscheln.“ Die Tasse hat ihm der Vater geschenkt. Vorsichtig zieht Jan sie am Henkel zu sich. Er muss aufpassen, denn wenn die Milch überschwappt, schimpft die Mutter. Er nimmt einen Schluck, und spuckt die heisse Milch in hohem Bogen über den Tisch. Zornig springt die Mutter auf, und drischt auf Jan ein. Er krallt seine beiden Hände in ihren Arm, und beisst mit aller Kraft zu. Sie jault auf, und lässt ihn los.
Auf seiner Zunge bilden sich Brandblasen. Sie tun weh. Tränen steigen ihm hoch, aber die will er unbedingt besiegen. Er weiss, wie er sie daran hindern kann, aus den Augen zu fallen. Wenn er den Lidern befiehlt, sich nicht zu bewegen, und gleichzeitig die Pupillen von links nach rechts spazieren führt, linksrechts-links-rechts, stürzen die salzigen Tropfen nicht ab. Dann schlucken die Augen sie, genauso wie sein Hals das Rivella.
Die Mutter wischt den Tisch sauber. Das Brot auf seinem Teller ist milchfeucht. Matschiges Brot findet er eklig. Er wartet, bis sich die Mutter an der Spüle zu schaffen macht, gleitet dann vom Stuhl herunter, fasst den Teddy am Arm und verschwindet in seinem Zimmer. Leise öffnet er das Fenster, zieht den feuchten Brotklumpen aus der Hosentasche, und schleudert ihn zwischen die Blumen.
Danach stellt er sich vor den grossen Tierkalender. Der hat ihm stets beim Rechnen geholfen, damit er weiss, wann er wieder zum Vater gehen kann. Ab morgen wird er den Kalender nicht mehr brauchen.
Er schubst den Hängestuhl zart an, und setzt den Teddy hinein. „Willst du richtig schaukeln?“ fragt er seinen Spielkumpan, den er nicken lässt.
„Wart, ich komme zu dir.“ Er dreht die tanzende Höhle so oft, wie es die Seile erlauben, springt dann zum Teddy hinein, nimmt ihn auf den Schoss, und feuert den Stuhl an, der sich nun von allein zurückdreht. Die ersten Runden, die schnellen, liebt Jan ganz besonders.
Dieser Sport macht ihm eine Weile Spass. Er redet und lacht, zählt die Runden und kommentiert das Geschehen. Die Mutter erscheint im Türrahmen, neugierig, womit sich das Kind vergnügt.
„Was für hübsche rote Backen du hast“, lächelt sie, und zerrt ihn weg von seinem Spiel, um ihn abzuküssen, obwohl er doch keine Zeit hat, weil er die Hängehöhle bedienen muss. Als sie merkt, wie verschwitzt er ist, schiebt sie ihn von sich.
„Los, ab unter die Dusche“, herrscht sie ihn an.
Jan hat Angst vor dem Badezimmer. Manchmal stellt die Mutter die Dusche nicht richtig ein, und das Wasser ist zu kalt. Eigentlich ist das nicht schlimm, weil es nicht weh tut. Aber das heisse Wasser, das tut weh. So lang sie den Wasserhahn während dem Einseifen nicht berührt, ist die Welt in Ordnung. Sonst aber muss er fliehen, und dann heimst er Schläge ein, weil er den Boden nass gemacht hat.
Heute ist die Mutter friedlich. Nachdem sie den Schaum von seinem Körper abgespült hat, setzt sie sich vor den Fernseher und guckt 'Die Simpsons'. Jan trocknet sich den Bauch und die vordere Hälfte der Beine ab, und schlüpft in den Schlafanzug. Er tapst in sein Zimmer, nimmt den Teddy aus der Hängehöhle, und tritt mit ihm vor den Spiegel.
„Das ist mein schönster Pyjama, und das ist der tollste Traktor der Welt“, erklärt er dem Teddy, und setzt ihn zurück in den tanzenden Stuhl. Stolz streicht er über die mächtigen Hinterräder des Traktors auf seiner Brust. „Den haben die Schweizer gebaut.“
Jan holt seine vier Traktoren hervor, die wie richtige aussehen, nur dass sie kleiner sind, und fährt sie alle aufs Feld. „Hier wachsen Kartoffeln, und hier der Mais“, sagt er. „Und das hier ist eine Wiese für die Kühe.“ In einer Kiste findet er Kamele, Pferde und ein Krokodil. Er verteilt sie auf dem zum Acker erklärten Parkett. Seine Lego-Tankstelle funktioniert er kurz entschlossen in einen Bauernhof um, und dann beginnt er mit der Ernte. Er hat alle Hände voll zu tun, um die kleinen Lego-Bausteine aufzuladen, die als Kartoffeln herhalten müssen.
Die Mutter ruft vom Wohnzimmer aus, dass er schlafen gehen soll. Hastig schiebt Jan alle Traktoren unter das Bett, vor den gepackten Rucksack, der seit gestern in der hintersten Ecke steht. Mit einem Pflug bearbeitet er den Boden, bis nichts mehr herumliegt. Dann löscht er das Licht, und kriecht unter die Decke.
Tief bohrt er die Nase ins Kissen. Der Geruch beruhigt ihn, er ist ihm vertraut. Er bedeutet ihm Schutz, und die Illusion, umarmt zu werden.
Plötzlich schrickt er hoch. Wo ist sein Teddy? Ohne ihn wird er die Nacht nicht überstehen. Durch die halboffene Tür dringt ein wenig Licht aus dem Gang ins Zimmer. Auf Zehenspitzen schleicht er herum, wispert Teddys Namen, wo bist du, und entdeckt ihn in der Hängehöhle. Mit einem Satz kehrt er zurück ins Bett. Hier fühlt er sich sicher vorm Zauberer, und vorm bösen Nachbarn. Er drückt den Teddy an sich, und schwebt in ein anderes Land. Das Traumland ist ihm das liebste.
Plötzlich spitzt Jan die Ohren.
Stöckelschuhe klopfen streng auf den Holzboden im Flur. An seinem Bett bleiben die Schuhe stehen. Er rührt sich nicht. Wenn er will, dass die Mutter mit ihm zufrieden ist, muss er sich schlafend stellen. Sie flüstert ihm nicht gute Nacht ins Ohr. Er zieht sich in sich selbst zurück. Gleich wird es passieren. Das Geräusch macht nur eine Pause. Gleich wird es wieder durch sein Zimmer hallen, dieses laute Pochen der Absätze. Es wird sich entfernen, und wird seine Sehnsucht nach Wärme mitnehmen. Doch diesmal ist er nicht traurig, dass sie geht. Diesmal bergen die sich entfernenden Schritte Hoffnung.
Die Mutter schliesst die Kinderzimmertür. Stockdunkel ist es nun. Jan lauscht konzentriert. Die Haustür fällt ins Schloss, der Schlüssel wird umgedreht. Die Autotür knallt zu, dann fährt das Auto los.
Jans Herz klopft zum Zerspringen. Er lässt es den Teddy spüren, und der massiert ihm mit seinem weichen Arm die Ängste weg. Dann stopft Jan den Teddy unter seinen Traktorpyjama, und kriecht mit dem Kopf unter das Kissen. Wenn bei der Musikdose die Schnur heil wäre, würde er jetzt daran ziehen. Dann könnte er sein Lieblingslied hören. Endlos wiederholt er die Zeile 'Luna mit silbernem Schein, gucket zum Fenster herein', um nicht einzuschlafen. Noch viermal wird er das Lied singen. Wenn sie bis dahin nicht zurückkommt, kann er telefonieren.
Während er ein letztes Mal singt, fallen ihm die Augen zu.
Kurz vor Mitternacht läutet das Telefon.
„Kriminalpolizei Bern, Wachtmeister Häberli.“
„Guten Abend, hier Alice Köhler aus Thun. Ich kann meinen Sohn nicht finden. Ich habe ihn im ganzen Haus gesucht, im Garten auch. Er ist weg.“
Die Frau verstummt. Auch Häberli schweigt. Die karge Meldung irritiert ihn, aber vielleicht steht ja die Anruferin unter Schock.
„Wie alt ist denn das Kind?“
„Fünf. Um neun Uhr hat es tief geschlafen, und jetzt ist das Bett leer.“
„Haben Sie denn nicht bemerkt, dass es aufgestanden ist? Wie heisst denn das Kind?“
„Jan Köhler. Ich war zwei Stunden mit meinem Freund unterwegs, und als ich um elf heimkam, war das Kind fort.“
Einen Moment ist es in der Leitung still.
„Es würde mich nicht wundern, wenn mein Ex-Mann dahintersteckt“, fügt die Frau hinzu, „vielleicht hat er es entführt.“
Häberli verwünscht die Person am andern Ende der Leitung. Vernachlässigt ihre Aufsichtspflicht, und erwartet dann, dass die Polizei das Problem löst, noch dazu mitten in der Nacht. Im gleichen Moment jedoch wird ihm klar, dass der Junge allen Anspruch auf Hilfe hat.
Häberli nimmt die notwendigen Daten auf, und verständigt den Kriminalbeamten Kaspar Emmer, der Bereitschaftsdienst hat. Natürlich müsse der Sache sofort nachgegangen werden, meint dieser. Häberli solle den Kollegen Venetz benachrichtigen. Er erwarte ihn in dreissig Minuten vor seiner Haustür in Thun.
Einigermassen nervös bindet sich Emmer die Schuhe zu. Fieberhaft überlegt er, ob eine weitere Massnahme getroffen werden muss. Vielleicht sollte er eine Streife zum Vater des Kindes schicken, um dort die Situation zu überprüfen. Kann ja sein, dass der Mann den Jungen zu sich geholt hat. Oder er hat ihn bei Freunden untergebracht. Oder er hält ihn sonst wo versteckt. Weiss der Kuckuck, was einem frustrierten Vater alles einfällt. Emmer wägt das Für und Wider ab, gibt sich schliesslich einen Ruck, und bittet die Thuner Polizei um Unterstützung.
Bald darauf erscheint Venetz, und Emmer setzt sich zu ihm ins Auto.
„Wir fahren zu dieser Frau Köhler. Hoffentlich braut sich da nicht etwas zusammen.“ Emmers Stimme klingt düster.
„Nun werd nicht gleich dramatisch“, bemerkt Venetz gelassen.
„Du hast gut reden, mit deinen paar Monaten Erfahrung bei der Kripo. Ich bin schon zu lange bei dem Verein, um nicht misstrauisch zu werden. Irgendetwas klingt komisch an der Geschichte.“
Bedächtig streicht sich Emmer mit der Rechten über den Oberschenkel, bevor er fortsetzt: „Wenn ich Verbrechen an Kindern aufklären muss, bedaure ich immer, dass ich nicht auf meinen Vater gehört habe.“
„Wollte er, dass du etwas Höheres wirst?“
„Das nicht. Er wollte mir Tragödien ersparen, und empfahl mir eine Stelle bei der Post.“
Emmer greift zum Handy und ruft die Streife an. Die zwei Polizisten befinden sich bereits vor dem Wohnblock, in dem Herr Köhler lebt.
„Wartet, bis ich mich melde, bevor ihr bei ihm klingelt!“
Emmer plant, die Gespräche bei Herrn und Frau Köhler zeitgleich durchzuführen, damit die Ex-Partner nicht ohne sein Wissen miteinander kommunizieren können. Die Idee mit dem synchronen Verhör findet er genial. Ob er damit bei seiner Chefin punkten wird?
„Einsame Gegend, und ganz schön finster“, stellt Venetz fest, als sie vor dem letzten Haus in der Sackgasse parken.
„Weil dahinter gleich der Wald beginnt“, erkennt Emmer mit einem Blick. „Meine Frau würde sich weigern, hier zu wohnen. Es wäre ihr unheimlich, so allein.“
Venetz wirft Emmer einen verständnislosen Blick zu. „Die Nachbarn sind doch keine 50 Meter weit weg.“
Die zwei Polizisten gehen auf das Haus zu. Wie abgemacht, verständigt Emmer die Kollegen der Streife, während Venetz am Hauseingang läutet.
Als Frau Köhler die Tür öffnet, verschlägt es Emmer die Sprache. Mit einem Blick erfasst er ihr ebenmässiges Gesicht mit den grossen dunklen Augen und die makellose Figur. Bewegungslos hält er inne, wie ein vom Scheinwerferlicht geblendetes Kaninchen. Auch Venetz bleibt im ersten Moment die Spucke weg: Einfach toll, die Frau! Gleichzeitig jedoch stört ihn der Auftritt von Frau Köhler. Sie scheint den Flur mit der Bühne zu verwechseln. Sie lässt sich anstarren und sonnt sich in ihrer Schönheit. Eigentlich wäre sie die ideale Stripperin, stellt er fachmännisch fest.
Warum ergreift Emmer nicht endlich das Wort? Kann es sein, dass sein Kollege die Frau kennt? Das andauernde Schweigen wird Venetz ungemütlich. Wenn der rangältere Emmer nichts zu sagen weiss, muss wohl oder übel er die Sache in die Hand nehmen.
„Wir kommen zur Bestandsaufnahme“, sagt er.
Das scheint auch für Frau Köhler das richtige Stichwort zu sein. Sie erinnert sich daran, dass es um ihr vermisstes Kind geht, und nicht um sie.
Mit einer Geste bittet sie die Männer ins Haus. Hastig beginnt sie zu reden. „Ich habe die Haustür abgeschlossen, als ich fortging. Aber als ich zurückkam, war sie nicht abgesperrt. Ich bin sofort zum Kind, doch es war weg.“
Frau Köhler reibt sich die Hände, und hört dann abrupt damit auf.
„Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Kinderzimmer“, fordert sie die Beamten auf.
Emmer betrachtet das leere Bett mit der verknautschten Decke. Sein Herz zieht sich zusammen. Er stellt sich vor, welche Qualen die Mutter ausstehen muss. Voller Mitgefühl wendet er sich an Frau Köhler: „Es tut mir leid, dass Ihr Sohn verschwunden ist. Wir werden alles unternehmen, um ihn zu finden.“
Seine wohlmeinenden Worte prallen an Frau Köhler ab. Sie wiederholt bloss mechanisch, was sie eben zu Protokoll gegeben hat.
Venetz bemerkt Emmers Irritation, zuckt unmerklich mit der Achsel, und begutachtet das Fenster. Es weist keine Spuren von Gewalteinwirkung auf.
Dann hört er Emmer fragen: „Wo ist denn das Kissen?“
Venetz starrt auf das Bett und ärgert sich. Warum hat nicht er gemerkt, dass das Kissen fehlt? Verstohlen beobachtet er Frau Köhler. Sie schweigt, so dass Emmer die Frage wiederholen muss. Die Frau reibt sich erneut die Hände und antwortet mit regloser Miene: „Das Kind schläft lieber ohne.“
Als Emmer einen Rundgang durch das Haus verlangt, reagiert Frau Köhler unwirsch. Das Kind sei nicht im Haus, es sei weg. Man müsse draussen im Wald suchen, nicht bei ihr drinnen. Nach einer Pause fügt sie hinzu, sie sei sicher, dass ihr Ex-Mann die Finger im Spiel habe.
„Was wollen Sie damit sagen“, erkundigt sich Emmer.
„Er will das Kind für sich haben. Das geht aber nicht, weil ich mit meinem Freund nach Sardinien auswandere und das Kind mitnehmen werde. Er weigert sich, das zu akzeptieren, weshalb ich vermute, dass er es entführt hat.“
Emmer schliesst sekundenlang die Augen, um sich auf die Aussage von Frau Köhler zu konzentrieren. Ihre eigenartige Schilderung klingt für ihn so, als habe jemand einen Automat eingeschaltet.
Emmer beruhigt Frau Köhler: „Die Polizei befindet sich bereits bei Ihrem Ex-Mann, um den Vorwurf zu klären. Eine andere Frage: War das Fenster im Kinderzimmer offen oder zu, als Sie heimkamen?“
„Es war zu.“
„Kann es sein, dass Ihr Sohn ausgerissen ist? Kinder leben manchmal in einer Fantasiewelt und wünschen sich, an einem anderen Ort zu sein.“
„Nein. Das Kind hat einen tiefen Schlaf.“
Emmer beharrt auf einem Rundgang durch das Haus, ohne jedoch neue Erkenntnisse zu gewinnen. Nun wolle er noch den Garten inspizieren, verkündet er.
„Das können Sie sich sparen. Ich habe den Garten schon abgesucht.“
„Wir schauen uns trotzdem um“, erwidert Emmer unbeirrt. „Wir melden uns dann im Lauf der nächsten Stunde. In der Zwischenzeit bitte ich Sie, das Haus nicht zu verlassen.“
Nach der Inspektion des Gartens, im Auto, stellt Emmer fest: „Die Frau lügt. Sie war nicht im Garten.“
„Woher weisst du das“, erkundigt sich Venetz verdutzt.
„Die Aussenlampe beleuchtet den Rasen links und rechts vom Eingang. Man kann also leicht feststellen, ob jemand über das Gras gelaufen ist. Es gibt keine einzige frische Spur im Garten, weder von Schuhen noch von einem Rad. Die gute Frau mag ja bildschön sein, aber auch sie kann nicht über dem Boden schweben. Sie hat uns einen Bären aufgebunden.“
Venetz klopft Emmer auf die Schulter. „Vom Stamm der Apachen, was? Wo hast du denn das gelernt?“
„Ich bin Jäger.“
„Wie Jäger?“
„Na eben Jäger. Ich gehe auf die Jagd. Hirsch, Reh, Fuchs und so. Ich erkenne an einem geknickten Zweig, welches Tier wann an dieser Stelle vorbeigekommen ist. Man braucht halt den Blick dafür. Wir Jäger weisen uns gegenseitig auf Fährten hin, und nicht nur das, wir geben unser Wissen auch an die Jüngeren weiter. In den letzten Jahren haben wir uns auf Reifen- und Fussspuren spezialisiert. Eine spannende Sache, sage ich dir. Darauf schliessen wir sogar Wetten ab.“
Venetz staunt nicht schlecht. Der Mann hat mehr drauf, als man meint.
„Warten wir darauf, was uns der Kollege über Herrn Köhler berichtet?“
Emmer blickt auf die Uhr und nickt.
Venetz versucht Emmer über Frau Köhler auszuhorchen: „Sag, kennst du sie?“
„Nicht persönlich“, brummt Emmer und lässt keinen Zweifel daran, dass er das Thema nicht vertiefen will.
Kurz darauf meldet sich der Kollege von der Streife. Er habe Herrn Köhler in seiner Wohnung vorm Fernseher angetroffen. Davor, bis gegen 23 Uhr, habe der Mann im Büro gearbeitet, was aber zu dieser späten Stunde niemand bezeugen könne. Die Behauptung seiner Ex-Frau, das Kind entführt zu haben, sei eine schamlose Unterstellung. So oder so, der Junge befinde sich nicht in Herrn Köhlers Wohnung, das habe eine Überprüfung der Räume ergeben.
Emmer nestelt am Kragen seines Hemdes. Ein Kind ist weg, und es gibt keine Spur. Ihm wird mulmig. Jetzt bloss keinen Fehler machen! Besser, er leitet den Fall an die nächsthöhere Stelle weiter, bevor ihm die Sache über den Kopf wächst. Das hat Emmer nach zwanzig Jahren bei der Kripo kapiert. Das B&B-Team, Beta Bianca und Benno Bertschi, will lieber zu früh als zu spät informiert werden. Sicher ist sicher.
Er richtet sich auf, reckt das Kinn nach vorn und sagt: „Fahr ein Stück zurück, so dass Frau Köhler uns nicht sehen kann, wir aber sie, falls sie weggeht. Und jetzt“, Emmer holt tief Luft, „verständige ich Beta.“
Sein junger Kollege grinst, während er das Fahrzeug wendet. Autofahren ist eindeutig angenehmer, als die Kommissarin aus dem Bett zu scheuchen.
Das Handy zirpt und blinkt. Beta schreckt auf. Wenn sich jemand um diese Zeit meldet, verheisst das nichts Gutes. Als sie die Nummer auf dem Display sieht, sackt ihre Laune in den Keller.
„Was gibt’s“, fragt sie unwirsch.
Der gereizte Tonfall der Chefin verunsichert Emmer. Wenn er es nicht schafft, knapp zu berichten, wird sie ausflippen. Die Angst nagt ihm an der Seele.
„Eine Alice Köhler aus Thun vermisst ihren fünfjährigen Sohn. Sie war mit ihrem Freund in einer Bar, und liess den Jungen zwei Stunden allein. Als sie zurückkam, war das Bett des Jungen leer. Frau Köhler verdächtigt ihren Ex-Mann, das Kind entführt zu haben. Sie hat ihm nämlich vor kurzem eröffnet, dass sie nach Sardinien auswandern wird, mit Kind und Freund. Der Ex war ausser sich vor Wut, und drohte ihr, das Kind zu entführen. Wir haben Herrn Köhlers Wohnung inspiziert, doch das Kind hält sich nicht bei ihm auf.“ Emmer japst nach Luft, schneller hätte er nicht reden können. Er ist mit sich zufrieden.
„War denn Frau Köhlers Haustür verschlossen?“
„Ja. Als sie um 21 Uhr das Haus verliess, hat sie abgesperrt. Doch bei ihrer Rückkehr war die Haustür zu, aber nicht verriegelt.“
„Wenn die Haustür zugesperrt war, wie konnte dann der Vater den Jungen fortbringen? Oder besitzt er einen Schlüssel zu Frau Köhlers Haus?“
„Das weiss ich nicht. Die Frage habe ich Frau Köhler nicht gestellt.“
Beta knirscht hörbar mit den Zähnen. „Wie steht es mit Nachbarn?“
„Ja, es gibt welche“, bestätigt Emmer. Er ist erleichtert, dass er die Frage beantworten kann. „Im Haus nebenan wohnt das Ehepaar Seiler.“
„Hast du mit Seilers gesprochen?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Es war schon dunkel bei ihnen, und ich dachte, wir sollten zuerst die Umgebung absuchen, bevor wir die Nachbarn heraus läuten.“
„Hast du Name und Anschrift von Frau Köhlers Freund?“
Betas Art bringt Emmer, je länger sie redet, umso mehr durcheinander.
Er verhaspelt sich, und verliert den Faden. „Nein. Das heisst, ich glaube, Wachtmeister Häberli hat sich darum gekümmert.
Beta fuchtelt mit dem Handy in der Luft, und ihr Mund formt sich zu einem stummen Schrei. Da wird sie aus dem Tiefschlaf gerissen, und dann quält sie dieser Folterknecht mit seinem Halbwissen. Sie hadert mit sich und fragt sich zum hundertsten Mal, warum sie mit diesem Untalent zusammenarbeiten muss.
„Du beobachtest Frau Köhlers Haus, aber verdeckt, ohne dass sie dich sieht“, befiehlt Beta.
„Das habe ich mir auch gedacht“, erwidert Emmer beflissen.
„Ich melde mich in 15 Minuten“, bellt Beta in den Hörer.
Sie spricht mit Häberli von der Kriminalpolizei Bern, und lässt sich das Telefonat mit Frau Köhler schildern. Frustriert über den nächtlichen Einsatz wählt sie die Nummer ihres Kollegen Bertschi, und ist ganz erstaunt, dass er nach dem ersten Klingeln abnimmt.
„Fertig geschlafen, mein Lieber, auf nach Bern“, sagt sie grantig, wohl wissend, dass Bertschi, der in der Nähe von Zürich lebt, eine Anfahrtszeit von 100 km hat. Im gleichen Atemzug stellt sie fest, dass sie ihren Frust bei ihm ablädt. Das hat er nicht verdient. Am andern Ende der Leitung ist es still. Das auch noch! Jetzt hat sie es sich mit ihm verscherzt.
„Hallo, hallo, so meld dich doch!“
„Alles in Ordnung“, beruhigt Bertschi sie. „Ich wollte Florian nicht wecken. Nun bin ich im Wohnzimmer. Schiess los!“
Beta informiert ihn über das vermisste Kind.
„Nicht gerade viel, was ich da hören bekomme“, sagt Bertschi mässig begeistert. Er holt tief Luft, und sein Hirn pendelt sich langsam auf Spitzenleistung ein. „Na gut, dann krempeln wir die Ärmel hoch. Als erstes schicken wir einen Suchtrupp los, der die Gegend im Umkreis von zwei Kilometern checkt. Den Spurendienst schalten wir auch ein. Der soll sich Haus und Garten von Frau Köhler vornehmen.“
„Und was machen wir mit den famosen Eltern?“
„Frau und Herr Köhler werden zu uns nach Bern ins Kommissariat gebracht, und wir befragen sie in separaten Räumen.“
„Okay. Dann gibt es noch diese Nachbarn, das Ehepaar Seiler.“
„Die werden aus dem Bett geläutet. Vielleicht erhalten wir einen Hinweis von ihnen. Den Job kann Emmer erledigen.“
„Verschon mich mit dem Armleuchter“, keift Beta erbost.
Aha, denkt Bertschi, sie ist mit ihrem Erzfeind bereits zusammengestossen. Nicht zu glauben, wie sie mit Emmer umgeht. Zuerst setzt sie ihn unter Druck, und dann, wenn er fahrig wird und ungeschickt, macht sie ihn zur Schnecke. Bertschi mag es nicht, wenn Beta fies zu Emmer ist. Manchmal schämt er sich sogar für sie.
Gelassen antwortet er: „Emmer soll ruhig mitmischen. Bei Seilers kann er keinen Mist bauen. Frau Köhlers Freund interviewen wir auch. Venetz soll sich hinter den Mann klemmen.“
Beta hat sich beruhigt. „Einverstanden“, sagt sie. „Ich organisiere den ganzen Kram, und fahre dann los. Wir sehen uns im Büro. Ras nicht wie ein Verrückter!“
In Thun knöpft Beta die cognacfarbige Hose zu, schlüpft ins enganliegende schwarze T-Shirt, schnappt sich den Kapuzenpulli, setzt sich ins Auto und fährt nach Bern. In Zürich zieht Bertschi die Jeans hoch, greift zum weissen Hemd, legt sich den blauen Kaschmirpullover um die Schultern und eilt zum Parkplatz. Er rast mit Blaulicht nach Bern. Eine halbe Stunde nach Beta taucht er im Büro auf. Manchmal ist Zürich verdammt weit weg.
Beta hängt gerade am Telefon und verlangt die Überwachung der Wohnung, in der Richard Lang, der Partner von Frau Köhler, gemeldet ist.
„Warum das?“, erkundigt sich Bertschi, als sie den Hörer auflegt.
„Frau Köhlers Freund ist nicht daheim, und das Kind auch nicht. Was für ein Zufall! Da stellen sich mir die Nackenhaare auf.“
„Beta, du übertreibst.“
„Nein. Ich ziehe nur verschiedene Möglichkeiten in Betracht. Wir wissen nicht, was passiert ist. Vielleicht ist der Junge abgehauen, vielleicht aber ist er entführt worden. Oder es handelt sich um ein Sexualdelikt, oder um Mord.“
Bertschi hebt abwehrend die Hände. „Im Prinzip bin ich deiner Meinung, ich bin nur nüchterner.“
„Das kannst du laut sagen“, meint Beta. „Aber du bist doch mit mir einig, dass es uns nichts kostet, den Wohnblock zu beobachten. Unter Umständen gewinnen wir entscheidende Erkenntnisse über den Jungen. Oder wir entdecken, dass dieser Herr Lang in die Geschichte verwickelt ist. Im Übrigen“, - Beta tippt Bertschi auf die Brust, - „geben wir unserem Neuen das Gefühl, gebraucht zu werden. Venetz erledigt eine Arbeit, die Sinn macht. Neueste Studien haben ergeben, dass man seltener krank wird, wenn man eine sinnvolle Tätigkeit ausübt. Kurz gesagt: Ein zufriedener Venetz erleichtert dein Leben beträchtlich, und meines auch.“ Beta kichert wie eine Irre.
Bertschi wirft seiner Kollegin einen schrägen Blick zu. Kann diese Frau nicht normal sein, wenigstens zu nächtlicher Schlafenszeit? Beta zuckt die Schulter. Im Moment ist ihr egal, was Bertschi von ihr hält.
„Also“, sagt sie resolut, „dann setzen wir Emmer auf die Nachbarn an, und die Streife bringt Venetz zum Wohnblock, in dem Herr Lang lebt.“
Sie tippt auf Emmers Taste, und erteilt ihm den Auftrag für seinen Einsatz, ohne sich im Ton zu vergreifen. Bertschi schenkt ihr ein anerkennendes Lächeln.
„Der Karren läuft. Alles Wichtige ist auf den Weg gebracht“, stellt Beta erleichtert fest. Mit einem Blick auf die Uhr sagt sie: „Halb zwei. Wozu habe ich ein Bett?“
„Wir haben noch zwei Befragungen vor uns. Lust auf Kaffee“, fragt Bertschi.
Gemeinsam pilgern die beiden durch den menschenleeren Flur des Präsidiums. Die Schritte hallen auf den Fliessen, das schummrige Licht taucht die cremefarbenen Wände in schmutziges Beige. Niemand drängelt sich vor dem Automat.
Bertschi drückt diverse Tasten, und der Kaffeespender beginnt zu blubbern und zu gurgeln. Dann schnarrt er und schweigt, als wolle er die Arbeit hinschmeissen. So sehr Beta diese Geräusche gewohnt ist, so unheimlich kommen sie ihr in diesem Augenblick vor. Bösartig erscheint sie ihr, diese Maschine. Sie verhält sich aggressiv, als bereite sie kein Getränk zu, sondern plane einen Angriff. Je länger je mehr fühlt sich Beta dunklen Mächten ausgeliefert. Ihr Herz beginnt zu hämmern, und auf der Oberlippe bilden sich Schweisstropfen. Hektisch geht sie hin und her. Sie zählt die Schritte, um sich abzulenken. Umsonst. Eine ungeheure Angst breitet sich in ihrem Körper aus, und sie schnappt mit schreckgeweiteten Augen nach Luft. Ihr Atem stockt.
„Er malt die Bohnen, und dann geschieht nichts mehr“, murmelt Bertschi, und wendet sich Beta zu. Sofort erfasst er die Situation. Plötzliche Panik scheint Beta überfallen zu haben. Er muss sie irgendwie ablenken, und weiss, dass ihm das am besten mit einer Geschichte gelingt. Aber es will ihm keine einfallen.
„In der Nacht wächst die Angst ins Unendliche“, sinniert er, und versucht, sich warm zu reden. Sein Freund Florian würde sofort „boring, boring“ rufen. Im gleichen Moment fliegt Bertschi eine Story zu. „Eines Nachts im Winter fiel Schneeregen. Gegen Morgen jedoch sank die Temperatur, und alles vereiste: die Strassen, die Bäume, die Autos. Florian musste zur Arbeit und war spät dran. In Windeseile kratzte er auf der Windschutzscheibe ein Guckloch frei, und fuhr los. Mit der Nase an der Scheibe konzentrierte er sich auf den Verkehr. Was links und rechts passierte, bemerkte er nicht, und als er die Polizeikontrolle entdeckte, war es zu spät. Er wurde an den Strassenrand gewinkt, und der Polizist forderte die Autopapiere, bevor er anfing zu schimpfen. Es sie verantwortungslos, die Scheibe nicht korrekt zu säubern. Ein Guckloch zu kratzen, genüge nicht. Florian pflichtete ihm bei, behauptete aber steif und fest, das Eis habe sich erst beim Fahren gebildet. Das Märchen könne er sich sparen, brummte der Polizist, zückte das Handy, und machte ein paar Fotos vom Auto. Zwei Tage später wurde Florians Führerschein für einen Monat einkassiert, und man halste ihm eine Busse von 1800 Franken auf.“
„Was?“ Beta ist schockiert. „Das ist ein starkes Stück! Die Strafe steht doch in keinem Verhältnis zum Delikt. Wann war das denn?“
„Vor meiner Zeit“, antwortet Bertschi, aber nicht im vorigen Jahrhundert. Zufrieden registriert er, dass seine medizinische Intervention wirkt. Beta ist wieder im Lot, und was für ihn besonders angenehm ist – sie befasst sich mit dem Kaffeeautomat. Endlich liefert er das, was er soll. Die heissen Plastikbecher brennen den Kommissaren in den Händen. Jaulend und stöhnend kehren sie ins Büro zurück.
Während Beta ihre Schubladen nach einer Zigarette durchwühlt, überprüft Bertschi Frau Köhlers Nachbarn Herr und Frau Seiler am PC. „Sie arbeitet als Angestellte in einer Bäckerei, er als Installateur bei einer Telefongesellschaft“, liest er halblaut.
„Hör mal“, ruft er plötzlich. „Seiler stand vor vier Jahren vor Gericht, angeklagt wegen Kindesmissbrauch. Die Anzeige wurde jedoch aus Mangel an Beweisen fallen gelassen.“
„Wir müssen Emmer benachrichtigen“, sagt Beta. „Und die Spurensicherung soll sich gründlich in Seilers Haus umsehen.“
„Du Emmer, ich Spurensicherung“, entscheidet Bertschi in einem Anflug von Bosheit. Kommunikation will geübt sein, findet er, vor allem mit Menschen, mit denen man nicht zurechtkommt. Den Seitenhieb quittiert Beta mit einer kindlichen Grimasse.
Inzwischen hat die Spurensicherung Frau Köhlers Haus von unten bis oben nach verdächtigen Spuren abgesucht. Gewaltsames Eindringen ins Haus könne ausgeschlossen werden, bestätigt der Chef. Nichts sei aufgebrochen, es habe kein Kampf stattgefunden. Es gebe keinen Blutfleck, keine Scherben, keine Schleifspuren. Und es gäbe nichts, was kürzlich gesäubert worden sei. Das wäre, meint der Beamte, auch allzu augenfällig, bei dem Chaos, das in diesem Haus herrsche. Es hätte ihn nicht erstaunt, wenn er in der Küche über eine Ratte gestolpert wäre. Und das Schlafzimmer...
„Eigentlich interessiert mich das Kinderzimmer“, unterbricht Bertschi den Kollegen freundlich.
Der wird sofort wieder sachlich: „Das Bett des Jungen sieht so aus, wie man es erwartet. Das Leintuch zerknittert, die Bettdecke auch. Wir haben die Fingerabdrücke an der Haustür und der Tür zum Kinderzimmer abgenommen. Im Garten haben wir bis jetzt keinerlei Spuren entdeckt. Zwar sind noch nicht alle Arbeiten abgeschlossen, aber ich hege wenig Hoffnung, dass wir noch etwas finden.“
Bertschi beauftragt den Beamten, im Nachbarhaus bei den Seilers tätig zu werden. Emmer sei schon dort.
„Ein bunter Vogel, dieser Kerl“, redet Beta vor sich hin.
„Wer?“
„Der Partner von Frau Köhler. Beim Arbeitsamt gilt er als nicht vermittelbar, weil er sich als Maler eine Allergie geholt hat. Seine Krankheit hindert ihn an jeder Art von Job. Ob im Hobbycenter, oder als Fahrer, Hilfsgärtner oder Hausabwart, er findet immer einen Arzt, der ihm bescheinigt, dass er aus gesundheitlichen Gründen die vom Arbeitsamt vorgeschlagene Arbeit nicht verrichten kann.“
Bertschi lacht trocken auf: „Das heisst, er lebt vom Staat. Du und ich und ein paar Millionen mehr finanzieren mit ihren Steuern sein Leben.“
„Wenigstens hat er ein aufregendes Hobby“, meint Beta sarkastisch, „einen Hängegleiter kann sich nicht jeder leisten.“
„Und Köhlers?“
„Da habe ich bis jetzt nichts gefunden. An ihnen haftet so etwas wie Unauffälligkeit“, sagt Beta.
Bertschi hämmert wie wild auf die Tastatur. Plötzlich ist es still, und Bertschi schnalzt mit den Fingern: „Ich habe zusammengefasst, was wir bis jetzt wissen. Frau Köhler gibt zu Protokoll, sie habe beim Weggehen die Haustür abgesperrt, aber bei ihrer Rückkehr sei das Schloss entriegelt gewesen. Da das Schloss unversehrt ist, muss jemand die Tür mit dem dazu passenden Schlüssel geöffnet haben. Sechs Personen kommen dafür in Frage: Frau Köhler, Herr Köhler, Frau Köhlers Freund Herr Lang, die Reinigungskraft Frau Ricci, und die Nachbarn Herr und Frau Seiler.“
Bertschis Handy klingelt. Der Leiter des Suchtrupps meldet sich. Er habe mit seinen Männern wie besprochen die Gegend durchkämmt. Es gebe nicht die geringste Spur von Jan.
„Das wird eine zähe Geschichte.“ Beta hievt sich aus dem Stuhl. „Herr und Frau Köhler warten bereits in zwei verschiedenen Verhörräumen auf uns. Ich befasse mich mit der Frau. Nimmst du dir Köhler vor?“
„Wen denn sonst! Auf Pseudofragen kann ich verzichten“, knurrt Bertschi und verlässt das Büro.
Auf dem Weg zum Vernehmungsraum stimmt sich Beta auf die Frau ein, der sie gleich begegnen wird. Die Bemerkungen von Venetz und Emmer klingen ihr ihm Ohr. Ausserirdisch schön sei sie. Makellos von Kopf bis Fuss. Einer Statue aus Marmor gleiche sie. Man könne die Augen nicht von ihr wenden.
Beta öffnet die Tür. Frau Köhler richtet den Blick auf die Kommissarin, ohne sich zu bewegen. Wie eine Diva sitzt sie da, die gnädig ein Interview gewährt. Weder Mimik, noch Gestik lassen darauf schliessen, dass sie sich um ihren Sohn sorgt. Im Gegenteil, mit ihrer Haltung scheint sie die Hektik der Kripo um das verschwundene Kind zu verspotten. Intuitiv, geradezu blitzartig, streift Beta der Gedanke, Frau Köhler könne wissen, wo ihr Sohn ist. Ob sie Beruhigungstabletten geschluckt hat, um die beängstigende Situation auszuhalten?
Ob sie nervös sei, fühlt Beta der Frau auf den Zahn. Frau Köhler schlägt ein Bein übers andere und neigt sich vor: „Nein, denn im gesamten Haus gibt es kein Zeichen von Kampf oder Gewalt. Also ist dem Kind nichts passiert.“
Frau Köhler schliesst die Augen und wiederholt: „Also ist ihm nichts passiert.“
Sie reibt die Hände aneinander, fährt mit der einen Hand über die andere, immer wieder, als hätten die Hände ein Eigenleben entwickelt, und müssten zwanghaft den Vorgang des Händewaschens imitieren. Plötzlich wird ihr die Unruhe der Hände bewusst, und sie hält inne.
Beta beobachtet ihr Gegenüber aus den Augenwinkeln, bevor sie Frau Köhler direkt anblickt. Es sind leere Augen, die Beta begegnen. Die innere Abwesenheit dieser Frau ist förmlich greifbar. Ihre Persönlichkeit scheint sich aufgelöst zu haben.
Beta macht sich eine Notiz, bevor sie sich erkundigt, ob Frau Köhler abends oft ausgehe.
Frau Köhler begegnet der Frage im Plauderton, wobei sie den Kopf vage hin- und herwiegt: „Das Kind schläft problemlos ein, und wacht in der Nacht nie auf. Da kann ich nicht klagen. Ausserdem habe ich Glück mit den Nachbarn, denn die sind abends immer daheim. Ich habe bei ihnen einen Schlüssel hinterlegt, so dass sie notfalls zu mir herüber können, wenn ich unterwegs bin.“
„Heisst das, dass Sie sich abmelden, wenn Sie ausgehen?“
„Nur, wenn ich die ganze Nacht wegbleibe. Aber wenn ich auf einen Sprung in die Bar gehe, so wie heute Abend, sage ich den Seilers nicht Bescheid.“
Frau Köhler sieht ihrem wippenden Bein zu, bevor sie fortfährt: „Sie sind mir zu neugierig. Eigentlich mag ich sie gar nicht. Es sind schrecklich langweilige Leute, und er ist so schmierig höflich. Trotzdem bin ich froh, dass sie da sind. Mein Haus ist das letzte in der Sackgasse, und den dunklen Wald dahinter finde ich unheimlich. Es beruhigt mich, dass nebenan Leute wohnen.“
„Hält sich Ihr Sohn Jan manchmal bei den Seilers auf?“
„Er war noch nie drüben. Das will ich auch nicht. Die Seilers interessieren mich nur, weil sie mir als Nachbarn eine gewisse Sicherheit bieten.“
Beta blickt in ihre Notiz. „Ihr Freund, Herr Lang, hat Sie um neun mit dem Auto abgeholt. Ist er zu Ihnen ins Haus gekommen?“
„Nein. Er hat vorher angerufen, ich solle mich bereit machen. Ich zog mich rasch um, sah nach, ob das Kind schläft, und stand schon an der Tür, als er vorfuhr.“
„Hat er gesehen, wie Sie die Haustür absperrten?“
Frau Köhler erstarrt, und Beta überkommt das gleiche Gefühl wie vorhin. Das Wesen der Frau scheint sich aufzulösen, und zurück bleibt eine Hülle ohne Inhalt. Ist das ihre Masche, wenn sie mit einer lästigen Frage konfrontiert wird? Wenn ja, was ist ihr unangenehm? Beta notiert die Gedanken.
„Kann Herr Lang bezeugen, dass Sie die Tür abgeschlossen haben?“ wiederholt Beta die Frage.
„Ich bin sicher, dass ich den Schlüssel umgedreht habe. Aber ob er das gesehen hat, weiss ich nicht.“
„Um elf brachte Sie Herr Lang zurück. Hat er Sie ins Haus begleitet?“
„Nein. Ich bin ausgestiegen, und er ist zu sich gefahren.“
„Demnach hat er gar nicht gewusst, dass Jan verschwunden ist?“
„Ich habe ihn angerufen und ihn gefragt, was ich tun soll. Er hat mir geraten, die Polizei zu verständigen. Danach fuhr er los, um das Kind zu suchen.“ Nach einer Pause fügt sie hinzu: „Aber das spaziert nicht draussen herum.“
Abrupt richtet sie sich auf: „Hinter der ganzen Sache steckt mein Ex-Mann. Ich wette meinen Kopf, dass er das Kind weggebracht hat. Das war ja auch kein Kunststück! Schliesslich besitzt er einen Schlüssel.“
„Warum soll Herr Köhler ohne Ihr Wissen den Jungen abgeholt haben?“
„Ich habe meinem Ex-Mann vor drei Wochen mitgeteilt, dass ich auswandern werde, zusammen mit meinem Freund und dem Kind. Da hatte ich den Mietvertrag für den Bauernhof in Sardinien bereits in der Tasche. Er war ausser sich vor Wut und sagte, das könne ich mir abschminken. Er werde mich niemals mit dem Kind ziehen lassen.“
„Nehmen wir einmal an, Ihre These von der Entführung stimmt, wo würde Herr Köhler den Jungen unterbringen?“
Diese Frage verwirrt Frau Köhler. „Das weiss ich nun wirklich nicht. Ich hoffe, das kriegen Sie heraus.“ Sie zögert einen Moment. „Vielleicht hat ihm die Putzfrau geholfen. Die hat früher bei uns gearbeitet, putzt jetzt aber nur noch für Herrn Köhler. Sie vergöttert das Kind.“
Beta lässt sich den Namen und die Adresse der Reinigungskraft geben, verlässt den Raum, und zündet sich eine Zigarette an. Vom Flur aus ruft sie Wachtmeister Häberli an. Er solle die Streife zu Frau Ricci schicken.
Beta geht auf und ab, ganz mit dem Rauchen beschäftigt. Dann dreht sie sich ruckartig um, die Hand mit der Zigarette schnellt nach vorn, als richte sie die Pistole auf einen Gegner. Doch da ist niemand. Das schlechte Gewissen hat sie genarrt. Rauchen im Flur ist verboten. Sie nimmt einen tiefen Zug. Wer interessiert sich schon mitten in der Nacht für das Einhalten von Regeln? Nicht einmal die Vampire. Mitternacht ist längst vorbei, erdet sie sich.
Als sie zurückkehrt, sitzt Frau Köhler unverändert da, mit übereinander geschlagenen Beinen, die Hände im Schoss, gleichsam eingefroren.
Beta fixiert ihr Gegenüber so lange, bis die Frau den Blick hebt. „Sie haben sich also entschieden, mit Jan und Ihrem Freund die Schweiz zu verlassen. Aber Ihr Exmann ist damit nicht einverstanden.“
Frau Köhler hat den Blick wieder gesenkt. „Er ist nie einverstanden mit dem, was ich mache.“
Klingt wie das Zitat aus einer Frauenzeitschrift, urteilt Beta, behält aber den Gedanken für sich. Gleichzeitig erinnert sie sich an ein Seminar mit dem Titel 'Kommunikation will gelernt sein'. Der Professor hatte eine Vorlesung mit dem Satz eingeleitet: Die Worte IMMER und NIE haben in einem Streitgespräch nichts verloren.
Beta nimmt den Gesprächsfaden wieder auf. „Versetzen Sie sich in die Lage von Jans Vater. Sie verlassen mit Ihrem gemeinsamen Kind die Schweiz, und beginnen weit entfernt ein anderes Leben. Ist es da nicht nachvollziehbar, wenn Herr Köhler protestiert? Der Kontakt mit Jan wird sich dann zwangsläufig auf ein paar Besuche pro Jahr, wenn überhaupt, reduzieren. Für einen Vater ist das keine rosige Aussicht.“
Im Nu ist es um Frau Köhlers Gleichgültigkeit geschehen. Zornig blitzen ihre Augen, als sie erwidert: „Sardinien ist doch nicht Australien. Mit dem Flieger braucht man knapp zwei Stunden. Ausserdem kann er das Kind in den Schulferien haben. Das sind mehr als drei Monate.“
Beta malt griechische Ornamente in ihr Heft. Der Kugelschreiber formt Linien und Bögen, und Beta realisiert plötzlich, dass Frau Köhler ihren Sohn nie beim Namen nennt, wenn sie von ihm spricht.
Sie macht sich eine Notiz.
Ihre Gedanken kehren zu Frau Köhlers Einwand zurück. Die Frau stellt sich als treusorgende Mutter dar, die sich neun Monate lang um ihr Kind kümmert. In Wirklichkeit ist der Junge den ganzen Tag in der Schule, er verlässt das Haus am Morgen und kehrt am Abend heim. Zu Weihnachten, zu Ostern und im Sommer aber, wenn sich Frau Köhler mit Jan beschäftigen müsste, schiebt sie ihn ab zum Vater.
Um die Frau aus der Reserve zu locken, bleibt Beta beim Thema. „Aber Herr Köhler kann doch nicht drei Monate Urlaub nehmen, um die Zeit mit Jan zu verbringen. Wie soll denn das gehen? Das lässt sich organisatorisch doch nicht bewältigen.“
„Das ist nicht mein Problem“, antwortet Frau Köhler arrogant. Und flüchtet wieder in diese Aura des Nichtvorhandenseins. Sie sitzt da, seltsam unbeteiligt, als habe sie nichts mit der Geschichte zu tun.
Beta widmet sich ihren Kritzeleien. Das Omega-Zeichen sticht ihr ins Auge. Es steht für das Ende. Wenn Beta bloss wüsste, für welches Ende!
Im Plauderton erkundigt sie sich, warum Frau Köhler ihren Mann verlassen hat.
Zum ersten Mal wechselt Frau Köhler ihre Haltung. Sie stellt das rechte Bein neben das linke, und beugt sich vor: „Niemand hat verstanden, warum ich gegangen bin. Aber Arthur war zuhause unerträglich. Er war mir gegenüber mundfaul und aggressiv. Den Charme sparte er sich für seine Kunden auf. Manchmal grinste er mich so verächtlich an, dass ich mich vor ihm fürchtete. Der Mann ist unberechenbar. Es gab Tage, an denen ihn eine eigenartige Unrast befiel. Dann stieg er auf die 'Falkenfluh'. Um das Kind kümmerte er sich schon, für meinen Geschmack jedoch viel zu viel. Ich kam mir irgendwann überflüssig vor.“
„Sie waren heute Nachmittag mit Jan zuhause. Was haben Sie gemacht?“
„Ich habe mit einer Freundin telefoniert und die Wohnung aufgeräumt.“
Beta kann sich einen trockenen Einschub nicht verkneifen. „Viel scheinen Ihre Bemühungen nicht gefruchtet zu haben. In Ihrem Haus herrscht ein ziemliches Chaos.“
Die Bemerkung kommt nicht gut an. Die Frau wirft Beta einen hasserfüllten Blick zu.
„Und Jan? Was hat er gemacht?“
„Der hat auf dem Gameboy herumgedrückt.“
„Spielen Sie manchmal mit ihm?“
„Er will nicht, er hängt an seinem Vater. Die zwei stecken immer zusammen, da habe ich keine Chance. Erst seit der Trennung bedeute ich dem Kind etwas. Es weiss halt, dass es eine Woche mit mir auskommen muss, bevor es wieder zum Vater kann.“
„War Jan ein Wunschkind?“
„Ja.“
Beta staunt über den Klang des Wortes. Wann ist diese rückhaltlose Zustimmung verloren gegangen, fragt sie sich.
Frau Köhler schweigt eine Weile. Schliesslich fügt sie hinzu: „Ich habe einmal von einer glücklichen Familie geträumt. Ich wollte einen Mann, dem ich wichtig bin, und eine Tochter, die mir seelenverwandt ist. Aber nichts von dem ist wahr geworden. Die Jahre mit Arthur kann ich wegschmeissen, so trostlos waren sie. Und das Kind konnte mich nicht darüber hinweg trösten, dass es kein Mädchen war. Doch nun wird alles anders. Mit meinem Freund tut sich mir eine neue Chance auf. Diesmal werden sich meine Wünsche erfüllen, ich spüre das.“
Betas Handy vibriert. Die von der Streife haben ihren Auftrag erledigt, und einer der Polizisten erstattet Bericht. Beta nickt ein paarmal vor sich hin.
Frau Köhler legt die Hände ineinander und verschränkt die Finger.
Als das Telefonat beendet ist, sagt Beta: „Jan befindet sich nicht in der Wohnung von Frau Ricci, und sie weiss auch nicht, wo er sein könnte. Sie glaubt, dass ein Unglück geschehen ist.“
Die Nachricht weckt bei Frau Köhler weder Unsicherheit, noch Angst. Geradezu teilnahmslos kommentiert sie die eben gehörte Meldung: „Die Frau ist hysterisch. Wenn das Kind zweimal hustet, vermutet sie sofort eine Lungenentzündung. Frau Ricci stammt halt aus Italien, und dort wird alles zum Drama aufgebauscht.“
Verständnislos zieht Beta die Augenbrauen hoch. „Frau Ricci reagiert doch ganz normal. Der kleine Junge ist unauffindbar, und sie macht sich Sorgen.“
Frau Köhler zuckt die Achseln. Sie starrt in die Ferne und reibt sich wieder die Hände. „Ich bin gespannt, wie ich mit den Menschen in Sardinien zurechtkomme.“
Beta misst ihr Gegenüber mit einem prüfenden Blick. Keine Verzweiflung, weder Panik noch Tränen. Steht Frau Köhler unter Schock? Wie will diese unterkühlte Frau in Sardinien Fuss fassen, wenn ihr eine in der Schweiz assimilierte Italienerin zu gefühlvoll ist?
Frau Köhler stellt das Trockenwaschen ihrer Hände ein. Seit wann hat sie diesen Tick mit ihren Händen, überlegt Beta, und macht sich eine Notiz, bevor sie sich erhebt.
„Frau Köhler, ich bitte Sie, Jans Verschwinden nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.“ Eindringlich fügt Beta hinzu: „Wir haben bis jetzt keinen Anhaltspunkt, wo Jan sein könnte. Vielleicht finden wir ihn gesund wieder, vielleicht aber auch nicht. Ich brauche mehr Informationen, ich muss alles über Jan wissen. Mit wem hat er Kontakt? Wovor ängstigt er sich? Hat er ein Geheimversteck? Wie würden Sie ihn charakterisieren? Überlegen Sie in Ruhe, ich bin gleich zurück.“
Bertschi steuert auf den Raum am Ende des Korridors zu. Gleich wird er einem Versicherungsfachmann begegnen. Mit Menschen dieser Branche hat er selten zu tun, was er nicht im Geringsten bedauert. Immer wollen sie etwas verkaufen, und am Ende hat er zwei Sterbeversicherungen, obwohl er nur einmal das Zeitliche segnen wird.
Als er die Tür öffnet, springt Herr Köhler auf und beschwert sich lautstark über die lange Wartezeit. Eine Zumutung sei das, noch dazu in einem so trostlosen Raum. Und überhaupt, er lasse sich eine solche Behandlung nicht länger gefallen.
Bertschi erwidert trocken, die Kripo sei halt nicht das Hilton, und wenn Köhler kooperiere, statt zu zetern, käme man schneller ans Ziel. Im Übrigen möchte er doch sicher seinen Sohn bald wohlbehalten in die Arme schliessen.
Der Hinweis auf seinen vermissten Sohn verpufft ungehört. Köhler hört nicht auf, Sprüche zu klopfen. Bertschi ermahnt sich, gelassen zu bleiben und sich vor allem nicht provozieren zu lassen.
Als Köhler kapiert, dass er Bertschi nicht verärgern kann, lenkt er seine Aggression in andere Bahnen. „Meine Ex ist doch das Letzte! Sie lässt den Jungen abends einfach allein. Unter uns gesagt, geht sie praktisch jeden Abend aus. Skrupellos ist das. Jan hat mir erzählt, dass sie immer in sein Zimmer guckt, bevor sie das Haus verlässt. Dann kuschelt er sich ins Kissen und stellt sich schlafend, weil sie sonst zornig wird und zetert. Der Junge fürchtet sich jeden Abend vor dem Moment, wo er seine Mutter weggehen hört. Können Sie sich vorstellen, was er durchmacht, so allein im Haus? Das muss für ihn doch die Hölle sein! Seit er weiss, dass er in Sardinien leben soll, ist er vollends durcheinander. Er will nicht in ein anderes Land, hat er mir erklärt. Meiner Putzfrau hat er verraten, dass er sich am Tag der Abreise verstecken wird. Wenn die Mama ihn nicht findet, wird sie ohne ihn nach Sardinien fahren, und er kann in Thun bleiben.“
Köhler steht auf, in der Absicht, hin und her zu wandern. Bertschi deutet auf das Aufnahmegerät und bittet ihn, wieder Platz zu nehmen. Widerstandslos setzt sich Köhler hin und redet weiter: „Da wurde mir klar, dass ich Jan schützen muss. Ich habe bei Gericht einen Dringlichkeitsantrag für das alleinige Sorgerecht gestellt.“
Bertschi staunt. Das hätte er diesem Grossmaul nicht zugetraut. Vielleicht liebt er seinen Sohn ja wirklich, und Frau Köhler entpuppt sich als die Unberechenbare in dieser Geschichte.
„Wo könnte Jan denn Ihrer Meinung nach sein?“
„Keine Ahnung. Aber ich habe ein ungutes Gefühl wegen den Nachbarn meiner Ex. Die haben einen Schlüssel, und dem Mann werden sexuelle Handlungen mit Kindern nachgesagt.“
„Jan befindet sich nicht bei den Seilers. Das Haus ist bereits durchsucht worden.“
„Vom Keller bis zum Dachboden?“
Das bejaht Bertschi.
„Auch die Kühltruhe?“, hakt Köhler nach.
Bertschis befremdeter Blick bringt Köhler zur Vernunft. „Entschuldigung. Die väterliche Sorge treibt mich um.“
Köhler hat den Faden verloren. Er schweigt. Bertschi weist darauf hin, dass auch der Freund seiner Ex-Frau einen Schlüssel besitze.
Köhlers Miene verzieht sich abschätzig. „Klar, ist ja ihr Liebhaber. Da hat sie sich einen tollen Hecht geangelt. Wenn man den Typ auf den Kopf stellt, fällt kein Rappen heraus. Ich frage mich schon, wie er finanziell über die Runden kommt. In Thun munkelt man von Zuhälterei. Der greift überall zu, wo Geld zu holen ist. Und jetzt kümmert er sich um meine Ex-Frau.“ Köhler lacht boshaft. „Die wird noch staunen, wie schnell ihre Erbschaft dahinschmelzen wird.“
„Wie kommt denn Lang mit Jan zurecht?“
„Er behandelt Jan wie Luft. Er übersieht ihn einfach. Wenn er könnte, würde er ihn bei ebay verkaufen.“
Köhler hält einen Moment inne. „Ich will damit nur sagen, dass ich dem Kerl alles zutraue. Ist denn seine Wohnung schon durchsucht worden?“
Bertschi bleibt vage: „Wir sind dran. Und Ihre Wohnung, Herr Köhler, wird auch noch kontrolliert.“
Köhler zuckt die Achseln. Zwischen den Männern breitet sich Stille aus. Erleichtert stellt Bertschi fest, dass sich Köhler beruhigt hat. Aufbrausende Menschen kann er nicht ausstehen. Er findet sie lächerlich und begegnet ihnen mit beissendem Spott. Wenn er sich dann im Dschungel der Gemeinheiten verirrt, kriegt er Angst vor sich selbst.
„Kann Jan von zu Hause ausgerissen sein? Er wäre nicht der erste Junge, der so etwas versucht.“
„Das traue ich ihm nicht zu. Er ist kein Draufgänger. Kein Wunder bei der Mutter! Die stärkt ja nicht gerade sein Selbstwertgefühl. Eigentlich hat meine Ex gar kein Interesse an Jan. Zwar lässt sie ihn nicht verhungern, sie kauft ihm auch hübsche Sachen zum Anziehen, und wenn er etwas Lustiges sagt, küsst sie ihn sogar. Meistens aber ignoriert sie ihn, oder sie schnauzt ihn an. Sie verheimlicht nicht, dass Jan für sie eine Belastung ist. Ab und zu verliert sie die Nerven. 'Wenn er bloss tot wäre', sagt sie dann.
„Sagt sie das dem Jungen ins Gesicht“, fragt Bertschi beiläufig, während sein Herz empört gegen die Rippen hämmert.
„Das weiss ich nicht. Aber mir gegenüber hat sie keine Hemmungen.“
„Wie ist das mit Ihrer Ex-Frau: Schlägt sie den Jungen?“
„Als wir noch unter einem Dach lebten, habe ich sie nie dabei erwischt. Aber das heisst nur, dass sie es nicht wagte, wenn ich daheim war. Jan kriegt jedoch schnell eine gescheuert.“
„Hat sich Jan nie über seine Mutter beschwert?“
Köhler schüttelt stolz den Kopf. „Wir Köhlers jammern nicht. Ich und er, wir sind wie Indianer. Wir halten alles aus.“
Zum Teufel mit der Philosophie, flucht Bertschi lautlos. Der Mann hat zu viel von diesem neurotischen Vielschreiber gelesen. Bertschi konnte schon als Zwölfjähriger mit Karl May nichts anfangen. Nach 100 Seiten „Schatz im Silbersee“ hatte er die Nase voll, und befasste sich mit der Geschichte der Inkas. Auch sein Freund Florian ist dem Charme des Marterpfahls nie erlegen.
Der Gedanke an seinen Geliebten regt Bertschi zu einer persönlichen Frage an. „War Frau Köhler Ihre grosse Liebe?“
Köhler lacht bitter auf. „Frau Köhler und ich, wir hatten ein Verhältnis. Man traf sich ab und zu. Das war's. Ich wollte die Frau nicht heiraten, doch dann wurde sie schwanger. Sie hat mich reingelegt.“
„Trotzdem haben Sie Ihr Verhältnis geheiratet.“ Bertschi fällt der Titel eines Kabaretts ein. 'Warum heiraten? Leasen tut's auch'. Er entscheidet sich, die Assoziation für sich zu behalten.
„Würde mir heute nicht mehr passieren“, urteilt Köhler weltmännisch. „Damals musste ich sie einfach haben. So eine schöne Frau lässt man nicht links liegen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich hoffte, dass das noch etwas wird zwischen uns.“
Bertschi erhebt sich, um weitere Geständnisse zu unterbinden.
„Das reicht fürs Erste. Sie haben angegeben, dass Sie bis 23 Uhr im Büro arbeiteten. Kann das jemand bestätigen?“
Köhler fährt hoch. Er verbitte sich diese versteckten Anschuldigungen. Er leide darunter, dass sein Sohn verschwunden sei.
Ruhig erklärt Bertschi, dass es sich um eine Routinefrage handle. Er streckt die Hand aus. „Ihre Schlüssel bitte, wir werfen rasch einen Blick in Ihre Wohnung.“
„Nein, die bekommen Sie nicht!“
Da ist er wieder, dieser aggressive Ton. Köhler spielt seine Macht aus. Er weiss, dass der Bulle ohne Genehmigung keine Chance hat.
„Den Durchsuchungsbefehl bekomme ich sofort, auch jetzt, mitten in der Nacht. Aber wenn ich Sie wäre, würde ich es nicht darauf ankommen lassen. Auf Schikane reagiert der Staatsanwalt empfindlich, und dann dehnt er gern die U-Haft bis zum Höchstmass aus.“
Köhler schluckt die Kröte, schiebt den Schlüssel über den Tisch und fordert seine Freilassung. Bertschi schüttelt wortlos den Kopf, und zieht die Tür hinter sich zu.
Bei den Seilers im Nachbarhaus brennt in allen Zimmern Licht. Seiler möchte die beiden Herren von der Spurensicherung durch die Räume begleiten, weil er dabei sein will, wenn seine Sachen durchsucht werden. Doch dieser Wunsch wird ihm verwehrt. Kripoassistent Emmer erklärt ihm, es gehe nicht an, dass er die Beamten bei ihrer Arbeit störe. Die vom Spurendienst seien Profis, und es handle sich um eine reine Routinekontrolle. Herr Seiler möge an den verschwundenen Jungen denken, und dass man alles, aber auch wirklich alles unternehmen müsse, um ihn zu finden.
Trotz der eindringlichen Worte will Seiler diese Argumente nicht gelten lassen. Das sei sein Haus, und da bestimme er.
Emmer ist perplex. So ein renitenter Kerl. Wie kann er ihn zur Vernunft bringen? Fieberhaft sucht er nach einer Lösung, aber es will ihm keine einfallen. Doch dann erhält er von unerwarteter Seite Hilfe. Frau Seiler, mit dunklen Schatten unter den Augen, weist ihren Mann auf die späte Stunde hin, und darauf, dass es doch besser sei, die Herren nicht zu behindern. Ausserdem müsse er doch anderentags wieder früh auf die Beine, und sie auch. Mürrisch lenkt Seiler ein, und Emmer kann endlich die Frage stellen, die er sich zuvor notiert hat - wie Herr und Frau Seiler den Abend verbracht haben.
Das Ehepaar erklärt übereinstimmend, man habe vor dem Fernseher gesessen.
Emmer studiert das TV-Programm und hakt interessiert nach: „Heute gab es doch einen Spielfilm. Wie hiess gleich der Titel?“
„Das Leben der Anderen“, antwortet Frau Seiler prompt, und taucht sofort in die Geschichte ein. „Die Menschen in der DDR haben viel erdulden müssen, es muss schrecklich gewesen sein. Die Stasi war allgegenwärtig, und hat sich ständig in das Leben der Bürger eingemischt. Stellen Sie sich vor, die Freundin des Schriftstellers wurde gezwungen, ihren eigenen Partner zu bespitzeln. Grauenhaft. Und erst dieser Stasi-Hauptmann...“
Emmer unterbricht Frau Seiler und will von ihrem Mann wissen, wie der Film ausgeht. Seiler erklärt, der Film habe ihn gelangweilt und irgendwann sei er eingeschlafen.
„Mein Mann ist nicht einmal bei den Spätnachrichten aufgewacht. Ich habe mir danach noch bis um halb zwölf ein Kabarett auf ARD angeschaut. Dann habe ich meinen Mann geweckt, und wir sind schlafen gegangen.“
„Wann haben Sie den Jungen das letzte Mal gesehen“, erkundigt sich Emmer.
„Ich habe ihn heute vom Küchenfenster aus gesehen. Die Standuhr schlug gerade sechs.“
Die Zwei von der Spurensicherung tauchen im Wohnzimmer auf. Negativ, was den Jungen betrifft, meldet der eine im Flüsterton. Der andere winkt Emmer zu sich, und begibt sich mit ihm in den Flur. Im Keller stehe ein PC. Den habe er kurz eingeschaltet, um sich einen Überblick zu verschaffen. „Schlimmste Form von Kinderpornos, schlimmer geht’s nicht mehr“, sagt er.
„Was machen wir“, murmelt Emmer nervös und überlegt, ob er im Kommissariat anrufen soll.
„Beschlagnahmen, was denn sonst“, brummt der Beamte von der Spurensicherung. Der hat leicht reden, denkt Emmer, der muss nur ausführen. Aber ich, ich muss entscheiden. Schliesslich ringt er sich ein Ja ab. Er überlegt, was er sagen wird, und kehrt ins Wohnzimmer zurück.
„Herr Seiler, auf Ihrem Computer befindet sich pornografisches Filmmaterial mit Minderjährigen. Das ist ein Straftatbestand. Hinzu kommt, dass der fünfjährige Junge Ihrer Nachbarin vermisst wird. Aus diesen beiden Gründen werden wir den PC beschlagnahmen. Unsere Spezialisten werden ihn eingehend untersuchen.“
Frau Seiler blickt zu Boden. Mit jedem anklagenden Wort wird sie blasser und schmächtiger.
Seiler dagegen kann sich nicht mehr beherrschen. Mit erhobener Faust geht er auf Emmer zu. Er geifert und brüllt. Emmer weicht erschrocken zurück, vor allem, um keine Kopfnuss zu riskieren, - aber auch, um der feuchten Schimpftirade zu entgehen.
Als die Spezialisten mit Monitor, Hardware und Kabeln an Seiler vorbei pilgern, und durch die Tür verschwinden, verschlägt es Seiler die Sprache.
Da Emmer keine weitere Frage einfällt, und sich sein Bedürfnis nach Seilers Gesellschaft in Grenzen hält, verabschiedet er sich vom Ehepaar.
Draussen ruft er seinen Kollegen Venetz an. Der observiert das Gebäude, in dem Richard Lang wohnt.
Venetz grinst ins Handy. „Volltreffer. Soeben hat er das Haus betreten.“
Emmer ist erleichtert. „Ausgezeichnet. Jetzt schicke ich dir die SpuSi, und du horchst diesen Herrn Lang aus. Ich warte im Auto vor Langs Wohnblock auf dich.“
Als Venetz bei Herrn Lang klingelt, öffnet der sofort die Tür. „Da sind Sie also, nur hereinspaziert“, meint er ironisch.
Von wem er denn wisse, dass die Polizei auf ihn gewartet habe.
Das könne man sich ausrechnen, antwortet Lang. Venetz mimt den Ahnungslosen, worauf Lang gönnerhaft darauf hinweist, Frau Köhler habe ihn informiert.
„Wo ist denn Jan Ihrer Meinung nach?“
„Ich habe keinen blassen Schimmer.“
Ob jemand Jan aus dem Weg räumen wolle, hakt Venetz nach.
Lang starrt sein Gegenüber an. So ein doofer Bulle! Dem fehlen ein paar Hirnzellen, denkt er verächtlich.
Venetz hört sein Gegenüber buchstäblich denken, doch es stört ihn nicht, wie er taxiert wird. Er baut darauf, dass seine Strategie funktioniert. Wenn Lang sich überlegen fühlt, lässt er vielleicht seine Vorsicht fallen.
Immerhin entspannt sich Lang bereits. Geradezu schulmeisterlich wird er. „Na hören Sie, bei einer so klaren Ausgangslage! Der Ex-Mann von Frau Köhler hat da die Finger im Spiel, wer denn sonst. Sein Motiv ist ja auch mehr als klar: Rache. Er will ihr nämlich heimzahlen, dass sie ihn verlassen hat.“
„Angenommen, Herr Köhler hat Jan geholt, was könnte er mit ihm gemacht haben?“
„Er hat ihn abgemurkst und im See versenkt.“
„Wie hat er ihn getötet?“
„Wie? Wie? Was weiss ich, wie. Erschossen, vergiftet, erwürgt. Da müssen Sie schon selbst recherchieren. Ich mache doch nicht Ihren Job!“
Verärgert dreht sich Lang um und holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Dem Kripobeamten bietet er nichts an. Seelenruhig schreibt Venetz Wort für Wort auf.
„Wie spät war es, als Sie Frau Köhler vor ihrem Haus absetzten?“
„Ungefähr elf.“
„Und dann?“
„Dann ist sie in ihr Haus, und ich bin heim zu mir.“
„Haben Sie zu diesem Zeitpunkt gewusst, dass Jan verschwunden ist?“
„Nein. Frau Köhler hat mich später angerufen. Sie war total panisch und meinte, Jan würde umherirren. Ich habe ihr geraten, die Polizei einzuschalten. Um sie zu beruhigen, habe ich ihr versprochen, Jan draussen zu suchen. Ich bin sofort los, aber ich habe ihn nicht gefunden, und Ihr von der Polizei offensichtlich auch nicht.“
Langs Gesicht besteht plötzlich nur aus süffisantem Grinsen. „Ich gebe Ihnen einen Tipp: fragen Sie Herrn Köhler.“
Lang reisst eine Tüte Chips auf, stopft sich eine Handvoll in den Mund, und achtet nicht darauf, dass ein paar Chips zu Boden segeln. Er wischt sich die Hand an der Hose ab, während Venetz die Route notiert, die Lang mit dem Auto zurückgelegt hat. Er habe öfters angehalten, habe Waldwege zu Fuss eingeschlagen, und immer wieder habe er das Kind gerufen. Aber nichts: Kein Zeichen, keine Fussabdrücke, keine Gegenstände.
„Kann es sein, dass der Junge von Zuhause ausgerissen ist?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen, er ist ein Feigling.“